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POLITISCHE BERICHTE/133: Zeitschrift für linke Politik 2/10


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 2 am 11. Februar 2010


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Die EU, der Euro und die griechische Wirtschaft
Bundesverfassungsgericht zu Regelsätzen
Hartz IV nachgebessert, aber nicht revidiert
Aufklärungsbedarf nach dem gewaltsamen Tod eines psychisch Kranken
Gravierende Lücken
Türkei: Statt demokratischer Veränderungen hat die AKP den Vernichtungskurs gewählt
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Viele Städte vor dem "Kollaps"
Schwerste Krise der Kommunalfinanzen beschädigt Demokratie
Ausgang der OB-Wahlen in Freiburg offen
Kommunale Politik
Tarifsteigerungen statt Klientelpolitik und Steuergeschenke!
Gewerkschaftsmitgliedschaft in Europa
Europäische Tarif-Koordinierung?
Wirtschaftspresse

Diskussion und Dokumentation
Islamic Banking - der moralischere Kapitalismus?
Nato-Sicherheitskonferenz 2010 in München
Kurze Einschätzung der Proteste gegen die Nato-Kriegstagung
In & bei der Linken: Gleichgewicht hergestellt?

Termine

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Deserteure, die Teilnahme an Kriegsverbrechen verweigern, müssen Asyl erhalten

www.connection-ev.de "Die Bundesregierung will den Asylanspruch von Soldaten fremder Streitkräfte, die sich Kriegsverbrechen verweigern und desertieren, auf einen bloßen Papiertiger reduzieren", so die innenpolitische Sprecherin der Fraktion die Linke Ulla Jelpke zur Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (Drs. 17/486). Jelpke weiter: Der 32 Jahre alte US-Bürger André Shepherd hat in Deutschland Asyl beantragt, nachdem er aus der US-Armee desertiert ist. Wie er haben Zehntausende von US-Soldaten in den vergangenen Jahren den Kriegsdienst verweigert bzw. sind desertiert. Viele von ihnen, darunter auch Shepherd, suchen in Deutschland Zuflucht und berufen sich explizit darauf, dass sie im Kriegseinsatz gezwungen werden, Verbrechen zu begehen: Führung von Angriffskriegen, Verwendung uranhaltiger Geschosse und von Chemiewaffen, gezielte Tötung von Zivilisten durch Bombardierungen. In den USA müssen sie mit Strafverfolgung rechnen.

Doch die Bundesregierung weist die in unserer Anfrage genannten Berichte über Kriegsverbrechen der US- und anderer Nato-Armeen als bloße "Unterstellungen" zurück und signalisiert damit, dass entsprechende Asylanträge von Soldaten unberechtigt seien. Das geschieht wohl auch aus Eigeninteresse, weil die Bundesregierung solchen Verbrechen ja durch ihre "Bündnistreue" Beihilfe leistet. Immerhin räumt sie ein, dass Soldaten unter bestimmten Umständen Schutz beanspruchen können. Etwa, wenn sie in ihren Heimatländern strafrechtlich belangt werden, weil sie Befehle zu Kriegsverbrechen oder schwere Straftaten verweigert haben.

Genau deswegen solidarisiert sich die Linke mit Soldaten wie Shepherd und hält es für geboten, ihm Schutz zu gewähren. Die Linke ist der Ansicht, dass Deserteure, die sich imperialistischen Angriffskriegen verweigern, gewissenhaft und vorbildlich handeln. Die Anerkennung ihrer Tat, etwa durch die Gewährung eines Flüchtlingsschutzes, wäre ein sinnvolles Zeichen gegen kriegerische Gewalt.


Reform der Pflegeversicherung

www.ftd.de, 15.1. alk. Die "Financial Times Deutschland" teilt in einem Artikel mit, dass die privaten Krankenversicherer bei einer Reform der Pflegeversicherung "ein Riesengeschäft wittern". Der Plan der Regierung Merkel-Westerwelle, wie er auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist: Alle Versicherten müssen eine obligatorische kapitalgedeckte Zusatzdeckung abschließen. Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden aufgrund der Alterung der Gesellschaft und steigender Ausgaben künftig nicht mehr reichen, davon geht die Regierung aus. Diese Zusatzpolicen sollen für Erwerbstätige und Rentner verpflichtend sein, anders als die Riester-Ergänzung für die Rente.

