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POLITISCHE BERICHTE/125: Zeitschrift für linke Politik 6/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 6 am 4. Juni 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
"Eine andere Stadt braucht andere Politik - israelische und deutsche Erfahrungen"
Türkei: Neue Debatte über den Kurdenkonflikt
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Forderung nach Kulturpass und Beteiligung der freien Szene
Kommunale Politik
IG-Metall-Tagung diskutiert Probleme aktueller Gewerkschaftspolitik
Wirtschaftspresse

Diskussion und Dokumentation
Evangelischer Kirchentag in Bremen: Auf der Suche nach dem verlorenen "Kick"
Sag mir, wo du stehst...
Broschüre zum Isreal-Palästina-Konflikt
In & bei der Linken

Termine

- Mit Beilage "Ergebnisse und Materialien"

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Vor der Europawahl und Kommunalwahlen

Nur wenige Tagen nach Erscheinen dieser Ausgabe der Politischen Berichte finden am 7. Juni die Europawahl und in einer Reihe von Bundesländern auch Kommunalwahlen statt, im Westen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland.

Mit Spannung wird das Ergebnis der Partei Die Linke erwartet: Hält auch in der Wirtschaftskrise der Wählerzustrom an, stagniert er oder sinkt er gar ab? Dazu haben wir die Umfrageergebnisse zur Europawahl ausführlich dokumentiert und wagen eine vorsichtige Interpretation.

Bei den Kommunalwahlen gelten andere Regeln; es sind oft weniger an Parteien orientierte Wahlen, sondern näher an gesellschaftlichen Gruppen der Zivilgesellschaft ausgerichtete Entscheidungen. Sichtbar wird das in den im Folgenden dokumentierten Auszügen aus Wahlprogrammen in Baden-Württemberg. Es treten öfter linke Listen an, die aus verschiedenen Gruppierungen entstanden sind, und auch bei den Listen der Linken wird auf angemessene Beteiligung Parteiloser geachtet.


*


Positionen aus linken Listen und Listen der Linken zur Kommunalwahl

Freiburg - offene Stadt!

Eine offene Stadt muss ihre Plätze öffentlich halten. In Freiburg werden stattdessen öffentliche Räume mehr und mehr privatisiert. Einer offenen Stadt ist die Versammlungsfreiheit wichtig. In Freiburg werden Demonstrationen mit Auflagen eingeschnürt, abfotografiert, aufgezeichnet und mittels Polizeispalieren von den Passanten abgeschirmt. In Freiburg gibt es inzwischen nahezu flächendeckend private Videoüberwachung in der Innenstadt ebenso wie in Combinos der VAG.

In Freiburg wird der Passant an Wochenenden nachts am Martinstor von einem massiven Polizeiaufgebot begrüßt, das seinesgleichen sucht. Jugendlichen, für die es dazu gehört, mit einer Bierflasche Richtung Bertoldsbrunnen zu ziehen, wird diese abgenommen - der Gemeinderat hat es, gegen unsere Stimmen, mehrheitlich so beschlossen. Auch, dass Menschen von öffentlichen Plätzen vertrieben werden können, die dort Alkohol konsumieren und die öffentliche Ordnung stören - könnten. Das trifft Obdachlose und Suchtkranke, die ohnehin quer durch die Stadt vom KG II in den Colombipark und weiter in den Stühlinger getrieben wurden. Die Linke Liste - solidarische Stadt fordert statt Verboten und Überwachung den Ausbau sozialer Projekte gegen Alkohol und Gewalt.

Die beiden unter Salomon neu geschaffenen Polizeiverordnungen müssen aufgehoben werden. Jugendkultur in ihrer Vielfalt muss gefördert werden, Freiräume für Jugendliche zur Selbstentfaltung sind nötig.

Die Kampagne für eine offene Stadt muss zusammen mit Schulen, Vereinen und sozialen Trägern wieder aufgenommen werden. Konkret muss ein Bleiberecht für alle seit einem Jahrzehnt nur geduldeten Menschen durchgesetzt werden. Die Rechte des MigrantInnenbeirates, der von den in Freiburg lebenden Ausländern gewählt wird, muss gestärkt werden. Die Stadt muss wirkungsvoll die Kampagne Wahlrecht für alle Einwohner unterstützen.
www.linke-liste-freiburg.de: Themen


Sozial und Solidarisch in Stadt und Kreis Tübingen

Die Wählervereinigung Tübinger Linke (TÜL e.V.) und die Partei Die Linke treten mit gemeinsamen Listen zur Gemeinderats- und Kreistagswahl an. Auf unseren Listen kandidieren Linke unterschiedlicher Weltanschauung, unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlicher Parteien und Initiativen sowie Parteilose.

Unser Selbstverständnis: Stadt und Kreis gehören allen.

Die Tübinger Linke e.V. und Die Linke beziehen sich auf demokratische, libertäre, antimilitaristische und sozialistische Traditionen. Wir engagieren uns für soziale Grundrechte und eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Wir sind auf kommunaler Ebene Teil des Widerstandes gegen neoliberale Politik und die Auswirkungen der Agenda 2010, des größten Sozialabbauprogramms in der Geschichte Deutschlands. Wir wollen eine Ausweitung der demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten vor Ort, die Teilhabe aller und den Erhalt einer lebenswerten Umwelt. Gegen den herrschenden Trend wollen wir kommunale Selbstverwaltung stärken, Privatisierungen öffentlichen Eigentums verhindern, Leistungen der Daseinsvorsorge rekommunalisieren. So wenden wir uns ganz aktuell gegen die Privatisierung der Tübinger Müllabfuhr.
(Aus dem Wahlprogramm von TÜL/Die Linke)


Mannheim: Was verspricht Die Linke?

Die Gemeinderatswahl findet mitten in der sich ausweitenden Krise statt.

Die meisten Wahlprogramme sind vor der Krise geschrieben worden. Keine Partei, die nicht plötzlich "in die Bildung investieren" möchte. Jahrelang hatten CDU, FDP, ML und auch die SPD immer nur Schuldenabbau, Haushaltskonsolidierung, "Sparen" (auf Kosten der sozial schlecht Gestellten) propagiert und umgesetzt. Jetzt haben sie die Spendierhosen wieder ausgepackt.

Was wird nach den Wahlen von all den schönen Versprechungen übrig bleiben? Auch Die Linke (Offene Liste) hat in ihrem Wahlprogramm viele wichtige Forderungen. Damit Mannheim sozial gerechter wird, solidarischer, ökologischer, demokratischer.

Aber Die Linke sagt als einzige Partei, wo in dieser Krisenzeit das Geld dazu herkommen soll: Die Steueroasen schließen, die Steuerfluchtwege versperren (eine internationale Aufgabe), und die Millionäre zur Kasse bitten. Die "starken Schultern" müssen zahlen. Sie haben sich lange genug von den "schwachen Schultern" tragen lassen. Es muss endlich eine Umverteilung von Oben nach Unten geben, zum Beispiel die Millionärssteuer. Wir von der Offenen Liste der Linken wissen: Diese Entscheidungen fällt nicht der Mannheimer Gemeinderat. Aber man kann nicht in Mannheim auf Wahlkampf-Jahrmarkt machen und in Berlin eine Politik mittragen, die den Kommunen den Geldhahn zudrehen wird, die die Armen belastet und die Reichen mit ein paar symbolischen Mini-Opfern ziehen lässt. Die Linke spricht nicht mit gespaltener Zunge. Bundes- und Kommunalpolitik müssen gerade in der Krise Hand in Hand gehen.


Warnsignale?

Umfragen sind keine Wahlergebnisse - aber einiges deutet daraufhin, dass die Partei Die Linke bei den Europawahlen nicht bei den einst erhofften zehn plus X landet. Die bundesweiten Umfragen sehen die Partei derzeit bei 6 bis höchstens 8 Prozent. Noch ernüchternder sind die Zahlen für einzelne Bundesländer, soweit sie vorliegen. Über Bayern mag man sich vielleicht nicht so sehr wundern; aber die erfragten drei Prozent liegen unter dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl. Deutlich sind die Einbrüche in den ostdeutschen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg: hier verliert die Linke gegenüber dem PDS-Europawahlergebnis 2004 6 beziehungsweise 8 Prozentpunkte.

Gründe? Hier kann natürlich nur spekuliert werden, da es sich bislang nur um Umfragen und nicht Ergebnisse handelt. Es könnte mit der Listenaufstellung und dem Europaparteitag der Linken zusammenhängen. Nicht nur enttäuschte Kandidatinnen und Kandidaten, die nicht mehr zum Zuge kamen, hatten den Eindruck, dass - platt gesprochen - die Ex-WASGler aus dem Westen die EX-PDSler aus dem Osten überfahren haben. So ist vielleicht der Übertritt der bisherigen Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann zur SPD (siehe dazu auch Seite 23) ein Indiz für Umorientierungen breiterer Wählerschichten der Linken. Die Umfrage nach Bundesländern zeigt parallel zum Rückgang der Linken für Mecklenburg-Vorpommern und für Brandenburg deutliche Zugewinne der SPD.

Treffen die Prognosen tatsächlich in der Tendenz zu, dann wird sich eine Diskussion um die programmatische Ausrichtung der Linken nicht mehr bis nach den Bundestagswahlen verschieben lassen. Zumal hier im Vorfeld des Bundesparteitages aus den östlichen Bundesländern Kritik am Entwurf zum Wahlprogramm laut wird: es lasse sich nicht in Verbindung bringen mit einer auf reale Veränderung ausgerichteten Politik.   alk


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Grafik - Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre ...
Grafik - Umfrage Europawahl nach Bundesländern


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Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 2. Juli 2009. Redaktionsschluss: Freitag, 26. Juni. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die übrigen Erscheinungstermine für 2009, jeweils donnerstags: 30. Juli, 10. September, 8. Oktober, 5. November, 3. Dezember, 13. Januar 2010, 10. Februar, 10. März.

Raute

Workshop der Rosa Luxemburg Stiftung in Tel Aviv

"Eine andere Stadt braucht andere Politik - Israelische und deutsche Erfahrungen"

Das israelische Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte für den 13. bis 15. Mai zu einem Workshop "Eine andere Stadt braucht andere Politik - Israelische und deutsche Erfahrungen" in Tel Aviv eingeladen. Von israelischer Seite nahmen bis zu knapp 20 Vertreter/innen der Organisation Ir le-kulanu ("A City for All", "Eine Stadt für alle") aus Tel Aviv teil. Die "deutschen Erfahrungen" wurden von insgesamt vier Vertreter/innen aus Berlin, Frankfurt und Hamburg eingebracht. Es war ein spannender, lehrreicher Workshop vor allem für die Gäste aus Deutschland: Wir mussten feststellen, dass wir von der israelischen Linken und ihrer Politik, vor allem ihrer Kommunalpolitik, bisher sehr wenig wussten und dass wir einiges lernen können.

Die internationale Linke, so führte Dov Khenin in den Workshop ein, sieht die israelische Gesellschaft fast ausschließlich im Zusammenhang des Konflikts zwischen Israel und Palästina und zwischen israelischen Juden und Arabern. Diese Sichtweise habe etwas Wahres, denn dieser Konflikt ist wesentlich. Aber nicht weniger wichtig sei es, die Grenzen dieses Zugangs zu erkennen. Denn die Komplexität der israelischen Gesellschaft lasse sich so nur sehr beschränkt erschließen.

In der extremen Sichtweise sei Israel sogar die letzte Kolonialgesellschaft. Danach gehe es um den Kampf zwischen Kolonialismus und Antikolonialismus. Wenn das die richtige Analyse wäre, so Dov Khenin, dann legitimiere das den bewaffneten Kampf der Opfer gegen die Kolonialisten. Dann seien gesellschaftliche Veränderungen nur durch diesen antikolonialen Kampf und die Zerschlagung der Kolonialherrschaft zu erreichen. Diese Auffassung übe auf die internationale Linke eine Faszination aus, lasse sich leicht in Slogans umsetzen und in alle möglichen Aktivitäten. Doch eine richtige Analyse sei das nicht.

Denn Israel sei keine einheitliche koloniale Gesellschaft. Vielmehr existieren vielfache innere Widersprüche und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen. Und das führt zu einer anderen Schlussfolgerung, nämlich der, dass sich Veränderungen wesentlich auch aus den inneren Widersprüchen der israelischen Gesellschaft ergeben.


Ir le-kulanu - A City for all

Ir le-kulanu ist eine junge Organisation. Sie entstand erst im Januar 2008. Schon im November 2008 trat sie bei den Bürgermeister- und den Kommunalwahlen in Tel Aviv an. Obwohl der langjährige Oberbürgermeister der Arbeitspartei Ron Huldai von einer (nahezu) All-Parteien-Koalition von der linken Meretz-Partei bis zur Rechten unterstützt wurde und über einen großen Apparat und Wahlkampffonds verfügte, errang Dov Khenin als Bürgermeisterkandidat von Ir le-kulanu 35 Prozent. Bei den parallelen Kommunalwahlen erreichte Ir le-kulanu knapp 20 Prozent. Mit fünf Abgeordneten im 31-köpfigen Stadtrat wurde sie auf Anhieb stärkste Fraktion. Seither bildet sie dort zusammen mit einem Vertreter der arabischen Minderheit aus Jaffa die einzige Opposition.

Ir le-kulanu ist keine Partei, sondern versteht sich als städtische Basisbewegung, in der unterschiedlichste Kräfte zusammenarbeiten: Traditionalisten und säkular Gesinnte, langjährige Aktivisten von sozialen und ökologischen Bewegungen, Juden und Araber - und Mitglieder fast aller Parteien.

Ihren Ausgangspunkt nahm die Sammlungsbewegung in den städtischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahre. Das prägt sie. Die Möglichkeit, Foren zu unterschiedlichsten Themen zu bilden und so die Politik von unten zu entwickeln - der Begriff "Politik von unten" fiel tatsächlich -, ist eine wichtige Komponente. Es gibt regionale Foren, Foren für Umwelt/Energie, Verkehr, Abwasser, Foren von Erzieher/innen, Student/innen, Migranten, ein Jugendforum, Foren für Arbeit und Soziales ... Das ermöglicht die Organisierung entlang von Konfliktlinien und erleichtert die Einbeziehung zahlreicher Menschen, die zum Teil noch nie politisch aktiv waren. Diese Organisationsform ermöglichte eine Mobilisierung im Wahlkampf, die man sich hier kaum vorstellen kann. Die Aktiven zogen von Tür zu Tür, sprachen mit den Menschen, fragte nach Problemen, hörten zu. Da Ir le-kulanu kein Geld hatte z.B. für einen Plakatwahlkampf, kam man auf den Gedanken, Pappschilder mit kurzen Slogans herzustellen, die verteilt und zu Tausenden fast überall in Tel Aviv auf den Balkons aufgehängt wurden und das Stadtbild im Wahlkampf prägten.

Die Fragestellung sei, führte Dov Khenin in seinem Einleitungsbeitrag aus, wie man sozialistische Werte und die Werte der Umweltbewegung auf die kommunale Ebene übertragen und wie man sie konkret umsetzen könne in einer modernen Großstadt des 21. Jahrhunderts. Wenn es gelingt, so die Erfahrung, diese allgemeinen Ziele und Werte in konkrete pragmatische Arbeitsprojekte umzusetzen, erhält man überraschend viel Unterstützung.


Tel Aviv, eine moderne Großstadt des 21. Jahrhunderts

Tel Aviv-Jaffa (1) ist mit 400.000 Einwohnern die wichtigste Stadt Israels und Zentrum einer großen Metropolregion, in der ein Drittel der ca. 7 Millionen Bewohner Israels lebt. Die wirtschaftliche Bedeutung Tel Avivs für Israel ist enorm. Die Stadt gilt als reich. Sie konzentriert im Stadtzentrum Banken und Dienstleistungsunternehmen; an den Stadträndern befinden sich viele Produktionsbetriebe. In dieser Stadt spiegeln sich die Widersprüche der israelischen Gesellschaft wider.

Die Zeitung Haretz schrieb kürzlich zum 100. Geburtstag von Tel Aviv:

"Über die Jahre hat Tel Aviv einige begabte Stadtplaner und glückreiche Bürgermeister gehabt, die seinem Antlitz beeindruckende Züge verliehen haben. Sie gilt als Hauptstadt des Bauhaus, ist bekannt für ihre alte Schönheit im Stil einer 'Gartenstadt', die nachbarschaftliche Gärten zwischen die niedrigen Häuser einflicht, und entlang ihrer Küste verläuft eine weitläufige und angenehme Strandpromenade. Denkmalschutz und Renovierung haben den wunderschönen Häusern der Vergangenheit ihren Rang und ihre Pracht zurückgegeben, ganze Straßenzüge sind schöner denn je wiederauferstanden. Auch die vernachlässigten Boulevards wurden renoviert und vibrieren heute vor Lebendigkeit. Museen, Galerien, Konzerthallen und Theater, eine Universität sowie private und staatliche Colleges, ein großer Park und Sportzentren bieten Kultur und Unterhaltung für die Einwohner der Stadt und ziehen Bürger aus dem ganzen Land an."

Schon in den drei, vier Tagen unseres Aufenthaltes haben wir die Faszination dieser Stadt erfahren können. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite sind zum Beispiel enorme Verkehrsprobleme: Es gibt nur ein unzureichendes, schlecht funktionierendes Busnetz, die seit Jahrzehnten erörterten Pläne und gefassten Beschlüsse für eine U- oder Straßenbahn verliefen sich im Sande. Die Peripherie ist abgehängt, Radfahrwege existieren praktisch nicht. Der private Autoverkehr verstopft die Zugänge nach Tel Aviv und die Straßen der Stadt. Daraus resultiert das nicht minder geringe Problem der Luftverschmutzung. Ir lekulanu hatte das Verkehrsproblem, ein Programm für den öffentlichen Nahverkehr und die Stärkung der Rechte der Fußgänger und Radfahrer zu einem der Schwerpunkte des Wahlkampfes gemacht, gegen alle Warnungen, damit würde man die Autofahrer gegen sich aufbringen. Der Wahlerfolg gehe jedoch nicht zuletzt auf die Zustimmung durch Radfahrer und Fußgänger zurück, erfahren wir.

Auch die Umweltverschmutzung zählt zu den große Problemen Tel Avivs und zu den Schwerpunkten des Wahlkampfes. Uns fiel auf, dass unter den israelischen Teilnehmern des Workshops etliche Umweltaktivisten waren, und mehrfach erklärte man, dass Le ir-kulanua nicht zuletzt ein Zusammenschluss von "Rot" und "Grün", von sozialistischer und ökologischer Bewegung sei. In der herrschenden Politik finden die massiven Umweltprobleme des Landes bisher kaum Beachtung. Dabei verschärfen sich diese Probleme rasant. (2) Neben der hohen Luftverschmutzung spielt in Tel Aviv z.B. auch die Abwasserproblematik (Meerverschmutzung) eine erhebliche Rolle.

