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MARXISTISCHE BLÄTTER/633: Armut macht krank und Krankheit macht arm


Marxistische Blätter Heft 1-17

Armut macht krank und Krankheit macht arm
Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht

von Nele Kleinehanding und Gerhard Trabert


"Armut ist die schlimmste Form von Gewalt." (M. Gandhi)

Die gesellschaftliche Lebenssituation bzw. die Berücksichtigung der Problemlage armer Menschen ist ein Randthema, es findet immer noch zu wenig Beachtung, zumal die Betroffenen keine einflussreiche Lobby haben, ihre Bedürfnisse werden nicht als prioritär erkannt bzw. zugelassen. Genau dieses Phänomen, der Nichtberücksichtigung, der Ausblendung, der Ignoranz finden wir auch in der Diskussion zum deutschen Gesundheitssystem wieder. Armut und deren Beziehung, deren Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Entstehung von Krankheit ist im Kontext der Armutsdebatte immer noch ein unterschätztes und vernachlässigtes Teilgebiet. Obwohl gerade an diesen engen Korrelationen deutlich wird, dass Armut in einem der reichsten Länder der Erde nicht lediglich ein Verzicht auf Konsumgüter, auf Annehmlichkeiten, auf gesellschaftliche Teilhabe bedeutet. Sondern häufig mit physischem und psychischem Leid, mit höheren Erkrankungsraten, bis zu einer signifikant geringeren Lebenserwartung einhergeht.


Armut und Krankheit sowie Lebenserwartung

Schon Goethe stellte fest: "Arm im Beutel, krank am Herzen." Dass es einen Zusammenhang zwischen Sozialer Lage und Krankheit gibt, haben zahlreiche sozial- und naturwissenschaftliche Untersuchungen belegt.

Es wird hierbei zwischen einer horizontalen (social inequality) und vertikalen Ungleichheit (social inequity) differenziert. Die social inequality untersucht Strukturen die bei ähnlich verfügbaren sozialen Ressourcen und gesellschaftlichen Chancen, zu Benachteiligungen aufgrund unterschiedlicher Erkrankungsgefährdungen führen. Hier spielen z.B. der individuelle Lebensstil, die berufliche Tätigkeit und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Die social inequity berücksichtigt ungleiche soziale Chancen und gesellschaftliche Ressourcen, wie z.B. den Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen. Des Weiteren ist in diesem Kontext die Beantwortung der Frage bedeutend, ob es sich um einen Selektionseffekt (Kranke werden eher arm) oder einen Kausationseffekt (Arme werden eher krank) handelt. Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei Erwachsenen vorwiegend eine soziale Selektion vorliegt (chronisch schlechte Gesundheit erhöht das Armutsrisiko) und bei Kindern Hinweise für einen Kausationseffekt vorliegen (wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener eine schlechtere Gesundheit).

Konkrete Zusammenhänge zwischen dem sozialen Status und Krankheit konnten u.a. für das Auftreten von koronaren Herzkrankheiten (Herzinfarkt - zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko), Schlaganfall (ebenfalls zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko), Krebserkrankungen und Lebererkrankungen festgestellt werden. Erkrankungen der Verdauungsorgane (Magengeschwüre) und der Atmungsorgane (Lungenentzündungen, chronische Bronchitis) findet man ebenfalls häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Des Weiteren ist die Infektanfälligkeit erhöht. Bei von Armut betroffenen Kindern treten gehäuft Zahnerkrankungen und psychosomatische Beschwerdekomplexe auf. Zusätzlich zum Kontext der Psychosomatik treten psychiatrische Erkrankungen in den Vordergrund, und hier besonders Depressionen bis zum Suizid und Angststörungen. Armut verursacht Stress und die damit assoziierten Erkrankungen (Mielck 2000, 2002, 2005; Helmert et. al. 2000, Mackenbach 2006, Bauer et.al 2008; Sachverständigenrat 2005 usw.)

