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OSSIETZKY/610: Die deutsche Militärdoktrin


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 13 vom 26. Juni 2010

Die deutsche Militärdoktrin

Von Ulrich Sander


Welchen Auftrag hat das deutsche Militär? Vom Grundgesetz her nur den Verteidigungsauftrag. Insofern hatte Jürgen Trittin, Vorsitzender der Grünen, recht, als er die vom bisherigen Bundespräsidenten Horst Köhler auf dem Rückflug von Afghanistan, seiner letzten Dienstreise, holprig, aber deutlich gegebenen Hinweise auf die wirtschaftlichen Interessen, denen die Bundeswehr diene, als grundgesetzwidrig beanstandete. Aber diese auch von sozialdemokratischen Politikern geäußerte Kritik sorgte nicht für Klarheit über den tatsächlichen Auftrag des deutschen Militärs, im Gegenteil: Sie verschleierte, daß die Bundeswehr schon jahrzehntelang, spätestens seit dem Ende des Warschauer Pakts, nicht defensiv, sondern offensiv ausgerichtet ist, daß in den geltenden "Verteidigungspolitischen Richtlinien" seit 1992 die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" als militärische Aufgaben benannt sind, daß seitdem alle Regierungsparteien und -koalitionen, auch Rot-Grün, diese imperialistische Militärdoktrin gebilligt und angewendet haben und daß diese Doktrin inzwischen - der Öffentlichkeit verborgen - noch ausgeweitet worden ist und jetzt auch die militärische Gewaltanwendung im Innern umfaßt.

Begründer der neuen deutschen Militärdoktrin war Anfang der 1990er Jahre der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Laut Naumann hat die Bundeswehr "für deutsche Interessen" zu kämpfen und für das, was er laut Spiegel 3/93 dafür hält: "Es gibt zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen." SPD-Kriegsminister Rudolf Scharping formulierte Anfang 2001 auf dem Programmforum "Sicherheit für Deutschland", mit dem die SPD ihren Wahlkampf eröffnete, ganz unverblümt: "In 25 Jahren ist das Gas in der Nordsee alle, aber in der Region um Afghanistan und im Kaukasus ist alles vorhanden. Und ob dort regionale Sicherheit entsteht, ist im Interesse aller, die in Zukunft aus der Region Energie beziehen wollen."

Rot-Grün hat die alle Grenzen ("out of area") überschreitende Entwicklung und Verdrehung der Militärpolitik mitgemacht und gibt sich nun empört. Wenn künftig mal ein Politiker zu erkennen gibt, daß die Bundeswehr Krieg im Innern vorbereite, werden wir wieder Empörungsgeschrei hören. Aber die Beschlüsse dafür sind gefaßt, nur leider kaum veröffentlicht und beachtet.

Unter der Bezeichnung LUKEX 2010 - länderübergreifende Krisenmanagement-Übung - fand jetzt die vierte Übung dieser Art in der Nachfolge der WINTEX-Übungen aus der Zeit des Kalten Krieges statt. "Übung für Atom-Anschlag am Flughafen" titelte der Kölner Stadtanzeiger selbstentlarvend seinen Bericht - wo es doch wohl "gegen" heißen müßte. Gemeint war: Der "weltweite Terror" werde nicht nur in Afghanistan und am Horn von Afrika bekämpft, sondern auch bei uns zu Hause. Und zu den "Terroristen" sind laut Bundeswehrdokumenten auch Demonstranten, Globalisierungsgegner und ähnliche zu zählen. Nicht nur in Afghanistan spielt zudem die Polizei als Hilfstruppe der Bundeswehr eine große Rolle, sondern auch im Inland soll die Bundeswehr mit der Polizei zusammenwirken. Zwischen 1000 und 1500 Polizisten und Soldaten waren gemeinsam in Köln im Einsatz.