Als geradezu dramatisch schilderte man uns die Wohnungsnot in Tel Aviv. Da die Stadt das wirtschaftliche Zentrum Israels ist, zieht sie viele, vor allem junge Menschen an, die dann kaum eine Chance haben, bezahlbare Wohnungen zu finden. Die Grundstückspreise sind in schwindelnde Höhen geklettert. Es werden - ohne erkennbare Stadtplanung - immer mehr Hochhäuser gebaut. Viele Wohnanlagen entstehen als Exklusiv-Anlagen für Wohlhabende und Reiche. Mit der Gentrifizierung schreitet die soziale Segregation, die räumliche Verfestigung der sozialen Spaltung voran. Vor allem: Sie vermischt sich auf explosive Weise mit den ethnischen Konflikten, mit der Unterdrückung der arabischen durch die jüdischen Israelis und der sephardischen (orientalischen) durch die aschkenasischen (aus Europa stammenden) Juden.

All diese Erscheinungen kritisiert Ir le-kulanu als Entfremdung, als Enteignung der Bewohner: Die Stadt wird ihnen genommen. Der Name Ir le-kulanu bedeutet, dass sich die Bewohner die Stadt wiedererobern müssen.

Am letzten Tag des Workshops führte uns Ir le-kulanu zu einigen zentralen Brennpunkten der städtischen Auseinandersetzungen und linker Kommunalpolitik.


"Ein demokratischer, ökologischer Park mitten in Tel Aviv"

Tel Aviv hat, vor allem in seiner Mitte, fast keine Grünflächen. Eigentlich sehen die Richtlinien eine Grünfläche von 7 qm pro Einwohner vor. Im Zentrum gibt es jedoch pro Einwohner nur einen halben qm, im wohlhabenden Norden der Stadt sind es dagegen zehn qm.

Seit zwölf Jahren kämpfen die Bewohner des innerstädtischen Quartiers Kiryat Sefer für einen Park. Laut Bebauungsplan sollten auf einem brachliegenden Gelände, auf dem früher Polizeiautos repariert wurden, Hochhäuser entstehen. Die Anwohner - hier wohnen vor allem Intellektuelle, Künstler, Journalisten - entfalteten rege Aktivitäten für "ihren" Park, führen Veranstaltungen mit bis zu 100 Teilnehmern durch und einmal wöchentlich ein großes Picknick. Sie legten ein kleines Gärtchen an, pflanzten einige symbolische Bäume und markierten mit grüner Farbe, wo Rasenflächen entstehen sollten. Sie haben genaue Vorstellungen, wie der Park aussehen wird, den sie erkämpfen wollen: "Wir wollen einen demokratischen, ökologischen Park", so ein Sprecher der Anwohner. Ein nebenstehendes Gebäude soll zu einem Gemeindehaus werden.

Ir le-kulanu hat die Forderung im Wahlkampf aufgegriffen. Abgeordnete nehmen regelmäßig an Aktivitäten teil, und viele Anwohner machen inzwischen bei Ir le-kulanu mit. Zuletzt bewarb sich die Anwohnerinitiative bei der Ausschreibung für die Bebauung mit ihrem Plan für den Park. 60 Anwohner kamen zur Ausschusssitzung - und die Initiative erhielt tatsächlich den Zuschlag. "Auch wenn man in der Opposition ist, kann man etwas erreichen", sagte der Vertreter von Ir le-kulanu, der uns begleitete. "Vor den Wahlen konnte der Oberbürgermeister machen, was er wollte, jetzt hat er mit einer Opposition zu tun, die vor Ort aktiv ist."


Kfar Schalem - Widerstand gegen Räumung und Vertreibung in einer Hochburg des Likud

Kfar Schalem ist ein Stadtteil im Süden von Tel Aviv. Hier leben bisher vor allem orientalische Juden, jemenitische und ägyptische Einwanderer, die seit 1949/50 systematisch auf dem Gebiet vormaliger palästinensischer Dörfer angesiedelt wurden, deren Bewohner geflüchtet waren oder vertrieben wurden. Kfar Schalem gilt als eine Hochburg des Likud.

Doch seit langem wird, Folge der stetig steigenden Grundstückspreise, das Land an private Investoren verkauft. Zum Teil wurde es ihnen sogar kostenlos zur Verfügung gestellt. Schon in den 1970er Jahren gab es erste Räumungen der Bewohner, die kleine Landwirtschaft betrieben. Rund um das Dorf und die Felder zogen Investoren einen Ring von mehrgeschossigen Wohnsilos - anders als üblich in Israel entstanden hier keine Eigentums-, sondern Mietwohnungen. Wer hier wohnt, ist in der Regel arm. Wohl deshalb fehlt in diesem Gebiet mit 1.300 Wohnungen jegliche Infrastruktur. Die Stadt unterließ es, Kindergärten oder eine Schule zu bauen. Auch gibt es keinen Laden hier - für alles, was sie brauchen, müssen die Menschen ins Nachbarviertel.

In den 90er Jahren verfolgte die Rabin-Regierung dann den Kurs, die Bewohner nicht mehr mit Gewalt zu vertreiben, sondern freiwillig und gegen Entschädigung zur Räumung zu bewegen. Viele nahmen die Angebote an und bauten mit den Entschädigungen kleine Reihenhäuser neben den Wohnsilos. Doch die meisten von ihnen wohnen inzwischen nicht mehr hier. Die Stadt hat nämlich die Steuern auf Wohnungen im Süden Tel Avivs so drastisch erhöht, dass die Bewohner sie nicht mehr zahlen konnten und verkaufen mussten. Die politische Absicht dieser Steuererhöhung lässt sich daran erkennen, dass die Wohnungssteuern im armen Süden Tel Avivs inzwischen fast doppelt so hoch sind wie die in den reichen Vierteln im Norden.

Diese städtische Enteignungspolitik flankierte die Wiederaufnahme der zwangsweisen Räumungen der dörflichen Siedlungen des Viertels. Vom Jahr 2005 an erhielten die meisten Bewohner einen Brief, in dem sie aufgefordert wurden, ihr Häuschen binnen sieben Tagen zu verlassen. Die Investoren wollen das Land für hochpreisigen Wohnungsbau nutzen und die ansässige Bevölkerung vertreiben.

Wir sprechen mit einem Vertreter der von Vertreibung Betroffenen und Bedrohten, dessen Haus wie so viele andere vor eineinhalb Jahren zerstört wurde. Er berichtet, wie sich die Menschen entschlossen haben, trotz schwierigster Bedingungen zu kämpfen. Die Eigentumsverhältnisse vieler Häuser sind z.B. nicht in den Grundbüchern verzeichnet, und wenn sie verzeichnet sind, fällt es den Bewohnern schwer, wie von den Gerichten verlangt die Geschichte der Eigentümer nachzuweisen. Wie gesagt ist hier von einem Gebiet die Rede, auf dem bis 1948 palästinensische Bauernfamilien lebten.

Der Mann wurde, so berichtet er uns, seinerzeit von der Jewish Agency hier angesiedelt, aber jetzt wurde er vom Gericht zu einer Strafe von einer halben Million Schekel (knapp 100.000 Euro) verurteilt, weil er das Land widerrechtlich besetzt habe.

500 Polizisten samt Polizeihubschraubern waren eingesetzt, um den Bulldozern den Weg zu seinem Haus und anderen, die ebenfalls geräumt werden sollten, freizukämpfen. Alles wurde kurz und klein geschlagen. Seine ganze große Sammlung alternativer Medikamente, sein Lebenswerk, wurde dabei zerstört.

Die Gerichte, an die sich die Bewohner wandten, gaben den Investoren recht. In vielen Fällen wurden die Bewohner unter Vorwänden verurteilt. Sein Nachbar, ein Militärpolizist, wurde verurteilt, weil er seine Dienstwaffen zu Hause hatte.

Die Bewohner organisierten Demonstrationen und wurden dabei von Ir le-kulanu unterstützt. Es dauerte eine Zeit, bis sie ihr Misstrauen überwanden, aber sehr viele haben bei den Kommunal- und Bürgermeisterwahlen für Ir le-kulanu gestimmt. Und viele haben sich der Bewegung angeschlossen, darunter religiöse Juden und Likud-Anhänger. Natürlich birgt das auch Probleme. Da sich die Zeitrechnung in Israel an Kriegen ausrichte, sagt unser Begleiter von Ir le-kulanu, könne man es so ausdrücken: Es werde wohl noch einen oder zwei Kriege dauern, bis sie mit uns zusammen auf Friedensdemonstrationen gehen.

Aber ein wichtiger Schritt ist Ir le-kulanu gelungen: die Verknüpfung des Widerstands gegen Räumung und Vertreibung in Kfar Schalem mit dem gleichgerichteten Widerstand in Jaffa. Es gab erste gemeinsame Aktionen, und eine Räumungsblockade in Kfar Schalem sah Linke, Anarchisten, arabische Aktivisten und Likud-Anhänger Seite an Seite.


Gentrifizierung, Vertreibung und Widerstand in Jaffa

In Jaffa, der alten arabischen Stadt, leben auch heute noch ca. 17.000 Palästinenser und inzwischen rund 60.000 jüdische Israelis.

Wir treffen eine in Jaffa lebende jüdische Israelin von Ir le-kulanu und einen arabischen Künstler, der uns über Flucht und Vertreibung der Araber 1948/49 und den darauf folgenden Jahren berichtet und über eine neue Vertreibungswelle mit viel Sprengstoff. Doch zunächst besichtigen wir eine über dem Meer gelegene großzügige und noble, aber gegen die quirlige Stadt streng abgeschottete Wohnanlage. Sie wurde erst vor einigen Jahren für reiche und superreiche Einwanderer aus Russland errichtet. Die Anlage versperrt den Einwohnern Jaffas den Weg zum Meer, und von Beginn an gibt es einen Kampf darum, ob ein Weg durch die Anlage als öffentlicher Durchgang benutzt werden kann. Bisher wurde dieses Recht behauptet, doch die Bewohner der Anlage versuchen immer wieder, u.a. durch private Sicherheitskräfte, den Weg zu versperren.

Womöglich ist diese Anlage nur die erste von weiteren, die folgen sollen. Immobilienkonzerne haben ein Auge auf bisher von arabischen Israelis bewohnte Gebiete am Meer geworfen. Hier hat die halbstaatliche Wohnungsgesellschaft Amidar im letzten Jahr nahezu 500 Räumungsbefehle verschickt. Die überwiegend armen Familien, die hier leben, haben in den 1950er Jahren Nutzungsrechte für die Häuser auf öffentlichen Grundstücken zu günstigen Bedingungen erstanden. Vorwand für die Räumungsbefehle sind angeblich illegale bauliche Veränderungen, die die Bewohner während eines verhängten Baustopps vorgenommen haben, einen Anbau z.B., eine neue Treppe oder bloß eine Renovierung. Sie werden vor die Wahl gestellt, entweder horrende Summen zu zahlen oder auszuziehen. Viele der Betroffenen haben sich zum Widerstand entschlossen, Demonstrationen und andere Protestaktionen organisiert.

Diese Auseinandersetzung um Gentrifizierung und Vertreibung droht durch extremistische jüdische Siedler aus dem Gaza eskaliert zu werden, die systematisch neue Siedlungsprojekte in Gebieten mit gemischter Bevölkerung errichten mit dem Ziel der "Judifizierung", so auch in Jaffa. Bemerkenswert war die Kritik, die der palästinensische Künstler äußerte: Das Problem sei, dass die Juden die Araber fürchteten und nicht mit ihnen zusammenleben wollten. Bemerkenswert deshalb, weil die Kritik das Zusammenleben eben nicht in Frage stellt.

Schon am Tag zuvor hatte uns Thabit Abu-Ras, ein arabisch-israelisches Mitglied von Ir le-kulanu und Dozent für politische Geografie, informiert, dass die arabischen Bewohner Jaffas zwar eine eigene Liste zu den Kommunalwahlen eingereicht, dass sie aber bei den Bürgermeisterwahlen Dov Khenin unterstützt und zu 90% gewählt haben. Ein Grund war, dass sich Ir le-kulanu engagiert im Kampf gegen die Räumung. Ein anderer, dass Ir le-kulanu von Anfang an die Position vertreten hat, dass sie eine Liste für alle Bürger, also auch für die Araber, wollten und dass sie ausdrücklich einen arabischen Repräsentanten wollten. Alles in allem sei die Erwartung groß, dass sich Ir le-kulanu den arabischen Bürgern weiter annähert und sie unterstützt. Aber bisher habe sich Ir le-kulanu nicht zur Besatzung geäußert. Das sei jedoch für die arabischen Bürger wichtig.

Damit war eine wichtige Frage angesprochen, die auch in der Diskussion eine Rolle spielte. Ir le-kulanu hat sich als kommunalpolitisches Bündnis gebildet. Aber kann es die stets zumindest im Hintergrund präsente Frage des Konflikts zwischen Israel und Palästina lange ausklammern? Kann sich das städtische Bündnis halten und entwickeln, ohne dass sich eine Perspektive für eine Politik auf nationaler Ebene eröffnet, die diesen Konflikt angeht? Das blieb in unserer Diskussion eine Frage.

Es ist zu wünschen, dass der Workshop von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Ir le-kulanu den Beginn einer fruchtbaren Kooperation zwischen der Linken in Tel Aviv und in Metropolen in Deutschland kennzeichnet.

Christiane Schneider


Anmerkungen

(1) Tel Aviv begeht in diesem Jahr offiziell seinen 100. Geburtstag. Das negiert, dass einige Tel Aviv zugeschlagene palästinensische Dörfer und Städte zum Teil sehr viel älter wird. Jaffa z.B., seit 1954 ein Teil von Tel Aviv, ist ungefähr 4000 Jahre alt.

(2) In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass Israel mit 340,6 Einwohnern/qm eine hohe Bevölkerungsdichte aufweist - eine der höchsten der Welt - und dass die Verstädterung weit vorangeschritten ist (91% der Israelis leben in Städten). Für Deutschland lauten die Zahlen 231 Einwohner/qm und 85%.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 4: Dov Khenin - hier während des Workshops - ist Politikwissenschaftler und Anwalt. Er vertritt u.a. israelische Wehrdienstverweigerer. Seit 2006 gehört er für Hadash (Demokratische Front für Frieden und Gleichheit) der Knesset an. Er ist zugleich Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der größten Gruppierung innerhalb von Hadash. Khenin war außerdem Vorsitzender des Dachverbandes der israelischen Umweltschutzorganisationen.

Abb. S. 5: Hier soll er entstehen, der demokratische und ökologische Park mitten in Tel Aviv

Abb. S. 6: Der Bürgermeister verkauft die Stadt Tel Aviv, steht auf dem einen Wandplakat in Kfar Schalem. Das andere wendet sich gegen Rassismus.

Abb. S. 6: Das blieb von einem zerstörten Haus: Dachziegel, Sofa, ein Bettgestell. Im Hintergrund eines der Wohnsilos, die das Gelände umgeben.

Abb. S. 7: Jaffa: Der Wert der Grundstücke am Meer steigt rasant und heizt die Spekulation an. Die arabischen Bewohner sollen weichen.

Raute

Türkei: Neue Debatte über den Kurdenkonflikt

Kurz nach den Kommunalwahlen hat in der Türkei eine Repressionswelle gegen die in den kurdischen Gebieten siegreiche DTP eingesetzt. Flächendeckend werden seither Aktivisten und Funktionäre der DTP verhaftet. Weit über 400 Parteimitglieder sind seit den Wahlen im Gefängnis. Die AKP, die gerade in den kurdischen Gebieten massive Stimmenverluste erlitten hatte, ist weit davon entfernt, den Willen der kurdischen Bevölkerung anzuerkennen.


Mittlerweile droht mehreren Parlamentsabgeordneten der DTP die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität. Gegen die Fraktionsvorsitzende Emine Ayna, den stellvertretenden Vorsitzenden Selahattin Demirtas sowie die Abgeordneten Fatma Kurtulan, Aysel Tugluk und Sebahat Tuncel wird wegen Reden ermittelt, in denen sie sich unter anderem für einen Dialog mit PKK-Führer Abdullah Öcalan für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ausgesprochen hatten.

Gegen diese Verhaftungswelle rührt sich der Widerstand besonders in den kurdischen Städten. An Hungerstreikaktionen nahmen mehrere Tausend Menschen teil, Demonstrationen fanden statt, Gerichtsgebäude wurden belagert - und es kam immer wieder zu heftigen Straßenschlachten mit Polizei und Jandarma. Dabei wurde ein kurdischer Jugendlicher von Sicherheitskräften getötet.

Der Hartnäckigkeit von Angehörigen von "Verschwundenen" ist es zu verdanken, dass im Gebiet von Batman, Sirnak, Siirt und Mardin Massengräber gefunden und jetzt auch geöffnet wurden. Die Verbrechen der staatlich geförderten Todesschwadrone stehen jetzt mit dem Fund ihrer Opfer in der Öffentlichkeit.

Das Massaker, das ein Dorfschützerclan bei einer Hochzeit angerichtet hat, ist auch seit Wochen Thema in der Türkei.

Diese Themen haben den Kurdenkonflikt wieder in das Zentrum der gesellschaftlichen Diskussion gerückt. Für die kemalistische Zeitung Millyet hatte der liberale Journalist Cemal den PKK-Führer Murat Karayilan in den nordirakischen Kandilbergen interviewt. Karayilan hatte die Bereitschaft der PKK zur Niederlegung der Waffen erklärt, wenn die Rechte der Kurden als gleichberechtigte und freie Bürger innerhalb der Türkei in der Verfassung anerkannt und die Tausenden politischen Gefangenen inklusive Abdullah Öcalans amnestiert würden. Die PKK strebe keinen eigenen Staat an, sondern eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltungen in den kurdischen Landesteilen. Alle diese Forderungen vertritt die PKK zwar schon seit Jahren, doch erstmals berichteten alle großen türkischen Tageszeitungen über die "Abkehr vom Separatismus" der PKK.

Der türkische Staatspräsident Gül erklärte gegenüber Journalisten: "Die kurdische Frage ist das größte Problem der Türkei. Ob man es Terrorproblem nennt oder südanatolisches Problem oder Kurdenproblem - es ist die wichtigste Frage der Türkei, die gelöst werden muss." Die Lösung des Konflikts liege in einer Verbesserung der demokratischen Standards in der Türkei. Daran würden jetzt zivile Kräfte und das türkische Militär arbeiten. Im "Nationalen Sicherheitsrat" würde ein "deutsches Modell" diskutiert. Die türkische Regierung will sich bei einer Stärkung der Rechte von kurdischen Staatsbürgern am deutschen Ausländerrecht orientieren. "Was wir für die Türken in Europa wollen, werden wir den Kurden geben."

So sollen Eltern ihren Kindern zukünftig auch kurdische Namen geben dürfen, selbst wenn diese die in türkischen Alphabet nicht enthaltenen und bislang verbotenen Buchstaben X, Q und W enthalten. Zwangstürkisierte Dörfer sollen wieder ihre ursprünglichen kurdischen Namen tragen dürfen. Verbote für die kurdische Sprache sollen aufgehoben werden. Nach Presseberichten ist zudem die Zulassung von Kurdisch als Wahlfach ab der Mittelstufe der Schulen sowie eine beschleunigte Einrichtung der ohnehin geplanten Lehrstühle für kurdische Sprache und Literatur an staatlichen Universitäten im Gespräch. Zeitliche Beschränkungen für Sendungen in kurdischer Sprache bei lokalen Rundfunk- und Fernsehstationen sollen fallen.