Neben der Morbidität ist auch die Mortalität von Armut betroffener Menschen in unserer Gesellschaft erhöht. So besteht ein Lebenserwartungsunterschied von elf Jahren bei den Männern und von acht Jahren bei den Frauen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Viertel der deutschen Bevölkerung (Lampert & Kroll 2015). 31% der von Armut betroffenen Männer erreicht nicht das 65. Lebensjahr. Im Hinblick auf die Zahlen zur "gesunden Lebenserwartung" liegt der Unterschied zwischen der "Armutsgruppe" (Einkommen <60 %) zur "Reichtumsgruppe"(Einkommen >150% in Bezug zum Durchschnittseinkommen) bei den Frauen bei 10,2 Jahren und bei den Männern bei 14,3 Jahren.

Von Armut und Ungleichheit in Bezug auf die Gesundheitsversorgung sind in Deutschland besonders folgende Bevölkerungsgruppen betroffen:

  • Menschen mit einem regulären, gesetzlichen Sozialleistungsanspruch
  • Empfänger*innen von Arbeitslosengeld II/Sozialgeld
  • Wohnungslose Menschen
  • Haftentlassene
  • Menschen über 55 Lebensjahre, die in der PKV versichert sind
  • EU-Bürger*innen
  • Asylbewerber*innen
  • Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus (Papierlose oder Illegalisierte)

Das Gesundheitssystem in Deutschland zeigt zunehmend Versorgungsdefizite und Lücken gegenüber verschiedenen Personengruppen auf. Dies hat strukturell bedingte gesundheitsgefährdende Auswirkungen. Die Morbidität und die Mortalität in bestimmten Bevölkerungsgruppen nehmen signifikant zu. Im Folgenden wird die Versorgungssituation besonders betroffener und vulnerabler Personengruppen dargestellt.

1. Die Gesundheitsversorgungssituation von Menschen mit einem regulären, gesetzlichen Sozialleistungsanspruch

Personen, die erwerbsfähig und hilfebedürftig sind, gewöhnlich in Deutschland leben und sich im Alter zwischen 15 und 65 beziehungsweise 67 Jahren (abhängig vom Renteneintrittsalter) befinden sowie Menschen, die mit den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zusammen leben, haben einen rechtmäßigen Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II (Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch). Alle anderen Personen, beispielsweise Rentner*innen und erwerbsgeminderte Personen, - also alle, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, können bei Hilfebedürftigkeit Leistungen nach dem SGB XII beantragen (Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch). Durch den Bezug der Leistungen entsteht gleichzeitig eine Krankenversicherungspflicht und die zu zahlenden Beiträge müssen dann, unabhängig von der zuständigen Krankenkasse (GKV/PKV), von der zuständigen Sozialbehörde übernommen werden (vgl. ebd.).

Den gesetzlichen Bestimmungen zur Folge haben Menschen in prekären Lebenssituationen somit zwar einen Anspruch auf eine Krankenversicherung, dennoch entstehen für sie, in Abhängigkeit von den spezifischen Lebensumständen, unterschiedliche Probleme im Bereich der Gesundheitsversorgung.

1.1 Gesundheitsversorgungssituation von ALG II/Sozialhilfeempfänger*innen

Soziale Transferleistungen sollen Hilfebedürftigen und den Angehörigen ihrer Bedarfsgemeinschaft eine minimale Existenz und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Der auszuzahlende monatliche Regelsatz wird von der Regierung jährlich neu festgelegt und ist für SGB II- und SGB XII-Bezieher*innen gleich hoch. Seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze, und der damit einhergehenden Zusammenlegung des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe, wird die Höhe des Satzes von vielen Wohlfahrtverbänden kritisiert. Ein Regelsatz für Hilfeempfänger*innen von derzeit 409 EUR (Januar 2017) kann der Armut nicht entgegenwirken und den Menschen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Von Armut sind neben Alleinerziehenden, Kindern und alten Menschen vor allem Erwerbslose betroffen. Bei einer genaueren Betrachtung des Regelsatzes ergibt sich für die Gesundheitspflege ein Betrag von momentan 17,58 EUR (4,30 Prozent), welcher den Hilfebedürftigen monatlich zur Verfügung steht. Die Bezieher*innen von Sozialleistungen müssen Zuzahlungen für beispielsweise Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Krankentransporte und therapeutische Heilbehandlungen leisten. Diese Tatsache ist für Hilfeempfänger*innen gerade zu Jahresbeginn schwierig, da die Zuzahlungsbefreiungsgrenze erst erreicht wird, wenn sie 2 Prozent ihres Bruttojahreseinkommens, - dies entspricht zurzeit einem Betrag von 98,16 EUR gezahlt haben. Chronisch Erkrankte müssen nur ein Prozent, momentan 49,08 EUR, zahlen bis sie die Belastungsgrenze erreicht haben. Für beide Varianten gilt, dass eine Zuzahlungsbefreiung bei der versorgenden Krankenkasse schriftlich beantragt werden muss (vgl. Steiner 2014: 109). Ein weiteres finanzielles Problem stellt die Tatsache dar, dass beispielsweise Brillen, Hörgeräte und auch Mittel zur Empfängnisverhütung nur im Einzelfall und unter ganz bestimmten Umständen von der Krankenkasse übernommen werden und diese deshalb vom Regelsatz gezahlt werden müssen.

