Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

POLITISCHE BERICHTE/122: Zeitschrift für linke Politik 3/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 3 am 12. März 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Merkels Lager: Unsicherheiten im konservativ-liberalen Block
Konservative Skepsis: Anpassung der Überkonsumtion nötig
Parlamentswahlen in der Türkei werden von kurdischen Protesten begleitet
Irak, Afghanistan: Bürgerbewegungen im Konflikt mit der US-Regierung
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Hamburg: Das Fiasko Elbphilharmonie
Ziehen Sie die V-Leute endlich zurück, Herr Rech!
Kommunale Politik
Analyse der Hans-Böckler-Stiftung: Dezentrale "Bad Banks" sinnvoll
Wirtschaftspresse

Diskussion und Dokumentation
John Kenneth Galbraith: "Der große Crash"
Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise
Europaparteitag der Linkspartei: "Linksschwenk" - tatsächlich?
Europawahlprogramm 2009 der Partei DIE LINKE
Gemeinsam für den Wechsel in Europa!
Beschluss des Europaparteitages, Essen, 28.2.2009
Interview mit Cornelia Hildebrandt, rls
Fragen zum Europaparteitag Die Linke

Termine

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


25 Milliarden Euro für Osteuropa

Berliner Zeitung, 28.2./1.3. rül. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), die Europäische Investitionsbank und die Weltbank wollen Banken in Osteuropa mit Kredithilfen in Höhe von 25 Milliarden Euro unterstützen. Durch die weltweite Krise sind die Finanzinstitute in Osteuropa besonders unter Druck geraten. Das schnelle Wachstum der osteuropäischen Länder in den letzten Jahren war im erheblichen Umfang durch Kredite aus dem Westen finanziert, zumal diese Länder gleichzeitig mit niedrigen Steuersätzen Investoren anlockten, also kaum eigene Steuereinnahmen hatten. Diese Kredite westeuropäischer Banken an Unternehmen und Banken in Osteuropa werden nun "notleidend", weil die Unternehmen in diesen Ländern wegen der Krise nicht mehr so viel Waren absetzen können und weil gleichzeitig die Währungen der osteuropäischen Länder im Kurs gegenüber dem Euro erheblich gefallen sind. Der Kurs des ungarischen Forint beispielsweise ist gegenüber dem Euro seit Sommer 2008 auf die Hälfte gefallen. Wegen ihrer eigenen hohen Auslandsverschuldung und ihrer geringen Steuereinnahmen können die osteuropäischen Regierungen wenig bis gar nicht helfen. Allein die österreichischen Banken fürchten um Kredite von 230 Milliarden Euro.

Aber auch die Commerzbank, die BayernLB und andere haben viele Kredite ausgereicht, die nun ins Risiko kommen. Alle osteuropäischen Staaten zusammen sollen mit 1.200 Milliarden Euro bei Banken in Westeuropa verschuldet sein, schätzt die Commerzbank. Ob das Hilfsprogramm von EBWE, EIB und Weltbank ausreicht, ist deshalb unsicher. Der Chef der EBWE und frühere deutsche Finanz-Staatssekretär Thomas Mirow vermutet, dass die Banken in Osteuropa bis zu 150 Milliarden Dollar neues Eigenkapital und bis zu 200 Milliarden Dollar Refinanzierung benötigen.


*


Umsatzsteuer auf Börsengeschäfte?

Berliner Zeitung, Die Welt, 28.2./1.3. rül. SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier und Finanzminister Steinbrück haben ein Konzept zur Neuordnung der Finanzmärkte vorgelegt. Danach sollen künftig die Anreiz- und Vergütungssysteme von Bankmanagern "mehr auf Nachhaltigkeit statt auf schnelle Rendite ausgerichtet sein". Zu diesem Zweck soll das Aktienrecht um folgenden Passus ergänzt werden: "Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens, seiner Arbeitnehmer und der Aktionäre sowie das Wohl der Allgemeinheit es erfordern." Steinmeier und Steinbrück plädieren für verschärfte Regeln zur nachträglichen Kürzung von Vorstandsbezügen, eine größere Haftung des Aufsichtsrats sowie für die "individualisierte Offenlegung" der Vorstandsbezüge. Gleichzeitig wollen sie die persönliche Haftung von Finanzmanagern deutlich ausweiten. Banken sollen für Kredite an Hedgefonds und Private-Equity-Fonds bis zu 40 Prozent Eigenkapital hinterlegen. Die SPD-Politiker dringen zudem auf eine wirkungsvollere Bankenaufsicht, treten für ein Verbot von Leerverkäufen ein und wollen eine Börsenumsatzsteuer wieder einführen. Bei Aktienumsätzen von mehr als 1000 Euro soll eine Umsatzsteuer in Höhe von 0,5% verlangt werden. Die frühere deutsche Börsenumsatzsteuer war unter der Regierung Kohl Anfang der 90er Jahre abgeschafft worden. Die Union sperrt sich deshalb anscheinend gegen ihre Wiedereinführung. Problem der Union: In den USA und Großbritannien, üblicherweise "Vorbilder" für die CDU/CSU beim Steuerrecht, gibt es seit Jahrzehnten eine Börsenumsatzsteuer.


*


Einmal Hartz IV, immer Hartz IV?

www.iab.de, 9.3. alk. "Einmal Hartz IV, immer Hartz IV" - das trifft für viele Bezieher der Grundsicherung zu. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat jetzt eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht:

"• Seit Einführung des SGB II im Januar 2005 nahmen bis Ende 2007 insgesamt ca. 11,6 Mio. Personen die Leistungen der neuen Grundsicherung in Anspruch. Das entspricht etwa 18 Prozent der potenziell anspruchsberechtigten Personen. Im gleichen Zeitraum erhielten insgesamt 7,03 Mio. Bedarfsgemeinschaften für mindestens einen Monat SGB-II-Leistungen. • In diesen drei Jahren waren 3,15 Mio. Personen bzw. 1,5 Mio. Bedarfsgemeinschaften durchgehend auf Unterstützung angewiesen. Die Verbleibsrate der Bedarfsgemeinschaften vom Anfangsbestand im Januar 2005 beträgt nach drei Jahren damit 45 Prozent. • Vielfach ist eine Beendigung des Leistungsbezugs nicht dauerhaft. Etwa 40 Prozent der Personen sind spätestens nach einem Jahr erneut auf staatliche Unterstützung angewiesen. • Im Dezember 2007 waren 78 Prozent der Leistungsempfänger mindestens 12 Monate ununterbrochen im Leistungsbezug des SGB II. Bei rückläufigen Empfängerzahlen sank die Zahl der Langzeitbezieher kaum. • Die Grundsicherung wird überwiegend von Bedarfsgemeinschaften geprägt, die über längere Zeiträume durchgehend oder wiederholt bedürftig sind."

Ein direkter Zahlenvergleich zur früheren Sozialhilfe sei nur bedingt möglich, aber auch da war typisch, dass sehr viele auf lange Zeit auf Leistungen angewiesen waren. Angesichts dieser Zahlen sollten der enorme Druck und die teilweise schikanösen Kontrollen als sinnlos aufgegeben werden und langfristige Hilfe und Unterstützung an deren Stelle treten.


*


Afrikanische Delegation fordert Rücknahme der EU-Exportsubventionen für Milch

Germanwatch. 4.3. hav. Anfang des Jahres wurden die 2007 abgeschafften Exportsubventionen für Milchprodukte wiedereingeführt. Alleine 109 000 Tonnen Magermilchpulver werden in den nächsten Monaten künstlich verbilligt auf dem Weltmarkt landen. Gleichzeitig drängt die EU im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) die afrikanischen Länder zur Öffnung ihrer Märkte. Anlässlich dieser Entwicklungen besucht derzeit eine hochrangig besetzte Delegation aus Afrika Parlamente und Ministerien in Brüssel, Madrid, Paris, London und Berlin, um über die möglichen Auswirkungen auf die Bäuer/-innen und die Ernährungssituation in Afrika zu diskutieren. "Handel ist Profit, wir aber brauchen vor allem Entwicklung, und davon können wir in den EPAs bisher kaum etwas entdecken", so Mary Sakala, Milchbäuerin und Vorsitzende des ostafrikanischen Bauernnetzwerkes ESAFF. "Wenn dann noch subventionierte billige Milchprodukte aus Europa unsere Märkte in Sambia erreichen, haben unsere Milchbauern keine Chance mehr." Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden zwischen ungleichen Partnern abgeschlossen. "Wir brauchen aber entwicklungsorientierte Abkommen", ergänzt Catherine Kimura aus Kenia, Vorsitzende des Handelsausschusses der East African Legislative Assembly (EALA). "Wir sind hier, um PolitikerInnen in Europa davon zu überzeugen, dass EPAs in dieser Form nicht zur Entwicklung Afrikas beitragen und daher einer Revision unterzogen werden müssen."


*


"Europa darf nicht unter rechtsextremen Einfluss geraten"

GUE /NGL , 6.3. hav. Die Europaabgeordnete Gabi Zimmer (GUE/NGL, Die Linke) diskutierte im Europäischen Parlament in Brüssel mit Experten über den Einfluss rechtsextremer Netzwerke auf die Europawahlen 2009. Die Diskussion basierte auf der von Zimmer in Auftrag gegebenen Studie "Rechtsextreme Netzwerke und Parteien in Europa - eine Bestandsaufnahme vor der Europawahl 2009". Autor ist der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Journalist Carsten Hübner. Ergänzt wurden die Forschungsergebnisse durch Beiträge von Pascal Charhon, Präsidentin des Europäischen Netzwerkes gegen Rassismus (ENAR), Britta Schellenberg von der Ludwig-Maximilian-Universität München, dem sächsischen Landtagsabgeordneten und Sprachwissenschaftler Prof. Peter Porsch sowie durch den belgischen Historiker und Publizisten Julien Dohet und den italienischen Europaabgeordneten Roberto Musacchio. Musacchio zeigte sich äußerst besorgt über die zunehmende Akzeptanz, die italienische Neofaschisten im politischen Mainstream genießen. Durch das Einschmelzen der "Alleanza Nazionale" in Berlusconis Sammlungspartei werden deren Abgeordnete künftig voraussichtlich gemeinsam mit der CDU in der Fraktion der Europäischen Volkspartei sitzen und dort ihre fremdenfeindlichen Sprüche verbreiten. Rechte Ideologien sind in den vergangenen Jahren gesellschaftlich und politisch auf dem Vormarsch. Dies belegen unter anderem der kürzlich veröffentlichte "Antisemitismus-Bericht 2001-2008" der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, der einen starken Zuwachs antisemitischer Gewalt verzeichnete, sowie der von Pascale Charhon vorgestellte ENAR Schattenbericht 2007 "Rassismus in Europa". Türöffner in die Gesellschaft sind oft die rechten Ränder etablierter Parteien.


*


FAZ, 21.2. maf. Die Kraftlinien des strategischen Feldes, das sich zwischen den Nato-Mächten und Russland aufbaut werden im Fortgang von zwei Projekten sichtbar. Erstens im Streit um die Raketenstellungen. Nach Äußerungen anlässlich der Ost-Europabesuche von Außenministerin Clinton meinen die USA, dass Russland Interesse an der Schwächung des islamisch-fundamentalistischen Regimes im Iran entwickeln müsse und deswegen in seinem Widerstand gegen die US-Raketenstellungen in Polen und Tschechien nachlassen werde. Clinton hat Russland Einblick, ja sogar Zusammenarbeit beim Betrieb dieser Systeme angeboten. Ob das Angebot auf Absprachen mit der polnischen bzw. tschechischen Seite ruht ist nicht bekannt, es würde darauf hinauslaufen, dass plötzlich zwei große Mächte einen Fuß auf die Territorien dieser Länder gesetzt hätten. Zweitens die Ostsee-Erdgas-Pipeline, die eine besondere Beziehung zwischen Russland und der BRD setzt. Nach einem ausführlichen Bericht in der Technik-Beilage der FAZ (21.2.) ist der Bau in vollem Gange, obwohl die Genehmigung durch die Anrainer noch nicht vorliegt. "18.400 exakt 12,2 Meter lange Rohre stapeln sich derzeit im Röhrenlager am Fährhafen Mukran auf Rügen und warten darauf, mit einem Betonmantel überzogen und geschützt zu werden." Der Betonmantel dient dem Schutz der Röhren, hält aber auch durch sein Gewicht die Leitung fest auf dem Meeresboden. Im Inneren der Leitung werden Drücke bis zu 220 bar benötigt, d.h. es lastet ein Innendruck von ca. 220 kg pro Quadratzentimeter auf dem Gebilde. Die FAZ weist darauf hin, dass eine ähnliche Leitung bereits von Norwegen nach England realisiert sei, technisches Neuland insofern nicht betreten werde. Politisch lässt die Rücksichtslosigkeit, mit der hier Fakten gegen die Ostseeanrainer gesetzt werden, tiefe Einblicke in den anmaßenden Stil dieser deutsch-russischen "Kooperation" zu.


*


Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 9. April 2009. Redaktionsschluss: Freitag, 3. April. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die übrigen Erscheinungstermine für 2009, jeweils donnerstags: 7. Mai, 4. Juni, 2. Juli, 30. Juli, 10. September, 8. Oktober, 5. November und 3. Dezember.

Raute

Merkels Lager

Unsicherheiten im konservativ-liberalen Block

Nach den Hessen-Wahlen zeigen auch die bundesweiten Umfragen eine konservativ-liberale Mehrheit. Die verschobene Stimmverteilung zwischen der FDP, die erheblich Plus macht, und der Union, die Verluste verzeichnet, zeigt aber, dass von Stabilität nicht die Rede sein kann. Der Unruhe in der Wählerschaft entsprechen offene Kritiken, ja Anfeindungen, die Frau Merkel erstmals in ihrer Regierungszeit aus den eigenen Reihen erfahren darf.

Der Bedeutungsgewinn der FDP, der sich bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen zeigte, lässt vermuten, dass vielen Wählerinnen und Wählern die Systemgrenze zwischen Staat und Wirtschaft etwas wert ist. Im Zuge der realen Entwicklung der Wirtschaftskrise bauen sich die Staaten immer deutlicher zu einer Art Superunternehmer auf. Man kann, wie es fast überall geschieht, darin eine Tendenz zur Verstaatlichung der Wirtschaftsprozesse sehen und damit eine Abkehr, vom "neoliberalen Paradigma" des "Primats des Wirtschaftlichen". Es ist aber auch vertretbar, von einer Verwirtschaftlichung des Staats zu sprechen. Denn Eingriffe wie die vielfach geforderten "Rettungen" etwa von Opel oder der Schaefflergruppe oder ..., sind auf jeden Fall erwerbswirtschaftliche Aktivitäten des Staates. Die Bürger, die man in diesem Fall treffend als Bürgen beschreiben muss, stellen sich hinter ein konkretes Privatinteresse und verschaffen diesem Konkurrenzvorteile.

Solche Handlungen einer Regierung können nicht mehr von allgemein geltenden Wohlfahrtsvorstellungen geprägt werden, wie sie sich in Wahlen mehrheitlich durchsetzen und dann die Aufstellung der öffentlichen Haushalte mehr oder weniger durchschlagend bestimmen. Sie verfolgen konkrete strategische Ziele, bei denen es um Erwerb geht. Wodurch sollen denn die in solchen Fällen von der Politik geforderten zukunftsfähigen Konzepte überzeugen? Dadurch, dass die Firma wieder schwarze Zahlen schreibt. Es ist also wahr, dass in diesen Fällen Staat und Wirtschaft zusammenrücken, dies aber ganz eindeutig (und wenn man so will: notwendigerweise) nach Maßgabe von Profiterwartungen. Die dauerhafte wiederkehrende Finanzierung eines Firmendefizits durch die Öffentlichkeit würde ja wohl niemand fordern wollen.

Im Unterschied zu den privaten Unternehmen hat der Staat das Recht, Steuern einzuheben, die Finanzwissenschaft spricht ironisch vom "legalen Raub". Die auf diesem Wege möglichen Aktivitäten des Staates sollen "allen" zugute kommen und nicht einzelnen Privaten in ihrem Wettstreit mit anderen.

In dieser Situation fühlt sich das Unternehmertum bedroht und äußert das auch durch seine Verbandssprecher. So z.B. spricht sich der Unternehmerverbandspräsident Kannegiesser gegen die Tendenz zu "Rettungen" aus. Mag sein, dass für solche Stellungnahmen auch die Erwartung bedeutsam ist, große Pleiten würden die Position der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften schwächen. Der Stachel sitzt jedoch tiefer. Wenn der Staat einzelne Unternehmen an die Brust nimmt und andere von sich stößt, wird eine Systemgrenze überschritten, die das freie Unternehmertum als Klasse und Berufsstand gefährdet. Die Gefahren, die in solchen Grenzüberschreitungen hausen, sind auch der linken Kritik geläufig. So wird z.B. der politische Einfluss der Rüstungsindustrie gefürchtet, die eine exklusive Beziehung zum Staat als Auftraggeber hat, so auch der Kauf von Politikern durch Industriegelder usw.

Warum zeigen sich diese Probleme erst jetzt? Die Bundeskanzlerin, die bei Einsetzen der Krisenwirkungen offenbar gut beraten war und mit Bedacht handelte, konnte in dieser Phase im Rahmen der klassischen staatlichen Kompetenzen bleiben. Die Beaufsichtigung des Bankwesens ist, seit es ein entwickeltes bürgerliches Staatswesen gibt, dessen Aufgabe. In der Rückschau auf die letzten Jahre wird zudem überdeutlich, dass ein Versagen der staatlichen Aufsicht über das Kreditwesen Ausgangspunkt der Krise gewesen ist, teils sah die Gesetzgebung die Gefahren nicht kommen, teils wurden wie z.B. in den USA (aber nicht nur dort) die Zügel der Aufsicht gezielt gelockert, um Wählermassen durch Konsumversprechen an die Regierungspolitik zu binden. Hinzu kommt, dass viele Aufgaben des Bankwesens im Rahmen von Genossenschaften bzw. von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen wahrgenommen werden können. Auf jeden Fall fällt die Ausgestaltung der Bankenaufsicht (zu der die Gewährleistung eines Vertrauensschutzes der Sparer gehört) in den Regelungsbereich des Staates. Inzwischen zeigen sich aber noch undeutlich, aber schon unübersehbar andere Bilder vom Krisengeschehen.

In der öffentlichen Meinung entsteht ein neues Urteil zu Konsumenten, Produzenten und Kredit. In den USA sei es zu einer künstlich hochgetriebenen Nachfrage nach Immobilien gekommen, die sich jetzt als Überangebot zeige. Und nachdem in Schweden Staat und Gesellschaft ohne großes Lärmens die Firma Saab als unhaltbar aufgaben, setzt sich auch in der BRD die Meinung fest, dass auf dem Automobilsektor Überkapazitäten abzubauen seien. Diskutiert wird inzwischen nur noch die Frage, welche Produktionsstätten es treffen wird; wie es scheint, ist Opel dran. Angesichts der Verluste, die Insolvenz, Zerschlagung, Schließungen usw. so vielen Lohnabhängigen zufügen würde, ist der Ruf nach Rettung mehr als nur verständlich.