Der frühere Botschafter Ilter Türkmen forderte, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den Kurden in der Türkei bisher den Ausdruck einer eigenen kurdischen Identität verbauen. Der Zeitung Millyet sagte er, dass das Kurdische auf kommunaler Ebene auch im offiziellen Bereich geduldet werden müsse. Bemerkenswert an dieser Art von Anregungen ist nicht nur deren Inhalt, sondern auch die Tatsache, dass sie nicht vom Rand der Gesellschaft kommen, sondern von der Regierung und von Vertretern des Establishments wie Türkmen.

Die nationalistischen Oppositionsparteien im türkischen Parlament wandten sich gegen die Initiative Güls und des Nationalen Sicherheitsrats. Der MHP-Chef Bahceli leugnete die Existenz der kurdischen Bevölkerung: "Sollen wir angesichts der Schaffung einer künstlichen Minderheit schweigen?" Baykal von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei erklärte, jede "ethnisch basierte Lösung" würde den Frieden im Land stören. In Ankara demonstrierten über 100.000 Anhänger der kemalistischen und nationalistischen Opposition gegen die Regierungspolitik der AKP auf Aufruf der "Vereinigung für kemalistisches Gedankengut".

Die Verengung der Kurdenfrage auf Sicherheitsaspekte habe die Angelegenheit zu einem gesellschaftlichen "Wundbrand" werden lassen, schrieb der Jurist Sancar in der Zeitung Taraf. Die PKK sei nicht die Ursache des Konflikts, sondern eine seiner Folgen. Der Staat müsse einsehen, dass er die PKK mit seinen bisherigen Rezepten nicht besiegen könne. Die PKK müsse erkennen, dass sie den türkischen Kurden mit ihren Gewaltaktionen schade. Ein umfassendes "Entwaffnungsprogramm" sei gefragt.

Mit Karayilans Interview hätten indirekte Verhandlungen zwischen der PKK und der Türkei begonnen, schrieb der Publizist Mehmet Ali Birand in der Zeitung "Posta". Das Tor für eine Lösung öffne sich: "Je schneller man dieses Tor passiert, desto weniger unserer Menschen müssen sterben." Der Konflikt um die Kurdenfrage mobilisiert jetzt die verschiedenen Lager der türkische Gesellschaft und wird die Spannungen zwischen ihnen verschärfen.   rub


Bundesverwaltungsgericht hebt Verbot von Roj TV auf

Mit zwei Beschlüssen hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Innenministers Schäubles Verbot des kurdischen Senders Roj TV aufgehoben. Es sei fraglich, ob Deutschland EU-weit verbreitete Sender verbieten könne, erklärten die Leipziger Richter zur Begründung der im Eilverfahren ergangenen Beschlüsse. Die Sache sei auch nicht so dringlich, als dass das Ministerium nicht die Hauptsache-Entscheidung abwarten könne. Schäuble hatte "Roj TV" vergangenen Juni die Ausstrahlung in Deutschland verboten. Der Sender propagiere den bewaffneten Kampf und sei Sprachrohr der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Mit seinen Eilbeschlüssen bewertete das Bundesverwaltungsgericht diese Einschätzung nicht. Die Anträge der beiden Betreiber hätten schon deshalb Aussicht auf Erfolg, weil nach europäischem Recht möglicherweise allein der "Sendestaat", also Dänemark, und nicht Deutschland als "Empfangsstaat" für die Kontrolle zuständig sei.
(rub, Quelle AFP, 18.05.09)

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REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

Belgische Gewerkschaften protestieren gegen Boni für das AB-INBEV Management

Am 28. April protestierten hundert Aktivisten der belgischen Gewerkschaften CSC und FGTB vor der Konzernzentrale von AB InBev in Löwen, Belgien gegen die überhöhten Boni für die Spitzenmanager des Brauereiunternehmens. So könnte beispielsweise der Konzernchef Carlos Brito 2013 einen Bonus in Höhe von 70 Millionen Euro erhalten. Die CSC und die FGTB beschweren sich darüber, dass solche übermäßigen Boni im drastischen Gegensatz zu der gegenwärtigen Wirtschaftslage und den von der Konzernleitung angeordneten Kostensenkungen in allen Betriebsbereichen stehen. Diese Kostensenkungsmaßnahmen bewirken für die Arbeitnehmer von AB InBev in aller Welt beträchtliche soziale Einbußen. Für die belgischen Gewerkschaften ist es unannehmbar, dass eine kleine Gruppe Spitzenmanager solche unverhältnismäßigen Boni erhält, während die Beschäftigung und die wirtschaftliche Sicherheit tausender Arbeitnehmer von AB InBev bedroht sind. Belgische Gewerkschaften planen, ihre Aktionen gegen die Praxis skandalöser Boni an Konzernmanager zu verstärken.
Quelle: www.iuf.org


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"Das Leben unsicherer machen"

Holländische Gewerkschaften konfrontieren Unilever-Aktionäre mit den repressiven Beschäftigungspraktiken hinter dem Gerede über verantwortungsbewusstes Unternehmertum. Der holländische Landesgewerkschaftsbund FNV und der IUL-Mitgliedsverband FNV Bondgenoten veranstalteten anlässlich der Jahreshauptversammlung von Unilever, die am 14. Mai in Rotterdam stattfand, eine machtvolle Demonstration, um auf die unsauberen Sozialpraktiken hinter der glänzenden Fassade des von dem Unternehmen mit viel Aufwand propagierten "sozialen Verantwortungsbewusstseins" aufmerksam zu machen. Arbeitnehmer von Unilever und Sympathisanten versammelten sich in großer Zahl vor den beiden Tagungseingängen und verteilten Material zur Unterstützung der Unilever Pakistan Kampagne der IUL sowie den kurz zuvor veröffentlichten alternativen Jahresbericht mit dem Titel "Erratum - das Leben unsicherer machen", worin der Gegensatz zwischen den tatsächlichen Unilever-Praktiken und den nichtssagenden Behauptungen im Hochglanzbericht und in der massiven Werbung des Unternehmens aufgezeigt wird. "Erratum" wurde mit Unterstützung von FVN Bondgenoten, den britischen Gewerkschaften TUC und Unite und dem Indienausschuss der Niederlande herausgegeben und stützt sich weitgehend auf IUL-Material über den systemischen Einsatz von Gelegenheitsarbeitern und die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen in Pakistan, berichtet aber auch über Sozialverhältnisse auf indischen Teeplantagen, die Unilever beliefern, sowie unter anderem über die Umweltzerstörung und die Quecksilbervergiftungen, die das Unternehmen am Standort seiner früheren Thermometerfabrik in Kodiakanal, Indien verursacht hat. Erstmals konfrontierten Gewerkschaften Aktionäre mit eindrucksvollen Beweisen einer massiven sozialen Verantwortungslosigkeit bei Unilever, was diese zu peinlichen Fragen veranlasste. Die von Musik und Straßentheater umrahmte Aktion zwang die Unilever-Konzernleitung zu einem Treffen mit der IUL/FNV-Delegation und fand in den holländischen Medien ein breites Echo. Der IUL-Mitgliedsverband Unite hatte anlässlich der am Vortag in London stattfindenden Versammlung der Aktionäre von Unilever PLC eine Presseveröffentlichung zur Unterstützung des Kampfes der Arbeitnehmer in Pakistan für direkte Dauerbeschäftigungsverhältnisse herausgegeben.
Quelle: www.iuf.org

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AUSLANDSNACHRICHTEN

Kolumbianischer Bananenstreik endet mit Sieg der Sintrainagro

Am 20. Mai, dem 13. Tag eines Streiks, der die kolumbianische Bananenindustrie lahmgelegt hatte, konnte die Sintrainagro einen neuen Branchentarifvertrag abschließen, der für 18.000 Arbeitnehmer auf 296 Farmen und Plantagen wesentliche Verbesserungen bedeutete. Die Vertrag - der für zwei Jahre gilt, gegenüber der dreijährigen Laufzeit des letzten Vertrags - bedeutet eine Lohnerhöhung um 8% im ersten Jahr und wesentlich höhere Arbeitgeberbeiträge zu den Fonds für Wohnungen, Gesundheitsbetreuung und Bildung. Und vor allem konnte die Gewerkschaft ihr Hauptziel erreichen, Vorschläge abzublocken, die darauf abzielten, die Beschäftigung im Bananensektor durch die Bildung fragwürdiger "Genossenschaften" auszulagern, die der Zuständigkeit der Arbeitgeber für Kollektivverhandlungen, Sicherheit und Gesundheit und soziale Sicherheit ein Ende gemacht hätten. Sintrainagro-Präsident Guillermo Rivera hatte in einem vor dem Streik die "assoziierten Arbeitsgenossenschaften" als tödliches Instrument gegen Beschäftigung und Gewerkschaften bezeichnet: "Nach unserem Tarifvertrag muss die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer in der Branche für unbefristete Zeit eingestellt werden. Nach einem Muster, das inzwischen in der ganzen Welt praktiziert wird, greifen aber auch die Unternehmen hier zu erpresserischen Mitteln, indem sie behaupten, die Bananenproduktion könne nur noch mit Hilfe von assoziierten Arbeitsgenossenschaften, unabhängigen Vertragsfirmen und Auslagerungen weiter gesichert werden". Der Streik, der vor dem Hintergrund der expandierenden Palmölproduktion und steigender Armut und Unsicherheit stattfand, wurde vom Landesgewerkschaftsbund CUT sowie vom regionalen und internationalen Sekretariat der IUL nachdrücklich unterstützt. Mehr Informationen über den Streik und sein Ergebnis sind auf der Website der IUL-Regionalorganisation für Lateinamerika unter www.rel-uita.org zu finden.
Quelle: www.iuf.org

Zusammenstellung: bee

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AKTIONEN ... INITIATIVEN

Wahl-Kampagne für Flüchtlingsschutz und Kinderrechte gestartet

BERLIN. Ein breites Bündnis gebildet u. a. von Internationaler Liga für Menschenrechte, dem Grips-Theater, "Jugendliche ohne Grenzen", den Flüchtlingsräten Berlin und Brandenburg sowie von Asyl in der Kirche hat eine gemeinsame Kampagne "Stimmen 09" gestartet. Diese ist auf die Europa-Wahlen am 7. Juni sowie auf die Bundestagswahlen am 27. September 2009 gerichtet. Die Interessen von Flüchtlingen und Migranten sollen so wahrgenommen werden und Gehör finden. Die Kampagne besteht aus Aufforderungen zu Koalitionsaussagen für Flüchtlingschutz und Kinderrechte, die an alle Kandidaten der Parteien gerichtet wurden sowie aus einer Unterschriftenaktion. Unter dem Motto "Beim Wort genommen" wurden Wahlprüfsteine von den genannten Bündnispartnern (zunächst zu den Europawahlen) erarbeitet und an alle Kandidaten zum Europaparlament versandt. Die Kampagenwebsite ist außerdem mit dem aktuellen Positionspapier zur europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik von Pro Asyl, Interkulturellem Rat und des DGB verlinkt.
http://www.stimmen09.de/


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Niedrigste Einbürgerungszahl seit zehn Jahren

BERLIN. Als PR-Aktion ohne seriösen Hintergrund bezeichnete Gerd Pflaumer, Vorstandsmitglied von Aktioncourage e.V. - SOS Rassismus, die kürzliche Einbürgerungsfeier mit Angela Merkel im Bundeskanzleramt. "Wenn man sich die Einbürgerungszahlen anschaut, gibt es keinerlei Grund zum Feiern. Die bisher aus der Statistik bekannten Zahlen zeigen für 2008 ein Minus von 16% gegenüber dem Vorjahr. Aller Voraussicht nach werden wir die bundesweit niedrigste Einbürgerungszahl seit zehn Jahren haben", betonte Pflaumer. Eine besondere Rolle spielt seiner Meinung nach der 2000 nach der unseligen Kampagne "Nein zum Doppelpass" von Roland Koch als fauler Kompromiss eingeführte Optionszwang bei der Doppelstaatsangehörigkeit. Danach haben in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern nach dem im neuen Staatsangehörigkeitsrecht verankerten Jus Soli automatisch die deutsche und die elterliche Staatsangehörigkeit. Nach Erreichung der Volljährigkeit müssen sie sich für eine Staatsangehörigkeit entscheiden - eine Entscheidung, die in den nächsten Jahren für viele tausende Jugendliche ansteht, die infolge des Optionszwangs nur Deutsche auf Abruf sind. "Das für Ausländer eingeschränkte Erbrecht in der Türkei macht es für die zahlreichen deutsch-türkischen Jugendlichen schwer, auf den türkischen Pass zu verzichten. Will man also etwas zugunsten erleichterter Einbürgerung tun, sollte als erstes das Optionsmodell abgeschafft und die doppelte Staatsangehörigkeit uneingeschränkt anerkannt werden, wie in den EU-Staaten und anderen westlichen Ländern schon lange ohne Probleme praktiziert. Damit würde ihnen signalisiert, dass sie nicht unter Vorbehalt, sondern ganz Teil unserer Gesellschaft sind", sagte Pflaumer. Die geringe Einbürgerungsbereitschaft habe schließlich mit der leider nach wie vor hohen rassistischen Diskriminierung zu tun, wie sie Zuwanderer, vor allem Muslime und Schwarzafrikaner, laut kürzlich bekannt gewordenen Umfragen in Deutschland immer wieder erleben müssen. Solange die Menschen das Gefühl hätten, nicht wirklich erwünscht bei uns zu sein, würden sie sich kaum dafür interessieren, Deutsche zu werden.
http://aktioncourage.org


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Paritätischer Wohlfahrtsverband verlangt Bleiberecht

BERLIN. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat angesichts der Wirtschaftskrise ein Bleiberecht für alle geduldeten Flüchtlinge gefordert. "Es wäre zutiefst inhuman, zum Ende des Jahres all jenen geduldeten Flüchtlingen das Bleiberecht zu entziehen, die es trotz aller Anstrengungen nicht geschafft haben, eine Arbeit zu finden", kritisiert Verbandsvorsitzende Heidi Merk. Nach derzeitigem Stand darf nur bleiben, wer seinen Lebensunterhalt bis Ende des Jahres selbst verdient. "Es kann nicht angehen, dass ausgerechnet diese Menschen mit ihrem schweren Schicksal die ersten Opfer der Wirtschaftskrise werden", so Merk. Der Verband mahnt eine rechtlich verbindliche Regelung noch in dieser Legislaturperiode an. "Der Vorschlag der CDU, erst einmal abzuwarten und gegebenenfalls im nächsten Jahr eine Regelung zu finden, ist völlig inakzeptabel", kritisiert Merk. "Die hier lebenden Flüchtlinge und ihre Familien brauchen endlich Sicherheit." Besonders dramatisch sei die Situation für die Kinder, klagt der Verband. Ihre Abschiebung sei unerträglich. Auf besonders scharfe Kritik stoßen Drohungen aus CDU-Kreisen die Verlängerung der Bleiberechtsregelung von einer Verschärfung des Abschiebungsverfahrens abhängig zu machen. "Man darf mit menschlichen Schicksalen kein politisches Geschacher betreiben", mahnt die Verbandsvorsitzende.
www.der-paritaetische.de


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André Shepherd - Ein US-Deserteur sucht Asyl

OFFENBACH. André Shepherd ging im Jahre 2004 zur US-Armee und war nach seiner Ausbildung sechs Monate als Mechaniker für den Apache-Hubschrauber im Irak eingesetzt. Nachdem er zurück zu seiner Einheit nach Katterbach (Bayern) gekommen war, setzte er sich intensiv damit auseinander, wie das US-Militär im Irak gegen die Zivilbevölkerung vorgeht: "Schließlich wusste ich: Wenn ich noch einmal gehe, werde ich für den Tod und das Elend anderer verantwortlich sein. Für mich war daher der Weg eindeutig: Ich musste raus aus dem Militär." Im April 2007 desertierte André Shepherd. Am 26. November 2008 beantragte er in Deutschland Asyl. Anfang Februar 2009 fand eine Anhörung vor dem Bundesamt für Migration statt. Mit einer Entscheidung ist erst in mehreren Monaten zu rechnen. Der in Süddeutschland lebende Shepherd bietet nun für den Zeitraum vom 21. September bis 9. Oktober 2009 an, Veranstaltungen durchzuführen. Auf diesen wird er ausführlich berichten, warum er eine erneute Verlegung in den Irakkrieg verweigerte und in Deutschland Asyl beantragte. Danach ist ausreichend Zeit für Fragen, Diskussionsbeiträge und anderes mehr. Bei Interesse bitte Rückmeldung bis zum 21. Juni 2009 über www.connection-ev.de


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BERLIN. Zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes erinnerte das Aktionsbündnis aus Schülervertretungen und Gewerkschaften an die seit über einem Jahr dem Bundestag vorliegende Petition für ein Grundrecht auf Ausbildung. Mit 72.554 Unterschriften ist es eines der größten Gesuche der vergangenen Jahre. Eine qualifizierte Ausbildung ist für ein eigenverantwortliches Leben unverzichtbar und ermöglicht erst die gesellschaftliche Teilhabe. Darüber hinaus ist die Berufsausbildung zukunftsweisend für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Doch seit 1995 fehlen jährlich mehrere hunderttausend Ausbildungsplätze. Im vergangenen Jahr befanden sich 51,7% der bei der Arbeitsagentur gemeldeten 620.000 Bewerberinnen und Bewerber bereits ein oder mehrere Jahre in der "Warteschleife" auf eine Lehrstelle. Inzwischen sind bundesweit 1,5 Millionen Jugendliche unter 25 Jahren ohne Ausbildung. Ein Grundrecht auf Ausbildung wäre ein Meilenstein in der sozialen Ausgestaltung der Bundesrepublik Deutschland. Sollte die Petition in dieser Legislaturperiode nicht mehr abschließend behandelt werden, wird das Grundrecht auf Ausbildung eine herausragende Rolle bei der Bundestagswahl im Herbst 2009 spielen.
www.ausbildung-fuer-alle.de


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Erster Europäischer Kindergipfel hat einen Zukunftsvertrag erarbeitet