Mit den Zeitungsüberschriften ist es so eine Sache. Mit den wirklichen und den nicht erschienenen. Spätestens am Samstag, dem 19. Februar 2005, wäre folgende Schlagzeile in den Zeitungen fällig gewesen - sie unterblieb jedoch: "Bundeswehrkader um Millionen Reservisten vergrößert - Einsatzalter auf 60 Jahre angehoben". Am 17. Februar 2005 hatte nämlich der Bundestag in einer Nachtsitzung das "Gesetz über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes" beschlossen. Ohne mündliche Aussprache und fast ohne Berichterstattung der Medien. Mit dem Gesetz wurde das Alter, bis zu dem Reservisten zu Einsätzen - nicht nur zu Übungen - mobilisiert werden können, auf 60 Jahre angehoben. Reservistinnen und Reservisten wurden in den Umbau - man sagt hier "Transformation" - der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee aktiv einbezogen. Mit Paragraph 6c des Gesetzes regelte der Bundestag den Einsatz der Bundeswehr im Inneren der Bundesrepublik Deutschland; die Reservistinnen und Reservisten sind einbezogen.

Am 29. August 2009 hätte die Schlagzeile lauten müssen: "Bundesregierung will mit Bundeswehr Streiks bekämpfen". Eine Antwort der Bundesregierung an die Linkspartei im Bundestag vom 28.8.09 besagte eindeutig, daß die Kampfbedingungen der Gewerkschaften erheblich eingeschränkt werden. Zumindest im Öffentlichen Dienst steht Streikbruch mittels Bundeswehr auf der Tagesordnung. Denn in der Antwort an den Bundestag schließt das Bundesverteidigungsministerium nicht aus, daß die ZMZ-Kommandos (Zivil-Militärische Zusammenarbeitskommandos) bei Demonstrationen zum Einsatz kommen. Dies obliege den Landesbehörden. Selbst der bewaffnete Militäreinsatz anläßlich von Streiks im Transport-, Energie- oder Gesundheitswesen sowie bei der Müllabfuhr wird nicht ausgeschlossen - eine Entscheidung darüber sei "dem jeweiligen Einzelfall vorbehalten".

Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Linkspartei) kommentierte: "Die Bundesregierung hält sich damit alle Optionen für den Militäreinsatz im Inneren offen. Die ZMZ-Kommandos wirken gleichsam als militärische Vorauskommandos, die schleichend in die zivilen Verwaltungsstrukturen einsickern. Das Konzept der ZMZ läuft damit letzten Endes auf einen offenen Verfassungsbruch hinaus."

"Militarisierung schreitet voran", meldet Neues Deutschland am 31. Mai 2010, aber auch nicht als Schlagzeile, sondern unauffällig auf Seite 14 unter "Aus den Ländern". Berichtet wird über Verträge der Bundeswehr mit den Job Centers und den Schulministerien der Länder, die den Zweck verfolgen, Schüler und Berufsanfänger zu indoktrinieren und anzuwerben. Ein Thema, das weit größere Beachtung verdient.

Denn der heutige globale Kapitalismus steuert weltweit "auf einen autoritären Ausweg" zu, schreibt Conrad Schuhler im jüngsten ISW-Report. Die Teilung in Menschen im Überfluß und solche in Not und Unsicherheit finde sich zunehmend in den "Wohlstandsgesellschaften" selbst: einerseits gute Arbeit, Mitgestaltung und Konsum für Wenige, andererseits sinnentleerte Arbeit, Kommandostrukturen und Existenzminimum für Viele. Die Zahl der "Verlierer" werde national und global weiter zunehmen. Zäune um die Wohlstandsinseln zu errichten, werde nicht genügen. "Die wachsenden Massen der Armen und Hoffnungslosen", so Schuhler, "müssen unter Kontrolle gehalten werden, und die Kontrollmaßnahmen werden um so mehr Zwang enthalten, je mehr das Einverständnis oder das bloße Stillhalten der Verlierer abnimmt. National müssen aus der Logik dieser Art von Kapitalherrschaft Elemente des Polizei- und Überwachungsstaates, international der immer totaleren militärischen Kontrolle erwachsen." So erklärt sich, daß in Deutschland die politischen und ökonomischen Eliten den Einsatz der Bundeswehr im Innern und die Verschmelzung aller Sicherheitssysteme - vor allem Militär und Polizei - immer nachdrücklicher anstreben.


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreizehnter Jahrgang, Nr. 13 vom 26. Juni 2010, Seite 466-468
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010