Das Kabinett Merkel hat sich zur Entscheidung über die Berechtigung von Staatseingriffen eine neue Norm geschaffen: Gerettet soll werden, was "systemrelevant" ist, was nicht, nicht. Unter dieser Fragestellung ließen sich Maßnahmen zur Stabilisierung des Kreditwesens begründen, denn Kredit und Zahlungsverkehr sind als öffentliche, für jedermann zugängliche Dienstleistungseinrichtungen für die ganze Öffentlichkeit wichtig. Nicht so die Fortexistenz der Firma, Marke usw. Opel. Trotzdem gibt es auf die Frage nach der Systemrelevanz von Opel nicht nur die Antwort: Nein! Sondern eben auch die Antwort Ja!, zu der man kommen kann, wenn man an die Wurzeln politischer Stabilität denkt. Ein Rückschnitt der Überkapazitäten in der Automobilbranche setzt die Menschen matt, die ihr berufliches Leistungsvermögen und ihre Lebensführung auf die Funktion genau dieser Firmen gegründet haben. Sie werden als Arbeitskraft - und angesichts der Hartz IV-Gesetze - auch als Bürger entwertet. Auch wenn sich für viele andere Beschäftigungen fänden, der Verlust der erreichten Stellung im Leben lässt sich nicht ausgleichen. Eine politisch folgenreiche De-Legitimierung des Privateigentums könnte eintreten, und was die Wählerinnen und Wähler daraus machen, ist nicht klar. Wirtschaftlich, in diese Richtung neigt die Mehrheitsmeinung der Wirtschaftssachverständigen, kann der Fortbestand von Opel nicht als "systemrelevant" betrachtet werden. Politisch, sozial und kulturell aber schon.

Die Politik des Kabinetts Merkel ist zwischen zwei Erwartungen eingeklemmt, die beide zur Grundstruktur des Konservatismus gehören. Da ist der Konservatismus der "kleinen Leute", die erwarten, dass ihre Anstrengung, Leistungs- und Dienstbereitschaft angemessen vergolten wird. Da ist der Konservatismus des Unternehmertums, dessen Vertreter sich nicht zu nachgeordneten Staatsbeamten herabdrücken lassen wollen. Das Problem ließe sich nur bewältigen, wenn die Wirtschaft auf einen eher steilen Wachstumspfad zurückfände und zwar bald. Da dies nicht der Fall ist, gerät die Union in Schwierigkeiten und in bedeutsame innere Meinungsverschiedenheiten, die eine Abwanderung besser gestellter Wählerinnen und Wähler zur FDP bewirken. Von dieser Partei können Konservative wenigstens hoffen, dass die die Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft besser markiert als die Union unter der Führung Frau Merkels.

Die mangelnde Trittsicherheit, die Frau Merkels Kanzlerschaft auf der Gratwanderung zwischen Staat und Wirtschaft befallen hat, zeigt sich seltsamerweise auch auf anderen Gebieten, die ebenfalls die Stabilität des politischen Systems betreffen.

So nimmt man Merkel übel, dass sie unmissverständliche Forderungen an den Papst richtete. Offensichtlich glaubte sie, dass Benedikts Umgang mit dem Holocaustleugner von den Pius-Brüdern auf die Reputation der BRD zurückfallen würde. Und sie hatte in der Sache guten Grund. Als Kanzlerin hat sie aber die Systemgrenze zwischen Staat und Religion überschritten. Sie hat den Papst aus Deutschland wie einen deutschen Beamten, um einen alten Ausdruck zu verwenden, abgekanzelt. Sie hat damit in die empfindliche Osmose zwischen religiösen und politischen Meinungen eingegriffen und damit das besondere Vertrauensverhältnis, das zwischen den katholischen Christenmenschen und ihrer Union dauerhafte Verbindungen schafft, verletzt. Solche dauerhaften Bindungen, die die Beziehung zwischen dem Individuum, der sittlichen Person und der politischen Gewalt betreffen und eine Differenz zu jemanden wie Westerwelle setzen, wären gerade dann wichtig, wenn das politische Handeln sonst Kummer macht.

Frau Merkel hat in diesen Wochen übrigens nicht nur beim Katholizismus Anstoß erregt. Sie ist auch mit dem eingefleischten deutschen Nationalismus kollidiert, der in den Vertriebenenverbänden sein weitläufiges Rückzugsgebiet hat. Nachdem die Berufung von Frau Steinbach in den Beirat des zu gründenden Zentrums gegen Vertreibungen in Polen auf heftigen Widerstand stieß, ließ Merkel Steinbach fallen. Auch hier hat sie eine Systemgrenze überschritten, nämlich die zwischen "drinnen" und "draußen" bzw. Inland und Ausland. Sie hat, um es in der Sprache nationalistischer Reaktionäre zu sagen, in einer inneren Angelegenheit dem offenen Druck des Auslands nachgegeben. Das verletzt die nationale Seele doppelt: Konkret, weil die Vertriebenenverbände ihr Spielfeld und Rekrutierungsgebiet sind, abstrakt und grundsätzlich, weil sie erleben müssen, wie eine deutsche Kanzlerin sich nicht vor eine von Polen bedrängte Deutsche stellt. Frau Merkel kann ihr Verhalten zwar mit dem längerfristigen Erfolg rechtfertigen, den die Zustimmung Polen zu einer solchen Einrichtung möglich macht, es bleibt aber ein Stachel des Misstrauens.

Aus der Sicht der CSU ist Merkels Systemüberschreitung in Sachen Staat / Wirtschaft verzeihlich. Das macht die CSU auch, oft und gerne. Hart getroffen wird die CSU jedoch durch eine wahlrechtliche Besonderheit. Bei den Europawahlen muss die CSU mehr als 5 Prozent bezogen auf die Stimmen im Bundesgebiet auftreiben, gerät die CSU in Bayern unter 40% kann's da unter Umständen kritisch werden. Katholiken und Vertriebene haben eigentlich eine starke Bindung zur CSU; was Merkel macht, kann sie am Wahltag zu Hause bleiben lassen. Dazu kommt, dass die Freien Wähler unter Führung der CSU-Dissidentin Frau Pauli zur Europawahl antreten.

Merkels Lager erlebt in diesen Wochen eine Erschütterung von der Basis her, ihre Parteiführung zeigt in Fragen Unsicherheiten, die für den Zusammenhalt der konservativen Identität bedeutsam sind, Staat und Wirtschaft, Politik und Religion, Deutschland und Ausland ...

Martin Fochler, Alfred Küstler


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Grafik: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären ...

Raute

Lektürebericht

Konservative Skepsis: Anpassung der Überkonsumtion nötig

Norbert Wagner, vom US-Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Washington, hat gerade eben einen Länderbericht zum politischen Programm der neuen US-Regierung gegenüber der Finanzkrise vorgelegt. Aus konservativer Sicht fällt die Beurteilung eher skeptisch aus, was sich schon in der Überschrift ausdrückt. In Anspielung auf den optimistischen Werbespruch des Präsidenten Obama ("Yes, we can" - "ja, wir schaffen das") heißt es bei Norbert Wagner: Die internationale Finanzkrise - "maybe, we can't?" ("Vielleicht schaffen wir's nicht?").


Die Studie beginnt mit einer Analyse der Ursprünge der Finanzkrise, dabei unterscheidet er sich wenig von anderen Untersuchungen, denn rückblickend sind die Ökonomen eigentlich immer ziemlich einig, welche Ursache welche Wirkung hatte.

Demnach ist die Politik der US-Zentralbank (Fed) im wesentlichen schuld. Sie hat zulange die Zinsen niedrig gelassen. Was zur Konjunkturankurbelung nach dem Zusammenbruch der Technologieblase 2001 richtig gewesen sei, habe dann in der Folge zu überreichlicher Liquidität geführt und die Immobilienblase befördert. Das rasche Wachstum des Immobilienvermögens in Verbindung mit der Geldpolitik der Fed habe zu einem Nachfrageboom geführt, der auch die US-Importe und damit vor allem in Asien die Exportindustrien angetrieben hat. Das Außenhandelsdefizit der USA und auch das Zahlungsbilanzdefizit explodierten. Die Rohstoffpreise schossen in die Höhe.

Gleichzeitig wurde das ganze politisch angeheizt. Das private Wohneigentum gehört zu den Kernelementen des "American Dream". In den neunziger Jahren konnten sich mehr als 60% der Familien in den USA diesen Traum leisten. Die Regierung hat über die staatlich gestützten Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac den Immobilienboom kräftig befördert. Schon die Clinton-Regierung hatte 1997 die Prüfung der Kreditwürdigkeit heruntergeschraubt; 2004 änderte die Bush-Administration die Regeln, so dass auch riskantere Hypothekarkredite wieder möglich wurden. In Erwartung immer weiter steigender Immobilienpreise kam es darüber hinaus zu laxer Handhabung der Richtlinien durch die Banken; Korruptionsfälle bei den Hypothekenbanken kamen dazu. Außerdem waren die Banken bereit, den Wert von Immobilien nach einigen Jahren zu aktualisieren und eine weitere Hypothek auf den Wertzuwachs auszuzahlen. Diese Beträge nutzten die Eigentümer dann für Reparaturen, den Kauf eines Autos, Urlaubsreisen oder andere Konsumausgaben.

Der gefühlte Vermögenszuwachs ließ die Konsumneigung der Amerikaner kräftig anwachsen und trug auf diese Weise zum weltweiten Konjunkturaufschwung bei. Entsprechend sank die Sparquote kontinuierlich und erreichte schließlich sogar negative Werte. Das ging so lange gut, wie die Immobilienpreise nicht fielen und die Zinsen nicht anstiegen. Beides geschah indes ab Mitte 2006. Als die Zinsen fühlbar anstiegen, konnten viele Käufer die höhere Belastung nicht mehr tragen und gerieten mit Zahlung von Zins und Tilgung in Verzug. Zu einer weltweiten Finanzkrise wurde das, weil ein Großteil der Hypothekenkredite auf dem Markt der komplexen Derivate landeten, also weiterverkauft wurden, ohne dass sich die Käufer der Risiken bewusst waren (oder es auch nicht wissen wollten).

Als der Umfang dieses Derivatenmarktes am 30. Juni 2008 insgesamt 530 000 Milliarden US-Dollar an ausstehenden Kontrakten betrug, kollabierte schließlich dieses System der kurzfristigen Finanzierung langfristiger Verbindlichkeiten.

Bailout - Stimulus - Bad Bank

Norbert Walter stellt dann die verschiedenen Programm und Instrumente vor, mit denen es die US-Regierung seit dem Ausbruch der Finanzkrise versucht hat: Vom ersten Bailout-Programm (bail out, wörtlich: aussteigen, mit dem Fallschirm abspringen, also die bekannten "Rettungsschirme") noch unter Präsident Bush über weitere Bail-Out-Programme der neuen Regierung und dem Stimulusprogramm (Konjunkturankurbelung) bis hin zu den Ideen der "Bad Bank", die alle Risikopapiere zum Staat umschichten soll. Außerdem ein Programm von Präsident Obama, mit dem Hypotheken gestreckt werden, um den insolventen Eigentümern den Verbleib in ihren Häusern zu ermöglichen. Dazu noch die Autoindustrie, die mit den 15 Mrd. Dollar vom Dezember nicht auskommt und weitere Mittel fordert. Alle Programme der US Administration und der Fed seit Anfang 2008 belaufen sich auf 7,8 Billionen oder 7800 Mrd. $.

Die Beurteilung der Wirkungen durch den Mann der Adenauer-Stiftung in den USA zitieren wir jetzt im folgenden im Wortlaut:

"Can we? Angesichts dieser schwindelerregenden Beträge stellt sich natürlich die Frage nach den Wirkungen und Erfolgsaussichten all dieser Programme. Aber auch nach den langfristigen Folgen für Verschuldung und Inflation. Es besteht die große Gefahr, dass Probleme, die durch eine überreichliche Geldversorgung erst entstanden sind, mit eben diesem Mittel zu kurieren versucht werden.

Eine der zentralen Ursachen der Finanzmarktkrise lag im inflationären Anstieg der Vermögenswerte insbesondere von Immobilien, aber auch Aktien etc. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise sind diese Vermögenswerte dramatisch gefallen. Offen ist, wie weit dieser Fall noch gehen wird. Viele Beobachter meinen, dass die Immobilienpreise ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht haben. Einige sind der Auffassung, dies sei auch bei Aktien der Fall.

Seit August 2007 gingen auf den internationalen Finanzmärkten schätzungsweise 30 bis 40.000 Mrd. $ verloren, in den USA belaufen sich die Schätzungen auf 7 bis 10.000 Mrd. $. Zwischen 2000 und 2006 stiegen die Hauspreise in den USA um rund 90%. Seitdem sind sie wieder um etwa 25% gefallen. Was aber zugleich nahelegt, dass die Korrektur der Hauspreise in den USA noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Nach dem S&P/Case-Shiller Index lagen die Hauspreise in den USA Ende 2008 wieder auf dem Niveau von Ende 2003, aber noch weit über jenem des Jahres 2000.

Nun stellte sich heraus, dass das Angebot deutlich größer war als die Nachfrage, dass zu viele Autos produziert wurden, zu viele Konsumgüter und zu viele Häuser und Wohnungen. Anpassung der vorhandenen zu großen Produktionskapazitäten oder zu zahlreichen Immobilien an die gesunkene Nachfrage, darum geht es bei der gegenwärtigen Krise. Und deshalb sind Regierungsprogramme zur Eindämmung der Krise so schwierig.

Fraglich ist, wie die verschiedenen Bailout- und Stimulus-Programme hier wirken sollen und können. Wohl nicht, um den Fall der Vermögenswerte aufzuhalten, und die obsolet gewordenen Kapazitäten auszulasten. Ziel der Programme ist vielmehr vor allem, die Folgewirkungen zu lindern.

Zum einen geht es dabei um die Stabilisierung von Finanzinstitutionen, deren Vermögenswerte drastisch gesunken sind und die ein systemisches Risiko für den Finanzsektor darstellen. Wobei in der Regel niemand die Behauptung, dass ein systemisches Risiko bestehe, gerne einem empirischen Test unterzieht. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers wirkt immer noch nach. Wie erfolgreich dieses Argument offenbar ist, zeigt sich daran, dass nun auch die US-Automobilindustrie schon behauptet, ihr drohender Untergang beinhalte ein systemisches Risiko.

Zum anderen geht es um die Sekundärwirkungen des Verlusts an Vermögenswerten auf Produktion und Beschäftigung. Für Mitte des Jahres 2009 werden bereits 10% Arbeitslose erwartet.

Insgesamt ist also mehr als fraglich, ob Stimulus- und Bailout-Programme die erhofften Wirkungen zeigen werden. Natürlich kann man von der Politik nicht erwarten, dass sie untätig bleibt und dem wirtschaftlichen Niedergang nur zusieht. Andererseits bietet auch die Wirtschaftsgeschichte kaum Handlungsanweisungen zur Bekämpfung dieser Krise. Selbst hochrangige Politiker in den USA geben mitunter im internen Kreis zu, dass sie eigentlich kein Rezept zur Bekämpfung der Krise hätten. Vielmehr hat man den Eindruck, dass sie so viele Programme wie möglich entwerfen in der Hoffnung, dass sich die eine oder andere Maßnahme als zündende Idee erweisen könnte und dass das schiere Ausmaß der aufgewendeten Mittel irgendwann seine Wirkung entfalten wird. Letztlich stochert man jedoch nur mit dem Stock im Nebel."

www.kas.de, Länderbericht Konrad-Adenauer-Stiftung vom 9.3.2009 zu USA.

Raute

Parlamentswahlen in der Türkei werden von kurdischen Protesten begleitet

Am 29. März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt, wobei etwa 200.000 Bürgermeister und andere Gemeindeposten neu vergeben werden. In den kurdischen Gebieten stellt derzeit die prokurdische DTP rund 60 Bürgermeister. Bei den letzten Parlamentswahlen 2007 erhielt die DTP über 50 Prozent der Stimmen in den kurdischen Landesteilen, die regierende AKP immerhin noch knapp 40 Prozent.

Die Partei des Ministerpräsidenten Erdogan hatte mit Veränderungen im türkisch-kurdischen Verhältnis und bedeutenden wirtschaftlichen Verbesserungen in dem kurdischen Südosten der Türkei die Hoffnungen der Menschen auf Änderung zum Besseren bedient. Von einem wirtschaftlichen Fortschritt kann man im Armenhaus der Türkei wohl nicht reden. Aus den Versprechungen kam einzig das heftig von großen Teilen der kurdischen Bevölkerung bekämpfte Projekt Ilisu-Staudamm und kostenlose Brennholzverteilung vor den Wahlen in den Slumgebieten heraus. In der aktuellen Situation kann Erdogan auch nicht viel anbieten. Die türkische Lira befindet sich im Tiefflug, die stark von den Exporten abhängige türkische Wirtschaft hat derzeit nur noch etwa 35 Prozent Auftragsvolumen im Vergleich zum Vorjahr. Auch von einer Verbesserung der rechtlichen und sozialen Stellung der Kurden in der Türkei kann nicht die Rede sein. Die AKP hat sich in den letzten Jahren von der EU-Reformpartei zu einer Status-Quo-Partei gewandelt. Derzeit ist sie ganz gefangen in der Auseinandersetzung mit den alten Eliten aus Militär, Großgrundbesitz und Wirtschaft sowie der Verflechtung von Militär und Staat. Sie muss zum Überleben die Kommunalwahl gewinnen. Bei ihrem Kampf um die kurdischen Stimmen bedient sich Erdogan des Staatsterrors und laut Angaben der DTP der Fälschung der Wählerlisten.

Als sich am 15. Februar die Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus Kenia in die Türkei zum zehnten Male jährte, fanden in der ganzen Türkei Großdemonstrationen statt, auf denen die Freiheit Öcalans und demokratische Autonomierechte für die kurdischen Provinzen gefordert wurden. In allen Städten Kurdistans hatten die Ladenbesitzer überwiegend am Samstag und Sonntag ihre Geschäfte geschlossen. In Diyarbakir folgten Zehntausende dem Aufruf der DTP auf die Strasse. Wie tags zuvor in Istanbul, Batman und Mersin wurden die Protestaktionen auch am Sonntag in fast allen Städten von der Polizei heftig angegriffen. Mit Panzerwagen, Knüppelattacken und Gasgranaten gingen die Sicherheitskräfte vor, in Cizre fuhr ein Panzer in die Demonstration hinein, in Diyarbakir wurden aus Hubschraubern Tränengasgranaten im Tiefflug über den Menschenmengen abgeworfen und die Parteizentrale der DTP angegriffen. Vier Tage danach demonstrierten in Diyarbakir und Batman wieder Zehntausende. Sie protestierten gegen den zügellosen Staatsterror vom Wochenende: rund 450 Festnahmen, 61 Haftbefehle wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung, davon 18 gegen Minderjährige, rund 100 Verletzte, einem Mann ist das Auge ausgeschlagen worden.

Premierminister Erdogan versuchte in der Folge dieser Auseinandersetzungen zweimal in den kurdischen Gebieten Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten. Bei seiner ersten Tournee kam es zu heftigsten Strassenschlachten zwischen meist Jugendlichen und den Sicherheitskräften. Die Ladenbesitzer in Batman, Diyarbakir, Yüksekova, Hakkari, Van oder auch Tunceli (Dersim) hielten die Geschäfte geschlossen. In Yüksekova versuchte eine extra abgestellte Polizeiabteilung die Ladenbesitzer zur Öffnung zu zwingen. Erdogan redete auf großen Plätzen, die zumeist halbleer oder noch kahler waren. In Diyarbakir rief die türkische Telekom ihre Handykunden an und forderte sie zu dem Besuch der Kundgebung auf. Schüler und Stundenten sowie Staatsbedienstete sollten zum Besuch zwangsverpflichtet werden. Mit LKWs wurde versucht, den Platz kleiner erscheinen zu lassen. Als Höhepunkt seiner im staatlichen Fernsehen übertragenen öffentlichen Rede - auf dem staatlichen kurdischen Kanal sollte seine Rede ursprünglich mit kurdischen Untertiteln versehen werden, was in letzter Minute abgesagt wurde - las Erdogan einige Sätze auf kurdisch vor. Erdogan vermied es, irgendwelche Fortschritte im türkischkurdischen Verhältnis anzukündigen. Einzig bot er in Diyarbakir eine neue Verteilung von Brennmaterial an. Es darf auch bezweifelt werden, dass seine Wahlaufforderung auf kurdisch befolgt wird.