KARLSRUHE. Auf dem Ersten Europäischen Kindergipfel in Karlsruhe im April 2009 wurde der in sieben Workshops entwickelte Zukunftsvertrag unterzeichnet. Die ca. 80 Teilnehmenden im Alter von 13 bis 17 Jahren aus sieben europäischen Ländern fordern ein Wahlrecht auf allen Ebenen spätestens ab 16 Jahren. Kai Niebert, Bundesleiter der Naturfreundejugend Deutschlands: "Damit fordern Kinder und Jugendliche ihr Recht ein, sich an den für ihre Zukunft wichtigen Entscheidungen möglichst frühzeitig zu beteiligen. Der Zukunftsvertrag macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche in der Lage sind, sich reflektiert und zukunftsorientiert mit politischen Fragen auseinander zu setzen." Der Erste Europäische Kindergipfel mischt sich damit auch in die aktuelle Diskussion um das Wahlalter in Deutschland ein, die durch die umstrittene Forderung des stellvertretenden Präsidenten des in Karlsruhe ansässigen Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle nach einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ausgelöst worden ist. Inzwischen wird diese Forderung auch vom SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering geteilt, dessen Partei sich bisher in dieser Frage eher zurückgehalten hatte. Außerdem sehen die jungen Nachwuchspolitiker mangelnden kulturellen Austausch und nationales Denken als Wurzel für Intoleranz, Rassismus und Terrorismus. Sie fordern weiterhin eine kostenlose Schul- und Hochschulbildung für alle, um gleiche Chancen für alle jungen Menschen in Europa zu erreichen. Die Themenbereiche des Zukunftsvertrages, der sich als Angebot der nachwachsenden Generation an die Politik in Europa versteht, umfassen Umwelt, Bildung, Drogen/Alkohol, Engagement, Integration, Rassismus/Toleranz und Terrorismus/Frieden. Er enthält Forderungen und Selbstverpflichtungen.
www.kindergipfel.eu/de/presse


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NPD und DSU wegen Volksverhetzung angezeigt

GÖRLITZ. Wahlplakate der rechtsextremen NPD und der rechtskonservativen DSU im ostsächsischen Görlitz haben beiden Parteien Anzeigen wegen Volksverhetzung eingebracht. Der CDU-Landtagskandidat Stephan Meyer zeigte die NPD wegen ihrer Plakate mit der Aufschrift "Polen - Invasion stoppen" an. Damit werde zum Hass gegen Polen aufgestachelt, begründete Meyer am Donnerstag sein Vorgehen. Die Kampagne füge der Region massiven Schaden zu und schaffe ein Klima, das weder für Touristen noch für Investoren attraktiv sei. Auch die DSU gehe in Görlitz mit polenfeindlichen Plakaten auf Stimmenfang, sagte die Grünen-Landtagsabgeordnete Astrid Günther-Schmidt in einer Mitteilung. Der lokale DSU-Kandidat sei deshalb ebenfalls wegen Verdachts auf Volksverhetzung angezeigt worden. Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlands und grenzt unmittelbar an ihre polnische Nachbarstadt Zgorzelec, von der sie nur durch die Neiße getrennt ist.
http://www.aktion-zivilcourage.de/Start.42


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Mehr als 40 Tage Besetzung eines Traktes an der Uni Leipzig

LEIPZIG. Vor 40 Tagen haben zwei Protesttage dazu geführt, dass sich eine offene, heterogene Gruppe von Menschen dazu entschieden hat, die angestoßenen Diskussionen über Bildung im Allgemeinen und der Situation an der Universität Leipzig im Speziellem weiter zu führen. Um diesem Diskurs die Möglichkeit zu geben, sich weiter entfalten zu können, nahmen sich die ProtestlerInnen den nötigen Raum und die nötige Zeit. Dies geschah in Form einer spontanen Besetzung eines Traktes an der Universität Leipzig. Die ProtestlerInnen werden sich mit eigenen Aktionen am "bundesweiten" Bildungsstreik in drei Wochen beteiligen. Dieser Bildungsstreik soll genutzt werden noch einmal einen öffentlichen Diskurs zum Thema Bildung zu entfalten. In dem Bericht der Studierenden heißt es: "Wie ihr seht, ist ein Protest zum Thema Bildung und die damit verbundene kritische Reflexion gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge möglich. Wir haben der Universität Leipzig bis jetzt Raum und Zeit für diesen Prozess abgetrotzt, die Maschine angehalten und einen Ort geschaffen, der eine faktische Möglichkeit bietet, sich als interessiert Menschen gegenseitig zu begegnen, zu diskutieren, gemeinsam zu analysieren, reflektieren und weitere Aktionen vorzubereiten. Wir wünschen allen anderen Menschen viel Erfolg dabei ähnliches in den nächsten Wochen auf die Beine zu stellen. Macht es nach, macht es mit und macht es besser. Vor 40 Tagen hätte sich keiner träumen lassen, dass es möglich ist, an unserer Universität 40 Tage lang Räume zu besetzen, deshalb frei nach Hesse: "Um das Mögliche zu erreichen, muss das Unmögliche versucht werden."
www.protesttage.blogspot.com


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Heidelberg: Demonstration vor bundesweitem Bildungsstreik

HEIDELBERG. Größte Demonstration seit Jahren in Heidelberg - nach einer Vollversammlung zum Bildungsstreik gehen die Studierenden der Pädagogischen Hochschule (PH) am 19.5.2009 in Heidelberg direkt auf die Straße. Kein Wunder, denn ihre Hochschule ist pleite - die Lüge der "On-top-Finanzierung" durch Studiengebühren ist endgültig aufgeflogen. Dass an der PH viele Leute zur Vollversammlung zum anstehenden Bildungsstreik kommen würden, war zu erwarten. Doch die gerade bekannt gewordene Pleite der Hochschule führte die Notwendigkeit einer Veränderung in der Bildungspolitik noch einmal direkter vor Augen als manche hochschulpolitische Analyse. So fanden sich mehr Studierende in den beiden Hörsälen, in denen die VVs abgehalten wurden, ein, als diese fassen konnten. Während die Kommilitoninnen und Kommilitonen im Romanistischen Seminar, das vor einem Monat wegen katastrophaler Studienbedingungen besetzt wurde, ihr Problem als isoliert betrachtet hatten und den Bildungsstreik zunächst als "etwas anderes" sahen, ist den PHlern klar, dass ihre Pleite ein Teil bildungspolitischer Verfehlungen der letzten Jahre ist. So wurde über die Bildungsstreikwoche im Juni gesprochen sowie erste Informationen zusammengetragen, wie die PH in die jetzige Lage gekommen ist. Während der Demo gab es fast durchgehend kraftvolle Sprechchöre, die auf die PH und die Bildungspleite insgesamt aufmerksam machten. Mit dieser Stimmung ist für den Juni in Heidelberg einiges zu erwarten. Anders als bei den Friedensprotesten wenige Tage zuvor zeigte sich die Polizei hier sehr kooperativ. Wie es sich gehört, machte sie die Straße für die Demo frei und der Einsatzleiter freute sich geradezu über dieses Ereignis.
www.bildungsstreik2009.de

Raute

Kulturhauptstadt Ruhr 2010:

Konferenz bekräftigt Forderungen nach Kulturpass und Beteiligung der freien Szene

"Das Ruhrgebiet wird auch die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 einigermaßen unbeschadet überstehen", so zynisch brachte ein Kunstschaffender aus Dortmund auf der Konferenz am 2. Mai 2009 im Gebäude des Regionalverbandes Ruhr (RVR) in Essen seine bisherigen Erfahrungen mit der Europäischen Kulturhauptstadt 2010, Essen für das Ruhrgebiet, auf den Punkt. Eingeladen hatten die Fraktion Die Linke im RVR, die Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und das Kommunalpolitische Forum NRW.

Fritz Pleitgen, früherer WDR-Intendant und einer der beiden Geschäftsführer der Ruhr.2010 GmbH, sah dies naturgemäß anders. Er stellte in seinem Redebeitrag noch einmal die bisherigen Ergebnisse der Arbeit der GmbH heraus, die im ersten Teil des Programmheftes für 2010 dargestellt sind. Für Pleitgen geht es vor allem darum, das Ruhrgebiet als eine interessante Region, die das Image der Schwerindustrie hinter sich gelassen hat, international bekannt zu machen.

Im Vergleich zu Linz, der Kulturhauptstadt 2009, habe das Ruhrgebiet jedoch eine vergleichsweise bescheidene Finanzausstattung, so Fritz Pleitgen weiter. Linz, mit knapp 190.000 Einwohnern nur wenig größer als Herne, verfügt über etwa den gleichen Etat für das Jahr der Kulturhauptstadt wie die Kulturhauptstadt Ruhr.2010. Das Projekt Ruhr.2010 bezieht allerdings 53 Städte mit rund 5,5 Mio. Einwohner/innen ein.


Kulturpass für geringe Einkommen

Ein wichtiges Thema der Konferenz war die Frage der Bezahlbarkeit der Eintrittspreise und der Anfahrten zu den Veranstaltungen der Kulturhauptstadt. Wolfgang Freye, Sprecher der Fraktion Die Linke im RVR, hatte dieses Thema bereits in seiner Eröffnungsrede (siehe Seite 14) angesprochen und auf die entsprechenden Anträge der Fraktion hingewiesen. Sie hatte in der Januarsitzung des Verbandes beantragt, die ohnehin vorhandenen Ermäßigungen bei den Kulturträgern in der Region zusammenzustellen und weitere Ermäßigungen für Menschen mit niedrigen Einkommen sowie einen einheitlichen Zugang zu diesen Ermäßigungen mit einem regionalen Kulturpass zu prüfen.

Fritz Pleitgen bestätigte, dass an dieser Frage noch gearbeitet wird. Immerhin arbeiten 50.000 Beschäftigte im Ruhrgebiet im kulturellen Bereich, viele davon in prekären Verhältnissen. Im Bergbau sind es noch rund 35.000.

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Konstanze Kriese (Die Linke) richtete einen Blick von außen auf das Ruhrgebiet. Das Ruhrgebiet, so Kriese, müsse nicht erst eine Metropole werden. Das sei es längst. Es sei allerdings unsinnig, das Ruhrgebiet mit London, Paris oder Berlin vergleichen zu wollen. Die Metropolendebatte, die im Zusammenhang mit der Kulturhauptstadt gegenwärtig geführt wird, erscheine ihr deshalb eher abwegig. Das Ruhrgebiet sei eine ganz andere Art von Metropole als z.B. Berlin. Berlin sei eine Durchgangsmetropole, das Ruhrgebiet hingegen eine Ankunftsmetropole schon für die vielen Zuwanderer aus osteuropäischen Regionen gewesen. Gerade die damit verbundene Bodenständigkeit sei aus der Außenperspektive etwas Interessantes und Spannendes am Ruhrgebiet.

Den bisherigen ersten Teil des Programms für 2010 beschrieb sie durchgehend als zu wenig mutig. Am Beispiel eines Krimi-Projektes regte sie an, damit nicht nur über Krimis als Literaturform zu debattieren, sondern mit diesem Projekt eine Debatte über Kriminalität in der Gesellschaft anzustoßen.


Erfahrungen aus Liverpool

Liverpool war eine der Kulturhauptstädte 2008. Die Fraktion Die Linke im RVR hatte im Herbst letzten Jahres Liverpool besucht, um sich über die dortigen Erfahrungen mit dem Projekt der Kulturhauptstadt zu informieren. Am ersten Tag hatte sich die Delegation mit der örtlichen Sektion der britischen Dienstleistungsgewerkschaft Unison und mit Vertretern der Liverpooler Stadtverwaltung und des Stadtrates zum Informationsaustausch getroffen. Den zweiten Tag hatte die Delegation der Linken dazu genutzt, sich bei dem Liverpooler Projekt-Träger der Kulturhauptstadt über deren Konzept zu informieren. Auch in Liverpool ist dazu eine private Trägergesellschaft gegründet worden, ebenfalls eine GmbH (Ltd.).

Vor diesem Hintergrund hatten die Veranstalter der Konferenz den Vorsitzenden der Region Unison North-West-England, Frank Hont, eingeladen. Frank Hont berichtete über die Erfahrungen mit der Liverpooler Kulturhauptstadt aus Gewerkschaftssicht. Er kritisierte die bis jetzt noch nicht geklärte Finanzierung. Unison befürchtet, dass die immensen Kosten der Kulturhauptstadt 2008 durch Personalabbau gegenfinanziert werden könnten.

Frank Hont kritisierte viele Großprojekte und "-events" in Liverpool. Sie waren zu teuer für Menschen mit geringem Einkommen. Auch die Sinnhaftigkeit der Projekte stellte er in Frage. Das gesamte Projekt habe sich auf die Innenstadt konzentriert und die weniger wohlhabenden Stadtrandgebiete ausgeklammert. Es seien zwar einige hundert neue Jobs entstanden, aber dabei handele es sich vorrangig um prekäre Jobs im Hotel- und Gaststättengewerbe.

Inhaltlich bemängelt Frank Hont, dass die Projekte die Kultur der Arbeiterklasse ("working class culture") ausgegrenzt haben. Einige Gewerkschaften haben deshalb eigene Projekte entwickelt und durchgeführt, z.B. ein Fotowettbewerb für Schüler/innen zum Thema "Menschen bei der Arbeit", ein Literaturprojekt und einen Stadtplan mit Rundgang zu historischen Orten der Arbeiterbewegung in Liverpool. Frank Hont meinte, dass es ein paar wenige kleine Projekte gibt, die die Chance haben, nach 2008 weiterzulaufen - die gewerkschaftlichen Projekte gehören dazu.

Er warnte vor einer Übertragung der Organisation und Durchführung an ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Er könne keinen Vorteil einer solchen Strategie erkennen. Der Nachteil sei, dass die Stadt kaum mehr Einfluss auf das Projekt habe.


"Off-Art"-Programm

Nach den Vorträgen wurde in Workshops weitergearbeitet. Dabei ging es um die Frage nach einem linken Kulturverständnis und linke Kulturpolitik. In den Workshops bestand große Einigkeit darüber, dass linke Kulturpolitik auf keinen Fall Kunstschaffenden vorgeben darf, was Kultur sei. Vor allem habe sie gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Kulturschaffende arbeiten können. Kunst gibt es nicht zum Null-Tarif.

Was man nun unter Kultur versteht, das war umstritten. Dass der Kulturbegriff diskutiert werden muss, wurde aber durchgehend als nötig empfunden. So umfasst ein enger Kulturbegriff vor allem (gehobene) Kunst und Bildung. Dem steht ein Verständnis von Kultur gegenüber, dass unter Kultur all das fasst, was Menschen produzieren - im Unterschied zu dem, was in der Natur ohne Zutun von Menschen entsteht.

Insbesondere im Blick auf das Theater wurde nach dessen gesellschaftlicher Rolle gefragt. Konstanze Kriese verwies darauf, dass in Senftenberg, einem kleinen Ort mit großen Bevölkerungsverlusten im Osten der Republik, ein Theater existiert, das sich nicht auf die Weggezogenen und auch nicht auf mögliche zukünftige Investoren konzentriert, sondern auf die, die vor Ort geblieben sind. Das Theater hat es mit einem durchaus an den Unterhaltungsbedürfnissen des örtlichen Publikums orientierten Programm geschafft, sich eine neue gesellschaftliche Rolle zu erarbeiten. So treffen sich die Menschen in Senftenberg heute selbstverständlich im Theater, wenn es z.B. um die Frage geht, wie man sich gegen Neonazis wehren kann.

Im Blick auf die Kommunen wurde herausgestellt, dass es wichtig ist, den Prozess der Kulturhauptstadt sowie den Masterplan Kultur Ruhr, der in den letzten Monaten unter Federführung des RVR erarbeitet wurde, kritisch auf kommunaler Ebene zu begleiten.

Auch der Frage eigener linker Projekte im Rahmen der Kulturhauptstadt wurde nachgegangen. Im Zentrum standen die Themen "Friedensbewegung / Ostermarsch", das Ruhrgebiet als Waffenschmiede, Geschichtswerkstätten (um nicht in eine staatlich verordnete und kontrollierte Geschichtsschreibung zurück zu verfallen), eine Konferenz zu den Arbeitsbedingungen in der Kreativwirtschaft und Graffitis als Ausdrucksform.

Angeregt und auch im Plenum diskutiert wurde die Erstellung eines Programms zur Kulturhauptstadt Ruhr.2010, in dem u.a. die "nichtoffiziellen" Projekte aus der soziokulturellen und der freien Szene sowie aus dem linken gesellschaftlichen Spektrum vorgestellt werden - ein "Off-Art"-Programm. In der Rosa-Luxemburg-Stiftung gibt es die Idee, die Erstellung eines solchen Programms zu fördern. An die Ruhr.2010 GmbH wurde die deutliche Erwartung formuliert, auf ein solches Zusatzprogramm im offiziellen Programm der Kulturhauptstadt zu verweisen oder auf der Web-Seite der Kultur.Ruhr2010 GmbH ein entsprechendes Internet-Portal einzurichten.

Rund 2.000 Projekte wurden der Kultur.Ruhr2010 GmbH für das Kulturhauptstadtjahr vorgeschlagen, entsprechende Förderanträge gestellt. Ganze 150 Projekte sind im ersten Programmheft. Trotzdem werden derzeit auch etliche abgelehnte Projekte von Künstlern und Kulturmachern der Freien Szene vorbereitet. Diese Projekte zu integrieren, diese Aufgabe sollte die Kultur.Ruhr2010 GmbH gerade angesichts erheblicher Finanzund Imageprobleme aufgreifen.

Abgerundet wurde die Konferenz durch einen Vortrag von Lothar Bisky, der sich dem Thema "Europas kulturelle Identität - Kooperation und Vielfalt" widmete und gezielt die verengte Perspektive von Kultur als Kunst aufbrach. Lothar Bisky wandte sich gegen die von den Unionsparteien geforderte Verankerung eines christlichen Bezuges in den EU-Verträgen oder einer Europäischen Verfassung und forderte, Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. "Die bisher freiwillige Aufgabe Kultur würde sich nicht länger im finanziellen Bermudadreieck zwischen Sozialem, Jugend und Bildung aufhalten müssen", hieß es wörtlich.

Jürgen Klute, Wolfgang Freye


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Podium der Konferenz: Fritz Pleitgen (Kultur.Ruhr.2010 GmbH), Wolfgang Freye (Fraktion Die Linke im RVR), Christine Kostrzewa (Moderatorin), Konstanze Kriese (Die Linke).

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Konstanze Kriese (Die Linke) richtete einen Blick von außen auf das Ruhrgebiet.


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Kultur als Wirtschaftsförderung

Es geht bei der Planung der Kulturhauptstadt Essen für das Ruhrgebiet 2010 auch um Wirtschaftsförderung, um Industrie- und Kultur-Tourismus. Das ist ein wichtiger Hintergrund des Ansatzes, das "Image" des Ruhrgebietes aufzupolieren. Die großen, im Initiativkreis Ruhrgebiet zusammengeschlossenen Ruhr-Konzerne Eon, Thyssen-Krupp, RWE usw. haben entsprechend wichtigen Einfluss auf das Programm. Sie stellen von Anfang an den Aufsichtsratsvorsitz der Kultur.Ruhr.2010 GmbH und haben zwei weitere Vertreter in diesem Steuerungsgremium. Dies war stets ein Kritikpunkt der Partei Die Linke, zumal sich die Konzernchefs von Anfang an ausbedungen haben, über ihre gesponserten Projekte allein zu entscheiden, auch wenn sie im Gesamtbudget auftauchen und keine Skrupel haben, über die öffentlich geförderten Projekte mitzuentscheiden. Und so gibt es 2010 einerseits aufgestockte Projekte der "Hochkultur", die es ohnehin gibt, wie das Klavierfestival Ruhr und die Ruhrtriennale, andererseits Massenveranstaltungen wie die Sperrung der A 40 für sechs Stunden im Juni nächsten Jahres. Eine solche Sperrung könnte ja noch interessant sein, wenn dadurch auf die riesigen Verkehrsprobleme der Region und den völlig desolaten öffentlichen Nahverkehr hingewiesen würde. Eine Untersuchung hat im letzten Jahr darauf hingewiesen, dass hier mit die größten Defizite der "Metropole Ruhr" im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen liegen. Es soll aber nur ein Fest der Begegnung geben, das Bilder für die Nachrichten produziert - die Tischmiete für 25 Euro.

