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OSSIETZKY/904: Die türkische Wirtschaft strauchelt


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 10 vom 7. Mai 2016

Die türkische Wirtschaft strauchelt

von Alp Kayserilioğlu


Seit geraumer Zeit ist das Verhältnis zwischen Großkapital und AKP-Regierung angespannt. Um es genau zu sagen: seit dem Juniaufstand im Jahre 2013, als einige wichtige und große Kapitalgruppen, zum Beispiel Koç, Garanti oder Boyner, mehr oder minder direkt die Protestierenden unterstützten, um bei einem Machtwechsel nicht dumm dazustehen. Es folgten Erdogans Tiraden gegen die »Finanzlobby«, die im Bunde mit ausländischen Mächten versuche die Regierung zu stürzen, und steuerrechtliche Strafzahlungen für unliebsame Kapitalgruppen. 2015 beschwerte sich das Großkapital deutlich vernehmbarer. Der TÜSIAD, die Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute, die die zumeist westlich-laizistisch orientierten sowie größten und am weitesten entwickelten Kapitalfraktionen der Türkei repräsentiert, meldete sich mehrmals zu Wort. So sprach der TÜSIAD nach der Parlamentswahl vom 7. Juni davon, dass nach einer Periode der gesellschaftlichen Polarisierung nun eine Koalitionsregierung sowie die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Friedens vonnöten seien. Bekanntermaßen machte der türkische Staat das Gegenteil davon und entfachte erneut den Krieg. Woraufhin der TÜSIAD im September ein letztes Mal konstatierte: Wäre eine Koalitionsregierung gebildet worden, wäre der Konflikt nicht so hochgekocht. Wortwörtlich hieß es in der Erklärung: »Wir können keine weiteren Probleme mehr ertragen.« Selbstverständlich arrangierte sich das Großkapital nach der Wiedererlangung der Macht durch die AKP bei der Wahl am 1. November 2015 mit Erdogan, empfahl aber erneut sofort Stabilität und »Reformen«. Da nichts dergleichen geschah, erschien im Februar 2016 eine TÜSIAD-Studie mit dem Titel »Die türkische Wirtschaft und die Weltwirtschaft am Beginn des Jahres 2016«, die im Tonfall und in den Ergebnissen äußerst pessimistisch und düster ausfiel.

Dabei schien doch alles so schön!

Denn das Kapital hatte unter der AKP eigentlich allen Grund zur Freude gehabt. Entgegen der lange Zeit vorherrschenden kulturalistischen Lesart, derzufolge mit der AKP eine moderat-islamische Kraft gegen die laizistischen Kräfte kämpfe, war es wirtschaftspolitisch der Fall, dass die AKP erfolgreich die neoliberale Ordnung im Sinne des Gesamtkapitals und besonders der führenden, eher westlich-laizistisch orientierten Kapitalfraktionen durchsetzen konnte. In den 1990ern kam das Projekt der neoliberalen Ordnung aufgrund mehrerer politischer Krisen, dem permanenten Krieg in Kurdistan und aufgrund der Dominanz der sicherheitspolitischen Interessen des Militärs als führendem Staatsapparat ins Stocken. Die große ökonomische Krise in der Türkei im Jahre 2001 war dann die Gelegenheit, die die AKP ausnutzte, um sich gegen die diskreditierten alten politischen und bürokratischen Eliten zu profilieren und das Ruder in die Hand zu nehmen. Die AKP organisierte mit einem liberal-islamischen Diskurs und karitativen Tätigkeiten eine stabile Zustimmung in der Bevölkerung, drückte das neoliberale Programm vollends durch, entmachtete das den neuen globalen Bedingungen gegenüber unflexible Militär und ersetzte dessen Dominanz innerhalb des Staates durch die Dominanz der Exekutive.