Am 25. Februar fand eine Fraktionssitzung der DTP im Parlament statt. Traditionell wird die Rede des Fraktionsvorsitzenden im türkischen Staats-TV live übertragen. Nach wenigen einleitenden Worten wechselte Ahmet Türk, Parlametsfraktions- und Parteivorsitzender der DTP, vom Türkischen ins Kurdische über. Die Liveübertragung wurde sofort abgebrochen. Gegen Ahmet Türk wird jetzt staatsanwaltlich ermittelt, da im "öffentlichen Leben" nur "Türkisch" zugelassen ist. Das Kurdische umschrieb der Parlamentspräsident mit einer Sprache, "die kein Parlamentsstenograf" kenne, und verurteilte Türk scharf. Er forderte die Beschleunigung des Verbotsverfahrens gegen die DTP nach diesem Vorgang. Die staatliche Hetze gegen die DTP und ihren Vorsitzenden Türk erinnert an die Verfolgung von Leyla Zana, die wegen weniger kurdischer Worte im türkischen Parlament ihre Immunität verlor und zehn Jahre im Gefängnis saß. Verschiedene türkische Zeitungen titelten aber tags drauf mit: "Gut gemacht, Herr Türk", und stellten die berechtigte Frage, warum ein Ministerpräsident öffentlich kurdisch sprechen könne, aber ein Herr Türk nicht.

Die Wahlen werden über das Schicksal der Regierung Erdogan mitentscheiden, derzeit liegt die AKP laut Umfragen bei niedrigen 35 Prozent. Für einen Wahlsieg benötigt Erdogan die Stimmen der Kurden, die er aber wahrscheinlich nicht in dem Umfang erhalten wird wie bei den letzten Parlamentswahlen. Gleichzeitig bedient er auch die Nationalisten und die Wähler der faschistischen MHP mit stramm rechtsnationalistischen Aussagen und mit grünem Licht im Vorgehen gegen die kurdischen Proteste.

Auch für die DTP sind diese Wahlen überlebenswichtig. Ein guter Ausgang nutzt gegen das drohende Parteiverbot. Zudem wird sich zeigen, wie tief verankert die Forderung nach Autonomiestatus der kurdischen Landesteile ist. Ein letzter Höherpunkt der Mobilisierung werden die Newrozfeiern eine Woche vor den Kommunalwahlen sein.

Die neue US-Regierung will derzeit ihr Verhältnis mit der Türkei bessern und sucht deshalb die Nähe mit der Erdogan-Regierung. Sie vermittelt in der Auseinandersetzung zwischen Militär und Regierung. Nach der Schließung des Luftwaffenstützpunktes in Kirgisien im August benötigen die USA einen neuen Militärstützpunkt für den Afghanistankrieg. Sie wollen u.a. in der Nähe von Trabzon an der Schwarzmeerküste einen neuen Stützpunkt errichten. Zudem benötigen sie für den Abzug ihrer Irak-Truppen die türkischen Mittelmeerhäfen. Für die europäischen Staaten wird die Türkei zu einer der wichtigsten Drehscheiben der Energieversorgung. Von diesen Eckpunkten aus wird die Kurdenpolitik der USA und der EU nach den Wahlen bewertet werden müssen.

rub

Raute

Irak, Afghanistan: Bürgerbewegungen im Konflikt mit der US-Regierung

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN


Schwierige Situation nach den baskischen Regionalwahlen

Bei einer Wahlbeteiligung von nur rund 65%, 15 Prozentpunkte niedriger als 2005, verloren die baskisch-nationalistischen Parteien bei den baskischen Regionalwahlen erstmals ihre Mehrheit. Sie errangen insgesamt 37 von 38 notwendigen Sitzen; deshalb will die PNV, die stärkste Partei wurde, nun versuchen, eine Koalition mit der PSOE (Sozialisten) zu bilden. Allerdings war bei diesen Wahlen die "izquierda abertzale", die linksnationalistische Bewegung, komplett ausgeschlossen. Erst kurz vor den Wahlen hatte das Verfassungsgericht bestätigt, dass weder die Partei Askatasuna (Freiheit) noch die eigens für die Regionalwahl gegründete D3M (Demokratie für 3 Millionen) antreten dürfen. Der als Baskenverfolger bekannte Untersuchungsrichter Garzón verbot darüber hinaus beiden Organisationen für drei Jahre alle politischen Aktivitäten. Bei den letzten Wahlen hatte zwischen 12 und 19% der Wähler für Parteien und Bündnisse der linken Unabhängigkeitsbewegung gestimmt. Grundlage für den Wahlausschluss ist das 2002 verabschiedete Parteiengesetz, das Verbot und Ausschluss von Organisationen ermöglicht, die der politischen Nähe zur Eta beschuldigt werden. Dabei ist es nicht nötig, Verbindungen zur Eta nachzuweisen; es reicht, dass Parteien mit friedlichen Mitteln ähnliche Ziele verfolgen wie Eta. Die linke baskische Partei Batasuna wurde auf dieser Grundlage bereits zweimal verboten. Derzeit ist ein Verfahren gegen das Verbot beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Unter anderen kritisieren amnesty international und die UNO das Parteiengesetz. Der UN-Beobachter für Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus äußerte darüber hinaus in seinem letzten Bericht Anfang Februar "tiefe Sorge" über Folter-Vorwürfe, er forderte die Beendigung der Isolationshaft für baskische politische Gefangene und ein Ende ihrer Zerstreuung über ganz Spanien. Anfang Januar hatten in einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre 37.000 Menschen in Bilbao eine Amnestie für die baskischen Gefangenen und ihre Verlegung ins Baskenland gefordert (Bild). Obwohl die Höchststrafe auf 40 Jahre hochgesetzt wurde und 28 Gefangene ihre Strafe vollständig verbüßt haben, werden sie nicht freigelassen. Die politische Situation ist nach den Wahlen nicht einfacher geworden.
(Quelle: Jungle World, indymedia)


*


Ungarn: Immer wieder Gewalt gegen Roma-Minderheit

Sechs Menschen sind seit Anfang 2008 bei Angriffen auf Häuser von Roma getötet worden. Zuletzt wurden in Tatarszentgyörgy ein 27-jähriger Mann und sein kleiner Sohn getötet: Als sie aus ihrem brennenden Haus flüchteten, wurden sie erschossen. Die Polizei sprach als Brandursache auch dann noch von einem Kurzschluss, als die tödlichen Schussverletzungen nicht mehr zu leugnen waren. Seit Gründung der faschistischen "Ungarischen Garde" sind gewalttätige Attacken gegen die Roma-Minderheit mit ihren ca. 600.000 Mitgliedern an der Tagesordnung. Immer wieder marschiert die "Garde" durch Orte mit Roma-Bevölkerung, auch Tatarszentgyörgy hatten sie im Dezember 2007 mit einem uniformierten Marsch terrorisiert. Die Gewalt hat nun auch andere Minderheiten auf den Plan gerufen. Im Februar verabschiedete der im November 2008 vom Verband der Ungarischen Jüdischen Gemeinden gegründete Ungarische Jüdische Kongress in Budapest ein Dokument, in dem ein Gesetz gegen Rassismus und Hass vorgeschlagen wird. Das Gesetz soll möglichst als Verfassungszusatz verankert werden. Die Gerichte, so kritisierte die Konferenz, würden die sozialen Gefahren von rassistisch und antisemitisch bedingten Gewalttaten nicht erkennen.


*


USA: Gefängnisstrafen für Jugendliche gegen Geld

Zwei Richter in den USA haben jetzt zugegeben, jahrelang private Haftanstalten mit Jugendlichen versorgt zu haben, nachdem sie selbst maßgeblich dazu beigetragen hatten, den Jugendstrafvollzug in ihrem County zu privatisieren. Beide werden von Hunderten Familien, deren Kinder Opfer wurden, angeklagt. Insgesamt haben die beiden Beschuldigten 2,6 Millionen Dollar eingenommen, Geld, für das sie das Leben vieler Jugendlicher, die oft nur kleiner Vergehen beschuldigt wurden, durch Haftstrafen beschädigt haben. Die Haftanstalten hatten in der Zeit Millionen an Steuergeldern für die Kinder und Jugendlichen erhalten. Bis zu 2000 Jugendliche sollen die beiden Richter in Verfahren, die oft ohne Anwalt in ein bis zwei Minuten abgespult wurden, zu Haft verurteilt haben. Während durchschnittlich rund 10% der angeklagten Jugendlichen zu einer Haftstrafe verurteilt wird, brachte es einer der Richter auf 25%. Viele wurden allein wegen Prügeleien unter Jugendlichen oder kleinen Diebstählen verurteilt. Einer der Tricks bestand darin, den Eltern zu drohen, wenn sie einen Anwalt nähmen, müssten ihre Kinder monatelang im Gefängnis bleiben. Beide Richter hatten 2003 bei der Privatisierung des Jugendgefängnisses von der Baufirma fast eine Million Dollar erhalten als Vermittlung. - Kritiker der Gefängnisprivatisierung gehen davon aus, dass der Fall nur die Spitze des Eisbergs sein könnte. Die weit fortgeschrittene und im Zuge der gegenwärtigen Krise beschleunigte Privatisierung der Gefängnisse begünstigt die Korruption.
(Quelle: Florian Rötzer auf Telepolis)

Zusammenstellung: scc

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AKTIONEN ... INITIATIVEN


Attac-Aktion: Schutzschirm für Menschen und Umwelt!

BERLIN. Anlässlich des europäischen Vorbereitungstreffens für den G 20-Gipfel haben Attac-Mitglieder am 22.2.2009 mit einer Aktion die Absurdität des derzeitigen Krisenmanagements veranschaulicht. Auch ihr Aktionsbanner "G 20: Regulieren reicht nicht! Schutzschirm für Menschen und Umwelt! Die Reichen müssen zahlen - weltweit!" weist darauf hin, dass diejenigen für die Krise zahlen sollen, die auf Kosten der großen Mehrheit jahrzehntelang von den liberalisierten Finanzmärkten profitiert haben. Stattdessen fordert Attac, dass Vermögen und Erbschaften endlich angemessen besteuert werden. Zur Refinanzierung der Rettungspakete sei außerdem eine einmalige Sonderabgabe auf Vermögen nötig, das Schattenbankensystem aus Hedgefonds, Zweckgesellschaften und anderen unregulierten Finanzakteuren müsse verboten sowie ein Finanzmarkt-TÜV eingeführt werden, der neue Finanzinstrumente standardisiert und prüft. Bei dem Treffen der 20 wirtschaftsstärksten Länder (G 20) am 2. April in London werden die ärmeren Länder des Südens außen vor bleiben, obwohl sie unter der Krise am meisten leiden. Attac fordert daher eine gemeinsame Finanzaufsicht unter dem Dach der UNO.

Unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise! Für eine solidarische Gesellschaft" mobilisiert Attac gemeinsam mit Bündnispartnern für den 28. März - wenige Tage vor dem G 20-Gipfel - zu Demonstrationen in Berlin und Frankfurt am Main. Der britische Gewerkschaftsdachverband TUC erwartet für denselben Tag zu seinen Protesten gegen die G 20 in London 100.000 Menschen. Auch die Teilnehmer des Weltsozialforums Ende Januar im brasilianischen Belém haben zu globalen Aktionen am 28. März aufgerufen.
www.attac-netzwerk.de


*


DAS GROSSE LESEN - Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung!

BERLIN. Die Globale Bildungskampagne wird auch 2009 wieder Aktionswochen (vom 20. April bis Ende Mai) veranstalten, diesmal mit Aktionen zum Thema Alphabetisierung, insbesondere von Jugendlichen, und lebenslanges Lernen. Die Alphabetisierung ist das am meisten vernachlässigte von den sechs "Bildung-für-alle"-Zielen. Weltweit sind mindestens 774 Millionen Erwachsene Analphabeten, davon ungefähr 64% Frauen. Dabei haben Kinder alphabetisierter Mütter eine 50% höhere Überlebenschance, sowie eine größere Wahrscheinlichkeit selbst Bildung zu erhalten. Alphabetisierung ist somit der Schlüssel zur Erreichung universeller Grundbildung. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, wird für 2009 unter dem Motto "Das Große Lesen" ein Buch mit Geschichten von berühmten Persönlichkeiten zum Thema Bildung (insbesondere der Lese - und Schreibfähigkeit) erstellt. Einen Einblick in die für 2009 geplanten Aktionen der Globalen Bildungskampagne zum Thema Alphabetisierung liefert der "Big Film 2009" auf der hier genannten Webseite.
www.bildungskampagne.org


*


Die DGB-Jugend ruft zum "Bildungsstreik 2009" auf.

BERLIN. Weltweit sind Umstrukturierungen aller Lebensbereiche nicht mehr gemeinwohlorientiert - auch das Bildungssystem steht im Fokus solcher "Reformen": Gebühren und Privatisierung steuern das öffentliche Gut Bildung. In vielen Ländern protestieren Menschen dagegen, so z.B. in Mexiko, Spanien, Italien, Frankreich und Griechenland. In diesem internationalen Zusammenhang steht auch das breite Bündnis, das den "Bildungsstreik 2009" trägt. Denn der anhaltende Protest gegen Studiengebühren und Sozialabbau in den letzten Jahren hat bei den Verantwortlichen in Medien, Wirtschaft und Politik zu wenig Wirkung gezeigt, wie die Organisatoren, u.a. Studierendenausschüsse verschiedener Universitäten, finden.

Die DGB-Jugend wird diesen Streik unterstützen und Kontakte vor Ort bereitstellen - Während einer bundesweiten Aktionswoche vom 25. bis 29. Mai 2009 werden junge GewerkschafterInnen gemeinsam mit Studierenden und SchülerInnen im gesamten Bundesgebiet demonstrieren.

Nächste Vernetzungstreffen: Berlin (26. bis 29. März 2009) und Düsseldorf (24. bis 26. April 2009). www.dgb-jugend.de


*


Aktionstag gegen Kinderarmut am 14. März 2009

BERLIN. Mittlerweile wird die Bündnisplattform bzw. ihre Forderungen durch mindestens 230 Initiativen, Organisationen, Organisationsgliederungen und über 5000 Einzelpersonen unterstützt. Ihre Mühe hat sich gelohnt: Im Rahmen des Konjunkturpakets II soll ab dem 1. Juli der Regelsatz für 6- bis 13-Jährige von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes geändert werden. Das Bundessozialgericht hat am 27.1.2009 festgestellt, dass die einheitliche Bestimmung des Kinderregelsatzes für alle Kinder unter 14 Jahren mit 60 Prozent des Erwachsenenregelsatzes möglicherweise verfassungswidrig sei. Im Januar 2009 wurde in den Medien mehr über Kinderregelsätze gesprochen als jemals in den letzten Monaten und Jahren zuvor.

Das Bündnis betrachtet das als Erfolg, drängt nun aber auf folgende Punkte: Die weitgehende Rücknahme der Regelsatzkürzung für Schulkinder unter 14 muss sofort in Kraft treten, nicht erst am 1. Juli. Wir fordern, dass die Rücknahme der Kürzung auf den 1.3. vorgezogen wird. Die Bundesregierung nimmt nach wie vor die Streichung des Wachstumsbedarfs bei Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren nicht zurück, belässt also ihren Regelsatz bei jetzt 281 € (80% des Eckregelsatzes) statt wie vor Hartz IV 316 € oder 90% des Eckregelsatzes. Auch diese Kürzung muss sofort zurückgenommen werden. Um den Druck für diese Forderungen zu erhöhen, planen die Gruppen einen Aktionstag am Samstag, den 14. März 2009.
www.kinderarmut-durch-hartz4.de


*


Gegen Mitsprache der Kirche an staatlichen Hochschulen

BERLIN. Der Freie Zusammenschluss von StudentInnenschaften (Fsz) hat sich auf seiner Mitgliederversammlung am 28.2./1.3. gegen die Mitsprache der römisch-katholischen Kirche im Bereich der Konkordatslehrstühle ausgesprochen. Hierzu erklärt Florian Keller, Mitglied des Fzs-Vorstands: "Maßstab jeder Berufung auf einen Lehrstuhl darf allein die fachliche Eignung oder Qualifikation sein."

Insgesamt gibt es in Deutschland 28 nicht-theologische Lehrstühle, bei denen der römisch-katholischen Kirche Mitsprache bei der Besetzung eingeräumt wird. Im bayerischen Raum sind diese Lehrstühle in besonders großer Zahl vorhanden, genauer an den Universitäten Augsburg, Bamberg, Erlangen-Nürnberg, München, Passau, Regensburg und Würzburg. "Diese Verfahrensweise läuft der Trennung von Kirche und Staat zuwider. Wir wollen nicht, dass eine kirchlichen Organisation die Möglichkeit eingeräumt wird, Bewerberinnen und Bewerber etwa wegen Streitigkeiten mit der Kirche oder wegen ihrer Lebensführung von Hochschulen fern zu halten", so Sarina Schäfer, ebenfalls Mitglied des Fzs-Vorstands.
www.fzs.de


*


Hungerstreik gegen drohende Abschiebung

BERLIN. Seit Ende Februar befinden sich in Berlin mehr als zehn syrische Flüchtlinge im Hungerstreik. Sie protestieren damit gegen die Berliner Abschiebepläne, von denen sie gemeinsam mit 7000 weiteren Flüchtlingen betroffen sind. Dem Hungerstreik gingen mehrere Protestdemonstrationen voraus, die ohne jegliche Wirkung blieben. Die Hartnäckigkeit der Proteste liegt auch darin begründet, dass viele der Betroffenen befürchten, in Syrien Opfer von Misshandlung und Folter zu werden oder von grundlegenden Rechten ausgeschlossen zu sein. In der Tat berichten Menschenrechtsorganisationen von Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei und der Geheimdienste des nahöstlichen Landes; auch von außergesetzlichen Hinrichtungen ist die Rede. Hunderttausenden, meist Angehörigen der kurdischsprachigen Minderheit des Landes, werden Bürgerrechte vorenthalten.
www.thevoiceforum.org


*


Kampagne gegen den Waffenexporteur aus Oberndorf

OBERNDORF. Unter dem Motto "60 Jahre Heckler & Koch - Kein Grund zum Feiern!" mobilisieren die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), die ökumenische Aktion Ohne Rüstung Leben (ORL), das RüstungsInformationsBüro (RIB e.V.), die katholische Friedensbewegung Pax Christi und lokale Friedensgruppen ihre Mitglieder. Sie alle werden am kommenden Wochenende in Rottweil und Oberndorf gegen die Waffenexporte des größten europäischen Gewehr- und Pistolenherstellers Heckler & Koch (H&K) protestieren. Der Waffenproduzent Heckler & Koch wird am 28. Dezember 2009 60 Jahre alt. Mit einer ganzjährigen Informations- und Aktionskampagne wollen die Friedensaktivisten darüber aufklären, "dass Heckler & Koch mit Direktexporten und Lizenzvergaben für Sturmgewehre und Maschinenpistolen Öl ins Feuer bestehender Konflikte gießt". Ein wichtiges Ziel der Kampagne ist auch der Stopp von Waffenexporten. "Wenn man bedenkt, dass durchschnittlich alle 14 Minuten ein Mensch durch eine Kugel aus dem Lauf einer Heckler-Waffe stirbt, kann man nicht ruhigen Gewissens das 60-jährige Firmenjubiläum feiern!" meint Jürgen Grässlin, Bundesssprecher der DFG-VK.
www.dfg-vk.de


*


Flammender Protest gegen Atommülllagerung über 52 km

BRAUNSCHWEIG. Zwischen Braunschweig, dem geplanten Atommüllendlager Schacht Konrad und der abgesoffenen Strahlenmüllkippe Asse-II haben am 26.2.2009 mehr als 15.000 Menschen gegen die gescheiterte Atommülllagerung und für den Ausstieg aus der Atomenergie protestiert.