Das Interkulturelle Melez-Festival droht dagegen stark zusammen gestrichen zu werden, obwohl das Zusammenleben von Menschen aus über 172 Ländern ein wichtiger Punkt der Bewerbung war. 65,5 Mio. Euro umfasst das Budget der Kulturhauptstadt 2010. 48,5 Mio. Euro kommen von Land, Bund, EU, der Stadt Essen und dem RVR. Die restlichen 17 Mio. Euro sind als Sponsorengelder von der Wirtschaft zugesagt. Sicher zugesagt haben die Sponsoren bisher jedoch nur 10 Mio. Euro. Beim Zahlen sind die Unternehmen nicht so kräftig dabei, wie beim Mitmischen.

Allerdings hat die Auswahl von Essen und dem Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt etliche Investitionen in kulturelle Infrastruktur initiiert, so z.B. den Neubau eines Flügels des Folkwang-Museums in Essen oder den Umbau der leeren Fabrikgebäude der Union-Brauerei Dortmund in das Dortmunder U. In diese Projekte fließen zum Teil auch erhebliche Sponsorengelder, allein in das Folkwangmuseum über 50 Mio. Euro von der Krupp-Stiftung. Der hochbetagte Stiftungsvorsitzende Berthold Beitz wurde prompt Ehrenbürger der Stadt Essen.   wof


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Wolfgang Freye: aus der Begrüßung zur Konferenz "Was ist, was bleibt?"

Mit der heutigen Konferenz knüpfen wir an einem Workshop an, den die Fraktion Die Linke im RVR vor zwei Jahren organisiert hat. Wir hatten uns in der Konferenz vor zwei Jahren u.a. mit der Frage auseinandergesetzt, was Kultur eigentlich ist. Die Enquete-Kommission des Bundestages, "Kultur in Deutschland" hat Kultur als "ständige Selbstreflexion der Gesellschaft über ihre Werte und Standards" definiert. Ein linkes Kulturverständnis geht noch einen Schritt weiter und würde unter Kultur alle menschlichen Lebensäußerungen reihen. Und dazu gehören die Lebensäußerungen der herrschenden genauso wie die der einfachen Menschen.

In sozial gespaltenen Gesellschaften, in Klassengesellschaften muss es aus diesem Grunde ganz unterschiedliche Kulturen geben.

In einer Region, in der Menschen aus mehr als 150 verschiedenen Ländern zusammenleben, spielt auch diese Herkunft eine große Rolle bei der Frage, wie sie ihr Leben gestalten, wie sie darüber reflektieren und welche "Vorlieben" sie haben und entwickeln.

Das Verständnis von Kultur, das der Planung für Ruhr 2010 zugrunde liegt, ist unserer Meinung nach viel enger. Kultur wird weitgehend mit Kunst gleichgesetzt, obwohl Kunst nur ein Ausschnitt der Kultur ist, der Lebensäußerungen der Menschen. Das führt dazu, dass eine Beteiligung der Menschen im Ruhrgebiet nicht wirklich organisiert werden kann. Denn es ist ja so: Viele, die es wissen und registriert haben, finden es gut, dass Essen für das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt 2010 geworden ist. Aber eine spürbare Bewegung, wie es sie in Städten wie Görlitz vor der Bewerbung gab, ist absolut nicht zu verspüren.

Die Kulturschaffenden aus der Region, seien es die freie Szene oder die Soziokulturellen Zentren, fühlen sich etwas mehr als ein halbes Jahr vor dem Start von Ruhr 2010 nach wie vor nicht eingebunden. Das ist aus unserer Sicht eins der Hauptprobleme, und wir haben die heutige Konferenz nicht zuletzt deshalb geplant, weil wir erörtern wollen, was man hier noch machen kann, wie eine Unterstützung und Einbindung aller Akteure der Bereiche Kunst und Kultur in der Region möglich ist, nicht nur der Theater, Opernhäuser und Philharmonien.

Als zweites nenne ich die Einrichtung eines beratenden Kreises in Essen für die Planung der Kulturhauptstadt 2010. Bei der Einrichtung dieses Kreises waren zwar die Industrie- und Handelskammer und mehrere Unternehmerverbände berücksichtigt worden, nicht aber der DGB. Der ist auf unseren Vorschlag gerade noch aufgenommen worden, die Kleingärtner aber schon nicht mehr, obwohl sie es wollten.

Wir haben als Fraktion im RVR vor mehreren Monaten einen Antrag gestellt, in dem die Ruhr 2010 GmbH gebeten wird, die geplanten und vorhandenen Eintrittsermäßigen aus sozialen Gründen für die verschiedenen Veranstalter zusammenzustellen und Vorschläge zu entwickeln, wie sie durch einen Kulturpass für Hartz-IV-Empfänger und andere Menschen mit niedrigen Einkommen gebündelt werden können.

Die Idee der Europäischen Kulturhauptstadt und ihre Einführung 1985 waren eher ein linkes Projekt. Durchgesetzt hat sie die damalige griechische Kulturministerin Melina Mercouri, die 1994 leider viel zu früh verstorben ist. Das Anliegen war ein Ansatz zur Entwicklung Europäischer Integration von unten, länderübergreifend. Und dieser Ansatz war nicht schlecht, er hat bei vielen Veranstaltungen dieser Art Früchte getragen.

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Wahlrecht für sogenannte Drittstaatenangehörige! BOCHUM. Die aktive und passive Teilnahme an Wahlen stellt einen Kernbereich politischer Mitbestimmung dar. Die so genannten Drittstaatenangehörigen haben - anders als Bürgerinnen und Bürger aus Mitgliedsländern der EU - nicht das Recht an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Dies ist für uns ein demokratisches Defizit. Vor über einem Jahr hatten sich deshalb FDP und Die Linke im Ausschuss für Migration und Integration dafür stark gemacht, dass auch diese Bürgerinnen und Bürger das kommunale Wahlrecht erhalten. Der Weg bis zu einer gemeinsamen Abstimmung im Rat war lang und wurde gestern endlich erfolgreich abgeschlossen. Eingebunden in die Kampagne der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretung (LAGA) NRW fordert der Bochumer Rat die Landesregierung auf, sich für das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-BürgerInnen einzusetzen. Das ist letztlich nur ein politisches Signal, doch für uns in Anbetracht zunehmender rechter Tendenzen ein sehr wichtiges.
www.dielinke-ratsfraktion-bochum.de


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Protest gegen Räumung der Kirchstr. 16. FREIBURG. Die Linke Liste - Solidarische Stadt protestiert aufs schärfste gegen die Räumung der Kirchstrasse 16 durch ein massives Polizeiaufgebot. Das Ansinnen einer friedlichen Nutzung von seit zwei Jahren freistehenden Wohnraums ist angesichts der grossen Wohnungsnot und hohen Mieten in Freiburg vollkommen verständlich. Die Besetzer des Hauses haben sich sogar öffentlich an den neuen Eigentümer zwecks Gesprächen und Verhandlungen gewandt, Nachbarn und Öffentlichkeit eingeladen in dieses denkmalgeschützte Haus. Seit Jahren fehlen entsprechend der Wohnungspolitik und dem Umgang mit freien Plätzen günstiger Wohnraum und öffentlich befürwortete autonome Wohn- und Lebensmöglichkeiten in dieser Stadt, so Stadträtin der Linken Liste - solidarische Stadt Ulrike Schubert.
http://www.linke-liste-freiburg.De


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Mietgutachten gehört in den Reißwolf. GÖTTINGEN. Die Linke im Kreistag sieht sich in der Beurteilung bei der Auswahl des Unternehmens, das mit der Erstellung eines Gutachtens über die Mietpreise beauftragt wurde, bestätigt. Die Selbstdarstellung der Hamburger Firma f+b GmbH im Internet belegt, dass diese nicht unabhängig, sondern explizit strategisch im Interesse von Eigentümern arbeite. Es sei "schon schlimm genug, dass die Verwaltung schamlos auf Kosten der Ärmsten Jahre braucht, um ein Mietgutachten zu präsentieren. Geradezu zynisch aber ist, dass der Landkreis offenbar ganz bewusst eine sich selbst als parteiisch verstehende Firma beauftragt hat. Das ist unanständig", so Andreas Gemmecke, Abgeordneter der Linken. Dementsprechend "ist die Stichprobenzusammensetzung mit äußerst zweifelhafter Gewichtung gewählt worden und deshalb nicht repräsentativ", ärgert sich Gemmecke. Besonders problematisch sei auch, dass die den Mietpreis bildenden Faktoren wie Lage oder Ausstattung im Gutachten nicht erfasst worden seien. Ebenso unzulässig sei die Gültigkeit des Gutachtens von vier Jahren - schon jetzt habe sich seit dem Zeitraum der Erhebung vor einem Jahr einiges auf dem Mietmarkt getan. "Hiermit wird deutlich, dass das einzige Ziel dieses Gutachtens der Schermann-Verwaltung ist, die gültige Wohngeldtabelle weiter auszuhebeln, anstatt die realistischen, tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu erstatten", erklärte Gemmecke.
http://www.linkspartei-goettingen.de/


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Gaspreise sofort senken! FRANKFURT a.M. Den Gewinn mehr als verdoppelt - die Gaspreise bleiben vorerst gleich. "Was die Mainova hier tut, ist nichts weiter als eine Gewinnmaximierung auf Kosten der Verbraucher", rügt Lothar Reininger, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Römer. "Die Mainova ist ein städtisches Unternehmen und ist zuerst den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet. Diese aber werden durch die Preispolitik noch mehr geschröpft." Schließlich seien die Gaspreise vor der Heizperiode Winter 2008 drastisch erhöht worden, sodass die Bürger extra tief ins Portemonnaie hätten greifen müssen. "Es wäre mehr als gerecht, wenn die Bürger jetzt sofort eine Erleichterung durch die Preissenkung erhielten und nicht erst in drei Monaten." Dass der Energieversorger jetzt vollmundig ankündige, die Gaspreise senken zu wollen, sei nichts als Schönfärberei. Mit einem Dringlichkeitsantrag will die Fraktion in der kommenden Woche bei der Stadtverordnetenversammlung erreichen, dass die Preise sofort gesenkt werden.
http://dielinke-im-roemer.de


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Privatisierungspolitik rächt sich. BRAUNSCHWEIG. "Dramatische Steuereinbrüche zwingen die Stadt zu strikter Haushaltsdisziplin", vermeldete am 15.5. eine Pressemitteilung des Oberbürgermeisters. Der Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion, Udo Sommerfeld, erklärt dazu: "Jetzt rächt sich die Privatisierungspolitik schneller als es ohnehin geschehen wäre. Bisher wurde durch die hohen Gewerbesteuereinnahmen die Abnahme der Privatisierungserlöse verlangsamt. Nun aber werden uns die Einnahmen fehlen, um mit kommunalen Mitteln gegenzusteuern. Deshalb muss eine Rekommunalisierung der privatisierten Betriebe vorgenommen werden und zwar so schnell es geht."
www.linksfraktion-braunschweig.de


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Hindenburgbau umbenennen! STUTTGART. Die Stadträte Hannes Rockenbauch (SÖS) und Ulrike Küstler (Die Linke im Stuttgarter Gemeinderat) haben beantragt, den Hindenburgbau (Geschäftsbau beim Bahnhof) umzubenennen: "Hindenburg hat Hitler den Weg geebnet. Insbesondere durch die 2007 erschienene Biographie 'Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler' von Prof. Dr. Wolfram Pyta, Stuttgart, wird nachgewiesen, dass Hindenburg nicht der senile Greis war, der Hitler am 30. Januar 1933 aus Unkenntnis und gestützt auf falsche Berater die Macht ausgeliefert hat. Er war die Symbolfigur der Feinde der Demokratie und der Weimarer Republik, denn er hielt nichts von Parteien, Parlamentarismus und der "Wählerei". Sein Ziel war die Abschaffung der bürgerlichen Demokratie und eine "neue nationale Gemeinschaft". Hindenburg hat im Stadtbild und auf der Ehrenbürgerliste der Stadt Stuttgart nichts zu suchen! Hindenburg war früher kein Vorbild und ist heute erst recht keins. Seine Ziele und "Lösungen" - insbesondere zur Bewältigung von Wirtschaftskrisen - können für uns keine Perspektive sein, sondern müssen verhindert werden! Wir fordern die Umbenennung des "Hindenburg-Baus" nach einer demokratischen Persönlichkeit. Eine würdige Umbenennung wäre "Carl-von-Ossietzky-Bau", nach dem international renommierten Publizisten und Herausgeber der "Weltbühne", der als Antifaschist, Humanist und Pazifist (Friedensnobelpreis 1935) wegen seines Aufdeckens heimlicher Aufrüstung der Reichswehr schon vor 1933 eine politische Gefängnisstrafe verbüßen musste, anschließend ins KZ überführt wurde und 1938 an den Folgen der KZ-Haft starb. Andere würdige Alternativ-Benennungen wären auch nach Willi Bleicher oder Clara Zetkin.
http://www.domino1.stuttgart.de/grat/pds.nsf


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Steuerschätzung für Köln verheißt Millionenloch. KÖLN. Heute wurde die Steuerschätzung für die Stadt Köln veröffentlicht. Aufgrund der Finanzkrise ist bei den städtischen Einnahmen aus Gewerbe- und Grundsteuer sowie den Anteilen der Einkommens- und Umsatzsteuer ein dramatischer Einbruch zu erwarten. Zusammen mit der an den Landschaftsverband Rheinland zu zahlenden Umlage ergibt sich für 2009 ein Fehlbetrag von ca. 225 Mio. Euro gegenüber dem laufenden Haushalt, für 2010 fehlen über 350 Mio. Euro in der Kalkulation. Die Verwaltung wird zur Finanzausschusssitzung am 29.6. Gegenmaßnahmen vorschlagen. Dazu erklärt der Fraktionsvorsitzende der Linken, Jörg Detjen: "Es geht nicht an, dass Politik und Verwaltung eventuelle Sparmaßnahmen unter sich ausmachen. Die Stadtgesellschaft muss eine breite Debatte darüber führen, welche Prioritäten zukünftig gesetzt werden. Die Linke fordert, dass soziale Standards unbedingt erhalten bleiben müssen!" Detjen weiter: "Auch an Bildung und Ausbildung darf nicht gekürzt werden. Diesen Bereich zu stärken ist eine notwendige Investition in die Zukunft der Stadt. Dagegen möchte Die Linke Leuchtturmprojekte wie den Rheinboulevard auf den Prüfstand stellen. Die veranschlagten Kosten für dieses Bauprojekt sind von anfänglich 6 Mio. Euro über 12 Mio. Euro auf zuletzt 18 Mio. Euro explodiert."
www.linksfraktion-koeln.de


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Deutscher Städtetag: Wert der kommunalen Daseinsvorsorge wieder entdecken. BOCHUM. Der Deutsche Städtetag sieht nach den Worten seines Präsidenten Christian Ude in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise die Chance, "nicht mehr die Kräfte des Marktes zu überschätzen, sondern sich auf die soziale Dimension unserer Marktwirtschaft zu besinnen und den Wert der kommunalen Daseinsvorsorge mit ihren Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger wieder zu entdecken". Der Ruf "Privat vor Staat" sei nach gescheiterten Privatisierungen nahezu verstummt, eine Reihe von Kommunen debattierten bereits über notwendige Rekommunalisierungen. Das sagte Ude in Bochum zum Auftakt der 35. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages. Die Stadtwerke haben sich nach Ansicht des Münchner Oberbürgermeisters in der Krise genauso als Stabilitätsfaktor erwiesen wie die Sparkassen, die mit ihrem überzeugenden Geschäftsmodell während der Bankenkrise sogar zusätzliches Vertrauen gewinnen konnten. "Wir haben die Sparkassen erfolgreich vor den Privatisierungswünschen von Geschäftsbanken geschützt, wir müssen sie jetzt gegen alle Versuche verteidigen, die Krise der Landesbanken auf das Sparkassenwesen abzuwälzen."

Zusammenstellung: ulj

Raute

IG-Metall-Tagung, Bericht

Arbeitspolitik - Probleme aktueller Gewerkschaftspolitik

Unter diesem Titel fand Anfang Mai im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel wieder die alljährliche Arbeitstagung von Gewerkschaftern aus IG Metall und anderen DGB-Gewerkschaften statt. Vier Themen hatten wir uns vorgenommen:

die Wirtschaftskrise und die Politik der Gewerkschaften,
eine Zwischenbilanz der Kampagne "Gemeinsam für ein gutes Leben" der IG Metall,
unter dem Arbeitstitel "Produktivkraft, Beschäftigungsformen und Reproduktion" wollten wir uns mit der weiteren Differenzierung von Beschäftigungsformen und Lohnhierarchien befassen,
abschließend sollte es um neue "industriesoziologische Diskussionen" gehen.


I. Wirtschaftskrise und Gewerkschaften

Die aktuellen Daten der Wirtschaftskrise ist in dieser Zeitschrift schon mehrfach beschrieben worden. Sie waren auch Einstieg der Debatte über die aktuelle Politik der Gewerkschaften, insbesondere im Industriebereich. Sechs Prozent Rückgang der Wirtschaftsleistung, 20 bis 30%-Einbruch im Exportgeschäft, Rückgang der industriellen Produktion je nach Branche zwischen 10 und 30 Prozent im ersten Quartal 2009: diese Zahlen machen deutlich, dass sich die Gewerkschaften derzeit mit Anforderungen an ihr betriebliches Handeln konfrontiert sehen, wie sie weder Betriebsräte und Vertrauensleute, noch die Hauptamtlichen in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Sich über damit verbundene betriebliche Erfahrungen insbesondere in der Metall- und Elektroindustrie auszutauschen, stand am Anfang der Diskussion. Zu Beginn wurde das 7-Punkte-Programm der IG Metall von Herbst 2008 rekapituliert. Seine Forderungen sind weiter aktuell:

1. keine Entlassungen,
2. Leiharbeiter schützen,
3. Unternehmensfinanzierung sichern,
4. Umweltprämie für Autos,
5. ein staatliches Konjunkturprogramm, verbunden mit Konsumschecks für Bezieher geringer Einkommen,
6. Finanzierung der Konjunkturprogramme durch einen "Zukunftsfonds", eine niedrig verzinste, langfristige
   Zwangsanleihe bei Besitzern großer Vermögen,
7. Ausweitung der Mitbestimmung.

Ein auf den ersten Blick erstaunlicher Teil dieser Forderungen ist derzeit durchgesetzt. Die Umweltprämie für PKW beispielsweise sichert derzeit mehrere hunderttausend Jobs in der Automobil- und Zuliefererbranche.