1.2 Gesundheitsversorgungssituation von Wohnungslosen

Einen Anspruch auf soziale Transferleistungen haben auch wohnungslose Menschen, sofern sie die unter Punkt 1 genannten Voraussetzungen erfüllen. In einem Bericht der BAG W von 2012 konnten Daten bezüglich des Krankenversicherungsstatus von 20.702 Betroffenen mit Hilfe lokaler Versorgungseinrichtungen erhoben werden. Den Angaben zu Folge hatten von den befragten wohnungslosen Männern und Frauen 15,1 Prozent keine Krankenversicherung, zusätzlich konnten bei 4,5 Prozent bezüglich der Versicherung keine klaren Angaben gemacht werden (vgl. BAG W: Statistikbericht 2012). Menschen, die auf der Straße leben, in Wohnheimen übernachten oder von akuter Wohnungslosigkeit bedroht sind, suchen medizinische Versorgungseinrichtungen erst in Notfällen auf, so der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (2014). Institutionen, Verbände und Vereine haben dieses Problem bereits seit vielen Jahren erkannt und deshalb in vielen Städten niedrigschwellige und zum Teil auch aufsuchende medizinische Angebote installiert.

1.3 Gesundheitsversorgungssituation von Haftentlassenen

Personen, die aus der Haft entlassen werden, haben bezüglich ihrer Krankenversicherung ein weiteres administratives Problem, welches die Gesundheit aber akut gefährden kann. In der Haft werden anfallende Kosten für die Behandlung von gesundheitlichen Problemen gemäß den Paragraphen 56-62a im Strafvollzugsgesetz abgedeckt (Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976). Während der Zeit in der Justizvollzugsanstalt ruht die gesetzliche oder auch private Krankenversicherung gemäß S 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V, vorausgesetzt die Person war vor Haftantritt versichert (vgl. ebd.). Insbesondere vor der Haft nicht versicherte Personen müssen mit dem Tag ihrer Entlassung unverzüglich einen Antrag auf ALG II beziehungsweise Grundsicherung stellen, sofern kein Arbeitsverhältnis besteht, und sich bei der zuständigen Krankenkasse melden damit sie wieder in die Krankenversicherung aufgenommen und die Kosten von den entsprechenden Ämtern übernommen werden. In der Praxis, so berichtet die Medizinische Ambulanz ohne Grenzen in Mainz, ergeben sich für Haftentlassene in dieser Situation folgende Probleme:(1)

  • Ein Antrag auf ALG II/Sozialhilfe kann nicht vorbereitend aus der Haft gestellt werden, die Personen müssen theoretisch am Tag ihrer Entlassung persönlich bei den Ämtern vorsprechen. In der Regel schließen die Ämter jedoch schon um 12 Uhr oder können nur mit einem Termin aufgesucht werden.
  • In der Regel muss mit einer derzeitigen (2016) Bearbeitungszeit ab Antragsabgabe von vier bis sechs Wochen gerechnet werden.
  • Für die Antragsabgabe werden zahlreiche Dokumente und Nachweise, wie beispielsweise eine Bescheinigung über die Wahl der Krankenkasse oder eine Meldebescheinigung vom Bürgeramt, benötigt.
  • Das zuständige Amt informiert zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Krankenkassen über die Leistungsberechtigten und die damit einhergehende Übernahme der Beiträge. Eine individuelle Anmeldung kann aus logistischen Gründen nicht erfolgen.
  • In diesem Zeitraum verfügen die Haftentlassenen über keinerlei Versicherungsnachweis (Versichertenchipkarte oder Behandlungsschein) und können somit keine medizinischen Leistungen in Anspruch nehmen.
1.4 Gesundheitsversorgungssituation von Menschen in der PKV über 55 Jahre