Mit Fackeln, Kerzen, Lampions und diversen kleineren Aktionen erteilten tausende Bürger um Punkt 19.00 Uhr zukünftigen Atomplänen eine deutliches Absage. Südlich von Braunschweig, zwischen Mascherode und Salzdahlum installierten Aktivisten von contrAtom ein 6 Meter hohes 'A' - Symbol für den Protest gegen die Asse-II - und entzündeten es zu einem "flammenden Protest". Die Losung der Aktion lautet: "Wir fordern die sofortige Abschaltung aller Atomanlagen, damit die Produktion von gefährlichem Atommüll beendet wird!"
www.contratom.de


*


Sammelpetition: Wohnungen statt Flüchtlingslager

MÜNCHEN. Am 23. April 2009 findet im bayerischen Landtag eine ExpertInnenanhörung zur Unterbringung von Flüchtlingen statt. Die Anhörung wurde von fünf Landtagsausschüssen jeweils einstimmig beschlossen, die Federführung liegt beim Sozialausschuss. Der Bayerische Flüchtlingsrat, der ebenfalls einen Experten stellt, hat die Möglichkeit, im Rahmen der Anhörung seine Forderung nach genereller Abschaffung der Lagerpflicht zu vertreten. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, ruft der Bayerische Flüchtlingsrat alle EinwohnerInnen Bayerns, die ebenfalls die Abschaffung der Flüchtlingslager fordern und bei der Anhörung nicht zu Wort kommen, dazu auf, die Sammelpetition "Wohnungen statt Flüchtlingslager" zu unterzeichnen. Die Sammelpetition wird an den Petitionsausschuss des Bayerischen Landtages übergeben, damit sie Eingang in die Landtagsdebatte zur Neuregelung der Unterbringung von Flüchtlingen findet. Die Lagerunterbringung wurde bereits von vielen Organisationen und Institutionen als menschenunwürdig kritisiert, darunter Thomas Hammarberg, Menschenrechtsbeauftragter des Europarats. Deshalb ist es in anderen Bundesländern längst gängige Praxis, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Nach jahrelangem Stillstand deutet sich nun auch in Bayern ein Umdenken an. Die Oppositionsparteien im Landtag, aber auch die FDP als Regierungspartnerin, befürworten ein Ende der Lagerpflicht für Flüchtlinge und selbst innerhalb der CSU-Fraktion ist eine Diskussion im Gange.
www.fluechtlingsrat-bayern.de/lagerpflicht.html


*


Der wahre Preis des Luxus: Arbeitsrechtsverletzungen bei Prada und Samsonite

BERLIN. Zum internationalen Frauentag fordert die Kampagne für "Saubere" Kleidung die Luxusfirmen Prada und Samsonite auf, gegen Arbeitsrechtsverletzungen bei ihrem türkischen Zulieferer DESA vorzugehen. Aktivisten protestieren gegen die Entlassung von Gewerkschaftern vor Prada-Läden in Rom, Mailand, London, Madrid, Paris und Istanbul. Von Deutschland aus senden Unterstützer der Kampagne Protestemails an die Unternehmen. Im April 2008 hatte der türkische Lederfabrikant DESA 44 Gewerkschafter der türkischen Gewerkschaft für Lederarbeiter Deri Is entlassen und 55 Arbeiter gezwungen, ihre Gewerkschaftstätigkeit niederzulegen. Seitdem protestieren die betroffenen Arbeiter vor der Fabrik. "Es wird mittlerweile Zeit, dass sich Prada und Samsonite für die Gewerkschafter und die Anerkennung der Gewerkschaft einsetzen", sagt Julia Thimm von der Kampagne für "Saubere" Kleidung. "Bisher haben die Luxushersteller die Arbeitsrechtsverletzungen bei ihrem Zulieferer ignoriert". Ein türkisches Gericht hat in etlichen Fällen bestätigt, dass die Entlassungen der Gewerkschafter rechtswidrig waren. Das Gericht hat die DESA Geschäftsführung aufgefordert, die Gewerkschafter wiedereinzustellen oder angemessen zu entschädigen. Im November 2008 startete die Kampagne für "Saubere" Kleidung bereits eine Protestaktion gegen Prada und Samsonite sowie andere europäische Luxusunternehmen, die bei DESA produzieren. Die DESA Geschäftsleitung fühlte sich unter Druck und trifft sich seit Dezember mit der Gewerkschaft. Jedoch konnte eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen bisher noch nicht erreicht werden. Die Geschäftsführung weigert sich, Vereinbarungen schriftlich festzuhalten und beginnt die Verhandlungen jedes Mal von neuem. Die Kampagne für "Saubere" Kleidung vermutet dahinter eine Hinhaltetaktik.
www.saubere-kleidung.de

Raute

Das Fiasko Elbphilharmonie

Die Lobpreisenden der Hamburger Elbphilharmonie schwärmten je nach Einstellung vom Hamburger Eiffelturm oder dem Tower für Hamburg oder dem neuen "Musentempel". Ganz egal was, aber groß sollte es sein, ein neues Stadtsymbol - eben ein richtiger Leuchtturm. Berühmt ist er schon geworden - als Zeichen für explodierende Kosten.


Die Dimension

Nach der ersten Planung sollte die Stadt lediglich das Grundstück zur Verfügung stellen. Dann wurden mit der ersten Drucksache im Juli 2005 die Kosten für die Stadt mit 70 Mio. Euro "errechnet", im Dezember 2006 kam es zu dem legendären Festpreis von 114,3 Mio. Euro für die Stadt. Mit der letzten Drucksache erhöht sich diese Summe auf 323,3 Mio. Euro. Da sind noch nicht der Wert des Grundstückes und die Extra-Zufahrt Richtung Baumwall (13,8 Mio. Euro) mit eingerechnet sowie der kommerzielle Hotelbereich des Komplexes, den Hamburg nach dem Pachtvertrag mit dem Hotel noch verkaufen will.

Zur Erinnerung: Galerie der Gegenwart

Vor einigen Jahren wurde in Hamburg kräftig über die gestiegenen Kosten der Galerie der Gegenwart gestritten. Es gab damals eine Erhöhung der Baukosten von ursprünglich 74 Mio. DM auf 93,5 Mio. DM und in der letzten Drucksache auf 104,3 Mio. DM. Das waren im Verhältnis zu heutigen Zeiten niedliche 45% bzw. 15%. Dazu zwei Zitate:

Willfried Maier, GAL: "Ein unglaublicher Vorgang. Die Kulturbehörde ist haushaltsrechtlich unzurechnungsfähig." Und Ole von Beust: "Ein derart sorgloser Umgang mit Steuergeldern hat Seltenheitswert. Das ist mit einer Panne nicht zu entschuldigen. Wir beantragen eine Rüge für die Senatorin."

Was ist eigentlich die Ursache für diese Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie?

Es ist kein neuer Saal dazugekommen, keine großen Probleme bei der Baugründung, die Erhöhung der Kosten für die Fassade wurden schon in der letzten Erhöhung Ende 2006 abgerechnet. Die Formulierung der verantwortlichen Senatorin: "Das ganz große Problem ... waren die nichtabgestimmten Terminpläne zwischen der Stadt, den Architekten und dem Generalunternehmer". Genauer: Es gab zwar schon einen abgestimmten Terminplan, aber rechtlich abgesichert war er nur zwischen der Stadt und dem Generalunternehmer.

Das führte zu einer Situation, dass die Änderungen des Architekten ungeprüft zum Generalunternehmer flossen und damit hohe Forderungen an die Stadt entstanden. Im Laufe der Auseinandersetzung wurde dann der REGE-Chef Wegener abgelöst und als das Problem entsorgt. Herr Leutner sagt dazu heute: Der Vertrag hätte - seiner privaten Meinung nach - in dieser Form nicht unterschrieben werden dürfen. (Protokolle des Kulturausschusses 8. und 15. Januar 2009)

Der Festpreis

In der Drucksache 18/5526 stellt der Senat fest: "Die Baukosten des Gesamtprojekts (ohne Wohnungen) betragen als Pauschalfestpreis ... 241,3 Mio. Euro" und damit für die Stadt 114,3 Mio. Euro.

Herr Wegener konkretisierte das für den Senat noch mal: "Das Kostenrisiko im Bauprozess liegt nunmehr nach den abgeschlossenen Leistungsverträgen allein beim Bieterkonsortium IQ2 (später Adamanta), die die Bauleistung zu einem Pauschalfestpreis angeboten hat. Nur für den Fall nachträglicher Planungsänderungen durch den Bauherrn, also durch uns, kann es zu Kostensteigerungen für die FHH kommen" (Drucksache 18/5824 S. 28)

Kritische Abgeordnete fragten trotz dieser klaren Aussage nach. Und Frau Ute Jasper als sachverständige Juristin antwortet: "Die Beteiligungskonstruktion ist natürlich deshalb so komplex, weil das Projekt so komplex ist, das ist klar. Wir haben hier Planungs-, Bau-, Finanzierungs- und Betreiberleistungen gebündelt. Die kann man in Verträgen nicht einfach nur nebeneinander hängen. (...) Unser Ziel war einerseits, in diesem gesamten Vertragskonzept ... diese Schnittstellen zu schließen und Risiken zu vermeiden, und andererseits durch den Rahmenvertrag auch noch einmal praktisch ein Band um alle Verträge zu schnüren und möglichst eine Gesamtleistung zu vereinbaren. (...) Das wurde schon sehr intensiv geprüft und verhandelt." (18/5824 Seite 58) Dann noch mal auf die Frage von Herrn Rusche: "Können wir absolut sicher sein, dass in diesem doch sehr komplizierten Vertragsregelwerk keine auch noch so kleine Hintertür offen ist, die es dem Investor ermöglicht, angesichts steigender weiterer Baukosten Kosten auf die Stadt abzuwälzen?" antwortet Frau Jasper klar und eindeutig: "Ja wir können sicher sein. Es ist ein Pauschalfestpreis und Baukostensteigerungen führen nicht zu Preisanpassungen." (Seite 67)

Die Terminpläne

Und auch die Terminpläne wurden von fleißigen Abgeordneten abgefragt. Hr. Lafrenz (CDU): "Aus dem Terminplan entnehme ich, dass die Verträge auch mit verbindlichen Terminsetzungen ausgestattet sind. Wir wissen alle, dass diese Terminsetzungen, die selbstverständlich strafbewehrt sein müssen, wenn sie wirken sollen, auch kostenmäßig zu Buche schlagen." (Seite 58) Darauf antwortet Herr Wegener für den Senat: "Ja, das ist auch vorgelegt worden. Wir haben einen pönalisierten Bauzeitenplan verabredet. Der ist Teil des Vertragswerkes." (Seite 59)

Diese Aussagen zeigen, dass die Bürgerschaft im Dezember 2006 intensiv auch die Schwächen nachgefragt hat und vom Senat falsch informiert wurde.

Es bleibt folgendes festzustellen:

• Die Planung und Beauftragung erfolgten übereilt, so dass aufgrund der geringen Planungstiefen Probleme vorprogrammiert waren.

• Die Stadt hat die Hochbauabteilungen der Stadt aus der Planung herausgelassen und die REGE beauftragt, die bisher keine Erfahrungen mit solchen Bauten hatte. Nach dieser voluntaristischen Entscheidung fällt jede Schuldzuweisung an Herr Wegener auf die damaligen Entscheidungsträger zurück.

• Unklar bleibt warum die juristischen Berater der Stadt nicht auf diesen wichtigen Umstand hingewiesen haben.

Fazit: Entweder war die Kostenexplosion den wichtigen Akteuren vorher bekannt und sie haben das verschwiegen, um die Elbphilharmonie in der Stadt durchsetzen zu können, oder der Senat war der dümmste Auftraggeber in der Republik.

ÖPP ein Ungeheuer - undurchsichtig und sehr teuer

Bei der Galerie der Gegenwart und vielen anderen staatlichen Bauprojekten hat gerade die CDU immer wieder den Einsatz von privaten Unternehmen gefordert, die schon gut mit Geld umgehen könnten. Bei der Elbphilharmonie wurde das jetzt umgesetzt und das Ergebnis ist beeindruckend.

Der Generalunternehmer Hochtief erscheint gegenüber der Stadt mit mehreren Gesichtern: Als Adamanta und damit als klassischer Generalunternehmer. Als Skyliving und damit der Verkäufer der Eigentumswohnungen, die den Hauptteil der westlichen Fassade der Elbphilharmonie ausmachen. Außerdem tritt Hochtief als Verpächter des kommerziellen Mantels (Hotel, Parkhaus und Gastronomie) auf und als zukünftiger Facility-Manager.

Diese hochkomplexe Situation scheint sich nicht zum Nachteil von Hochtief ausgewirkt zu haben. Das zeigt auch ein weiteres Detail: Hochtief hat z.B. im kommerziellen Bereich der Elbphilharmonie eine Verlagerung des zum Hotel gehörenden Konferenzbereiches aus einem der oberen Geschosse in den Speicherbereich vorgenommen. Die aus solchen Veränderungen folgenden kostenintensiven Kosten für Planungsveränderungen hat allein die Stadt zu tragen.

Durch dieses Beispiel verwundert es nicht, dass die Kostenexplosion ausschließlich die öffentliche Hand trifft. Nachdem die bisherigen Drucksachen immer die Gesamtkosten des Gebäudes darstellten, erfahren wir jetzt nur noch die staatlichen Kosten und erfahren nebulös von Kostenschätzungen in den kommerziellen Bereichen in Höhe von 27 Mio. Euro.

Wegener ist Schuld!?

Der Senat und seine ihn tragenden Parteien haben den Schuldigen schon gefunden: den Projektkoordinator. So bleibt auch die erstaunliche Feststellung, dass der Koordinator am 25. Oktober 2007 zu Gunsten des ungestörten Ablaufs auf die inhaltliche Prüfung der Pläne des Generalplaners verzichtete und diese pauschal freigab - "ein großes Einfallstor für Kostensteigerungen", wie die Drucksache 19/1841 feststellt.

Dabei bleibt im Unklaren, wie und wann der Aufsichtsrat davon informiert wurde und wie dieser darauf reagierte. Diese Entscheidung hat jedenfalls Kosten in Millionenhöhe verursacht und das muss Wegener und dem Aufsichtsrat (?) bewusst gewesen sein.

Auch der Hinweis, dass Herr Wegener dem Aufsichtsrat bis zum September 2008 über die fehlende Synchronisierung der Verträge nicht klar informiert hat, wirkt eher befremdlich. Auch einem Bau-Unkundigen ist klar, dass ein Bauunternehmen über den Weg der Nachforderungen versucht, mehr Geld einzunehmen. Der Aufsichtsrat und der Projektkoordinator mussten v.a. diese Fragestellung im Blick haben und haben ja schon im Mai 2007 die fehlenden Synchronisierung festgestellt.

Deutlich scheint aber zu sein, dass Herr Wegener mit der Aufgabe überfordert war. Das hat der Aufsichtsrat zu spät erkannt.

Auch die Entscheidung des Senats, die REGE mit der Projektkoordination für die Elbphilharmonie zu beauftragen, ist völlig befremdlich: Bisher hatte sie keine Erfahrung mit solch komplexen Bauaufgaben. Die Bulldozer-Qualitäten von Wegener bei der Airbus-Werkserweiterung, den Bauern und Rentnern in Neuenfelde ihre Häuser abzukaufen, kann kaum als Präferenz für diese Aufgabe gewertet werden. Die ganze Angelegenheit wird noch befremdlicher, da Wegener mit vielfachen Befugnissen als Projektkoordinators ausgestatten wurde: mit vielen Allein-Agier-Rechten und ohne Vier-Augen-Prinzipien.

Und es bleibt die Einschätzung, dass die vertragliche Situation so gestaltet war, dass ein Projektkoordinator die Kostenexplosion nicht aufhalten konnte.

Die Architekten

Die Arbeit der Architekten wurde in den Ausschussdiskussion gern unter der Überschrift "international berühmt, einmalig, so sind die nun mal" etc. diskutiert. Erstaunlich bleibt schon die Tatsache, dass die Architekten an diesen Kostenexplosionen ebenfalls gut verdienen. Sie sind nicht vertraglich verpflichtet, Verantwortung für die Kosten zu tragen.

Der Vertrag mit den Architekten wurde noch von den Ursprungsplanern Becken etc. übernommen. Das ist aber keine Begründung dafür, schlechte Verträge bestätigt zu haben. Und die Vertragsbedingungen erstaunen erfahrene Architekten.

Wie geht es weiter?

Die vertragliche Situation hat sich nicht grundlegend verändert. Und die Beteuerungen der Kulturbehörde von Januar 2007, dass jetzt alle Kosten im Griff sind, stimmen mit den heutigen Formulierungen überein. Das lässt Schlechtes erwarten. Zwar wurden einige neue Managementinstrumente eingezogen, aber Hamburg bleibt aufgrund der Grundkonstruktion des Vertrages weiterhin Schlachtbank des Generalunternehmers mit finanzieller Anteilnahme des Generalplaners.

Von der Baukostenexplosion zur Betriebskostenexplosion

Schon nach den ersten Drucksachen waren viele Menschen davon überzeugt, dass die Betriebskostendefizite erst das wahre Dilemma der Elbphilharmonie zeigen wird. Die geplanten Zuschauerzahlen, die Anzahl an Konzerten, die Schwäche der Orchester und die dann fehlenden Zuschauer in der Laeizhalle sind kritisch diskutiert worden. Mit der jetzigen Drucksache wird das geplante Betriebskostendefizit der Elbphilharmonie auf 10,5 Mio. Euro im Jahr erhöht. Großspurig wird mit der Drucksache verkündet, dass die "endgültige Gesamtbelastung des öffentlichen Haushaltes" von 5,15 Mio. Euro auf 7,3 Mio. Euro pro Jahr sich erhöht. Dazu muss noch ein Spielbetriebszuschuss von 3,2 Mio. gerechnet werden. Wetten, dass sich dieser Betrag noch kräftig erhöhen wird?

Norbert Hackbusch
www.linksfraktion-hamburg.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ein solches Desaster hat Hamburg noch nicht erlebt: Die Kosten der Elbphilharmonie sollen sich für die öffentliche Hand noch mal verdreifachen! Nachdem am Anfang ohne Subventionen gedacht und dann 77 Mio. ausgewiesen wurden - präsentierte der Senat im Jahre 2006 und 2007 einen Festpreis von 114,3 Mill. Euro. Jetzt soll die Stadt 323,3 Mio. Euro bezahlen! Der Begriff Festpreis ist damit zum Wort des Jahrzehnts für diesen Senat geworden!

Raute

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten fordert:

Ziehen Sie die V-Leute endlich zurück, Herr Rech!

"Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen", so zitiert der "Schwarzwälder Bote" am 5.3. den Orginalton des baden-württembergischen Innenministers Rech auf einer Veranstaltung in Gechingen. Damit räumt Rech ein, dass die NPD im Lande durch den "Verfassungsschutz" künstlich am Leben gehalten wird. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten, sieht darin einen kaum zu überbietenden Skandal.