Die wirtschaftlichen Folgen können sich - aus der Perspektive des Großkapitals - sehen lassen: Hervorheben lässt sich erstens die massive Privatisierungswelle. Während im gesamten Zeitraum von 1984 bis zum Machtantritt der AKP Privatisierungen in Höhe von umgerechnet circa 8,2 Milliarden US-Dollar vorgenommen wurden, erfolgten in der Periode der AKP (2002-13) Privatisierungen im Wert von knapp 50 Milliarden Dollar. Die größten und wichtigsten Betriebe gingen an das eher westlich-laizistisch orientierte Großkapital, das im TÜSIAD organisiert ist. Zum Beispiel das größte Ölraffineriekonglomerat der Türkei, TÜPRAŞ. TÜPRAŞ wurde zu 51 Prozent von einem Konsortium aus Shell und Koç erworben. Die Koç-Holding, die größte Unternehmensgruppe der Türkei und das Flaggschiff des TÜSIAD, konnte ihr Gesamtvermögen unter der AKP auf mehr als das Siebenfache steigern: von knapp 7,2 Milliarden Dollar im Jahre 2002 auf 51,2 Milliarden Dollar im Jahre 2012. Überhaupt ist der TÜSIAD im Hinblick auf die wichtigen Kennziffern, vom Export über den Börsenwert bis hin zum Gesamtumsatz, dem MÜSIAD (Verein unabhängiger Unternehmer und Industrieller), der eher die Interessensvertretung der sogenannten »anatolischen Tiger« oder »islamischen Kalvinisten« darstellt, doppelt bis dreifach überlegen. Kein Wunder, dass die AKP über die Jahre hinweg und bis auf einige wenige Konflikte begeistert vom TÜSIAD unterstützt wurde.

In den sauren Apfel beißen mussten die Werktätigen der unterschiedlichsten Sektoren. Während die Arbeitsproduktivität stieg, fielen die Reallöhne. Das Kleinbauerntum und der Kleinhandel erlebten einen rasanten Abstieg. Vor allem die an das neue Arbeitsrecht (2003) anschließenden Reformen vereinfachten Kündigungen und erlaubten ein grassierendes Subunternehmertum. Zusätzlich weitete sich die informelle Beschäftigung aus, so dass im Jahre 2010 bereits 47 Prozent der arbeitenden Bevölkerung informell beschäftigt waren.

Die Kehrtwende

Die Kehrtwende kam spätestens im Jahr 2013, als sich die nur mühsam überdeckten Schwächen der türkischen Wirtschaft vollends offenbarten. Zwar war viel privatisiert worden, und die Vermögen der größten Kapitalgruppen vervielfachten sich, aber eine Erneuerung oder technologische Erweiterung der industriellen Basis fand nicht statt. So blieb die türkische Industrie massiv von Importen abhängig - bei einigen Industrieprodukten bis zu 75 Prozent. Diese massive Importabhängigkeit führte zu einem strukturellen Handelsbilanzdefizit, das jährlich durchschnittlich sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachte. Finanziert werden konnte dies, wie übrigens die Privatisierungen auch, durch einen massiven Kapitalfluss von außen: Knapp 440 Milliarden Dollar ausländischen Kapitals floss im Zeitraum von 2003 bis 2013 in Form von Direktinvestitionen, Aufkauf von Wertpapieren und Bankenkrediten ins Land. Diese Kredite kompensierten übrigens auch das Wegbrechen der Lohneinkommen bei den Werktätigen. Möglich war das unter anderem, weil die imperialistischen Zentren des kapitalistischen Weltsystems mittels quantitative easing (oder ähnlichen Methoden) über die Zentralbanken viel billiges Geld für die Geschäftsbanken bereitstellten, was diese horteten, in den Rückkauf von Aktien steckten - oder eben in Länder der kapitalistischen Peripherie investierten, die höhere Zinsen versprachen.

Ab 2013 war klar, dass sich der Trend umkehrt, denn die US-amerikanische Zentralbank Fed hatte angekündigt, die Zinsen wieder anzuheben, was einerseits das einfache Arbitrage-Spielchen für die Geschäftsbanken schwieriger oder weniger attraktiv machen würde, andererseits Investitionen und Anlagen in den USA und anderen Zentren wieder attraktiv erscheinen lassen würde. Die erwarteten gravierenden Veränderungen traten im Jahr 2015 vollends zutage: Insgesamt 735 Milliarden Dollar an Kapital zogen in diesem Jahr aus den peripheren Ländern ab, moniert die eingangs erwähnte TÜSIAD-Studie. Das hatte einen Einbruch der jeweiligen peripheren Währungen zur Folge. Die Türkische Lira (TL) verlor zum Beispiel 2015 im Vergleich zum US-Dollar 30 Prozent ihres Wertes, von etwa 2,34 TL auf 3,04 TL (und erholt sich derzeit leicht auf um die 2,80 TL). Gegenüber dem Euro fiel die TL im selben Zeitraum ebenfalls um knapp 25 Prozent. Aber jede Entwertung der TL gegenüber dem Dollar und dem Euro bedeutet eine Aufwertung der entsprechenden Schulden in Dollar und Euro, und die sind, was die Haushalte und den Privatsektor angeht, ziemlich hoch. Zusätzlich blieb der erhoffte Exportaufschwung aus, der üblicherweise eintritt, wenn eine Währung entwertet. Im Gegenteil: Die Exporte gingen im ersten Halbjahr 2015 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um knapp neun Prozent zurück. Das lag daran, dass es bei den Hauptexportplätzen der türkischen Wirtschaft (Eurozone und Russland) ebenfalls eher düster aussah und die türkische Wirtschaft nicht mit besonderen Wettbewerbsvorteilen auftrumpfen konnte.