Der Gesetzgeber möchte in Deutschland verhindern, dass Menschen, die in jungen Jahren in der PKV versichert waren und die Vorzüge dieser genossen haben, im Alter in das System der GKV wechseln und sich erst zu diesem Zeitpunkt für die günstigere Sozialversicherung entscheiden. Ein Wechsel von der PKV in die GKV ist aus diesem Grund laut Gesetzeslage ab 55 Jahren nicht mehr möglich und stellt eine logische Konsequenz dieser Perspektive dar. Bei dieser Bestimmung wird jedoch nicht das zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehende Einkommen der privat Versicherten beachtet: Personen, die beispielsweise in jüngeren Jahren selbständig waren und sich deshalb für die PKV entscheiden konnten, aber zu einem späteren Zeitpunkt ihre Selbständigkeit aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben mussten oder mit der Tätigkeit nur noch ein geringes Einkommen erzielen und nicht über weitere absichernde Maßnahmen, wie eine private Altersvorsorge, Arbeitsunfähigkeits- oder Lebensversicherung, verfügen, können folglich die hohen Beiträge in der PKV nicht mehr zahlen. Erst mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden wurde im Juni 2013 der Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt: Nach einem gesetzlich festgelegten Mahnverfahren werden Personen, die ihre Beiträge nicht mehr gezahlt haben, automatisch in den Notlagentarif überführt und bleiben solange in dem Tarif bis alle Schulden beglichen sind (vgl. Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz 2014). Zwar ist dieser Tarif mit etwa 100 Euro monatlich sehr günstig, die Versicherten verfügen in dieser Zeit aber auch nur über einen eingeschränkten Versicherungsschutz, der ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung abdecken soll und vergleichbar mit den medizinischen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist.