Das Bundesverfassungsgericht hatte diesen Prozess 2003 eingestellt, weil bei der hohen Dichte von in der NPD wirkenden V-Leuten, nicht entscheidbar sei, welche der NPD-Aktivitäten von dieser Partei selbst und welche von staatlichen Behörden initiiert seien. Während andere Bundesländer bereits angekündigt haben, ihre V-Leute aus diesem Grund abzuziehen, hält gerade Baden-Württembergs Innenminister unbeirrbar an ihnen fest und fällt damit den Verfassungsorganen, wie Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, die den Prozess angestrengt hatten, in den Rücken.

Die VVN-Bund der Antifaschisten hat schon lange darauf hingewiesen, dass die NPD weitgehend durch die "Honorare" der V-Leute finanziert wird. In aller Regel, so die VVN-BdA, "sind V-Leute Faschisten mit V, d.h. sie arbeiten im Sinne ihrer faschistischen und rassistischen Politik in den Gremien und Gliederungen der NPD aktiv mit und schützen die Partei gleichzeitig vor dem längst fälligen Verbot".

Laut seinen jüngsten Äußerungen ist dies dem Innenminister längst bekannt. Offensichtlich ist ihm weder an einem Verbot noch an der politischen Bekämpfung der NPD gelegen, sondern ist ihm die weitere Existenz und Aktivität dieser neofaschistischen Partei ein politisches Anliegen. Auch das jetzt vom Bundesverfassungsgericht erst mal gestoppte neue Versammlungsgesetz hatte Rech unter der Behauptung auf den Weg gebracht, es erschwere neofaschistische Aufmärsche, während es in Wahrheit insbesondere eine Erschwernis von Protesten gegen solche Aufmärsche darstellt.

Die VVN-Bund der Antifaschisten wird ihre Kampagne für ein Verbot der NPD "NoNPD", die 2007 von 165.000 Menschen unterstützt wurde, auch in diesem Jahr fortsetzen mit der Forderung: Ziehen Sie die V-Leute zurück, Herr Innenminster!

(9.3.2009 D. Lachenmayer)

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Wohnungspolitik der Stadt verurteilt: FREIBURG. Die Linke Freiburg verurteilt die Wohnungspolitik der Stadt und der Stadtbau Freiburg. So sehr der Ausbau des Stadtbahnnetzes zu begrüßen ist - durch die jetzigen Planungen des Ausbaus zur Messe werden im Bereich Berliner Allee 124 Wohnungen vernichtet. Die Bahn hätte auch ohne Abriß auf der jetzt schon breiten Straße genügend Platz - vielleicht müßte man nur ein paar Autoparkplätze verlegen! Daß die Wohnungen marode sind, hängt einzig und allein damit zusammen, daß die 1951 erbauten Häuser nie vernünftig saniert wurden - so kann man jedes Haus verfallen lassen und hinterher sagen, eine Neubauwohnung ist schöner! Insbesondere halten wir es für unzumutbar, daß die Mieten nur für 3 Jahre auf dem jetzigen Stand gehalten werden! Die jetzigen oft langjährigen und damit nicht mehr ganz jungen Mieter haben teils viel Geld und Energie in die Eigensanierung ihrer Wohnungen gesteckt, jetzt bleibt ihnen keine Wahl als umzuziehen - daher sollte ihnen mindestens doppelt so lang, wenn nicht bei älteren Menschen auf Lebenszeit eine Miete erhalten bleiben, die auch in Zukunft unter Einschluß der Nebenkosten im jetzigen Rahmen bleibt!
www.linke-liste-freiburg.de/


*


Sozialverträgliche Kitastaffeln: GÖTTINGEN. Die GöLinke-Ratsfraktion hat sich mit den Grünen für das sogenannte "6-Stufen-Modell" ausgesprochen. Da sollten die bisherigen Staffelstufen 1 und 2 in der neuen Stufe 1 zusammengefasst werden. Die Zugangsvoraussetzungen für den Bezug wirtschaftlicher Jugendhilfe bleiben identisch. Die Eltern, die bisher in Stufe 3 eingestuft sind, werden nun auf die neuen Stufen 2 bis 6 verteilt. Die neue Elternbeitragsstaffel hat für alle Eltern in Stufe 1 keine Auswirkungen. Der überwiegende Teil der Eltern, nämlich ca. 42 %, wird finanziell entlastet. Lediglich ca. 24 % der Eltern werden stärker belastet. Torsten Wucherpfennig sagte dazu: "Natürlich sollte Bildung von der Kita bis zur Uni grundsätzlich kostenfrei sein, aber dieses Modell ist derzeitig vertretbar, da nur Eltern mit hohem Einkommen mehr belastet und geringer Verdienende entlastet werden." Dieses Modell wurde von CDU, FDP und SPD abgelehnt. Daher bleibt leider das alte 3-Stufen-Modell in Kraft.
www.linkspartei-goettingen.de/


*


Leiharbeit in den städtischen Kliniken abschaffen: MÜNCHEN. Antrag: Reguläre Arbeitsverhältnisse als Unternehmensziele der Städtisches Klinikum München GmbH festschreiben! Mit der Anfrage vom 14.10.2008 wollte sich Die Linke über Anzahl und Einsatzgebiet von Leiharbeitskräften in der Städtische Klinikum München GmbH informieren. In seinem detaillierten Antwortschreiben teilte Oberbürgermeister Ude mit, dass in der Städtische Klinikum München GmbH bei rd. 8.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 94 Leiharbeitskräfte (Stand September 2008) beschäftigt werden.

Der Stadtrat möge beschließen:
1. Neben den im Gesellschaftsvertrag der Städtische Klinikum München GmbH bisher aufgeführten strategischen Zielen der Gesellschaft wird folgendes weiteres Ziel aufgenommen: Das Städtische Klinikum München strebt einen möglichst hohen Anteil an regulären Beschäftigungsverhältnissen an. Prekäre Beschäftigung, insbesondere der Einsatz von Leiharbeit und befristeter Beschäftigung, soll vermieden werden.
2. Das RGU wird beauftragt, zusammen mit der Städtische Klinikum München GmbH ein Konzept zu erarbeiten, wie Leiharbeit vermieden und stattdessen reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden können. Das Konzept beinhaltet u.a. eine gezielte Kampagne zur Gewinnung von Auszubildenden für diejenigen Berufe, in denen aufgrund eines Fachkräftemangels vermehrt Leiharbeitskräfte eingesetzt werden. (...)
www.dielinke-muenchen-stadtrat.de


*


Römerkoalition ist bei Frankfurt-Pass realitätsfern: FRANKFURT a.M. Dass CDU und GRÜNE sich im Haushalt 2009 erneut einer Anpassung der Einkommensgrenzen für den Erwerb des Frankfurt-Passes an die gestiegenen Lebenshaltungskosten verweigert haben, beweist die völlige Realitätsferne der Römerkoalition. Die Linke. hatte in einem Etatantrag eine Anhebung der Einkommensgrenzen für den Frankfurt-Pass um 25 Prozent sowie eine verbilligte ÖPNV-Monatskarte in Höhe von 14 Euro (gemäß dem im ALG-II-Regelsatz vorgesehenen Anteil für Mobilität) gefordert. "Die Einkommensgrenzen im Frankfurt-Pass mit Stand Januar 2001 sind längst von der Wirklichkeit überholt", kritisiert der sozialpolitische Sprecher der LINKEN im Römer, Hans-Joachim Viehl. "Wenn Schwarz-Grün trotzdem nicht zur Kenntnis nehmen will, dass sich der Kostendruck auf prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner und insbesondere Familien mit geringem Einkommen in den vergangenen acht Jahren dramatisch erhöht hat, kapituliert die Römerkoalition wissentlich vor der wachsenden Armut in unserer Stadt." Die Einkommen vieler Frankfurter Bürgerinnen und Bürger seien seit der Festlegung der Einkommensgrenze deutlich gesunken. Gleichzeitig seien die Mieten, Energie-, Lebensmittel- und die allgemeinen Lebenshaltungskosten, nicht zuletzt auch wegen der Erhöhung der Mehrwertsteuer, erheblich gestiegen. Viehl: "Die ursprüngliche Intention des Frankfurt-Passes möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern mit geringen Einkommen soziokulturelle Teilnahme zu ermöglichen, wird so durch die Blockadehaltung von Schwarz-Grün konterkariert."
http://dielinke-im-roemer.de/


*


Kurswechsel in der Wohnungspolitik: STUTTGART. In Stuttgart herrscht Wohnungsnot bei Sozial- und günstigen Mietwohnungen. In der Notfallkartei sind bald 3.500 Haushalte; bis zwei Jahre müssen Familien warten. Dabei ist eine Wohnung eine ganz wichtige Bedingung für die persönliche Freiheit und steht allen zu. Der Markt kann es nicht richten, denn Grund und Boden sind knapp. Statt gegenzusteuern, verschärft die Stuttgarter Wohnungspolitik das Problem. Die SWSG als städtisches Wohnungsunternehmen hat seit 2001 ihren Wohnungsbestand um ca. 1.600 Wohnungen abgebaut mit dem Ziel einer guten Bilanz. Stuttgart hat den kleinsten Sozialwohnungsanteil aller Großstädte. Geht es nach dem Stadtkämmerer Föll, bleibt das so, der Wohnungsbestand der SWSG stagniert. Die Linke will einen Kurswechsel! Mehr Sozialwohnungen, die Stadt muss der SWSG bei allen Neubaugebieten den Einstieg ermöglichen. "Zu wenig Grundstücke" ist eine Ausrede. Belegrechte sind auch im Bestand möglich.
Amtsblatt 8/2009


*


Eltern kämpfen für ihre Schule: BREMEN. Die Eltern der Grundschule Borchshöhe in Bremen-Nord wollen erreichen, dass ihre Kinder auch weiterhin nach dem schwedischen Reformmodell "Skola 2000" unterrichtet werden. Künftig sogar bis zur zehnten Klasse. Dafür sammelten die ElternvertreterInnen gut 1000 Unterschriften, die sie am vergangenen Donnerstag während der Sitzung der Bildungsdeputation den Bürgerschaftsabgeordneten überreichten. Mit ihrem Antrag biss die Bochshöhe-Delegation bei der zuständigen Senatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) jedoch auf Granit. Nach Aussage der Elternvertreterin Yvonne Schiller will das Ressort an seiner Entscheidung festhalten, Kinder in der Grundschule Borchshöhe nur noch vier statt bisher sechs Jahre unterrichten zu lassen. Dann sollen die Kinder ab der Klasse fünf das Schulzentrum Lerchenstraße besuchen. Doch die Eltern geben nicht auf, suchen nach Verbündeten und sammeln weitere Unterschriften für eine Petition. In der Linken haben die Eltern, LehrerInnen und Schulleitung nun einen Verbündeten im Landesparlament gefunden, der diese Forderung unterstützt. In einer Erklärung bekundete die Fraktion heute ihre Solidarität: "Dem ambitionierten, reformpädagogischen Konzept der Grundschule Borchshöhe droht durch das neue Schulgesetz das Aus. Eine sechsjährige Grundschule soll danach nicht mehr möglich sein. Dies ist aber die Voraussetzung für das jahrgangsgemischte System, nach dem in Borchshöhe unterrichtet wird. "Ein Schulgesetz, das längeres gemeinsames Lernen und individuelle Differenzierung verhindert, ist kontraproduktiv", erklärt Jost Beilken, bildungspolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke in der Bremischen Bürgerschaft. "Wir wollen wissen, ob die Senatorin jetzt wider besseres Wissen vor der CDU einknickt."
www.dielinke-bremen.de/


*


Rekommunalisierung auf dem Vormarsch: KIEL. Wenn deutsche Städte und Gemeinden noch mehr Geldmittel flüssig hätten, würde die Rekommunalisierung von veräußerten Kommunalbetrieben wohl ein noch größeres Ausmaß annehmen. Auf jeden Fall laufen in zahlreichen Kommunen zur Zeit solche Rekommunalisierungen. Die Stadt Kiel will ihre Verkehrsbetriebe KVG, die 2003 privatisiert wurden, wieder zu hundert Prozent in eigene Hände nehmen. Bremen will dem holländischen Energiekonzern Essent seine 51%-Mehrheit an den alten Stadtwerken abkaufen, die zwischen 1995 und 2000 privatisiert worden waren. Dortmund und Bochum haben für 835 Mio. € den einst größten Privatkonzern der Wasserwirtschaft, Gelsenwasser, zurückgekauft. In Berlin wird an einen Rückkauf der 1999 teilprivatisierten Wasserwerke gedacht. Auch zahlreiche kleinere Kommunen erwägen oder sind schon dabei, privatisierte Betriebe in den Sektoren Wasserwirtschaft, Abfall und Energie wieder in eigener Regie zu führen. Zu Bremen: Der Essent-Konzern soll für 9,5 Mrd. € vom deutschen RWE übernommen werden. RWE befürchtet nun Schwierigkeiten mit dem Kartellamt und der europäischen Wettbewerbskommissarin und sieht im Verkauf der Bremer Stadtwerke eine Möglichkeit, den Behörden den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ob Bremen allerdings die geforderte Kaufsumme aufbringen kann, die wohl deutlich über dem damals erzielten Erlös liegen dürfte, ist zur Stunde noch fraglich. Einen Rolle dürfte in diesem Zusammenhang auch spielen, ob die Stadt Bielefeld ihren seinerzeit an Bremen verkauften Anteil der Bielefelder Stadtwerke wieder zurückkauft. Da sind im Moment die Schätzer unterwegs, um eine für beide Seiten tragbare Rückkaufsumme zu ermitteln.
www.kommunale-info.de


*


Hartz-IV-Empfänger müssen in teuren Städten nicht in kleinere Wohnung umziehen: WUPPERTAL. Auch in Ballungsräumen wie München können Empfänger von Arbeitslosengeld nach derzeitigem Recht nicht generell auf kleinere Wohnungen verwiesen werden als sie Hilfeempfängern außerhalb von Ballungsräumen sonst zugestanden werden. Dies hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts im Rahmen eines Streits über die Höhe des dem Kläger zustehenden Arbeitslosengeldes II am 19.Februar 2009 entschieden. Der alleinstehende Kläger bewohnt in München eine von ihm gemietete 56 qm große Zweizimmerwohnung. Die beklagte ARGE war nach sechs Monaten nur noch zur Übernahme der Kosten für eine 45 qm große Wohnung bereit. Das Bundessozialgericht hat dies beanstandet.
http://www.tacheles-sozialhilfe.de/


*


Essen: Städtische Gesellschaften werden transparenter

Das Rechtsamt der Stadt Essen hat festgestellt, dass der Antrag der Ratsfraktion Die Linke/DKP/AUF nach mehr Transparenz in den 66 städtischen Gesellschaften vom Grundsatz her gerechtfertigt und umsetzbar ist (s. dazu auch PB 11/08). Mit dieser Botschaft im letzten Haupt- und Finanzausschuss kündigte Stadtdirektor Christian Hülsmann gleichzeitig die Vorbereitung einer entsprechenden Beschlussfassung an, allerding erst für den Zeitraum nach der Kommunalwahl. Dazu soll eine Änderung aller betreffenden Gesellschaftsverträge gehören und eine Abstimmung darüber, in welcher Form das Mehr an Transparenz technisch geregelt werden kann. Zu den wichtigsten "Knackpunkte" gehören:

• die Beschränkung der Geheimhaltungspflicht der städtischen Aufsichtsratsmitglieder nur auf die Punkte,
 die zwingend der Geheimhaltung bedürfen;
• die Beteiligung und Anhörung des Rates und seiner Gremien vor wichtigen Entscheidungen der Aufsichtsräte;
• die Aufteilung der Aufsichtsratssitzungen in einen öffentlichen und einen nichtöffentlichen Teil;
• die Information der Presse im Vorfeld über die Tagesordnungspunkte.

Bisher tagen die Aufsichtsräte "geheim", so dass selbst für Ratsmitglieder dessen Entscheidungen oft genug undurchsichtig und nicht transparent sind, von den Bürgerinnen und Bürgern ganz zu schweigen. An dieser Praxis wird sich jetzt mittelfristig etwas ändern, das ist ein wichtiger Erfolg für die linke Kommunalpolitik in Essen. Wie weitgehend das sein wird, hängt auch von der Zusammensetzung des neuen Rates ab, aber ein Anfang ist jetzt gemacht.

Thorsten Jannoff

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Hans-Böckler-Stiftung:

Neue Analyse: Dezentrale "Bad Banks" sinnvoll

"Bad Banks" sind eine sinnvolle zusätzliche Komponente, um gefährliche Blockaden auf dem Kreditmarkt abzubauen. Dazu sollte die Form dezentraler "Bad Banks" gewählt werden, die einzelnen Banken oder Bankengruppen gehören. Muss der deutsche Staat einer Bank bei der Schaffung solch einer institutseigenen "Bad Bank" mit Kapital aushelfen, sollte er entsprechend zur geleisteten Unterstützung Eigentumstitel an der "Good Bank" erhalten. Mit dieser Konstruktion lassen sich besser als mit anderen Modellen, beispielsweise einer zentralen staatseigenen "Bad Bank", zwei Ziele erreichen: Erstens werden die Banken effektiv von Bilanzrisiken entlastet. Zweitens sinkt das Risiko, dass sich die Banken und ihre Eigentümer einseitig auf Kosten des Staates und der Steuerzahler sanieren. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse von Finanzmarktexpertinnen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und der Abteilung Mitbestimmungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.


Dr. Heike Joebges und Alexandra Krieger erwarten angesichts der Rezession dringend notwendige "positive Effekte auf die Kreditvergabe", wenn sich Banken wirksam von problematischen Papieren entlasten können. Die Expertinnen warnen allerdings vor überzogenen Erwartungen: Auch die Einrichtung dezentraler "Bad Banks" werde "nicht alle Probleme der Banken beseitigen, gerade nicht angesichts der fortschreitenden Rezession", schreiben die Forscherinnen in ihrer Untersuchung, die am heutigen Donnerstag als IMK Policy Brief erscheint.

Zudem sehen Krieger und Joebges auch in einem System mit sorgfältig konstruierten dezentralen "Bad Banks" eine "Gefahr, dass die Maßnahmen vor allem die Eigentümer der Bank entschädigen und damit dazu beitragen, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden". Ein wesentlicher Grund dafür ist die Schwierigkeit, einen angemessenen Preis zu bestimmen, zu dem die "Bad Bank" die Problempapiere aufkauft: "Eine korrekte Bewertung der Risiken ist nicht möglich". Auf jeden Fall solle der Staat eingrenzen, welche Problempapiere für einen Erwerb in Frage kommen. Da in Folge der Rezession noch mehr Finanzaktiva abgeschrieben werden müssen, empfehlen die Expertinnen, sich zunächst auf Verbriefungen zu konzentrieren.

Joebges und Krieger untersuchen in ihrer Studie vier Modelle, die derzeit im Zusammenhang mit einer Stabilisierung des Kreditmarktes diskutiert werden:

• Die Einrichtung einer zentralen "Bad Bank".
• Dezentrale "Bad Banks".
• Den Aufkauf problematischer Papiere gegen langfristige Ausgleichsforderungen an den Staat,
 den unter anderem Bundesbankpräsident Axel Weber vorgeschlagen hat.
• Eine staatliche Versicherung der Problemaktiva, wie sie die britische Regierung plant.