Weitgehend erfolgreich waren die Gewerkschaften bisher auch mit der Forderung, betriebliche Entlassungen zu verhindern. Zwar wurden bundesweit mehrere hunderttausend Leiharbeiter entlassen. Der gleichzeitige Anstieg der Kurzarbeit ist aber Beleg dafür, dass es den Betriebsräten in der großen Mehrheit der Industriebetriebe noch gelingt, den enormen Auftragseinbruch durch Kurzarbeit aufzufangen und so betriebsbedingte Entlassungen der Stammbelegschaft in großen Bereichen der Industrie noch zu verhindern.

Wie lange dieser Erfolg dauert, ist freilich offen. Denn die finanzielle Situation der Unternehmen wird auch durch Kurzarbeit nur teilweise entlastet. Wenn nicht bald neue Aufträge eingehen, wird spätestens im dritten Quartal 2009 ein massiver Personalabbau befürchtet. Das Thema "Unternehmensfinanzierung" schiebt sich deshalb immer mehr in den Vordergrund, zumal auf Bankenseite offenbar Entscheider à la Deutsche-Bank-Chef Ackermann weiter das Sagen haben, die auch in Krisenzeiten eine 25%-Kapitalrendite erwirtschaften wollen. Immer mehr Industriebetriebe melden starken Druck der Banken, Personal abzubauen und Werke zu schließen, wenn sie neue Kredite wollen.

Auch beim Thema "Leiharbeiter schützen" sieht es düster aus. Ohne gesetzliche Änderungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, vor allem durch Wiedereinführung des Synchronisationsverbots und eine Befristung von Leiharbeit, stoßen die betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften derzeit schnell an ihre Grenzen.

Themen für einen "New Deal"?

Das Thema "New Deal" (auf deutsch: "Neue Chancen") schwebt in der aktuellen Diskussion sowohl durch gewerkschaftliche wie parteipolitische Debatten. Was genau damit gemeint ist, bleibt oft unscharf. Ein paar Punkte fielen uns dazu ein. Eine energetische Sanierung von Wohnungen und Immobilien jeder Art etwa ist schon jetzt Thema in fast allen Kommunen. Die Umsetzung des technisch Machbaren auf diesem Gebiet durch Gebäudedämmung und moderne Heizungsanlagen würde sowohl im Baugewerbe wie im Handwerk eine große Zahl Jobs sichern. Zweites Thema ist sicher die Umstrukturierung der Automobilindustrie. Die Branche leidet nicht nur unter der Finanzkrise (Auto-Leasing), sie hat auch große Überkapazitäten und muss zudem technologisch (weg von Benzin und Diesel) und strukturell (Abbau der extremen Exportquote) umsteuern. Dieser Prozess wird Jahre dauern, wie in den 60er und 70er Jahren die Montankrise bei Kohle und Stahl. Hier zukunftsträchtige Strukturen und Produkte zu entwickeln, die bei einer global weiter zunehmenden Urbanisierung die Mobilität von Menschen und Produkten auch in Zukunft gewährleisten, ist ein großes Thema für Industriepolitik.

Ein drittes Großthema ist die Modernisierung der öffentlichen Güter, von Bildung, Gesundheitswesen und anderen öffentlichen Leistungen, ein viertes der Umbau der Energieversorgung und -verteilung. Auf all diesen Feldern können die Gewerkschaften Anstöße geben. Sie brauchen aber Partner in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft. Und politische Parteien, die sich solchen Debatten stellen.

Abbau der Exportorientierung

Ein Thema auch für Gewerkschaften wird aus unserer Sicht in nächster Zeit der "Abbau der Exportorientierung" der deutschen Wirtschaft werden. Dabei geht es weder um eine Begrenzung des Freihandels noch um reaktionäre Abschottung. Die Zeiten des deutschen "Exportweltmeisters aller Klassen" gehen aus ganz anderen Gründen, insbesondere durch den erfreulichen industriellen Aufholprozess der Schwellenländer zu Ende, und es gibt auf Seiten der Gewerkschaften wenig Bereitschaft, sich für eine Verteidigung dieser Position in die Bresche zu werfen.

Ein Abbau der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft bedeutet aber über kurz oder lang auch weniger Jobs in der Industrie, mehr Beschäftigung in Sektoren wie Gesundheit, Pflege, Erziehung und Bildung. Eine Reihe von Instrumenten für eine solche Umsteuerung der Wirtschaft sind bekannt. Ein gesetzlicher Mindestlohn etwa, um die Binnenkaufkraft zu heben, die Anhebung der Regelsätze von Hartz IV, höhere Mindestrenten, eine Begrenzung von Leiharbeit und ein Ende der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Subventionierung von Minijobs sind nur einige Forderungen, die in diese Richtung wirken. Klar ist auch, dass ein Abbau der Exportorientierung nur als längerfristiger gesellschaftlicher Umbauprozess machbar sein wird, der sozial abgefedert werden muss. Ärgerlich ist deshalb, dass auf Seite der Parteien eine Debatte über diesen Umbau anscheinend nicht stattfindet.

Strukturwandel, Friktionskosten: Welcher Sozialstaat?

Jede Wirtschaftskrise bedeutet immer auch eine Beschleunigung strukturellen Wandels. Der Hinweis, dass die skandinavischen Gewerkschaften schon lange eine "größere Gelassenheit beim Wandel" aufbringen, führte uns zu der zweiten Überlegung, dass die Friktionskosten, die Übergangskosten bei sozialem und technologischem Wandel vermutlich ein zweites Großthema der nächsten Zeit sein werden.

Das Thema "Gelassenheit" gegenüber technologischem und sozialem Wandel sieht erheblich anders aus, wenn Beschäftigte in davon betroffenen Unternehmen und Branchen wie in Dänemark sicher sein können, nach einer eventuellen Entlassung drei Jahre lang 80% des alten Nettoeinkommens als Arbeitslosengeld zu erhalten, verbunden mit Qualifizierung und Weiterbildung, als wenn sie, wie hierzulande, fürchten müssen, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Hartz IV und damit dauerhafte Verarmung und Chancenlosigkeit zu fallen. Im Grunde geht es dabei um die Frage, welchen Sozialstaat brauchen wir zur Bewältigung von technologischem und sozialem Wandel, einen Sozialstaat nach skandinavischem Muster oder einen, der mit der Drohung der Verarmung die Menschen zur Arbeitsaufnahme um jeden Preis antreiben will.

Wissenschaft und Arbeitswelt

Drittes Thema: Konversionsdebatte. Am Beispiel der Umgestaltung der Automobilbranche kamen wir auf das Dilemma, dass die Kontakte und der Erfahrungsaustausch zwischen dem System "industrielle Arbeitswelt" und dem System "Wissenschaft" in dieser Gesellschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf ein minimales Maß geschrumpft sind. Die Hochschulen sind durch jahrelange "Elite"-Debatten und damit verbundene Umstellungen ihrer Finanzierungsmodelle und Forschungsanreize der industriellen Arbeitswelt heute weiter entfremdet denn je. Auch unter Studierenden sind gewerkschaftsnahe Positionen eine marginale Randerscheinung. Entsprechend gering ist der Erfahrungsaustausch zwischen der industriellen Arbeitswelt und dem Wissenschaftsbetrieb. Eine Neubelebung dieses Dialogs zwischen Wissenschaftlern auf der einen, Betriebsräten und Gewerkschaften auf der anderen Seite steht noch ganz am Anfang. Entsprechend schwierig ist jede "Konversionsdebatte".

KfW als Industriebank?

Eher lösbar erschien uns dagegen die Lösung der akuten Liquiditätsklemme der Wirtschaft. Wenn die Blockadepolitik der Banken anhält - und es gibt keine Anzeichen einer Änderung der Kreditpolitik der Banken - dann sollten Bund und Länder der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und den Landesförderbanken erlauben, für einen begrenzten Zeitraum - vielleicht zwei, drei Jahre - ihre Kredite ohne den Umweg über die Hausbanken direkt an die Wirtschaft zu vergeben. Das wäre zwar ein Eingriff in den Wettbewerb und könnte den Protest der Privatbanken und der EU-Kommission nach sich ziehen. Aus unserer Sicht ist aber das Thema Wettbewerbsgleichheit zwischen privaten und öffentlichen Banken in der aktuellen Situation nachrangig gegenüber der Sicherung von Beschäftigung.


II. "Gemeinsam für ein gutes Leben"?

Eher kontrovers ging es bei der Zwischenbilanz der Kampagne der IG Metall "Gemeinsam für ein gutes Leben" zu. Für Nicht-IG-Metall-Mitglieder: Die Kampagne "Gemeinsam für ein gutes Leben" ist vom Vorstand der IG Metall im März 2009 gestartet worden. Im April lag der Mitgliederzeitung ein Fragebogen bei, der seitdem - begleitet von Werbematerial jeder Art - in mehreren Millionen Exemplaren in den Betrieben verteilt worden ist. Mit ca. 20 Fragen und der Möglichkeit, diese in einer Skala von fünf Stufen zwischen "ganz wichtig" und "interessiert mich nicht" einzustufen, wurden damit die Beschäftigten nach ihrer Meinung zu aktuellen Themen befragt. Angefangen von "wie wichtig ist mir mein Arbeitsplatz", "komme ich gesund bis zur Rente", "ist die Arbeit eintönig und belastend", "ist die Bezahlung fair" bis hin zu Fragen nach sozialpolitischen Themen wie Rente mit 67, wie soll die Gesundheitssicherung sein, wie wichtig ist mir Bildung, die Familie usw. soll damit ein Meinungsbild erhoben werden, bis Anfang Juli ausgewertet und dann der Politik präsentiert werden. Die Kampagne ist damit eine, wenn man so will, modifizierte Form der "Arbeitnehmerbefragung", die die IG Metall im Vorfeld der letzten Bundestagswahl organisierte, und eine Abkehr von den Wahlprüfsteinen, wie sie in der Vergangenheit von DGB und Einzelgewerkschaften erstellt wurden.

Die Wahrnehmung dieser Kampagne auf unserer Tagung war kontrovers. Die Spanne der Meinungen reichte von "rausgeschmissenes Geld" und "dilettantisch zusammengestellte Suggestivfragen, auf deren Basis keinerlei ernsthafte Auswertung erfolgen kann", bis hin zur Verteidigung der Kampagne als ein Versuch, im Wahljahr Druck auf die Politik zu machen, und als Einstieg in eine nützliche Wertedebatte.

Ein Aufsatz von Martin Allespach, Dieter Staadt und Lothar Wentzel, Beschäftigte im Funktionsbereich Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim Vorstand der IG Metall, in der Zeitschrift "Sozialismus" (3/2009), versucht letzteres, indem er Bezüge aufbaut zwischen der Kampagne der IG Metall auf der einen Seite, Thesen der US-amerikanischen Sozialphilosophin Martha Nussbaum zu Fairness und Gerechtigkeit und Überlegungen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen zu einer "Ökonomie für den Menschen" auf der anderen Seite. Den Kritikern der Kampagne zugestanden wurde, dass solche Bezüge in der IG Metall nur ganz am Rande auftauchen. Was "Fairness" und "Gerechtigkeit" in der Arbeitswelt heute bedeutet, ist nicht nur in der IG Metall eine umstrittene Frage.


III. Lohnhierarchie, Produktivkraft, Reproduktion

Unter diesem Titel hatten wir ursprünglich auch die Auswirkungen des neuen Entgeltrahmentarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie und des neuen Tarifvertrags für die öffentlichen Dienste auf die jeweiligen Lohnhierarchien diskutieren wollen. In der Metall- und Elektroindustrie gibt es aber bisher noch kaum systematische Auswertungen des neuen Entgeltsystems, dessen Einführung auch erst in diesem Jahr abgeschlossen sein soll, so dass diese Diskussion ausfiel.

Auf europäischer Ebene ist die Situation ebenfalls ziemlich unübersichtlich. Es gibt wenig systematische Studien, und bei den wenigen nützlichen Studien bleiben am Ende oft mehr Fragen als Antworten. Empfehlenswert sind hierzu die regelmäßigen Erhebungen der sog. "Dublin Foundation" (http://www.eurofound.europa.eu), einer 1975 von der EU eingerichteten Stiftung in Irland, die regelmäßig Untersuchungen zur Entwicklung der Reallöhne in Europa, zur Beschäftigungsentwicklung wie auch zum Anwachsen prekärer Beschäftigungsformen in den 27 Mitgliedsländern durchführt und publiziert. Die meisten Studien sind auch im Internet unter der oben genannten Adresse zu finden und kostenlos herunter zu laden.

Mit mehreren aktuellen Studien (u.a. zum Vordringen von Zeitarbeit in der EU, zur Entwicklung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit und der gesetzlichen Höchstarbeitszeit in den einzelnen Mitgliedsländern, zur Lohnentwicklung und Tendenzen in den Tarifvertragsstrukturen sowie zur Entwicklung der Mindestlöhne in Europa) dieser Stiftung und mit Publikationen des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB befassten wir uns auf der Tagung. Wer mehr zu den Studien der Dublin-Foundation erfahren will, sei auf die oben genannte Homepage verwiesen.


IV. Industriesoziologische Diskussion, Arbeitspolitik

Unter dem Thema "Arbeitspolitik als gewerkschaftliches Gestaltungsfeld" befassten wir uns abschließend mit dem Thema Umgestaltung der Arbeitswelt und wie die Gewerkschaften darauf reagieren. In zahlreichen Betrieben der Industrie halten seit einiger Zeit neue Produktionsmodelle ihren Einzug, die mit einem rapiden Abbau von Gruppenarbeit und anderen Formen von "angereicherter Arbeit" verbunden sind.

"'Menschliche Arbeitswelten' waren gestern - an den Fließbändern hat eine stille Revolution begonnen - vorwärts in die Vergangenheit stupider Handgriffe", titelte beispielsweise der "Spiegel" am 11. August 2008 einen Bericht über das "neue Taktgefühl" in der Autoindustrie. Geschildert wurde die Rückkehr zu Über-Kopf-Arbeit, zu kurzen, in kleinste Einheiten zerlegte Takte mit wenigen, einseitigen Handgriffen. In der S-Klassen-Fertigung bei Daimler in Sindelfingen wurde mit dem neuen "Mercedes-Benz-Produktionssystem" binnen zwei Jahren 20 Prozent mehr Effizienz erzielt, schwärmt das Management. Bis zur Rente ist eine so organisierte, einseitige und schwere Arbeit nicht durchzuhalten.

"Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten", zitierte der Spiegel damals den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von Daimler, Dieter Klemm. Abgeschaut sind die neuen Verfahren vom japanischen Automobilkonzern Toyota. Immerhin: Bei Toyota müssen die Arbeiter mitunter ein ganzes Jahr lang den gleichen Takt ausführen, ein Jahr lang Airbags montieren beispielsweise. Bei Daimler können sie nach einer Stunde wechseln, montieren dann Sicherheitsgurte statt Airbags.

Auch bei Siemens halten solche Systeme - hier als "Siemens Produktionssystem" bezeichnet, konzernweit Einzug. Bei einer Werksführung schwärmte in Berlin kürzlich die Werksleitung mit ihren Erfolgen: ein Drittel weniger Fläche nötig, der Bestand an Zwischen- und Vorprodukten ist auf weniger als die Hälfte gefallen, die Zeitspanne zwischen Bestelleingang und Auslieferung des fertigen Produkts ist ebenfalls mehr als halbiert. Statt in Linie wird nun in "Zellen" gefertigt. Auch hier wechseln die Beschäftigten noch - von einer "Zelle" zur nächsten, je nachdem, wie die Aufträge kommen. Aber gerade um diese "Wechsel", die damit erforderliche Qualifikation und das darauf basierende Entgelt geht auch der Kampf.

Diskutiert wurde auf unserer Tagung, dass die derzeit in der industriesoziologischen Diskussion vorherrschenden Schlagworte wie "Vermarktlichung" und "Subjektivierung der Arbeit" solche Prozesse nicht wirklich erfassen, unpraktisch sind gerade auch für die Frage, wie gewerkschaftliche Arbeitspolitik, wie Betriebsräte, Vertrauensleute und Hauptamtliche darauf reagieren sollen. Widersprüchlich ist auch die innergewerkschaftliche Rhetorik, die seit Jahren verkündet, "mehr geht nicht" an Belastung, während vielfach die gleichen Betriebsräte, die das verkünden, im nächsten Augenblick zur Vermeidung von Entlassungen oder Personalabbau einer höheren Belastung am Arbeitsplatz zustimmen.

Vertreten wurde in der Diskussion, dass ein Neuanlauf bei der Arbeitsgestaltung nötig ist, nicht eine schlichte Wiederauflage alter Projekte zur "Humanisierung der Arbeit". Ansatzpunkt dafür sollte eine intensive Debatte über die angeblich "ganzheitlichen Produktionssysteme" sein, die heute unter dem Stichwort "Toyotismus" in vielen Fabriken Einzug halten. Die Arbeitgeberverbände propagieren offen die Rückkehr zu kurztaktiker, einseitiger Montagearbeit. Die gewerkschaftliche Debatte ist demgegenüber eher unterentwickelt.

Gebraucht wird eine fundierte Kritik der aktuellen Arbeitsorganisation, eine normative Betrachtung, wie gesunde Arbeit aussehen muss sowohl im Fertigungsbereich wie auch in der Verwaltung, in Entwicklungs- und Ingenieursbereichen, wo die Rate der "Ausgebrannten" stetig steigt. Dazu bedarf es aber einer Infrastruktur von konkreten Personen, von betrieblichen Fachleuten, Betriebsräten und Vertrauensleuten auf der einen Seite und Wissenschaftlern auf der anderen. Womit wir wieder bei dem eingangs geschilderten Problem waren, dass es genau diese Infrastruktur, dieses soziale Netzwerk zwischen Personen aus der Arbeitswelt und Personen aus der Wissenschaftswelt derzeit kaum gibt. Immerhin: Es gibt nicht gering ausgestattete EU-Programme, die eine solche Zusammenarbeit von Hochschulen mit der Arbeitswelt wieder stärker fördern und begünstigen sollen. Insofern endete diese Debatte nicht ganz hoffnungslos. Die nächste Arbeitstagung soll im Frühjahr 2010 stattfinden.

rül, brr, rog

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WIRTSCHAFTSPRESSE

EU-Parlament beschließt neue Arbeitszeiten für selbstständige LKW-Fahrer. FAZ, Mi. 6.5. In Deutschland haben nach Einschätzung des Bundesverbands Güterkraftverkehr und Logistik 28 Prozent der 700000 Fahrer nur einen Lastwagen. Auch selbstständige LKW-Fahrer müssen sich nach dem neuesten EU-Parlaments-Beschluss künftig an die Arbeitszeitregeln für Arbeitnehmer halten und dürfen nicht länger als 60 Stunden in der Woche und durchschnittlich nicht länger als 48 Stunden je Woche binnen 4 Monaten arbeiten. Nachts liegt die Grenze bei 10 Stunden. Bisher galten für Selbstständige nur die gesetzlichen Vorgaben für Lenk- und Ruhezeiten (nicht länger als 56 Stunden in der Woche).