2. Die Gesundheitsversorgungssituation von EU-Bürger*innen

Immer mehr Personen aus den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union nehmen das Recht auf Freizügigkeit, vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland zu leben, zu arbeiten, Arbeit zu suchen oder ihren Ruhestand zu verbringen, in Anspruch. Die meisten Menschen zogen dabei aus den osteuropäischen Staaten zu: sie kamen aus Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014: 74). In Bezug auf die Gesundheitsversorgungssituation haben zugewanderte EU-Bürger*innen in Abhängigkeit von ihrer Lebenssituation unterschiedliche Rechte und Ansprüche. Grundsätzlich gilt jedoch, dass alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, theoretisch laut Gesetzeslage krankenversichert sein müssen. Gerade für zugewanderte Menschen, deren Migration durch ein Leben in Armut im Herkunftsland bedingt ist und die auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden, wird es kaum möglich sein, finanzielle Mittel für die nachfolgend beschriebenen Krankenversicherungen aufzubringen. Personen, die sich für einen begrenzten Zeitraum in Deutschland aufhalten und in ihrem Herkunftsland weiterhin krankenversichert sind, können "sämtliche Sachleistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, die dort regulär vorgesehen sind und die erforderlich sind, um bei einer Erkrankung nicht unmittelbar zurückreisen zu müssen", so Voigt (2014: 5) über das europäische Krankenversicherungsrecht. Die Versicherten erhalten in diesem Fall von ihrer Krankenversicherung im Herkunftsland eine Europäische Krankenversicherungskarte (European Health Insurance Card, EHIC). Für den Fall, dass der Aufenthalt alleine einer medizinischen Versorgung dient, muss die Krankenkasse aus dem Herkunftsland dieser Behandlung jedoch im Vorhinein zugestimmt haben (vgl. Voigt 2014). Mit Ausnahme von Saisonarbeiter*innen und Personen, die im Auftrag ihrer Firma für eine bestimmte Zeit nach Deutschland entsandt werden, sind alle EU-Bürger*innen mit einem regelmäßigen Einkommen über 450 Euro monatlich in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Die Wahl der Krankenkasse steht den Arbeitnehmer*innen frei, der/die Arbeitgeber*in muss die beschäftigte Person bei dem Versicherungsunternehmen mit Beginn der Tätigkeit anmelden und monatlich die gesetzlich vorgeschriebenen Beiträge abführen (vgl. ebd.). Schwieriger gestaltet sich die Situation für EU-Bürger*innen, die keiner angemeldeten Tätigkeit nachgehen und in Deutschland auf Arbeitssuche sind. Prinzipiell wären sie bei einem Bezug von ALG II über das Jobcenter, welches die Krankenkassenbeiträge zahlen muss, abgesichert. In der Realität werden die meisten Anträge von EU-Bürger*innen auf ALG II abgelehnt, da sie sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten und ein Bezug aus diesem Grund laut den Vorgaben im SGB II nicht rechtens ist. Viele Sozialgerichte und Rechtsexpert*innen betrachten diesen Leistungsausschluss jedoch als rechtswidrig, da er gegen die Vorschriften des Europarechts verstößt (vgl. ebd.). Die diesbezüglichen Äußerungen der Arbeits- und Sozialministerin Nahles manifestieren diese rechtlich und menschlich problematische Praxis. EU-Bürger*innen, die in Deutschland ein Gewerbe anmelden und damit einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen, müssen sich entweder in der GKV oder PKV krankenversichern. Eine private Krankenversicherung, mindestens im Basistarif, müssen auch Personen abschließen, die dem Arbeitsmarkt auf Dauer nicht zur Verfügung stehen. Ein großes finanzielles Problem stellt für alle zugezogenen EU-Bürger*innen die Tatsache dar, dass durch das Bestehen der Versicherungspflicht in Deutschland, Beiträge auch rückwirkend erhoben werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Krankenversicherung erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen wird, obwohl die Person schon über einen gewissen Zeitraum in Deutschland lebt. Hierdurch haben Unionsbürger*innen relativ oft hohe Schulden, wenn sie sich verspätet bei einer Krankenkasse in Deutschland melden (vgl. Voigt 2014).


3. Die Gesundheitsversorgungssituation von Asylbewerber*innen

Personen, die in Deutschland ihrer Asylantrag gestellt haben und bei denen das Asylverfahren noch andauert oder abgelehnt wurde und sich dadurch ihr Aufenthaltsrecht auf eine Duldung beschränkt, besitzen keinen regulären gesetzlichen Krankenversicherungsschutz (vgl. Hügel/Eichler 2014). Anerkannte Asylbewerber*innen und Flüchtlinge hingegen, die einen subsidiären Schutz(2) genießen, sind von diesen Bestimmungen nicht betroffen: Sie haben einen Anspruch auf die in Deutschland bestehenden Sozialleistungen und können somit in der GKV krankenversichert werden.

Die medizinische Versorgungssituation der Asylsuchenden mit eingeschränkten Leistungen richtet sich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), welches 1993 in Kraft getreten ist, und wird im vierten Paragraphen (§ 4 Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt) festgehalten.