Einrichtung einer zentralen "Bad Bank"

Eine zentrale Einrichtung im Eigentum des Staates wäre nach Analyse der Expertinnen nur in einem komplett verstaatlichten Bankensystem vertretbar. Anderenfalls sei das Dilemma kaum auflösbar, einen akzeptablen Preis für die Risikopapiere zu bestimmen: Zahle die "Bad Bank" einen hohen Preis, wachse die Gefahr, dass sich gerade Banken, die in der Vergangenheit die höchsten Risiken eingegangen sind oder die ihre Problempapiere nur unzureichend im Wert berichtig haben, auf Kosten der anderen Banken und des Staates sanieren. Unter einem hohen Preis verstehen die Expertinnen dabei ein Niveau, das sich am aktuellen Bilanzbuchwert der Papiere orientieren würde. Das Problem würde noch dadurch verschärft, dass für ausländische Banken mit Niederlassungen in Deutschland ein Anreiz entstünde, ihre Problemaktiva nach Deutschland zu verschieben.

Bestehe die "Bad Bank" hingegen auf einem niedrigen Preis, fielen die Abschreibungen bei den Banken um so höher aus. Eine mögliche Folge: Die Banken brauchen noch mehr staatliche Kapitalspritzen.

Eine vollständige Verstaatlichung des Banksystems, wie sie Ökonomen in den USA und Großbritannien diskutieren, würde die Einrichtung einer zentralen "Bad Bank" praktikabler machen. Die Expertinnen Joebges und Krieger empfehlen eine Verstaatlichung von Banken aber "nur einzeln und als letztes Mittel". Der Staat solle die Geldinstitute "im eigenen finanziellen Interesse" nicht aus der Verantwortung für eigene Sanierungsanstrengungen entlassen. Grundsätzlich müsse der Staat aber als Gegenleistung für jede Rettungsmaßnahme entsprechende Eigentumstitel an der betreffenden Bank erhalten. Sollte es auf diesem Wege zu einer Vollverstaatlichung einzelner Banken kommen, sei das "einem Verzicht auf angemessene Eigentumstitel vorzuziehen".


Dezentrale "Bad Banks"

Die Konstruktion orientiert sich am Modell, mit dem die schwedische Regierung in den 90er Jahren relativ gute Erfahrungen gemacht hat. Die Banken verkaufen ihre Risikopapiere nicht an eine zentrale staatliche "Bad Bank", sondern an eine Zweckgesellschaft, die dem Institut oder einem Institutsverbund gehört. Die Banken haben so die Möglichkeit, ihre Problempapiere auch ohne staatliches Eingreifen aus den Bilanzen auszugliedern. Falls nötig, kann der Staat die Institute aber mit Kapital für die "Bad Bank" unterstützen und sollte dafür Eigentumsrechte an der "Good Bank" erhalten. Der Spielraum für rein privatwirtschaftliche Lösungen begrenzt auch die Kosten für den Staat, der nicht allen Banken Hilfe anbieten muss.

Weitere Vorteile: Wenn die dezentralen "Bad Banks" an die "Good Banks" angebunden bleiben, ist deren Anreiz geringer, möglichst viele Risikopapiere zu überhöhten Preisen abzugeben. Schließlich fallen Verluste bei der "Bad Bank" auch auf deren Mutter zurück. Darüber hinaus sollte die Verwaltung und Verwertung der Risikopapiere leichter fallen. Schließlich dürften "die Banken selbst besser als der Staat mit den Risiken ihrer eigenen Geschäfte vertraut sein", schreiben Joebges und Krieger.


Staatliche Ausgleichsforderungen

Bei dieser Konstruktion kauft der Staat den Banken Problempapiere nicht gegen liquide Mittel ab, sondern räumt dafür langfristige Ansprüche gegen den Bund, so genannte staatliche Ausgleichsforderungen, ein. Die Bilanzen der Banken würden entlastet, ohne dass sich der Staat für den Kauf sofort am Kapitalmarkt verschulden müsste. Nach der Analyse der Finanzmarktexpertinnen stellt dieser Ansatz allerdings keine wirkliche Alternative zur Einrichtung von "Bad Banks" dar, sondern nur eine alternative Finanzierungsform. Daher halten die Forscherinnen solche Ausgleichsforderungen allenfalls in Kombination mit einem System dezentraler "Bad Banks" für sinnvoll.


Staatliche Versicherung der Problemaktiva

In diesem Modell, über das die britische Regierung nachdenkt, verkaufen die Banken ihre Risikoaktiva nicht, sondern lassen sie vom Staat gegen einen Ausfall versichern. Dafür erhält der Staat eine Versicherungsgebühr. Die Lösung erscheint attraktiv, weil der Staat nicht sofort einen Kaufpreis zahlen muss, sondern nur im Fall des vorher definierten kritischen Wertverlustes. Angesichts der kaum zu kalkulierenden Ausfallrisiken bei vielen "strukturierten" Problempapieren bewerten Joebges und Krieger die Konstruktion jedoch als hoch riskant für den Staat, da die staatliche Versicherung eine ungesicherte Wette auf eine überraschend positive Entwicklung darstelle. Das könne mittelfristig sehr teuer werden.

Quelle: hans-boeckler-stiftung

Raute

Sanktionen bei illegaler Beschäftigung

Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament am Donnerstag die Richtlinie "über Sanktionen gegen Personen, die Drittstaatsangehörige ohne legalen Aufenthalt beschäftigen", verabschiedet. Die Richtlinie ist Teil der Bemühungen der EU um eine umfassende Migrationspolitik. Die illegale Beschäftigung von Zuwanderern wird verboten. Gegen Arbeitgeber, die diesem Verbot zuwiderhandeln, werden Sanktionen verhängt. Schätzungen zufolge leben zwischen 5 und 8 Millionen Drittstaatsangehörige illegal in der EU. Besonders betroffen von illegaler Beschäftigung sind die Wirtschaftszweige Baugewerbe, Landwirtschaft, Reinigungsdienste sowie das Hotel- und Gaststättengewerbe. Die Richtlinie enthält ein generelles Verbot der Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in der EU aufhalten. Rechtsverletzungen werden u. a. mit finanziellen Sanktionen geahndet, die entsprechend der Zahl der illegal beschäftigten Drittstaatsangehörigen verschärft werden. Auch der Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren, die Einziehung öffentlicher Zuwendungen sowie die Schließung der Betriebsstätten sind möglich.
DGB-Verbindungsbüro Brüssel


*


Iran: Verschärfte Repressalien gegen unabhängige Zuckergewerkschaft

Die Regierung Irans verschärft ihren Druck gegen die Zuckerarbeitergewerkschaft Haft Tapeh mit neuen Verhaftungen. Während die fünf Gewerkschaftsführer, die im Dezember verhaftet und wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" sowie "regierungsfeindlicher Propaganda" angeklagt wurden, immer noch auf das Urteil an dem am 17. Februar beendeten Prozess warten, wurde das Haft Tapeh-Vorstandsmitglied Rahim Beshag am 22. Februar von der Geheimpolizei verhaftet. Nach der geringen Beteiligung an der vom Arbeitsministerium angeordneten Wahl zum "Islamischen Arbeitsrat" von Haft Tapeh schlugen die Sicherheitskräfte am 28. Februar erneut zu, indem sie den Kommunikationsbeauftragten Reza Rakhshan verhafteten. Die Wohnungen beider Männer wurden durchsucht und ihre Computer beschlagnahmt. Die gegen sie erhobenen Anklagen wurden bisher nicht veröffentlicht. Zu den immer schärferen Repressalien gegen die Arbeitnehmer von Haft Tapeh kommen Berichte über neue Schikanen gegen andere unabhängige Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechtsaktivisten, vermutlich um vor dem Maifeiertag und den für den 12. Juni angesetzten Präsidentschaftswahlen ein Klima der Furcht zu schaffen. Internationaler Druck ist dringend erforderlich, um die Regierung dazu zu bewegen, alle Haft Tapeh Führungskräfte freizulassen. Unter der Adresse http://www.iuf.org kann eine Botschaft an die iranischen Staats- und Justizbehörden gesendet werden, um diese aufzufordern, alle Anklagen gegen die Haft Tapeh Gewerkschaftsführer unverzüglich und bedingungslos fallen zu lassen. Ihr könnt auch eine Botschaft an die diplomatische Vertretung Irans in eurem Land senden - oder ihr einen Besuch abstatten! Ihr könnt im Internet unter der jeweiligen Vertretung in eurem Land die entsprechende E-Mail Adresse finden.
www.iuf.org


*


Unilever Pakistan: Profite und Provokation

Die Unternehmensleitung von Unilever Pakistan hat ihre Angriffe gegen die Arbeitnehmer ihrer Lipton Brooke Bond Teefabrik in Khanewal, Pakistan, verschärft. Die Fabrik - die letzte in einem Land der Teetrinker, die Unilever direkt gehört und von Unilever betrieben wird - beschäftigt rund 750 Arbeitnehmer, die Tee verpacken, von denen aber nur 22 von Unilever direkt beschäftigt werden. Die übrigen 723 werden von sechs Leiharbeitsagenturen auf der Basis "keine Arbeit - kein Lohn" beschäftigt. Diese haben keine Ansprüche auf eine Rente oder Sozialleistungen, erhalten nur ein Drittel der Löhne der ständig beschäftigten Arbeitnehmer und können nicht der Gewerkschaft beitreten, die mit Unilever über Löhne und Arbeitsbedingungen verhandelt. Sie haben eine Organisation gegründet, um ihren Beschäftigungsstatus zu regeln - die Unilever Mazdoor Union Khanewal. Mit Unterstützung des IUL-Mitgliedsverbandes National Federation of Food, Beverage and Tobacco Workers of Pakistan haben rund zweihundert Arbeitnehmer beim Arbeitsgericht beantragt, dass ihr Status von ersetzbar zu ständig beschäftigt geändert wird. Die Betriebsleitung hat eine kleine rivalisierende Arbeitnehmergruppe gegründet, die Gewalt schüren, offensichtlich um einen "Zwischenfall" zu provozieren. Am 1. März erstattete die Leiharbeitsfirma Riaz Ahmed and Brothers heimlich Strafanzeige bei der Polizei gegen 17 Arbeitnehmer - die alle Anträge beim Arbeitsgericht gestellt hatten - und beschuldigte sie, Unruhe zu stiften, die Betriebsleitung zu behindern usw. Diese Vorwürfe bezogen sich in Wirklichkeit auf eine Demonstration vor der Fabrik, die die Arbeitnehmer eine Woche zuvor durchgeführt hatten, um gegen die Methode "keine Arbeit - kein Lohn" zu protestieren.

Weitere Informationen und die Möglichkeit Solidaritätsbekundungen unter www.iuf.org

Raute

WIRTSCHAFTSPRESSE

Bundesverband der Freien Berufe verlangt staatliche Unterstützung. HB, Mo. 2.3.09. Rund 400.000 Arbeitsplätze seien bei den rund 1 Million Anwälten, Steuerberatern, Architekten und Ärzten mit 2,9 Mio. Beschäftigten durch die Krise bedroht, so A. Metzler, Hauptgeschäftsführer des BDB. Der Verband appelliert an die Bundeskanzlerin, nicht nur über Hilfen für Opel und andere große Industrieunternehmen nachzudenken, sondern auch den kleinen Freiberuflern bei Betriebsmittelkrediten helfen, die eigene Liquidität zu sichern und sich auch gegen Risiken wie etwa Insolvenzen von Dritten zu sichern. Die gewerblichen Mittelständler, die in der Krise die Nachfrage nach Beratung durch Steuerberater und Anwälte steigerten, seien nun weniger liquide. Es müsse sicher gestellt werden, dass der höhere Krisenberatungsbedarf bezahlt werden könne. Außerdem solle vor allem die öffentliche Hand die Zahlung von Rechnungen nicht so lange zurückhalten.


*


Abwrackprämie bislang mäßig erfolgreich. FAZ, Die. 3.3.09. Nach Einschätzung des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) dürfte der Absatz in Deutschland in den kommenden Monaten dank Abwrackprämie zwar ein wenig anziehen, die durch die Prämie zusätzlich ausgelöste Nachfrage schätzen Experten für das Gesamtjahr aber nur auf rund 300.000 Neuwagen. Bisher wurden beim für die Prämie zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle knapp 140.000 Anträge eingereicht. Die von der Bundesregierung bereit gestellten 1,5 Milliarden Euro reichen für insgesamt 600.000 Prämienzahlungen.


*


BDI will Manager nicht zu starker Reglementierung unterwerfen. FAZ, Frei. 6.3.09. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag soll klären, ob die Regeln zu den Managerbezügen noch verschärft oder ergänzt werden können. Der Hauptgeschäftsführer des BDI, W. Schnappauf, äußert dazu: "Wir halten eine grundsätzliche Ausrichtung von Vergütungssystemen an der langfristigen Unternehmensentwicklung für richtig." Das strikte Wechselverbot für Vorstände in den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrates sei jedoch inakzeptabel. "Ehemalige Vorstände bringen wichtiges Wissen über das Unternehmen und seine Strukturen mit, die dann nicht mehr zu dessen Gunsten verwendet werden dürften." J. Poß stv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion antwortete: der BDI verschleiere gezielt, dass schon das geltende Recht eine Haftung für Aufsichtsräte vorsehe, die überhöhte Managergehälter durchwinkten.

Zusammenstellung: rst

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

John Kenneth Galbraith:

"Der große Crash"

John Kenneth Galbraith, geboren 1908, gestorben 2006 in Cambridge (USA), gilt noch heute als einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Als bekennender Keynesianer und Linksliberaler setzte er sich zeitlebens für eine Stärkung der staatlichen Institutionen und für eine staatliche Förderung der Nachfrage gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise ein.

Galbraith engagierte sich für Präsident Roosevelts "New-Deal", arbeitete ab 1940 eine Zeitlang in der Aufsichtsbehörde zur Kontrolle von Löhnen und Preisen, im "Office of Price Administration". Nachdem ihm zunächst wegen seines Eintretens für den "New Deal" die Berufung zum Professor abgelehnt worden war, wurde er 1949 als Professor für Wirtschaftswissenschaften zur Harvard University berufen. 1955 publizierte er seine zu einem Klassiker der Nationalökonomie gewordene Analyse der Ursachen der - bisher - größten Überproduktionskrise des Kapitalismus in seiner Schrift "The Great Crash 1929". Bis 1965 beriet Galbraith zahlreiche demokratische US-Präsidenten.

Die FinanzBuch Verlag GmbH in München hat Ende 2008 dieses Buch von Galbraith erneut herausgegeben. Wer eine systematische Studie der Weltwirtschaftskrise in den USA oder eine Übersicht über den "New Deal" unter Roosevelt erwartet, wird enttäuscht. Denn der Autor richtete sich mit seiner über 20 Jahre nach der großen Krise publizierten Schrift vor allem an das US-Publikum, von dem er vermutlich zu Recht annahm, dass diesem Art und Ausmaß der Krise noch im Gedächtnis sind. Sein Ziel war, die Erfahrungen dieser großen Krise auch Jahre später nicht in Vergessenheit fallen zu lassen.

Dieses Anliegen macht das Buch auch heute lesenswert. "Nichts gelernt" möchte man bei vielen Geschichten über die damalige Zeit heute sagen. So erfährt man bei Galbraith, dass die aktuelle Immobilienkrise in den USA keineswegs die erste ihrer Art war. Schon 1925/26 gab es in Florida eine in manchen Zügen ähnliche Immobilienspekulation. Florida war damals gerade als Urlaubsparadies für stressgeplagte und ältere US-Bürger entdeckt worden, mit der Folge, dass über mehrere Jahre hinweg noch die entlegendsten Sumpfgrundstücke als angeblich "hervorragend gelegene Wohnparadiese" mit "garantiertem Wertanstieg in Zukunft" gepriesen und an ahnungslose Interessenten verkauft wurden - bis irgendwann aufflog, welche Geschäftemacher da unterwegs waren und die Spekulationswelle zusammenbrach.

Auch der von Hedgefonds in den letzten Jahren regelmäßig praktizierte "Leverage" (deutsch: "Hebelwirkung"), d.h. die Methode, mit wenig Eigenkapital und extrem hohem Fremdkapital-Einsatz riesige Kauf- und Verkaufsgeschäfte an den Börsen wie in der Realwirtschaft zu realisieren, kam offenbar bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA auf. Damals nannten sich die neuen Firmen "Holdings", wurden als nagelneues Geschäftsmodell der Kombination von Banken und Industrie gepriesen und praktizierten das gleiche, was man 60 Jahre später von den Hedgefonds kennen und fürchten lernte: Sie liehen sich Geld, kauften sich so Firmen, Aktien und andere Renditeobjekte auf Kredit und zogen so immer riskantere Börsen- und Kreditgeschäfte auf, die dann in der Weltwirtschaftskrise mit großem Krach zusammenbrachen. 1933/34 wurden dieser Typus von Holdings aus Banken und Wirtschaftsunternehmen durch den US-Kongress per Gesetz verboten.

Auch "Leerverkäufe", d.h. der Verkauf von Aktien und anderen Wertpapieren, die gar nicht im Besitz der Verkäufer sind, sondern nur vorübergehend von anderen geliehen waren, um aus der weiteren Beschleunigung von Kursstürzen an den Börsen private Gewinne zu machen, sowie der schon im 19. Jahrhundert lange Jahre aus guten Gründen verbotene "Eigenhandel" von Banken mit eigenen Aktien waren vor dem "großen Crash" in den USA offenbar weit verbreitet.

Irritierend ist schließlich, wenn man heute liest, dass die Weltwirtschaftskrise in den USA keineswegs als ein einziger, schwerer Absturz eintrat, sondern als eine drei Jahre lange, wellenartige Abwärtsbewegung sowohl der Börsen wie der Realwirtschaft. Der "schwarze Freitag" etwa war laut Galbraith zwar gravierend, aber letztlich nur eine Episode einer sich in Wirklichkeit über mehrere Jahre wellenartig sich vertiefender Krise, die im Sommer 1932, also fast drei Jahre nach ihrem Beginn, ihren tiefsten Punkt erreichte. Man hofft instinktiv, dass uns eine solche Entwicklung nicht heute wieder bevorsteht.

Am Ende nennt Galbraith fünf Gründe für die US-Wirtschaftskrise jener Zeit:

- erstens eine schlechte Einkommensverteilung. Die reichsten 5 Prozent der US-Gesellschaft erzielten damals 30 Prozent aller Einkommen, d.h. sechs Mal so viel wie der gesellschaftliche Durchschnitt. Anfang der 50er Jahre war dieser Anteil in den USA auf 20% gefallen, unter Ronald Reagan und noch mehr unter Bush zog er wieder steil nach oben. Die extreme soziale Polarisierung förderte hemmungslose Spekulationsgeschäfte der Elite bei gleichzeitiger Stagnation oder sinkenden Einkommen der großen Mehrheit der Gesellschaft;

- zweitens die prekäre Situation der Kapitalgesellschaften, allen voran der neu entstandenen Holdings, die mit hohen Fremdkapitaleinsatz operierten und deshalb bei Ausbruch der Krise als erste zusammenbrachen;

- drittens die strukturelle Labilität des gesamten Bankensystems in den USA, das damals nur geringer öffentlicher Kontrolle unterlag. Die Schaffung von Kontrollorganen wie der US-Börsen- und Bankenaufsicht, das Verbot von Leerverkäufen und Eigenhandel waren deshalb in den 30er Jahren einige der Konsequenzen, die die US-Regierung unter Roosevelt aus dem Desaster zog - Konsequenzen, die in den letzten Jahren offenbar wieder vergessen waren;

- viertens ein "desolater Zustand der Außenhandelsbilanz". Damit meint Galbraith eine Situation, in der die USA als Hauptgläubiger der damaligen Welt Jahr für Jahr große Goldzahlungen aus aller Welt bezogen. Als die Krise ausbrach, erhöhte die US-Regierung zudem noch die Zölle und machte damit vielen Ländern, unter anderem der Weimarer Republik, Frankreich, Großbritannien, aber auch vielen lateinamerikanischen Ländern unmöglich, ihre Exporte in die USA auszuweiten und damit ihre Schulden zu bezahlen. Der Zusammenbruch großer Banken in Europa und Lateinamerika und die Vertiefung der Wirtschaftskrise weltweit waren die Folge;

- fünfter Grund ist für Galbraith der "schlechte Zustand der Ökonomie", womit die damalige Zunft der Wirtschaftswissenschaftler und ihre Rezepte gemeint ist. Auch da muss man unwillkürlich an die heutzutage herrschenden Lehrmeinungen und ihre Vertreter - Sachverständigenrat, Ifo-Institut, HWWA oder DIW - denken. Genüsslich zitiert Galbraith Verlautbarungen der "Harvard Economic Society" aus den Jahren 1929 bis 1930, in denen die bereits ausgebrochene Krise immer wieder dementiert wurde bzw. auf einen angeblich absehbaren neuen Aufschwung verwiesen wurde - bis diese Gesellschaft schließlich, nachdem ihr Ruf völlig ruiniert war, aufgelöst wurde.