EU-Arbeitgeber fordern weitere Marktöffnung. FAZ, Do. 7.5. Der Arbeitgeberverband "Business Europe" legt einen 12-Punkte-Plan vor, mit dem die Wirtschaftskrise gelindert werden soll. Danach ließen sich 3,5 Millionen Arbeitsplätze erhalten. Business Europe tritt insbesondere für flexible Arbeitsmärkte und einen besseren Zugang von Unternehmen zu Finanzierungsquellen ein. Allein 2 Mio. Jobs könnten bis 2015 entstehen, wenn die Telekommunikationsmärkte weiter geöffnet und die Breitbandnetze weiter entwickelt würden. Die Anwendung der EU-Vorschriften zu grenzüberschreitenden Dienstleistungen sorgten für 600.000 Stellen.


Deutsch-Emiratische Industrie- und Handelskammer gegründet. FAZ, Mo., 11.5. Als kraftvolles Zeichen gegen den Protektionismus in Krisenzeiten hat Bundeswirtschaftsminister K.-T. zu Guttenberg die Gründung der bilateralen Deutsch-Emiratischen IHK bezeichnet. Die Vereinigten Emirate sind der wichtigste Markt der deutschen Wirtschaft in Nordafrika und Nahost. Deutsche Unternehmen seien zunehmend in den großen Infrastrukturprojekten der Emirate dabei, besonders als Weltmarktführer im "intelligenten Bauen".


Wirtschaftsverbände rügen Gesetzesentwurf gegen Austrocknen von Steueroasen. FAZ, Sa., 23.5. Der Bundesverband privater Banken rügt mit sieben weiteren Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft den Entwurf: Die Vorschläge "verletzen in bedenklicher Weise rechtsstaatliche Grundsätze". Sie nähmen jede Schwierigkeit bei der Amtshilfe mit anderen Staaten zum Anlass, unbescholtene Steuerpflichtige in weitreichendem Umfang zu sanktionieren. Auch sei bedenklich, dass Druck auf Staaten ausgeübt werden, indem einseitig Regeln geschaffen würden, die im Widerspruch zum bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen stünden.

Zusammenstellung: rst

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

Evangelischer Kirchentag in Bremen

Auf der Suche nach dem verlorenen "Kick"

Vom 20. bis 24. zum Mai 2009 fand in Bremen der 32. Deutsche Evangelische Kirchentag statt. Der Kirchentag präsentiert sich offiziell als "Dialog und Begegnung, Forum und Fest für jede und jeden". Was läuft da eigentlich ab?


"Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus!", das wusste bereits Goethes Faust. Noch besser weiß das die Kirche. Auf dem fünftägigen "Fest des Glaubens", wie der Evangelische Kirchentag sich gerne nennt, gab es an die 3000 Veranstaltungen. Vom meditativen Gottesdienst im Kerzenmeer mit lichten Liedern und besinnlicher Stille, über das "Abendmahl bei der Polizei als die Suche nach Gott in der Ermittlungsarbeit" bis zum Infostand von Verdi war alles zu haben. Wem die religiöse Überfütterung noch nicht genug war, der konnte sich von der Hannoveraner Landesbischöfin Käßmann die Spiritualität des Religiösen als "Wiederentdeckung der poetischen Sprache des Glaubens" erklären lassen und - so abgefüllt, ließ er sich als Brechmittel vom Innenminister Schäuble persönlich in der Bibelstunde die Heilige Schrift auslegen. Und das immer zusammen mit tausenden Menschen in gefüllten Hallen. Doch unser Zynismus erklärt nichts.


Sechzig Jahre Kirchentag

Der Kirchentag ist mit seinem "Markt der Möglichkeiten" so angelegt, dass die unterschiedlichsten Milieus innerhalb der evangelischen Kirche mit ihren spezifischen Mentalitäten sich so darstellen dürfen, dass alle "ihren" Kirchentag begehen können. So begegneten sie uns alle: Die kritischen, sozial engagierten Alternativen, die Frauenhilfen, die Posaunisten; aber auch die Ökofreaks und die ganz bibeltreuen und liturgisch bewegten Kanzelschwalben.

Und so ist der Deutsche Evangelische Kirchentag, der in der Regel alle zwei Jahre stattfindet, in diesem Jahr sechzig Jahre alt geworden.

Dessen "Erfinder" war Reinold von Thadden-Trieglaff (1891-1976), Theologe und Jurist, Spross eines prominenten und religiös erweckten Adelsgeschlechts aus Pommern. Der Historiker Dirk Palm beschreibt dessen persönliche Motivation zur Gründung des Kirchentages 1949, es sei "Thadden darum gegangen, nach der Vertreibung aus seiner pommerschen Heimat einen Platz in westdeutschen Kirchenkreisen zu finden, der ihm die Unabhängigkeit sicherte, die der ehemalige Gutsbesitzer gewohnt war." Immerhin hatte Thadden schon 1935 die volksmissionarisch ambitionierten "Evangelischen Wochen" ins Leben gerufen. Ist es hier berichtenswert, dass sein Bruder 1964 die NPD gegründet hat?

In seinem Aufruf zum ersten Kirchentag schreibt Thadden-Trieglaff: "Intellektuelle oder Arbeiter, ob Bürger oder Bauer, ob Schöngeist, Nazi oder Kommunist, wir alle sind nicht mehr dieselben, die wir früher waren, sondern wir sind weithin Leute, die gänzlich aus der Bahn geworfen wurden, die an ihren früheren Idealen Schiffbruch erlitten, die um ihre politische Hoffnung gebracht wurden und die jetzt die letzten Grundlagen ihres Lebens in Frage gestellt sehen. ... Wenn das große Vacuum, das 1945 in der Seele des jungen Deutschen entstanden war und heute noch weiterhin besteht, nicht vom christlichen Glauben ausgefüllt wird, dann ist gar nicht abzusehen, wohin die geistige und dann schließlich auch soziale und politische Entwicklung noch führen könnte."

In diesem Sinne versuchte der Kirchentag immer die großen gesellschaftlichen Themen sich zu eigen zu machen: In den fünfziger und sechziger Jahren das Thema der verlorenen Deutschen Einheit "Wir sind doch Brüder!", zur Zeit der Studentenbewegung 1969 das Motto "Hunger nach Gerechtigkeit!" Und heute, etwas verhaltener: "Mensch, wo bist Du?"

Die Evangelischen Kirchentage waren immer Orte theologischer und politischer Auseinandersetzungen. Sie bieten Politikern und Parteien ein Forum, sind Ereignisse, die weit über den kirchlichen Rahmen hinaus wahrgenommen werden. Ihre Beachtung in den Medien ist nicht gering; ihre innerkirchlichen und gesellschaftlichen Folgewirkungen so, dass wer in dieser Republik etwas werden will, tunlichst auf dem Kirchentag sich blicken lassen muss.

Im Umfeld der Kirchentage wurden nicht nur kirchliche Karrieren, z.B. die der evangelischen Bischöfe Wolfgang Huber und Margot Käßmann, sondern durchaus auch politische Karrieren geschmiedet: Huber war Präsident, Käßmann Generalsekretärin des Kirchentages, und für beide stellte das Engagement im Kirchentag einen Schritt ins Bischofsamt dar. Präsidenten des Evangelischen Kirchentages waren beispielsweise Politiker wie Richard von Weizsäcker (Regierender Bürgermeister von Berlin, später Bundespräsident), Klaus von Bismarck (ARD-Vorsitzender), Helmut Simon (Richter am Bundesverfassungsgericht), Erhard Eppler (Bundesminister), Ernst Benda (Präsident des Bundesverfassungsgerichts).

Auf dem Bremer Kirchentag war für die Masse der TeilnehmerInnen offensichtlich vor allem die Tatsache selbst, dass prominente Politiker zu ihnen sprechen, von großer Bedeutung. Diese haben "es denn sich auch nicht nehmen lassen" nach Bremen zu kommen: ob Köhler, Merkel, Müntefering oder Steinmeier. Offenbar hatte das Publikum bei den Kirchentagsdiskussionen weniger den Anspruch, kritisch diese Politiker zur Rede zu stellen oder von ihnen neue, interessante Antworten zu erfragen; ihnen lag vielmehr am Zuspruch durch die Anwesenheit der "Staatenlenker", die in ihren Beiträgen versuchten rüberzubringen, dass sie sich ähnlich große Sorgen machen über das krisenhafte Weltgeschehen, so wie die BesucherInnen des Kirchentages auch. Den Medien fiel auf, dass immer und bei allen Politikern gleich viel geklatscht wurde.

Da war die einzige kurze Unterbrechung der feierlichen Harmonie der Bild-Zeitung bereits eine Meldung wert: Tumult auf dem evangelischen Kirchentag! Eine Gruppe Vermummter hat zu Beginn einer Veranstaltung mit der Kandidatin zum Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, Plakate entrollt und Flugblätter in den Veranstaltungssaal geworfen. Auf dem Flugblatt kritisierte die Gruppe eine "aktive Beteiligung bei der Verarmungspolitik" der evangelischen Kirche. Auf dem Plakat stand: "Rücken krumm, Taschen leer - EKD, wir danken Dir." - Ein Hinweis auf die zahlreichen Ein-Euro-Jobs in der Diakonie. Die DemonstrantInnen schafften es nicht, dies zum Thema zu machen.


Die neue Religiosität

Als "Geist" über allen Veranstaltungen schwebte in Bremen die "neue Religiosität": Die Menschen wollten sich in ihrer Sehnsucht nach Harmonie in den Armen liegen. Die Hunderttausend Dauerteilnehmer konnten offensichtlich nicht genug davon kriegen: "Es ist einfach ein tolles Erlebnis, wenn so viele Christen zusammenkommen". "Gott ist cool!". "Der Kirchentag macht einfach süchtig". "Ich freue mich darauf, mit so vielen Menschen den Glauben zu feiern - das ist schon eine tolle Festivalstimmung". So beschreiben sie in zahllosen Berichten ihre Erfahrungen in Bremen. Ganz praktisch boten hierzu umarmungswillige Jugendliche mit ihren Schildern "Free Hugs" ("Umarmungen umsonst!") spontane Körpernähe an. Kaum war ihnen auszuweichen im Gedränge. Nicht gesellschaftliche Widersprüche und Protest gegen Krieg und Ausbeutung liegt ihnen am Herzen, sondern das Sehnen nach dem schönen Erlebnis, das die annehmlichen Seiten des Lebens abschöpft und die schmerzvollen eliminiert.

Schlaue soziologisch ausgebildete Kirchenfunktionäre nehmen das aufgeregt zur Kenntnis und freuen sich: "Neue religiöse Bewegungen beziehen neben Intellekt und Willen Emotion und Körper in den Frömmigkeitsvollzug ein. Sie verheißen, dass Gott mit Leib und Seele erfahren werden kann." Nüchtern gesprochen: Hoher Erlebniswert, darauf kommt es an. Die Möglichkeit, Nichtalltägliches zu erfahren, fasziniert: Der Kirchentag als spirituelles Event, das viele für sich ersehnen. Auf der Suche nach dem verlorenen "Kick", auch das wissen die Soziologen, braucht man aber immer stärkere Dosen, um dem Katzenjammer am Tag danach zu entgehen. "Spiritualität", das ist die Antwort vieler religiöser und zunehmend fundamentalistischer Gruppen. Sie wird zur religiösen Variante der Spaßgesellschaft, für eine Innenorientierung des schönen Lebens. Die eher knochentrocken etablierten Kirchen möchten davon auch etwas abbekommen.

Wie sehr dieses spirituelle Spaßdenken unreflektiert um sich gegriffen hat, macht folgende Beobachtung deutlich: Auch der "Bremer Atheisten- und Freidenker-Union" fiel nichts Besseres ein, als zu einem "Heidenspaß-Festival" als Alternative zum Kirchentags-Spaß-Spektakel einzuladen. Rund 200 Leute hat das hinter dem Ofen hervorgelockt.

So wundert am Ende nicht, dass ein Thema auf diesem Kirchentag praktisch keine Rolle gespielt hat: Die Frage von Krieg und Frieden. Ob Helmut Schmidt, Merkel oder Steinmeier: Keine laute kritische Frage an diejenigen, die die Bundeswehr weltweit einsetzen. Die Demonstration zu Afghanistan war, gemessen an den anderen Teilnehmerzahlen, eher winzig.

Karl-Helmut Lechner


Quellen:
Dirk Palm, "Wir sind doch Brüder!": Der evangelische Kirchentag und die deutsche Frage 1949-1961; Göttingen, 2002.
Peter Zimmerling, "Evangelische Spiritualität", Wurzeln und Zugänge; Göttingen, 2003

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Bremer Stadtmusikanten, geschmückt mit dem Kirchentagslogo: "Mensch, wo bist Du?"
- Körpernahe Spiritualität in der Umarmung: "Powered by Jesus"

Raute

Broschüre zum Israel-Palästina-Konflikt

Sag mir, wo Du stehst...

Der Kurt-Eisner-Verein, Kooperationspartner der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bayern, veröffentlichte in seiner Studienreihe "Zivilgesellschaftliche Bewegungen - Institutionalisierte Politik", das Heft Nummer 10 mit dem Titel: "Der Israel/Palästina-Konflikt als Thema der politischen Bildung." Wir dokumentieren im folgenden das Vorwort. Das Heft ist zu beziehen beim Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung in Bayern e.V., Westendstr. 19, 80339 München. Die Hefte der "Studienreihe" stehen auch im Internet unter www.kurt-eisner-verein.de/ (Projekt Theorie, Hefte Studienreihe) zur Verfügung.


Der Kurt-Eisner-Verein hielt am 18. April 2009 im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in München eine Arbeitstagung über den "Israel/Palästina-Konflikt als Thema der politischen Bildung" ab. Mit dieser Veranstaltung versuchte er, sich einem komplexen und hoch emotionalisierten Themenfeld zu nähern. Es gibt nur wenige Themen innerhalb der linken Öffentlichkeit, über die so kontrovers und polemisch mit einer so hohen Intoleranz gegenüber dem jeweiligen anderen Standpunkt diskutiert wird. Von den "Antideutschen", die von ihrem Antifaschismus-Verständnis eine fast unbedingte Solidarität mit Israel einfordern, zieht sich das Band der Meinungsvielfalt bis zu jenen "antiimperialistischen Gruppen", die den Kampf von Hamas und Hisbollah als Auseinandersetzung mit den imperialistischen Mächten einstufen und die Israelis als europäische Kolonialisten wahrnehmen.

Um einen Beitrag zur Deeskalation dieser heftig geführten Debatte zu leisten, wollte der Kurt-Eisner-Verein zu einer Begegnung der verschiedenen Standpunkte in einer sachlichen Atmosphäre einladen, in der auf Zensur der schriftlichen und mündlichen Beiträge verzichtet werden sollte, solange diese keinen strafrechtlichen Tatbestand erfüllten (z. B. Volksverhetzung) und nicht gegen die "guten Sitten" verstießen. Allerdings sollte es von vornherein nicht darum gehen, zu beurteilen, auf welcher Seite die größere moralische Schuld lastet. Die deutsche Öffentlichkeit ist aufgrund der Geschichte dieses Landes ohnehin nicht der geeignete moralische Richter in dieser Frage.

Statt einer moralischen Sichtweise sollte vielmehr eine analytische Herangehensweise im Vordergrund stehen. Nicht die faktische Ebene, also die Ereignisgeschichte des Nahostkonflikts, sollte noch einmal dargestellt, sondern die Sichtweise der deutschen Linken und ihrer Wandlungen heraus gearbeitet werden.

Die Veranstaltung, an der etwa 20 Personen teilnahmen, gliederte sich in zwei Teile. In den ersten zwei Stunden wurden die Referate von Harald Pätzolt, Martin Fochler, Johannes Kakoures, Juliane Gilles und Nicole Gohlke als Block vorgetragen. In den folgenden zwei Stunden fand eine lebhafte Diskussion statt. Sie beschränkte sich nicht nur auf das ursprüngliche Thema, sondern streifte auch die Ereignisgeschichte des Nahost-Konflikts. Die Veranstalter boten den Diskutanten an, schriftliche Diskussionsbeiträge innerhalb einer Woche einzureichen, die zusammen mit den Referaten veröffentlicht würden. Dieses Angebot wurde von Roger Lindner, Jörg Egerer und Bernhard Schütz wahrgenommen. Auch dieser Verschriftlichungsprozess trägt zu einer Deeskalation der Auseinandersetzung bei.

Harald Pätzolt, Mitkoordinator des Gesprächskreises "Parteien und soziale Bewegungen" der rls und Mitarbeiter in der Grundsatzabteilung des Parteivorstands, der dankenswerterweise eigens aus Berlin zu unserer Tagung angereist war, stellte die "Schwierigkeiten der deutschen Linken im Umgang mit dem Israel-Palästina-Konflikt" dar. Er brandmarkte die israelische Politik gegenüber den Palästinensern als menschenverachtend, inhuman und unmoralisch. Deshalb sei eine Kritik vonseiten der Linken legitim. Versuche, diese Kritik mit der Einstufung als "antisemitisch" und "antizionistisch" zu delegitimieren, müssten deutlich zurückgewiesen werden. Allerdings müsse auch mitreflektiert werden, dass in der deutschen Bevölkerung antisemitische Einstellungen weit verbreitet seien. Diese habe es auch in der DDR gegeben, auch wenn dies dem antifaschistischen Gründungsmythos widerspreche. Problematisch sei eine symbolische Politik von Repräsentanten der Partei, wenn sie mit Vereinfachungen, Polarisierungen und Stereotypen arbeite. Vielmehr sei es wichtig, der Komplexität des Konflikts in Raum und Zeit gerecht zu werden und sich aus der Sichtweise des Konflikts als Episode des einen großen historischen Weltkonflikts zu verabschieden. Hilfreicher seien die Unterstützung für die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit gegenüber der einseitig proisraelischen Berichterstattung der deutschen Massenmedien, das Engagement in Projekten, in denen israelische und palästinensische linke Gruppierungen zusammenarbeiteten, und humanitäre Hilfsaktionen für die Menschen in Gaza und im Westjordanland.

Juliane Gilles behandelt in ihrem Beitrag die Auseinandersetzung, die innerhalb der Fraktion der Linken um die Verabschiedung einer parteiübergreifenden Erklärung im Bundestag gegen den Antisemitismus anlässlich des 70. Jahrestages der Reichspogromnacht geführt wurde. Die LINKE wurde von dieser gemeinsamen Erklärung aufgrund des Druckes der Unionsfraktion ausgeschlossen. Sie verabschiedete eine wortgleiche Erklärung, der allerdings 11 Abgeordnete der Fraktion nicht zustimmten. Diese behaupteten, dass die Erklärung jeden Versuch einer Kritik an der Politik von NATO, USA und Israel mit dem Hinweis auf den in der Bevölkerung weit verbreiteten Antiamerikanismus und Antisemitismus für illegitim erkläre. Nach Ansicht von Gilles ist diese Auseinandersetzung ohne Kenntnis des sehr speziellen Kontextwissens innerhalb der Linken für Außenstehende ziemlich unverständlich.