Aus diesen gesetzlichen Bestimmungen ergeben sich für Asylbewerber*innen, die sich weniger als 15 Monate in Deutschland aufhalten,(3) gravierende Einschränkungen im Gesundheitssystem: Sie werden nur bei "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen" und nur dann wenn diese "erforderlich" sind, behandelt. Beziehungsweise wird eine Kostenübernahme durch den Gesetzgeber über das Sozialamt für die Leistungserbringer*innen, wie beispielsweise niedergelassene Arztpraxen oder Krankenhäuser, alleine in diesen Fällen garantiert. Ausgenommen von dieser Regelung sind schwangere Frauen vor und nach der Geburt ihres Kindes, auch Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen für Kinder sind per Gesetz vorgeschrieben (vgl. Voigt 2015). Eine weitere gesundheitliche Einschränkung besteht dem Gesetz zu Folge bei chronischen Erkrankungen, die primär keine Schmerzen verursachen, wie beispielsweise ein Diabetes Mellitus. Der sechste Paragraph im AsylbLG besagt zwar, dass "Sonstige Leistungen [...] insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung [...] der Gesundheit unerlässlich [...] sind" (BGBl), dennoch wird von den zuständigen Behörden in der praktischen Auslegung und Handhabung oft anders verfahren: Medikamente, Heil- und Hilfsmittel, wie Brillen oder Hörgeräte und kurative Behandlungen werden abgelehnt (vgl. Voigt 2015). In den meisten deutschen Bundesländern müssen sich die Asylsuchenden einen Krankenbehandlungsschein beim zuständigen Sozialamt abholen, mit dem sie dann zu einem/einer niedergelassenen Arzt*in gehen können. Die unabhängige Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert in diesem Zusammenhang, dass eine medizinische Versorgung für die Asylsuchenden und Geduldeten aufgrund der bürokratischen Wege nicht unverzüglich erfolgen kann. Die notwendigen Behandlungsscheine werden zudem in den Sozialämtern durch fachfremdes Personal, welches sich nicht mit den Krankheitssymptomen und Diagnosen auskennt, ausgestellt und gemäß Paragraph 4 des AsylbLG vorgeprüft (vgl. Pro Asyl 2011: 17 f.). Diese Tatsache wird 2014 unter anderem auch auf dem 117.Deutschen Ärztetag in Düsseldorf thematisiert: "Der Deutsche Ärztetag kritisiert, dass medizinisch nicht qualifizierte Mitarbeiter des Sozialamts entscheiden, ob sie einen Krankenschein ausgeben oder nicht" (Dahlkamp/Popp 2014). Laut Montgomery, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, dürfen Ärzte und Ärztinnen außerdem nicht zu "Sozialrichtern" werden, weil sie aufgrund der Gesetze darüber entscheiden müssen, welchen Patienten sie wie behandeln (vgl. ebd.).

Der Deutsche Ärztetag beschreibt zudem die häufigsten Erkrankungsbilder von Flüchtlingen und bemängelt eine generelle Unterversorgung durch professionelle Psycholog*innen der traumatisierten und auch besonders schutzbedürftigen Menschen": "Untersuchungen haben gezeigt, dass ca. 40 Prozent der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, ausgelöst durch traumatische Situationen, wie Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung, Folter oder Flucht." (Bundesärztekammer 2014)

Ein weiteres Problem stellt neben der nicht ausreichenden Anzahl von zur Verfügung stehenden Psycholog*innen/Psychiater*innen die Tatsache dar, dass Asylbewerber*innen bei ihrer Behandlung auf professionelle Dolmetscher*innen, die über fachspezifische Kenntnisse verfügen, angewiesen sind und hier große Versorgungslücken bestehen. (Pro Asyl 2014).


4. Die Gesundheitsversorgungssituation von Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus (Papierlose oder Illegalisierte)

