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OSSIETZKY/632: Der gute Kommissar aus Rumänien


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 23 vom 13. November 2010

Der gute Kommissar aus Rumänien

Von Volker Bräutigam


Die Europäische Union verfügt im kommenden Jahr über einen Haushalt von 130 Milliarden Euro. Mit fast 55 Milliarden Euro wird abermals die Landwirtschaft subventioniert. Mehr als 47 Milliarden fließen an Industrie, Gewerbe und Handel ab. So vergibt die Union von jedem Euro, den sie einnimmt, fast 80 Cent für die Wirtschaft. Nur 61 Millionen Euro, nicht einmal 0,0047 Prozent des Gesamtetats, hat sie für Hochschulbildung, Forschung und Innovationen übrig.

Die Keilerei um den nächsten Haushalt ist gerade erst beendet, da beginnen schon die Beratungen über den Finanzrahmen 2014-2019. Jedes Ressort verteidigt seinen Anteil. Die EU müßte aber ganz andere Prioritäten setzen. Den Haushalt umschichten. In Klimaschutz, Energieversorgung, Migration, Wissenschaft und Kultur investieren, in den Kampf für gerechten Welthandel und gegen den Hunger. Sie müßte intervenieren, damit in der von ihr so hoch subventionierten Landwirtschaft nicht fortwährend Arbeitsplätze abgebaut werden und die gnadenlose Konkurrenz der Großbetriebe gegen die Kleinbauern nicht die sozialen Strukturen auf dem Land aushöhlt. Zudem müßte Brüssel das Preisdumping für Nahrungsmittel stoppen, weil es weltweit den Markt verzerrt - mit tödlichen Folgen für Millionen hungernde Menschen, für bäuerliche Existenzen und nationale Landwirtschaften in den sogenannten Entwicklungsländern.

Daß sich die Agrarpolitik ändern muß, scheint der erst 41jährige EU-Kommissar Dacian Ciolos erkannt zu haben. Der rumänische Agrarfachmann macht in einer "Mitteilung an den Europäischen Rat, an das Europäische Parlament, an das Komitee für Wirtschaft und Soziales und an das Komitee für die Regionen" darauf aufmerksam, daß die EU-typische Überproduktion hochwertiger landwirtschaftlicher Güter (Geflügel, Fleisch, Rübenzucker, Milchprodukte, Weizen) die globale Versorgungskette belastet und den Weltmarkt destabilisiert. Auch nach Erkenntnissen der Welternährungsorganisation (FAO), die bis zum Jahr 2050 eine um 70 Prozent höhere Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln erwartet, produziere die europäische Landwirtschaft nicht bedarfsgerecht. Innerhalb der EU behindere die Landwirtschaftspolitik die Bemühungen um eine wirtschaftliche Angleichung der ländlichen Räume, sie störe das territoriale und soziale Gleichgewicht. Mit intelligenter und integrativer Wachstumsförderung habe sie wenig gemein. Im Klartext: Ciolos hält die bisherige EU-Agrarpolitik für eine Katastrophe, drückt das nur diplomatischer aus. Seine Änderungsvorschläge, obwohl nicht konkretisiert, wirken fast revolutionär:

Für Empfänger von EU-Fördermitteln sollen Einkommensobergrenzen gelten. Betriebe mit darüber liegenden Einkünften sollen keine EU-Direktzahlungen mehr erhalten. Falls Ciolos eine Beendigung der kostspieligen Marktinterventionen meint, mit denen die EU überschüssige Agrarprodukte zu hohen Garantiepreisen aufkauft - Stichwort: Milchquote - und dann zu Schleuderpreisen auf dem Weltmarkt absetzt: Dann würden Agrarfabriken und Großbauern nichts oder jedenfalls wesentlich weniger aus Brüssel erhalten als bisher, und die Kleinbauern bekämen bessere Chancen - wenn die Vorschläge aufgegriffen würden.

Auch Industrie-Unternehmen, die immer noch per Gießkanne aus EU-Steuermitteln des Landwirtschaftsetats bedacht werden, würden dann von der Benefiz-Liste gestrichen: Nahrungsmittelindustrie und Energieversorger gingen leer aus. Weder "Müller Milch" noch "Süd-Zucker", "Dr. Oetker" oder gar Energiekonzerne wie RWE bekämen weitere "Landwirtschaftsförderung" aus Brüssel. Ciolos geht noch weiter: Es sei denkbar, die EU-Direktzahlungen an ökologische Voraussetzungen zu knüpfen und nur die extensiv wirtschaftenden Betriebe zu fördern.

Ciolos zufolge sollte auch kein EU-Geld mehr an jene Industriebetriebe fließen, deren Güter zur Verschlechterung der Boden-, Grundwasser-, Oberflächengewässer- und Luftqualität beitragen. Das träfe die Düngemittelhersteller, Pestizid- oder Herbizidfabrikanten ebenso wie die Produzenten landwirtschaftlicher Großmaschinen.

Wenn der Kommissar alle Anregungen durchsetzen könnte, erhielten Massentierhalter und Agrarfabriken keine Zuwendungen mehr. Die Intensiv-Landwirtschaft geriete unter Druck. Den Nutzen hätten Biobauern und ihre Kundschaft. Eine solche Umsteuerung würde industriell erzeugte Nahrungsmittel verteuern, die Preise für Naturkost hingegen senken. Ein Segen.

Ciolos stellt nicht nur Effizienzfragen, wie es eben die Aufgabe eines Managers ist, sondern argumentiert auch politisch schlüssig: Der Gemeinsame Agrarmarkt bedürfe einer besseren demokratischen Legitimation. Milliardensubventionen für Bauern und Nahrungsmittelindustrie seien dem EU-Bürger nur vermittelbar, wenn das Geld der Lebensmittelqualität und -sicherheit, dem Umwelt- und dem Tierschutz, der Artenvielfalt, der Landschaftspflege und dem sozialen Ausgleich in der Gemeinschaft diene.

So überraschend der Vorstoß des Rumänen ist, so massiv mauert die Bauernlobby. Das Ciolos-Dokument geriet nur zufällig, durch ein "Leck", ins Internet. Die Diskussion über die Reformideen ist vertagt. Übersetzungen in die Landessprachen der EU gibt es nicht. Und weiter? Nicht einmal die linken noch auch nur die grünen EU-Parlamentarier rühren die Trommel für Ciolos. Freuen wir uns also nicht zu früh.


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreizehnter Jahrgang, Nr. 23 vom 13. November 2010, S. 865-867
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2010