Bisher gilt in der gesetzlichen Pflegeversicherung das Umlageverfahren. Die Versicherten zahlen einkommensabhängige Beiträge in die Pflegekassen der gesetzlichen Krankenkassen. Dieses Geld fließt in die Versorgung der aktuell Pflegebedürftigen. Jetzt soll jeder eine private Zusatzpolice abschließen, bei der Kapital für später angespart wird.

Noch ist nicht entschieden, ob der Beitrag prozentual vom Gehalt oder als Pauschale berechnet werden soll.

Bei den privaten Krankenversicherern (PKV) stoßen die Regierungspläne auf große Zustimmung. Sie bieten bereits Pflegezusatzpolicen an und wittern ein großes Geschäft.

Aber die gesetzlichen Krankenversicherer sehen ebenfalls Geschäftsmöglichkeiten. Sie stellen sich als die moralisch besseren Kassen dar: "Ein möglicher 'Pflege-Riester' sollte über nicht gewinnorientierte Institutionen wie die Pflegekassen organisiert werden", sagt ein Sprecher des AOK-Bundesverbands. "Nur so kann sichergestellt werden, dass der Kapitalertrag ausschließlich in die Leistungen der Pflegeversicherung fließt, ohne dass noch Gewinne für die privaten Versicherungsunternehmen abgezweigt werden müssen."

Die privaten Kassen dagegen argumentieren gegen die immer vorhandene Begehrlichkeit des Staates: "Es ist wichtig, den Kapitalstock für die Pflege vor einem möglichen Zugriff des Staates zu schützen", sagt Volker Leienbach, Direktor des PKV-Verbands.


Im Jahr 2010 kämpft die EU gegen die Armut

www.2010againstpoverty.eu. 7.2. hav.Vor zehn Jahren haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU verpflichtet, "die Beseitigung der Armut bis 2010 entscheidend voranzubringen". Im Oktober 2008 haben das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission den Beschluss zur Ausrufung des Europäischen Jahres erlassen. Das ist wohl auch notwendig, denn fast 80 Millionen Menschen in der EU - das sind 17 Prozent - leben unterhalb der Armutsgrenze und sind bei Arbeit, Bildung, Wohnen, sozialen und finanziellen Dienstleistungen ernsthaft benachteiligt. Das ist eine ernüchternde Analyse der Tätigkeit der EU-Gremien, die ja beschlossen hatte, bis 2010 die Bekämpfung der Armut "entscheidend voranzubringen". Nun haben wir 2010 und die EU-Kommission ruft das "Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" aus. Was in den vergangenen zehn Jahren versäumt wurde, soll nun in einem Jahr erledigt werden.

Das da aber nicht viel zu erwarten ist, zeigen die finanziellen Mittel die für die Bekämpfung der Armut in Europa zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt 17 Millionen Euro stehen zur Verfügung, um "Sensibilisierungskampagnen" auf europäischer und nationaler Ebene sowie mehrere Hundert nationale Projekte zu fördern, die sich an den jeweiligen Prioritäten der Teilnehmerländer ausrichten. Die Informationskampagne zum Europäischen Jahr umfasst unter anderem einen Journalistenwettbewerb, ein Kunstprojekt und zwei "Schwerpunktwochen" im Mai und im Oktober, in denen EU-weit zahlreiche nationale Veranstaltungen durchgeführt werden. Zum Ende des Jahres findet im Rahmen der belgischen EU-Präsidentschaft am 17. Dezember eine Abschlusskonferenz in Brüssel statt. In Deutschland wird das Europäische Jahr 2010 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gestaltet. Die Auftaktveranstaltung findet am 25. Februar 2010 in Berlin statt. Website zum Europäischen Jahr: www.2010againstpoverty.eu.


Europäischer Gerichtshof zum deutschen Kündigungsschutz

http://curia.europa.eu. rog Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 18. Januar müssen im deutschen Kündigungsrecht die gültigen Fristen geändert werden, da sie eine Diskriminierung aus Gründen des Alters darstellen. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sind die Kündigungsfristen festgelegt, die mit der Betriebszugehörigkeit wachsen, aber auch einen Schwellenwert bezüglich des individuellen Alters festlegen. Erst die Beschäftigungszeiten ab dem 25. Lebensjahr kommen unter Berücksichtigung. Geklagt hatte eine 28-jährige Beschäftigte, die nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit einen Monat Kündigungsfrist hatte. Wäre die gesamte Beschäftigungszeit berechnet worden, hätte die Kündigungsfrist vier Monate betragen. Das grundsätzliche Verbot der Diskriminierung ergibt sich aus der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie des Jahres 2000, die in ihrer Gänze 2006 in der BRD in nationales Recht überführt wurde. Das EuGH wertet die Antidiskriminierungsrichtlinie als zu den "allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts" gehörig. Solche allgemeinen Grundsätze sind auch in Privatstreitigkeiten anzuwenden und führen zur Unanwendbarkeit einer diskriminierenden Vorschrift, auch wenn es sich um das BGB handelt. Die nationalen Gerichte haben nach dem Urteil des EuGH "die volle Wirksamkeit des Unionsrechtes" zu gewährleisten. (EuGH C-555/07; http://curia. europa.eu)