Der Personenkreis der Papierlosen besitzt keine gültigen Papiere, verfügt nicht über eine Aufenthaltsgenehmigung mit entsprechendem Titel und ist dem Gesetz nach ausreisepflichtig. Aus Angst vor einer Abschiebung verhalten sich Illegalisierte im Alltag möglichst unauffällig. Ein Großteil entwickelt in dieser bedrohlichen Lebenssituation "Depressionen und andere psychische Störungen" (Groß 2005: 6). Neben den psychischen Belastungen verschlechtern auch Arbeits- und allgemeine Lebensbedingungen, wie schlechte Wohnverhältnisse, in dieser unsicheren Situation den allgemeinen gesundheitlichen Zustand der Menschen. Ohne gültige Papiere müssen sie beispielsweise Arbeitsverhältnisse zu schlechten Bedingungen eingehen, die keiner rechtlichen Kontrolle unterliegen (vgl. Groß 2005). Aus Angst vor Entdeckung und aufgrund des erschwerten Zugangs "Wird oft erst bei ernsten Beschwerden medizinische Hilfe gesucht und es kommt zu Chronifizierungen" der Erkrankungen (Groß 2005: 6). Finanzielle Mittel für notwendige Medikamente, oder Behandlungen, die privat gezahlt werden müssen, stehen den Betroffenen oft nicht zur Verfügung (vgl. ebd.). Seit dem 1.3.2015 haben auch Papierlose ein Anrecht auf eine medizinische Notfallbehandlung. Das medizinische Personal ist zu einer Behandlung verpflichtet und die versorgenden Einrichtungen können auch im Nachhinein aber zeitnah, gemäß Paragraph 6 a AsylbLG, ohne Angaben zur Person eine Kostenerstattung beim zuständigen Sozialamt beantragen (vgl. Voigt 2015: 17). Diese gesetzliche Veränderung soll einerseits bewirken, dass Papierlose durch einen "Verlängerten Geheimnisschutz" (Voigt 2015: 17) nun nicht mehr aus Angst vor einer Weitergabe der persönlichen Daten die Behandlung scheuen und außerdem medizinische Einrichtungen die Patient*innen weniger zurückweisen, weil sie nicht mehr befürchten müssen, dass die Kosten nicht übernommen werden (vgl. Voigt 2015: 37). Obwohl der sogenannte Nothelferparagraph im AsylbLG verankert ist, gibt es weiterhin strittige Fälle. Die entsprechende Rechtsprechung steht derzeit noch aus.

Innerhalb der Diskussion zur Gesundheitsversorgung von sozial benachteiligten Menschen in Deutschland sind drei Handlungsebenen bzw. Aktionsbereiche von entscheidender Bedeutung:

  • Erstens muss auf der praktischen Ebene schnell, kompetent, betroffenenzentriert agiert werden. Aufgrund der Feststellung, dass das bestehende Gesundheitssystem zunehmend Menschen in besonderen Lebenslagen nicht erreicht, sind Überlegungen im Sinne einer Umstrukturierung der medizinischen Versorgung notwendig. Die klassische Komm-Struktur im ärztlichen Bereich (Patient kommt zum Arzt) ist durch die Praktisierung einer Geh-Struktur, der Arzt geht zum Patienten, zu ergänzen. Ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot "vor Ort", innerhalb sozialer Brennpunkte, Wohnungsloseneinrichtungen, Drogenberatungsstellen, Arbeitsämter, Schulen, Kindergärten muss verstärkt und konsequent realisiert und praktisch umgesetzt. Dies sollte interdisziplinär durch eine enge Zusammenarbeit von Sozialarbeit und Medizin geschehen.
  • Zweitens sind die gesellschaftsstrukturellen Verursachungsmechanismen zu benennen, zu kritisieren und zu skandalisieren. Um hier nachhaltig eine Verbesserung der Versorgungsangebote, sich widerspiegelnd in Gesetzestexten, Bestimmungen, Handlungsanweisungen usw. zu erreichen, zu implementieren und zu manifestieren. Unser derzeitiges Gesundheitssystem ist nicht mehr als solidarisch zu bezeichnen, dies muss revidiert werden, ein Konzept hierzu wäre das der Bürgerversicherung.
  • Drittens ist eine von Respekt und Wertschätzung geprägte Diskussion zum Kontext Armut und Gesundheit einzufordern. Dies ist leider, gerade auch im Hinblick von Äußerungen bedeutender politischer Entscheidungsträger, immer noch nicht durchgängig der Fall.

Es geht nicht um fehlende materielle Ressourcen, es geht um die Verteilung vorhandener Ressourcen. Die bisher realisierten und geplanten Gesetzesänderungen im Gesundheitswesen gehen zu Lasten armer, sozial benachteiligter Menschen. Hohe Krankenkassenbeiträge, Zuzahlungen, höhere Eigenbeteilungen, die Streichung von medizinischen Leistungen führen zu höheren Erkrankungsprävalenzen und einer deutlich gesteigerten Morbiditäts- und Mortalitätsquote verarmter Menschen. Abbé Pierre, französischer Geistlicher, der u.a. die Emmaus-Bewegung gründete, sagte einmal: "Habe Respekt vor Gesetzen, wenn diese respektvoll in der Anwendung für die Menschen sich zeigen." Zeigt die praktische Umsetzung der Gesundheitsgesetzgebung ein respektvolles Umgehen mit sozial benachteiligten Menschen? Unseres Erachtens eindeutig nicht.