Hauptfehler, so Galbraith, waren die Forderungen dieser Ökonomen nach einem ausgeglichenen Haushalt und einer restriktiven Geldpolitik, verbunden mit dem Aufbau von Schutzzöllen. Alle drei Maßnahmen vertieften die Krise, statt ihr entgegen zu wirken. "Die Wirtschaftsexperten jener Tage besaßen genügend Einmütigkeit und Autorität, um die Führer beider Parteien zu veranlassen, alles, was Deflation und Depression hätte bekämpfen können, zu vermeiden - ein bemerkenswerter Triumph der Schulweisheit über die Praxis. Die Folgen waren verheerend."  rül

John Kenneth Galbraith, Der große Crash 1929,
FinanzBuch Verlag GmbH München, 2008, 239 Seiten, 14,90 Euro

Raute

Paul Krugman:

Die neue Weltwirtschaftskrise

Die erste Auflage dieses Buches, erschienen 1999, wurde bereits in der Januar-Ausgabe dieser Zeitschrift vorgestellt. Ende Januar erschien eine neue, aktualisierte Ausgabe, die offensichtlich erst sehr kurz vor Erscheinen fertig gestellt wurde, nimmt der Autor darin doch das konjunkturpolitische Zögern der deutschen Bundesregierung noch Anfang 2009 in einer Einleitung sogleich aufs Korn.


Krisengrund: "Schattenbankensystem"

Entscheidende Ursache für die derzeitige internationale Krise ist für den US-Ökonomen, dass die amerikanische, aber auch viele andere Regierungen schon in den 90er Jahren und mehr noch in den ersten Jahren dieses Jahrtausends wieder einmal das Entstehen eines "Schattenbankensystems" zugelassen haben, dessen sukzessiver Zusammenbruch in den letzten zwei Jahren inzwischen das gesamte Bankensystem weltweit in größte Schwierigkeiten gestürzt hat und längst auf die Realwirtschaft übergegriffen hat. Krugman bezieht sich bei seiner These auf einen Vortrag von Timothy Geithner, dem ehemaligen Präsidenten der Federal Reserve Bank von New York (eine Art "Landeszentralbank" für New York) und jetzigen US-Finanzminister, im Juni 2008 vor einem New Yorker Wirtschaftsclub. Geithner sei, so Krugman, äußert schockiert gewesen über das Desaster, das mit der "Häuserblase" in den USA seinen Anfang genommen hatte. "Anfang 2007 umfassten forderungsbesicherte Papiere in Zweckgesellschaften, strukturierte Investmentvehikel, nachrangige Unternehmensanleihen mit einer per Auktion ermittelten Verzinsung, Tender Option Bonds und Variable Rate Notes ein Vermögen von zusammen rund 2,2 Billionen Dollar" (das sind 2.200 Milliarden Dollar), so Krugman unter Verweis auf die Zahlen, die Geithner damals vortrug. "Durch Eigenmittel unterlegte Triparty Repos mit einer Laufzeit von einem Tag nahmen auf 2,5 Billionen Dollar zu. Die in Hedgefonds gehaltenen Vermögenswerte wuchsen auf grob geschätzte 1,8 Billionen Dollar." (S. 188) Die Bilanzsumme der damals fünf großen, auf Grund der US-Bankgesetze im Unterschied zu regulären Banken praktisch nicht kontrollierten Investmentbanken belief sich auf zusammen 4 Billionen Dollar. Dieses von Krugman als "Schattenbankensystem" bezeichnete, weil nicht durch US- und andere Bankgesetze kontrollierte Finanzeinrichtungen handelte Anfang 2007 mit Geldpapieren in Höhe von zusammen fast 10 Billionen Dollar. Das entsprach ziemlich genau den Gesamtaktiva des "regulierten" US-Bankensystems zu dieser Zeit. Kein Wunder, dass der schrittweise Zusammenbruch dieses "Schattenbankensystems" auch durch die enormen geldpolitischen Interventionen der US-Zentralbank wie vieler anderer Zentralbanken rund um den Globus bisher nicht wirklich aufgefangen werden konnte.

Ein solches "Schattenbankensystem" hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts kannten die USA das als "Trusts", die Bank- und Kreditgeschäfte kombinierten. Eine schwere Finanzkrise, namentlich im Jahr 1907, die mehrere dieser Trusts in den Abgrund stürzte, führte damals zur Errichtung des "Federal Reserve System", eines Systems mehrerer regionaler Zentralbanken mit der Bundes-"Fed" an der Spitze, das noch heute das US-Bankensystem reguliert.

In der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 wiederholte sich das, dieses Mal mit "Holdings", die erneut Bank- und Realgeschäfte unter einem Dach vereinten. Der Zusammenbruch dieser Holdings führte nach 1933 zur strikten Trennung von Banken und Industrieunternehmen, wie sie in den USA bis heute gilt.


Internationaler Handel gefährdet

Inzwischen, so Krugman, droht auch ein schwerer Einbruch des internationalen Handels, nicht etwa, weil irgendwelche Regierungen zu protektionistischen Maßnahmen greifen (das tun sie auch), sondern weil Kredite, die für den Welthandel zwingend erforderlich sind, aus dem Bankenbereich kaum noch zur Verfügung gestellt werden. "Als ich an der Rohfassung dieses Kapitels saß, kamen Meldungen über den Zusammenbruch des Akkreditivs, der ein wichtiges Finanzierungsinstrument des Welthandels ist. Plötzlich können Käufer von Importgütern besonders in Entwicklungsländern ihre Geschäfte nicht mehr zu Ende führen, und Schiffe werden stillgelegt. Der Baltic Dry Index, ein Index, der die Frachtraten der Seeschifffahrt erfasst, ist dieses Jahr um 89 Prozent gesunken," schreibt er (S. 215).

"Was die Welt jetzt braucht, ist eine Rettungsaktion", so Krugman. Entscheidend sei jetzt erstens die Wiederbelebung der Kreditmärkte, zweitens die Wiederbelegung der Nachfrage. Im äußersten Fall sei vielleicht sogar eine vorübergehende Verstaatlichung des Bankensystems unvermeidlich, so der bekennende Liberale. Wie auch immer: "Die Kredite müssen wieder zum Laufen gebracht werden, und die Nachfrage muss gestärkt werden", ist sein Plädoyer. Wobei Krugman freimütig einräumt, weitere, neue Ideen seien auch gefragt.


Kein "National"-Ökonom

Lesenswert ist das Buch auch aus einem weiteren Grund: Im Unterschied zur hiesigen Zunft der Wirtschaftswissenschaftler, die zumeist im schlechtesten Sinn "National"-Ökonomen sind, deren Rezepte also meist an den Staatsgrenzen der Republik enden, argumentiert und denkt Krugman kosmopolitisch. So verweist er gleich im Vorwort die deutsche Bundesregierung auf ihre europäischen Pflichten. Die Weltwirtschaftskrise habe, so Krugman, nach den USA "ein zweites Epizentrum entwickelt, diesmal in der Peripherie Europas. ... Lettland ist das neue Argentinien, die Ukraine das neue Indonesien." (S. 7)

Ursache dafür ist ein Phänomen, das in dieser Zeitschrift bereits am Beispiel Russlands geschildert wurde. Viele "Wachstums- und Schwellenländer" haben in den letzten Jahren ihre aufholende Industrialisierung und Modernisierung auch mit Krediten in fremder Währung, meist von Banken aus den reichen Ländern, finanziert. Jetzt kommen sie in Schwierigkeiten, weil a) diese reichen Länder wegen ihrer eigenen Rezession weniger von ihren Produkten abnehmen und b) weil zeitgleich viele Banken der reichen Länder ihr Kapital wieder abziehen. Dieser Kapitalabzug führt zur Abwertung ihrer Währungen, z.B. des ungarischen Forint, des polnischen Zloty usw. gegenüber dem Euro, so dass die Unternehmen in diesen Ländern gleichzeitig mit sinkendem Absatz und dramatisch steigenden Kreditkosten zu kämpfen haben.

Krugman weist deshalb sowohl die deutsche wie auch andere Regierungen auf ihre Hilfsverpflichtungen gegenüber solchen ärmeren Nachbarländern hin - ein Hinweis, den man hierzulande in Publikationen fast der gesamten wirtschaftswissenschaftlichen Zunft lange Zeit vergeblich suchte.   rül

Paul Krugman, Die neue Weltwirtschaftskrise,
Campus Verlag, 2009, 248 Seiten, 24,90 Euro

Raute

Europaparteitag Die Linke beschließt Wahlprogramm und stellt Liste auf

"Linksschwenk" - tatsächlich?

"Linksschwenk bei der Linken" (NRZ) und "Die Zonengrenze in den Köpfen" (WAZ), titelte die Regionalpresse im Ruhrgebiet am 2.3.2009. "Die Linke besinnt sich auf kommunistischen Kern" polemisierte "Die Welt" am gleichen Tag, während sich die "Junge Welt" über ein "Pendeln nach links" freute und die "Taz" feststellte: "Die Wessis übernehmen das Ruder". Diese Überschriften umreißen die Spannungen, die auf dem Bundesparteitag und der Bundesvertreter/innenversammlung der Partei Die Linke am 28.2./1.3.2009 in der Grugahalle in Essen vorhanden waren. Über 500 Delegierte beschlossen an den beiden Tagen das Europawahlprogramm und stellten die Bundesliste zu den Europawahlen auf.

Schon bei der Generaldiskussion hatten etliche Beobachter den Eindruck: Die meisten Delegierten aus dem Westen klatschten bei Reden von Westdelegierten, die meisten Delegierten aus dem Osten klatschten bei Reden von Ostdelegierten. Einen gegenseitigen Dialog gab es nur sehr begrenzt. Viel Beifall erhielten Kampfansagen an den Neoliberalismus, das kapitalistische System und den Lissabon-Vertrag. Beiträge, die sich mit konkreten Fragen befassten, wie ein Beitrag von Kerstin Kaiser (Fraktionsvorsitzende im Landtag von Brandenburg) zur Entwicklung von Grenzregionen wie der des Landes Brandenburg mit Polen und der Bedeutung der europäischen Integration in diesem Zusammenhang, waren die Ausnahme.

Um das Europawahlprogramm hatte es schon im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen gegeben. Ein erster Entwurf war im Parteivorstand als zu unkritisch gegenüber der EU zur erneuten Überarbeitung zurückgewiesen worden. Nach deutlicher Kritik in den Medien lag dem Parteitag nun ein von Thomas Nord (Landesvorsitzender Brandenburg), Thomas Händel (Bayern), Wolfgang Gehrcke (Parteivorstand) - einem der größten Kritiker des ersten Entwurfs - eingebrachter Änderungsantrag zu einer allzu schroffen, EU-kritischen Passage in der Einleitung des Entwurfes zum Europawahlprogramm vor. Der mit großer Mehrheit beschlossene Änderungsantrag geht zwar nach wie vor von der Kritik des EU-Verfassungsentwurfs und des Lissabonner Vertrages aus, entwickelt aber für einen Politikwechsel in der EU positive Forderungen (siehe unten).

Nach der Verabschiedung des Europawahlprogramms und weniger weiterer Anträge begann die Vertreter/innenversammlung. Insgesamt fühlten sich über 80 Leute berufen, für die 30köpfige Liste zu kandidieren. In zwei Fällen gab es tatsächlich auch das schlechtestmögliche Stimmenergebnis von 0 Stimmen.


Listenvorschlag ab Platz 10 gekippt

Trotzdem gab es bei der Vertreterversammlung zur Wahl der Bundesliste bis Patz 9 keine Überraschungen. Auf Platz 1 wurde Lothar Bisky ohne Gegenkandidat mit dem sehr guten Ergebnis von 93,4 % der Stimmen gewählt. Auf den Plätzen danach konnten sich die Vorschläge des Bundesausschusses durchsetzen. Die mit Spannung erwartete Kandidatur von Sylvia-Yvonne Kaufmann, seit der ersten Kandidatur der PDS Mitglied des Europaparlamentes, scheiterte auf den Plätzen 7, 9 und später auch 13. André Brie, ebenfalls langjähriges Mitglied des Europaparlamentes, kandidierte erst auf Platz 12, scheiterte dort aber gegen Sascha Wagner, der von der Linksjugend Solid vorgeschlagen worden war.

Der erste Platz, auf dem ein Kandidat gegen die Vorschlagsliste des Bundesausschusses gewählt wurde, war Platz 10. Dort gewann Tobias Pflüger (MdEP) mit 240 zu 220 Stimmen knapp gegen den ehemaligen Grünen Europa-Abgeordneten Wilfried Telkämper. Für Tobias Pflüger hatten sich sowohl die Antikapitalistische Linke als auch die Sozialistische Linke stark gemacht.

Beide Strömungen feierten das Ergebnis, obwohl Wilfried Telkämper die Unterstützung des Landesverbandes Baden-Württemberg hatte. Auch auf den Plätzen 13, 14 und 16 wurden andere Kandidat/innen gewählt, als vom Bundesausschuss vorgeschlagen.

Die mühsam ausgehandelte und vom Bundesausschuss abgestimmte Liste war damit ab Platz 10 weitgehend Makulatur. Dass auf dem sehr unsicheren Platz 14 auch Dominic Heilig aus Berlin scheiterte und Wilfried Telkämper gewählt wurde, sah nicht nur der Landesverband Berlin, sondern auch das Forum Demokratischer Sozialismus als Affront. Die Entscheidung macht auch deutlich, wer die Kandidatenaufstellung dominierte: Es waren nicht die Delegierten aus den neuen Bundesländern.

Das Scheitern der Kandidaturen von Sylvia-Yvonne Kaufmann und André Brie war für die bürgerliche Presse das wichtigste personelle Signal für die "Europafeindlichkeit" der Linken. Beide hatten sich in ihren Bewerbungen nicht als einzige, aber doch deutlich von solchen Tendenzen abgegrenzt. Sylvia-Yvonne Kaufmann, die am gescheiterten Europäischen Verfassungsentwurf mitgearbeitet hatte, verübelten viele Delegierte allerdings auch, dass sie bei der letzten Listenaufstellung erklärt hatte, sie wolle gegen den Verfassungsentwurf stimmen, sich jedoch nicht daran gehalten hat.


Programmdiskussion überfällig

Abzusehen ist, dass schwierige und wahrscheinlich auch tiefgreifende Diskussionen um die politischen Positionen auf Die Linke zukommen. Denn ausgetragen sind die Konflikte nicht. Dabei wird es nicht nur um die Frage gehen, ob sich die Partei als internationalistische Kraft aufstellt, oder einem auf den Nationalstaat bezogenen Populismus Raum lässt. Es wird auch darum gehen, ob Die Linke weiterhin für den "strategischen Dreiklang" von Protest und Widerstand, von Anspruch auf Gestaltung der Gesellschaft und von der Entwicklung von über den Kapitalismus hinaus weisenden Alternativen festhält, oder den konkreten Anspruch auf Gestaltung aufgibt. Gerade vor Ort, in der Kommunalpolitik, wäre Letzteres verheerend, denn vor Ort sind die gesellschaftlichen Widersprüche am Greifbarsten und verlangen nach konkreten Antworten.

Diese Diskussionen müssen im Zusammenhang mit der Erarbeitung des immer schmerzlicher fehlenden Grundsatzprogrammes geführt werden. Was die Frage des Internationalismus angeht, ist es erstaunlich, dass ein Gedanke im Diskurs der Partei Die Linke kaum eine Rolle spielt: Die Europäische Integration war auch eine Reaktion auf die Rolle des Deutschen Imperialismus, der im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege begonnen hat. Der Aggressivität der noch heute mit Abstand stärksten Macht innerhalb der EU sollte durch Einbindung die Spitze genommen werden. Sieht man die Entwicklung der EU mit all ihren Mängeln in diesem Zusammenhang, sind die "Proeuropäer" eher der linke Flügel der Partei, und nicht der rechte.

Immerhin kam in den Diskussionen auf dem Parteitag mehrfach das Problem zur Sprache, dass eine Abgrenzung linker Kritik an der EU-Verfassung und am Lissabon-Vertrag von der rechten, nationalistisch orientierten EU-Gegnerschaft dringend nötig ist, u.a. von André Brie. Alle sehen eine solche fehlende Abgrenzung jedoch nicht als Problem an - oder leugnen sie schlicht.

"Hier gibt es keine Europafeinde auf diesem Parteitag! Ich möchte das mal in aller Klarheit sagen. Was soll denn dieses Gequassele!", führte der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine aus. Und weiter: "Für mich ist Europa ein kultureller Begriff. Für mich ist Europa zunächst mal die europäische Literatur. Für mich ist Europa die europäische Musik ... (und) Architektur." Was mögen da wohl die vielen Europäer aus den ehemaligen französischen, belgischen, spanischen, niederländischen Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika denken, für die Europa vor allem eins sein muss: Pluralistisch und multikulturell.

Wolfgang Freye


Bundesliste zur Europawahl 2009

1. Lothar Bisky (Brandenburg, Parteivorsitzender)
2. Sabine Wils (Hamburg)
3. Gabriele Zimmer (Thüringen, MdEP)
4. Thomas Händel (Bayern)
5. Cornelia Ernst (Sachsen, MdL)
6. Jürgen Klute (Nordrhein-Westfalen)
7. Sabine Lösing (Niedersachsen, Parteivorstand)
8. Helmut Scholz (Berlin, Parteivorstand)
9. Martina Michels (Berlin; MdA)
10.Tobias Pflüger (Baden-Württemberg, MdEP)
11.Sidar Aydinlik-Demirdögen (Hessen, Vors. des Bundesverbandes der Migrantinnen in Deutschland e.V.)
12.Sascha Wagener (Linksjugend 'solid, Parteivorstand)
13.Ruth Firmenich (Berlin, Parl. Assist. v. Wagenknecht)
14.Wilfried Telkämper (Baden-Württemberg)
15.Ulrike Voltmer (Saarland)
16.Fabio de Masi (Hessen)
17.Doreen Föse (Schleswig-Holstein)
18.Keith Barlow (Sachsen)


DISPUT extra

Solidarität, Demokratie, Frieden -
Gemeinsam für den Wechsel in Europa!
Europawahlprogramm 2009 der Partei DIE LINKE
Beschluss des Europaparteitages, Essen, 28.2.2009

http://die-linke.de/partei/organe/parteitage/europaparteitag_2009/ solidaritaet_demokratie_frieden_gemeinsam_fuer_den_wechsel_in_europa_ europawahlprogramm/


*


Den folgenden Änderungsantrag von Thomas Nord, Thomas Händel, Wolfgang Gehrcke u.a. zur Einleitung des Europa-Wahlprogrammes hat der Parteitag mit großer Mehrheit angenommen:

"Solidarität, Demokratie, Frieden - Gemeinsam für den Wechsel in Europa!"