Die politische Instabilität tut ihr Restliches

Die Eskalation des Krieges in den kurdischen, südöstlichen Teilen der Türkischen Republik, die Bombenanschläge im Inland seit Juli 2015 und die außenpolitischen Krisen taten ihr Übriges zur weiteren Destabilisierung der türkischen Wirtschaft, vor allem was das Investitionsklima und den Tourismus angeht.

Um ihre Macht zu erhalten, agierte die AKP-Regierung innen- wie außenpolitisch aggressiv. Während sie die Auseinandersetzung mit der kurdischen Bewegung und den demokratischen Kräften Schritt um Schritt eskalieren ließ, fuhr sie Drohgebärden gegenüber Rojava, Syrien und Russland auf. Ergebnis war das Wiederaufflammen eines äußerst brutalen Krieges in den kurdischen Teilen der Türkei, was mitunter auch dazu führte, dass eine kurdische Splittergruppe namens TAK zwei Anschläge im Herzen Ankaras verübte. Die Bombenanschläge des IS hingegen, die im Jahre 2015 auffällig gut ins Eskalationskonzept der AKP gepasst und ausschließlich SozialistInnen und KurdInnen zum Ziel hatten, trafen im Jahre 2016 TouristInnen. Als wäre das nicht genug, schoss die türkische Armee im November 2015 einen russischen Bomberjet ab, der offensichtlich keine Gefahr für die Türkei darstellte, und drohte im Februar 2016 damit, in Nordsyrien/Rojava einzumarschieren, weil kurdische Einheiten rasche Fortschritte machten und dabei waren, alle von der Türkei unterstützten islamistischen Banden hinwegzufegen. Da der betreffende Raum von Russland geschützt wurde und Russland angekündigt hatte, jeden türkischen Jet, der in den syrischen Luftraum eindringe, abzuschießen, drohte die Welt, in einem Konflikt zwischen einem NATO-Partner und einem NATO-Konkurrenten zu versinken. Russland verhängte Sanktionen über die Türkei. Auch waren weder EU noch NATO besonders glücklich über die riskante Drohgebärde der türkischen Seite, und es ist im Grunde nur noch der besonders von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Deutschland hochgehaltene EU-Türkei-Deal, der die Türkei davor bewahrt, international in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Die Eskalation des Krieges, die durch die zunehmenden Selbstmordanschläge verursachte politische Instabilität und die Auseinandersetzung mit Russland führten, wie auch die TÜSIAD-Studie hervorhebt, zu einem Vertrauenseinbruch und zum weiteren Rückgang von Investitionen, vor allem in der Industrie. Die Bombenanschläge und die russischen Sanktionen trafen die türkische Landwirtschaft und den Tourismus hart. Für den Tourismus lässt sich jetzt schon angeben, dass zum Beispiel 40 Prozent der Urlaubsreservierungen deutscher Touristen annulliert wurden. Der Rückgang der russischen Touristen betrug über 50 Prozent in den ersten zwei Monaten des Jahres 2016 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Alles im allem: keine allzu rosigen Aussichten für das türkische Großkapital, das immer mehr genervt ist von der AKP-Regierung, allerdings keine für sich gangbare Alternative findet und auch nicht zu erschaffen vermag. Sich mit bloßer Anti-AKP-Propaganda auf eine solche mögliche Alternative des Großkapitals zu verlassen, ist wiederum eine schlechte Empfehlung für alle Werktätigen und demokratischen Kräfte. Denn eine Alternative sucht das türkische Großkapital nicht aus besonders demokratischen Neigungen oder wegen Abscheu vor den arbeiterfeindlichen Maßnahmen der Regierung. Im Gegenteil. Das alles soll beibehalten, nur die relative Willkür der regierenden Partei abgeschafft werden.

Alp Kayserilioğlu hat sein Studium der Philosophie und der Geschichtswissenschaften in Frankfurt/Main abgeschlossen und lebt seitdem als freier Schriftsteller in Istanbul. Er ist Redakteur beim lower class magazine (LCM). Demnächst erscheint ein Buch des LCM mit Reisereportagen und Analysen zum Krieg im kurdischen Südosten der Türkei unter dem Titel »Hinter den Barrikaden. Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg«.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 10 vom 7. Mai 2016, Seite 356-359
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2016

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