Stéphane Hessel, Résistance-Mitglied, Mitverfasser der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, hat im Jahre 2010 eine bemerkenswerte Streitschrift verfasst, mit dem Titel: "Empört Euch!" In dieser Streitschrift kritisiert Hessel den Umgang mit armen Menschen in der Mitte Europas. Dies tut er, indem er die gezielte Unterdrückung, den Verlust an Menschenrechten beanstandet und die Macht des Finanzkapitalismus anprangert. Er schließt mit den Worten: "Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen." Wir sollten uns alle empören, wie mit sozial benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird, wie über deren Lebenssituation unzureichend, teilweise Fakten ignorierend, und Zusammenhänge negierend berichtet wird. Fangen wir an, Widerstand zu leisten gegenüber einer unsozialen, ungerechten Politik, uns konstruktiv und konsequent zu empören, in Solidarität mit, und Beteiligung von betroffenen Menschen. Stéphane Hessel: "Macht Euch klar; was euch stört und empört, und dann versucht herauszufinden, was ihr konkret dagegen unternehmen könnt." Ganz im Sinne Albert Camus', der immer wieder betonte, nicht die Revolution ist entscheidend, sondern die permanente andauernde Revolte.

Der dänische Therapeut Jesper Juul hat einen interessanten Begriff in die deutsche Sprache "eingeführt", den Begriff der Gleichwürdigkeit. Menschen in Würde zu begegnen und ihnen damit ein Stück Würde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist, wieder zurückzugeben. Diese Würde spiegelt sich gerade auch in einer für jeden, unabhängig seines sozialen Status, zugänglichen und umfassenden Gesundheitsversorgung wider. Die Würde, Respekt und Wertschätzung den von Armut betroffenen Menschen wieder zu vermitteln erfordert das Gehen neuer Wege der medizinischen Versorgung. Der Schweizer Philosoph Kurt Marti sagte: "Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen." Franz Kafka meinte sehr pragmatisch: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht." Fangen wir an neue wertschätzende, solidarische und inkludierende Wege im Gesundheitsversorgungssektor zu gehen.


Nele Kleinehanding,
Mainz, Sozialarbeiterin, Verein Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.

Gerhard Trabert, Prof. Dr. med. Dipl. Soz.-päd., Wiesbaden, Hochschule RheinMain


Anmerkungen:

(1) Die hier gemachten Angaben beruhen auf Erfahrungen im Kontext der Sozialen Beratung für den Verein Armut und Gesundheit in Deutschland e.V. und beziehen sich auf die Ämter der Stadt Mainz im Zeitraum von Oktober 2013 bis April 2015. Diese Erfahrungen werden bundesweit bestätigt.

(2) Subsidiären Schutz genießen alle Geflüchteten, die aufgrund ihrer "Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" verfolgt werden. Ursprünglich bezieht sich dieser Beschluss der Vereinten Nationen auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 (vgl. Hügel/Eichler 2014).

(3) Für alle Asylsuchenden, die sich seit 15 Monaten ohne Unterbrechung in Deutschland aufhalten, gelten die Bestimmungen nach dem zwölften Gesetzbuch und damit eine gesundheitliche Versorgung, die den Leistungen und Bestimmungen der GKV entspricht (vgl. Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2015, AsylbLG § 2 Leistungen in besonderen Fällen).

(4) Gemäß EU-Richtlinie 2013/33/EU sind unbegleitete Minderjährige, Behinderte, Ältere, Schwangere, schwer Erkrankte, Menschen mit psychischen Störungen und Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern besonders schutzbedürftig und müssen von den aufnehmenden Staaten besonders berücksichtigt werden (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union 2013).


Eine Literaturliste ist bei den Autoren erhältlich:
www.armut-gesundheit.de

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-17, 54. Jahrgang, S. 66-76
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2017

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