Martin Fochler skizzierte in seinem Beitrag, wie sich die Haltung der westdeutschen linken Öffentlichkeit gegenüber dem Staat Israel innerhalb der letzten 60 Jahre geändert hat. Anfangs wurde die Staatsgründung Israels von dieser Seite her wohlwollend beurteilt. Mit der Suez-Krise von 1956 und dem Bündnis Israels mit den Kolonialmächten setzte ein Paradigmenwechsel ein, der sich mit dem 6-Tage-Krieg im Jahre 1967 deutlich verstärkte. Das Bild Israels wandelte sich von einem Vorposten der Demokratie zu einem Vertreter des Imperialismus und Kolonialismus. Die Linke solidarisierte sich mit den palästinensischen Befreiungsbewegungen und hoffte auf das Endziel eines vereinigten sozialistischen Staates. Diese Vision musste aber in den folgenden Jahrzehnten aufgegeben werden, nachdem der "sozialistische Weg" seine Anziehungskraft auf die arabische Welt verloren und der politische Islam den Sozialismus als herrschende Widerstandsideologie gegenüber der westlichen Welt ersetzt hatte. Damit hatte sich die Sichtweise der palästinensischen Bewegung als Teil einer weltweiten Front im Kampf der Dritten Welt gegen den Imperialismus und für eine sozialistische Perspektive nach Meinung Fochlers erledigt.

Demgegenüber warb Nicole Gohlke für einen neuen internationalistischen Blickwinkel auf den Konflikt in einer globalisierten Welt. Dieser Internationalismus konnte aber nur nach dem Scheitern der realsozialistischen Staaten neu begründet werden. Sie wies mit Recht darauf hin, dass in eine Urteilsfindung, die zur Legitimierung einer politischen Praxis gedacht ist, nicht nur nüchterne Analyse, sondern auch Empathie mit den Betroffenen eingehen muss. Diese Empathie gilt aber nach den Beiträgen von Roger Lindner und Jörg Egerer nicht nur für die in einem asymmetrischen Konfliktverhältnis schwächere Seite, sondern Leid findet sich auf beiden Seiten. Eine empathische Haltung zu Befreiungsbewegungen, die sich zum Anwalt der schwächeren Seite mache, versperre auch den Blick auf deren Verfasstheit, Ziele und Methoden. Bernhard Schütz mahnt in seinem Beitrag eine präzise Fachsprache zum Nahost-Konflikt an. Er kritisiert die unreflektierte Verwendung des Begriffes "Antisemitismus", die Subsumierung von Juden, jüdischen Siedlern, israelischer Außenpolitik und israelischer Regierung unter den Begriff "Israel" und stellt in Bezug auf das Verhältnis Israels zur Bundesrepublik Deutschland in Frage, ob Tätersein und Opfersein einfach vererbt werden könne.

Die Diskutanten der Arbeitstagung waren sich weitgehend einig, eine gleichberechtigte und faire Zwei-Staaten-Lösung zu favorisieren, wenn auch Nicole Gohlke Zweifel an der israelischen Haltung aufgrund des expansionistischen Konzeptes des Zionismus vorbrachte.

Andererseits zeigte Johannes Kakoures in seinem Beitrag in einer kurzen Geschichte des Völkerrechtes auf, wie problematisch es sei, die territoriale Integrität eines nun einmal existierenden Staates in Frage zu stellen. Er verdeutlichte, dass die territoriale Integrität, eine historische Errungenschaft sei, die nach der Erfahrung grausamer Bürgerkriege und Vertreibungswellen die einzig fassbare Kategorie für eine Eingrenzung staatlicher Aggression darstelle und nicht leichtfertig in Frage gestellt werden sollte, auch wenn sie manchmal im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht eines Volkes stünde.

Otto Feldbauer warnt in seinem Nachwort vor einer Gleichsetzung von "Antisemitismus" als einem rassistischen Kriterium und "Antizionismus" als einer politischer Ideologie. Er weist darauf hin, dass es innerhalb des "Zionismus" selbst viele unterschiedliche Meinungen gegeben habe. Nach seiner Meinung ist der Begriff "Imperialismus" auch heutzutage ein durchaus brauchbares Konzept. Besonders aktuell sei ein "Kulturimperialismus" mit dem auf die außereuropäische Welt Druck ausgeübt werde, die liberale Werteordnung der westlichen Welt wie z. B. Demokratie zu übernehmen. Für den Nahostkonflikt seien aber nicht nur die imperialistischen Länder verantwortlich, sondern auch die regionalen Mächte wie Israel und Iran, deren Herrschaftsanspruch auf diesen Raum sich unversöhnlich gegenüberstehe.

Mehrere Autoren sahen in der Zusammenarbeit mit friedenswilligen linken arabischen und israelischen Gruppierungen eine Möglichkeit für die Linke, deeskalierend auf den Konflikt einzuwirken.

Stefan Breit

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Franz Walter, Baustelle Deutschland

Neues aus der Parteienforschung

In der vorigen Ausgabe der Politischen Berichte dokumentierten wir den Vortrag von Dr. Harald Pätzolt zum Verhältnis Staat, Parteien, Volk. Darin wurde Bezug genommen auf die Ergebnisse der Parteienforschung, insbesondere soweit sie sich auf einen milieutheoretischen Ansatz stützt. Der bekannteste Vertreter ist Franz Walter, geboren 1956, lehrt Politische Wissenschaften an der Universität Göttingen und ist öfter mit Kommentaren in verschiedenen Zeitung zu lesen. Das Suhrkamp-Bändchen "Baustelle Deutschland, Politik ohne Lagerbindung" stammt aus dem Jahr 2008 und dürfte somit die aktuellste zusammenfassende Darstellung der "Parteienlandschaft" sein.

Sicher bewirkt die Wirtschaftskrise Verschiebungen in den Wählerpräferenzen, weshalb derzeit Wahlprognosen ziemlich schwierig und mit hoher Unsicherheit behaftet sein dürften. Dennoch sind die sozialen Schichtungen, vor denen diese Wahlentscheidungen und politischen Orientierungen stattfinden, vermutlich immer noch ziemlich zutreffend, so dass sich eine Lektüre der Schrift von Franz Walter auf jeden Fall lohnt.

Der Titel "Baustelle" bezieht sich darauf, dass die traditionelle Beziehung von Wählern und Parteien mehr und mehr zerfällt. Die SPD ist nicht mehr die Partei der Arbeiter; die Liberalen nicht länger die Partei der klassisch honoratiorenhaften Bürger. Die Christdemokraten sind keine prinzipienfesten Gefolgsleute kirchlicher Gebote und die Grünen haben "längst rein gar nichts mehr" mit alternativen Rebellentum zu tun. Wenn aber die Parteien nicht mehr soziale Lagen und gesellschaftlicher Lager repräsentieren, was dann?


Lebenswelten 2008

Walter lädt ein zu einer Exkursion durch die Baustelle, durch die "deutschen Lebenswelten der Merkel-Jahre". Er benutzt dazu das Instrumentarium, das inzwischen sowohl die Marketingforschung der Firmen als auch der Parteien benutzen. Es sind die Lebensweltanalysen des Heidelberger Sinus-Sociovision-Instituts.

Diese Beschreibung stellt nicht nur die Verortung von Bevölkerungsschichten im sozialen Raum dar, also grob unten, mitte und oben, sondern auch deren kulturelle Verortung, traditionell oder modern. Dabei sind diese gleichzeitig nebeneinander vorhandenen unterschiedlichen Verortungen Ergebnis von Ungleichzeitigkeiten: die Fünfziger haben einen ganz anderen Lebensstil hervorgebracht als die siebziger Jahre usw. Walter ist zwar skeptisch gegenüber mancher Begrifflichkeit dieser Lebensweltbeschreibung ("Performer", "Experimentalisten"), hält sie aber doch im großen und ganzen für brauchbar.

Die sogenannte "Kartoffel-Grafik" (siehe nächste Seite) zeigt sowohl die sozialen Schichten (senkrechte Achse) als auch Grundorientierungen (Wertevorstellungen, Lebensleitbilder) in der waagrechten Achse.

Für Unterschicht ergeben sich drei Milieus (die sich freilich überlappen): Die Traditionsverwurzelten sind in der Adenauer-Ära groß geworden; Ordnung und Pflicht, Bescheidenheit, Anpassung sind typisch; aber auch die Furcht, in der Krise und durch die Sparreformen Einbußen hinnehmen zu müssen. Vereinsmitgliedschaft, Bindung an entweder sozialdemokratische, gewerkschaftliche oder auch katholische Arbeiterschaft sind typisch; aber auch Ängste vor "Sittenverfall" und "Überfremdung". Ganz anders die "Konsummaterialisten", oft auch als "neue Unterklasse" bezeichnet. Ihre Prägung erfolgte ein oder zwei Jahrzehnte später als die der Traditionsverwurzelten. Individualisierung, auch Genuss sind typisch. Allerdings öffnete sich immer mehr die Schere zwischen dem begehrten Konsum und den finanziellen Möglichkeiten. Die Folgen sind, laut Walter, Frustrationen und Misantrophie; Ausländerfeindlichkeit und Abgrenzung gegen Randgruppen sind ein Ventil. Bei den Männer dieses Milieus sind Wut und Aggression erheblich gewachsen.

Noch ausgeprägter sind diese Orientierungen bei den "Hedonisten" der Unterschicht. Unbekümmerte Konsum- und Erlebnissucht sind prägend; die soziale Krise löst Verbitterung aus. Mit diesen beiden Milieus, den "Hedonisten" und den Konsum-Materialisten können beide Volksparteien nichts anfangen und, so beschreibt Walter, auch die etablierten Grünen können mit "großem Eifer expressive Geschichten über die 'Asozialität' des neuen Unten erzählen."

Umgekehrt wird dieser Teil der Unterschicht der sozialdemokratischen Formel "Chancen durch Bildung" mit abgrundtiefem Misstrauen begegnen: das löst weder Freude noch Hoffnung aus, sondern ausschließlich pure Versagensängste. Ihre Erfahrungen mit den Bildungsinstitutionen waren, das sie diejenigen waren, die Ziele nicht erreichen (ein wichtiger Hinweis für die Diskussion um "Bildung für alle").

Walter sieht hier ein Potential heranwachsen, was im Gegensatz zu den eingehegten traditionellen Arbeiterschichten, Gewalt beim Verfolgen der eigenen Ziele nicht abgeneigt ist. "Gehen sie leer aus, droht Krawall."

Die Beschreibung der Oberschicht endet mit der Schlussfolgerung: "Die Elite in Deutschland, ob alt oder neu, legt heute mehr Wert auf individuelles Wohlbefinden, einen gestählten Körper als auf politisch-gesellschaftliche Mitwirkung. Die Sozialreformen der letzten Jahre haben die Kräfte der Bürgergesellschaft offenbar signifikant erlahmen lassen - oben nicht anders als unten."

Bei der Mittelschicht gehören die "Traditionsverwurzelten" und die "DDR-Nostalgischen" zusammen: ihre Sozialisation erfolgte in der Wiederaufbauphase der beiden deutschen Staaten; ähnliche Werte, Ordnung, Fleiß, Sauberkeit usw. sind prägend. Wobei die Bitternis im Ostmilieu wegen des bereits erlittenen Abstiegs größer ist als im Westen. Die bürgerliche Mitte, Lieblingszielgruppe der Volksparteien, Volkskirchen, Versicherungen und Sparkassen, ist geprägt vom hohen Wert individueller Leistung; daher war durchaus eine gewisse Neigung zu neoliberalen Einstellungen nicht selten; aber wegen Harmonieorientierung nie allzu ausgeprägt. Auch die "Experimentalisten" sehen inzwischen wieder Berechenbarkeit höher an als kühne Versprechen und Ruck-Reden.

In einem Exkurs geht Walter dann auf die Milieus der Zugewanderten ein (siehe Grafik vorige Seite). Er stellt fest, dass die "Parallelgesellschaften" die Integration und Angleichung befördern so wie früher die Parallelgesellschaften der Sozialisten oder der Katholiken letztlich Aufstieg und soziale Integration ermöglichten.

Es folgen dann Einzeldarstellungen der Parteien (Soziale Demokratie jenseits der Arbeiterbewegung; die neue alte Linke; Renaissance oder Burnout des bürgerlichen Lagers? Grüne im Klimawandel), die manches erhellen und immer vergnüglich zu lesen sind.

Im Schlussteil beschäftigt sich Walter mit der Zukunft der Parteien. Er ist sich nicht sicher, ob das Zeitalter von ideologisch fundierten Parteien endgültig vorbei ist; zu oft seien Neu- oder Wiederbelebungen erfolgt, meist mit nicht so guten Folgen.

In einem Punkt verfolgt er ähnliche Überlegungen, wie Pätzolt sie aufgeworfen hat. "Eine neue demokratische Kultur bringt Vielfalt hervor. Aber das Management dieser Vielfalt drängt zur Oligarchisierung, zur Intransparenz, zur Minimalisierung von Demokratie." Das führe wiederum bei den Wählern zum Ausweichen vom "mittigen Diskurs der Allerweltsparteien" hin zu populistischen Figuren. Als Ausweg aus der Oligarchisierung in Vielparteienbündnissen schlägt Walter den Einbau plebisizitärer Möglichkeiten vor. Er verweist auf die Schweizer Konkordanzdemokratie, wo Plebiszite verhindern, dass institutionalisierte Verhandlungsdemokratie delegitimiert wird.

Walter wendet sich auch gegen die Behauptung von Machbarkeit und Alternativlosigkeit von Regierungshandeln. Ohne dass er ihn nennt, kritisiert er scharf Franz Münteferings "Opposition ist Mist". Opposition sei eben nicht wesentlich Regierung im Wartestand oder auf Abruf. "Der Ort der Opposition ist stets auch Terrain der Gegenmöglichkeiten, durchaus Biotop für Ideen einer radikalen Abkehr von dem (Irr)-Weg der jeweils gegenwärtigen Regenten ... Der deutschen Gesellschaft droht in den nächsten Jahrzehnten ein vielfacher sozialer Spaltungsprozess. Der Politik dagegen droht trotz des lautstark inszensierten 'Narzissmus der kleinen Differenz' die Homogenisierung, die Uniformierung des Denkens."

Alfred Küstler


Franz Walter
Baustelle Deutschland
Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2008,
256 Seiten, 10 Euro


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Milieus der Menschen mit "Migrationshintergrund" in Deutschland 2008. Eine Studie der Sinus Sociovision, Heidelberg. Auf der gegenüberliegenden Seite die entsprechende Darstellung für die Gesamtbevölkerung, wie sie die Fernseh(markt)forschung benutzt.

Abb. 1: Die "Kartoffel-Grafik": Die Sinus-Milieus in Deutschland

Raute

Interview mit André Brie, Berliner Zeitung, 15.5.2009

"Die Linke hat den Pluralismus aufgegeben"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

TERMINE

15. bis 19. Juni 2009
Für die Woche vom 15. bis 19. rufen Studierendenvertretungen, Schülerorganisationen und auch die Lehrergewerkschaft GEW zur einem bundesweiten Bildungsstreik auf.
www.bildungsstreik2009.de

14. Juni. Berlin. Bundesparteitag der SPD: Wahlprogramm Bundestagswahl

20./21. Juni. Berlin. Bundesparteitag der Linken zur Bundestagswahl 2009.

13. bis 16. August. Erfurt. Sommerschule der Arbeitsgemeinschaft Konkrete Demokratie - soziale Befreiung

5. September. Berlin. Großdemonstration der Anti-Atom-Bewegung "Mal richtig abschalten" im Vorfeld der Bundestagswahl.


*


Die Linke, Arbeitsgemeinschaft Konkrete Demokratie - soziale Befreiung

Sommerschule 2009 in Erfurt

Beginn: Donnerstag, 13. August
Abschluss: Sonntag, 16. August

Kurse und Themen

• Wirtschaft: Mindestlohn und Mindesteinkommen
• Philosophie/Kulturwissenschaften: Subjekt und Macht, Fortsetzung der Diskussion anhand des Textes von Michael Foucault.
• Internationale Politik: Neorealistische Schule

(ausführliche Beschreibung der Themen mit Lektürevorschlägen usw. in der nächsten Ausgabe der Politischen Berichte)

Allgemeine Informationen:

Die Sommerschule findet vom 13. bis 16. August 2009 in Erfurt statt. Beginn ist am Donnerstag, 13.8., 14 Uhr, Ende am Sonntag, 16.8., 12 Uhr.

Die ArGe-Mitgliederversammlung wird voraussichtlich am Freitagabend sein

Wir tagen wie zuletzt in der Jugendherberge "Hochheimer Straße", in der "JH Klingenstraße" übernachten wir. Beide liegen nur etwa 3 Minuten Fußweg auseinander.
Adresse: JH Erfurt, Hochheimer Str. 12, Klingenstraße 4, 99094 Erfurt, Tel. 0361 5626705.
Die JH ist vom Bahnhof Erfurt mit der Straßenbahn 6 bis Endstation Steigerstraße zu erreichen. Von dort sind es noch ca. 200 m Fußweg.
Autofahrer nehmen die Abfahrt Erfurt-Zentrum, -Waltersleben, dann in Richtung Erfurt, in Erfurt Richtung Innenstadt fahren (bis Kreuzung Kaffeetrichter), dort links abbiegen, über die Schillerstraße (B 4 und B 7), in der Pförtchenstraße links abbiegen, nach ca. 400 m befindet sich die JH auf der linken Straßenseite auf Ausschilderung JH achten).

Die Kosten für Übernachtung mit Frühstück betragen 25,50 Euro pro Person.
Bettwäsche ist vorhanden, bitte Handtücher mitbringen. Wir sind als Gruppe angemeldet und haben eine gewisse Anzahl an Betten reserviert.
Anmeldungen deshalb bitte rechtzeitig und verbindlich bis zum 1. Juli und nur bei
hanne-reiner@onlinehome.de oder telefonisch 030-39 80 88 05.


*


Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2009













Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
August
August
August
August
Sept.
Sept.
EU
Baden-Württemb.
Mecklenb.-Vorp.
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
NRW
Saarland
Thüringen
Sachsen
Brandenburg
Bundesrepublik
Euro.Parl.
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Landtag
Landtag
Landtag
Landtag
Bundestag
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
30.8.
30.8.
30.8.
30.8.
27.9.
27.9.
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
2010

Frühj.
Frühj.
Schlesw.-Holstein
NRW
Landtag
Landtag


5 Jahre
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph
Cornides, Ulrike Detjen, Emil Hruska,
Claus-Udo Monica, Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,
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E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
50825 Köln, Venloer Str. 440, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
der Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale
Befreiung" werden in den Politischen Berichten
veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, 50825 Köln, Venloer Str. 440
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
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Bezugsbedingungen: Einzelpreis 4,00 Euro. Ein
Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
Sozialabo: 46,80 Euro. Ausland: + 6,50 Euro
Porto. Buchläden und andere Weiterverkäufer erhalten
30 % Rabatt.

Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 6, 4. Juni 2009
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2009