Wer andere, am europäischen Allgemeinwohl und den Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen orientierte Regeln will, muss die herrschende Politik in der EU abwählen. Bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden ist dies bereits geschehen. Der anschließende Vertrag von Lissabon wurde nur noch den Parlamenten vorgelegt - mit einer Ausnahme: In Irland verlangt die Verfassung eine Volksabstimmung. Auch dort stimmte eine Mehrheit dagegen, womit erneut die Legitimationskrise der Demokratie in der Europäischen Union offenbart wurde.

Die Linke hat als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien gegen den Vertrag von Lissabon wie gegen den vorherigen Verfassungsentwurf gestimmt.

Unsere Ablehnung des Vertrages richtete und richtet sich weiterhin vor allem gegen die in diesem Vertragstext enthaltenen Aussagen zur Militarisierung der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gegen die Grundausrichtung der EU an den Maßstäben neoliberaler Politik und gegen den Verzicht auf eine Sozialstaatsklausel, ohne die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf tönernen Füßen stehen, gegen die angestrebte Art der verstärkten Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsdienste sowie gegen das weiter bestehende Demokratiedefizit in der EU und ihren Institutionen. Die Linke hat sich entschieden dagegen gewandt, dass der Vertrag von Lissabon an den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten und an den Parlamenten vorbei ausgehandelt und ohne Volksabstimmungen in den Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.

Wir bleiben dabei: Europa braucht ein Verfassungswerk, über das alle Bürgerinnen und Bürger in der Union am selben Tag abstimmen können. Das ist die unverzichtbare Voraussetzung für die demokratische Neubegründung der Europäischen Union. Das Europäische Parlament muss nach unserer Auffassung in der neuen Wahlperiode die Initiative für einen neuen Verfassungsprozess ergreifen. Als einziges von den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union gewähltes Gremium sollte es Vorschläge für die Art und Weise der Erarbeitung eines europäischen Verfassungsdokuments unterbreiten und damit die Grundlage für einen demokratischen Prozess legen, an dem alle in den EU-Mitgliedstaaten lebenden Menschen beteiligt sind.

Gemeinsam mit anderen linken Parteien steht Die Linke für einen Politikwechsel in Europa, der die europäische Integration auf ein neues Fundament stellen soll. Wir wollen eine andere, eine bessere EU!

• Wir wollen eine friedliche Europäische Union, die im Sinne der Charta der Vereinten Nationen Krieg ächtet, die strukturell nicht angriffsfähig, frei von Massenvernichtungswaffen ist und wohl auf den Ausbau militärischer Stärke als auch auf eine weltweite militärische Einsatzfähigkeit verzichtet. Wir setzen auf Abrüstung, zivile Kooperation und die Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

• Wir wollen eine Europäische Union ohne Ausgrenzung und Armut, ohne wachsende soziale Spaltung, eine EU, in der gut entlohnte und sozial abgesicherte Arbeit und ein Leben in Würde für alle gesichert sind. Wir stehen für die Gestaltung der europäischen Politik nach sozialstaatlichen Grundsätzen.

• Wir wollen eine Wirtschaftspolitik der Europäischen Union, die den sozialen Fortschritt und den ökologischen Strukturwandel befördert. Notwendig sind dafür mehr öffentliche Investitionen und eine Stärkung der Binnenwirtschaft. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss durch einen Pakt für nachhaltige Entwicklung, Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Umweltschutz ersetzt werden.

• Wir wollen eine Europäische Union, die sich weltweit dafür einsetzt, dass die Finanzmärkte einer strikten Kontrolle unterworfen werden, damit sie wieder dem Allgemeininteresse und nicht länger der Spekulation dienen. Staatliche Hilfe für in Not geratene Banken darf nur gewährt werden, wenn die öffentliche Hand dafür im Gegenzug Eigentümerin wird.

• Wir wollen eine Europäische Union mit einem starken Europäischen Parlament und transparenten Entscheidungsprozessen in allen europäischen Institutionen und mehr unmittelbarer Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. In der europäischen Politik müssen die Menschenrechte und die Grundfreiheiten, die zur gemeinsamen Verfassungstradition gehören, Vorrang vor dem Marktradikalismus bekommen.

• Wir wollen eine Europäische Union, in der Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt sind und die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität ausgeschlossen ist. Wir wollen, dass Frauen endlich die gleichen Möglichkeiten in Beruf und Gesellschaft haben wie Männer. Dies erfordert gesetzliche Maßnahmen, beispielsweise um Kinderbetreuung zu sichern und Lohndiskriminierung zu bekämpfen. Mit Alters- und Frauenarmut darf man sich nicht abfinden.

• Wir wollen eine solidarische Erweiterung der Europäischen Union, in der alle Fragen - insbesondere die Förder- und Investitionspolitik - so behandelt werden, dass die Regionen partnerschaftlich kooperieren und die Verbesserung von Arbeits- und Lebensverhältnissen im Vordergrund steht. Der EU-Haushalt muss entsprechend aufgestockt werden.

• Wir wollen eine Europäische Union, in der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Sicherheit garantiert sind und die Bekämpfung von Kriminalität nicht zulasten der Grund- und Menschenrechte geht. Das Grundrecht auf Asyl ist zu garantieren. Neofaschismus, Fremdenhass, Rassismus, religiöser Fundamentalismus, Sexismus und Homophobie müssen europaweit geächtet werden.

• Wir wollen eine Europäische Union, die als Teil der einen Welt gleichberechtigte internationale Beziehungen fördert, eine solidarische Weltwirtschaft anstrebt und ihrer Verantwortung zur Lösung der globalen Probleme gerecht wird ...

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Interview mit Cornelia Hildebrandt*, rls

"Die Linke ist nur links, wenn sie ein soziales, demokratisches und kulturelles Projekt bleibt"

Fragen zum Europaparteitag Die Linke

Der Rechenschaftsbericht von Gabi Zimmer über die Arbeit der linken Fraktion im Europaparlament wurde von vielen Delegierten, insbesondere aus den Westverbänden ohne großes Interesse zur Kenntnis genommen. Interessiert sich Die Linke nicht wirklich dafür, wie linke Politik in den europäischen Institutionen wirksam werden kann?

Viele Delegierte mussten sich zuhörend mit Abstimmungsmaterialien vertraut machen, die sie erst zum Beginn des Parteitags erhielten. Es ist auch schwierig, die Materie Europa unter den Bedingungen der vielschichtigen Zuständigkeiten, fachpolitischen Verästelungen zu verstehen oder gar mitreißend darzustellen. Dabei gibt es Erfolge der Linksfraktion GUE/NGL wie die vom EP getragene Forderung nach der Einführung der Mindestlöhnen, der konkrete Fahrplan für die Verringerung von Armut und besondere der Kinderarmut, die Abmilderung der Dienstleistungsrichtlinie, die Verhinderung der Liberalisierung von Dienstleistungen in Häfen, die ökologische Ausrichtung der Chemikalienrichtlinie Reach, die Beibehaltung der kommunalen Selbstbestimmung beim öffentlichen Personennahverkehr, die europaweite Regelung von Lenk- und Ruhezeiten von Fernfahrern. Gabi Zimmer ist dieser Aufgabe m.E. überzeugend gerecht geworden.

Bei aller pflichtmäßigen Beteuerung für Europa zu sein: Der Duktus vieler Reden und Anträge deutete eher auf das Gegenteil. Tatsächlich ist es ja auch eine wichtige Aufgabe linker Politik, imperialistische, militaristische und unsoziale Entwicklungen zu bekämpfen. Trifft es aber den Kern, die EU hauptsächlich auf diese Kategorien zu reduzieren, oder drücken sich so auch Ressentiments gegenüber der europäischen Integration aus?

Tatsache ist, dass Die Linke in allen ihren Dokumenten, auch im gerade verabschiedeten Leitantrag, ein friedliches, demokratisches, soziales und ökologisch nachhaltiges Europa fordert. Insofern stehen Forderungen gegen die Militarisierung Europas, gegen Sozial- und Demokratieabbau zu Recht im Zentrum linker Politik. Etwas anderes ist es jedoch, diese Themen nur bekenntnisartig abzufragen: Bist Du für den Lissabon-Vertrag oder nicht, bist Du für den Gottesbezug: ja oder nein usw. So werden Bekenntnisse, nicht aber eigene Gedanken oder strategische Ansätze oder gar konkrete Projekte abverlangt. Außerdem sind Bekenntnisse noch keine Strategie. Z.B. unser "Nein" zum Lissabonvertrag ist völlig richtig. Welche Verfassung aber will eine europäische Linke? Oder will sie keine, weil linke Verfassungen gegenwärtig nicht möglich sind? Wie aber steht dies dann im Zusammenhang mit der Forderung einer politischen und sozialen Europäischen Union?

Ich glaube nicht, dass es in der Linken wirkliche Ressentiments gegenüber Europa gibt. Was es gibt, und das gilt für die wenig transparente europäische Ebene umso mehr, sind Vorbehalte gegenüber staatlichen oder europäischen Institutionen, die als monolithische Machtblöcke gesehen werden und nicht als Kampffelder verdichteter Widersprüche, die auch Kampffelder der Linken sind.

In der Presse wird behauptet, die Partei Die Linke hätte auf ihrem Europaparteitag einen Linksschwenk vollzogen. Wie links ist ihre Europapolitik jenseits symbolischer Rhetorik tatsächlich?

Die LINKE ist links. Sie steht für die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse als Voraussetzung für einen politischen Richtungswechsel. Sie verbindet dabei linkssozialdemokratische Ansätze zur Erneuerung des Sozialstaates, mit linkssozialistischen Versuchen, parlamentarische Politik zu gestalten, und mit radikaler Kapitalismuskritik. Sie strebt die Transformation des Kapitalismus in eine solidarische und letztlich sozialistische Gesellschaft an, in der die Freiheit eines jeden Bedingung für die Freiheit aller ist. Die Ideen der solidarischen Erneuerung des Sozialstaates und die des demokratischen Sozialismus sind ihre zentralen Leitvorstellungen. Daran hat der Parteitag nichts geändert. Er hat vor allem den Protest und die Verteidigung legitimer Interessen der Lohnabhängigen, der Rentnerinnen und Rentner, derjenigen betont, die von Sozialleistungen abhängig sind. Aber links ist mehr und verlangt mehr. Daran wird die Partei in Zukunft verstärkt arbeiten müssen. Sie muss ihren Charakter als Partei weiter ausprägen, die für attraktive soziale und ökologische Erneuerung steht und deshalb für breite Teile der Gesellschaft attraktiv ist. Sie braucht eine Agenda der gesellschaftlichen Transformation, die sie gesellschaftlich bündnisfähig macht. Wenn sie in diesem Sinne die Systemfrage ernsthaft formuliert, reicht das Selbstverständnis als Protestpartei nicht. Protest, Verkörperung einer wirklichen überzeugenden, Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen gewinnenden Alternative und Fähigkeit zur ernsthaften solidarischen Veränderung der Kräfteverhältnisse gehören zusammen. Daran wird gearbeitet. Protest allein ist noch nicht links.

Die europäische Integration ist auch ein Projekt zur Eindämmung des deutschen Großmachtstrebens. Wie kommt es Deiner Ansicht nach dazu, dass dieser Aspekt so gut wie keine Rolle spielt?

Lafontaine hat in seiner Rede darauf hingewiesen, dass der Exportweltmeister Deutschland mit seinen zu niedrigen Löhnen die europäische Union spaltet. Veränderung der Politik in der Bundesrepublik selbst und Veränderung der europäischen Politik gehören zusammen.

Kann sich Die Linke den Luxus leisten, auf "altgediente" Kräfte wie Sylvia-Yvonne Kaufmann und André Brie zu verzichten? Ist die Europaliste pluralistisch genug, um das Spektrum der Partei widerzuspiegeln?

Wenn man sich die Kandidatenliste bis Platz 16 ansieht so haben mehr als 50 Prozent explizit europapolitische Erfahrungen, weitere haben auf europäischer Ebene mit vielfältigen Organisationen gearbeitet. Zwei Kandidaten waren bereits im Europaparlament. Das ist eine Basis auf der man/frau aufbauen kann und muss. Entscheidend wird sein, ob die Delegation der Linken zu kollektiven Lernprozessen in der Lage ist, oder ob jeder seinen Weg sucht.

D.h. die Organisationsfrage entscheidet maßgeblich über die Arbeitsfähigkeit der Delegation. Was die Pluralität betrifft, so wurde sie innerparteilich ausgewogen umgesetzt. Betrachtet man die ersten 10 Kandidaten so gibt es nur zwei, die auf keiner Strömungsliste stehen. AKL, SL, FdS, teilen sich die Plätze. Das Problem ist, dass dieser Proporz wie auch die Ost-West Zuordnung höher bewertet wurde als europapolitische Kompetenzen.

Brie und Kaufmann kannten nicht nur die Fraktion der Linken, beide waren über diese hinaus fachpolitisch anerkannt. Das ist vor dem Hintergrund, dass es keine Regierungs- und Oppositionsfraktion gibt, wichtig. Wer künftig diese Rolle übernehmen wird, bleibt offen. Mit Kaufmann verliert die Fraktion eine Frau, die sich mit konstitutionellen Fragen über Jahre auseinandersetzte, mit Brie einen anerkannten Außen- und Sicherheitspolitiker, vor allem aber auch einen streitbaren strategischen Kopf und zudem einen der wenigen Intellektuellen. Das bedauere ich.

Lafontaine hat in seiner Rede politische Gegner und Banker als "geistig Irre", "Ganoven" und "Brandstifter" bezeichnet. Ist es hilfreich für linke Politik jenseits der Kritik an gesellschaftlichen Strukturen eine solche personifizierte Demagogie zu betreiben, wie es sonst eher bei den Rechten üblich ist?

Es gibt Zeiten, in denen die politischen Botschaften prägnant auf den Punkt gebracht werden müssen, wo klare und verständliche Worte helfen sollen, die dahinter stehenden komplizierten Zusammenhänge verstehbar zu machen. Das gilt für Parteitage zur Mobilisierung der Partei und auch für Wahlkämpfe. Das ist legitim - auch für Linke. Ein Problem wird es jedoch für Die Linke, wenn das Laute, die nachdenklichen und eher leisen Töne verdrängt, wenn diese nicht mehr wahrnehmbar sind und wenn sich auf diese Weise die Vielfalt linker Kulturen auf die Kultur einer Zielgruppe - der von sozialen Absturz Bedrohten oder bereits jetzt sozial Benachteiligten oder sogar Ausgegrenzten reduziert. Wenn das unverzichtbar soziale Projekt der Linken das ebenso unverzichtbar kulturelle Projekt verdrängt. Dann läuft sie Gefahr, ihr emanzipatorisches Potential zu verlieren. Die Linke ist nur links, wenn sie ein soziales, demokratisches und kulturelles Projekt bleibt.


Die Fragen stellte Thorsten Jannoff, die Antworten gab Cornelia Hildebrandt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.

* Cornelia Hildebrandt ist Referentin für Parteien und Soziale Bewegungen der Rosa Luxemburg Stiftung


*


Redaktionsmitteilung. Nachdem der gleichzeitig zur Europawahl angesetzte Termin der Kommunalwahlen in NRW gerichtlich gekippt wurde (jetzt auf 30.8. festgesetzt), verschieben wir unseren angekündigten Bericht auf die nächste Ausgabe.

Raute

TERMINE

Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation

Einladung zur Jahrestagung

Alle Mitglieder des Vereins und Interessenten sind hiermit herzlich eingeladen zur Jahrestagung:

Beginn: Samstag, 4. April, 12.30 Uhr (Anmeldung ab 12 Uhr) Abschluss: Sonntag, 5. April, 13 Uhr

Ort: Haus der Jugend, Raum E 11, Frankfurt/Main, Deutschherrenufer 12

Vorgeschlagene Tagesordnung:

Samstag:
1. Konstituierung, Versammlungsleitung, Protokollierung, Beschluss über die TO

2. Bericht der Redaktion Politische Berichte, Auflagenentwicklung, Neuwahl der Redaktion und der Herausgeber

3. Bericht des Vorstands, Kassenbericht, Bericht der Finanzprüfung, Beschluss über die Entlastung des alten Vorstands, Neuwahl des Vorstands, Bestimmung der Kassenprüfer, Beschluss über den Haushalt 2008/2009

4. Diskussion: "Linke Sozialpolitik in Ländern und Gemeinden, Schwerpunkte und Perspektiven". Vorbereitung durch Redaktion Politische Berichte (M. Fochler) und Mandatsträger/innen

Sonntag:
Diskussion mit André Brie, Abgeordneter der Linken im Europaparlament: "Europas Außenpolitik und friedenspolitische Strategien der LINKEN".

Um Anmeldung bei Alfred Küstler, c/o GNN Stuttgart, wird gebeten (bitte angeben, ob Übernachtung benötigt wird)

Mail: alfred.kuestler@gnn-verlage.com
Tel: 0711-624701
Fax: 0711-621532

Für den Vereinsvorstand:
B. Wolf, C. Cornides, R. Lötzer


*


21./22. März. Berlin, Kongress der Bundestagsfraktion Die Linke zum Sozialstaat.

28./29. März. Essen. Aufstellung der Landesliste NRW der Linken zur Bundestagswahl.

28. März, Frankfurt/Main und Berlin. Bundesweite Demo zur Wirtschaftskrise. Veranstalter Attac, Die Linke und Teile der Gewerkschaften.

29. März. Aufstellung der Landesliste Bayern der Linken zur Bundestagswahl.

3./4. April. Baden-Baden. Nato-Gipfel zum 60jährigen Bestehen. Aktionen unter dem Titel: "Nein zu Krieg - nein zur Nato" sind geplant.

4./5. April. Frankfurt/M. Jahrestagung des Vereins für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.

25. April. Frankfurt/M. Aufstellung der Landesliste Hessen der Linken zur Bundestagswahl.


*


Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2009














Mai
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
August
August
August
August
Sept.
Sept.
Bundesversamml.
EU
Baden-Württemb.
Mecklenb.-Vorp.
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
NRW
Saarland
Thüringen
Sachsen
Brandenburg
Bundesrepublik
Bundesprä
Euro.Parl.
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Landtag
Landtag
Landtag
Landtag
Bundestag
23.5.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
30.8.
30.8.
30.8.
30.8.
27.9.
27.9.
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
2010

Frühj.
Frühj.
Schlesw.-Holstein
NRW
Landtag
Landtag


5 Jahre
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph
Cornides, Ulrike Detjen, Emil Hruska,
Claus-Udo Monica, Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,
Tel. 040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21.
E-mail: gnn-hamburg@freenet.de - Alfred Küstler,
GNN-Verlag, Postfach 60 02 30, 70302 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32.
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
50825 Köln, Venloer Str. 440, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
der Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale
Befreiung" werden in den Politischen Berichten
veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, 50825 Köln, Venloer Str. 440
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Bezugsbedingungen: Einzelpreis 4,00 Euro. Ein
Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
Sozialabo: 46,80 Euro. Ausland: + 6,50 Euro
Porto. Buchläden und andere Weiterverkäufer erhalten
30 % Rabatt.

Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 3, 12. März 2009
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
Venloer Str. 440, 50825 Köln
E-Mail: gnn-koeln@netcologne.de
Internet: www.gnn-verlage.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2009