Westmächte wollen zu Sanktionen gegen Iran übergehen

FAZ, 9.2. maf. Die Nato-Mächte zeigen sich entschlossen, eine Atom-Bewaffnung des iranischen Staates zu unterbinden. Die Obama-Administration arbeitet nach eigenem Bekunden an einem Szenario von Sanktionen. Welche Maßnahmen im Einzelnen ergriffen werden sollen, ist derzeit nicht bekannt. Es gibt viele Möglichkeiten, Iran von den Vorteilen des internationalen Austausches auszuschließen.

Solche Maßnahmen, mögen sie nun den wirtschaftlichen Austausch, den Personenverkehr, den Zugang zu internationalen Finanzierungen, oder auch den Kulturaustausch treffen ein Land, das in einem doppelten Sinne nicht stabil ist. Die von der Verfassung garantierte Möglichkeit der Ablösung einer Regierung durch eine Opposition wurde nach den Wahlen im letzten Jahr faktisch außer Kraft gesetzt. Wenn fraglich ist, ob erforderliche Korrekturen unter den bestehenden Machtverhältnissen möglich sind, folgt politische Instabilität. Iran zeigt sich aber auch in der Weltpolitik als Kraft der Destabilisierung. Am deutlichsten wird das wohl in der Politik gegenüber Israel, die über bloße Nicht-Anerkennung hinaus Kräfte unterstützt, die diesen Staat mit Waffen angreifen, um ihn letztlich zu zerstören. Die Verstrickung Irans in diesen Konflikt wirft die Frage auf, ob eine Atombewaffnung, so wie bei anderen Staaten, die sich dies Mittel auf geraden und krummen Wegen verschafft haben, als Mittel der strategischen Defensive funktionieren würde. Die von den USA angekündigten Sanktionen bedeuten einen Einstieg ein Kriegsgeschehen, denn Sanktionen müssen durchgesetzt werden, zu Wasser, zu Lande, in der Luft, im internationalen Datenverkehr. Anders als ein Militärschlag, der eine militärische Antwort herausfordert, können Sanktionen auch als Bestandteil eines Verhandlungsszenarios funktionieren.

Wie durchlässig die Grenzen zwischen "Sanktionen" und "Militärschlag" verläuft zeigt die Beunruhigung, mit der die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.2. auf eine Veröffentlichung in der Online-Ausgabe der Welt reagiert.

Raute

Die EU, der Euro und die griechische Wirtschaft

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da forderte der US-Ökonom Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2008, im Vorwort seines damals gerade neu aufgelegten Buches "Die neue Weltwirtschaftskrise" von den europäischen Regierungen gemeinsame Anstrengungen zur Stärkung des Konsums, sprich: eine starke Ausweitung der öffentlichen Konjunkturprogramme, um der durch die US-Bankenkrise ausgelösten Weltwirtschaftskrise gegenzusteuern. "Europa braucht wie die Vereinigten Staaten unbedingt einen fiskalischen Stimulus, um den Einbruch der privaten Ausgaben wettzumachen", schrieb Krugmann und forderte insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel und den damaligen Finanzminister Peer Steinbrück zu einer Politik der "koordinierten Expansion" der Nachfrage auf. "Sobald wir wieder normale Verhältnisse haben, werde ich jenen, die wie Herr Steinbrück fiskalische Disziplin predigen, gerne die ihnen gebührende Ehre erweisen", schrieb Krugman damals, und endete mit den Worten: "Sich jetzt aber an die Orthodoxie (gemeint ist eine sparsame Haushaltsführung und Ziele wie ein ausgeglichener Haushalt) zu klammern, ist hochgradig destruktiv - für Deutschland, Europa und die Welt." (a.a.O., S. 9)

Krugmans Aufforderung verhallte damals ungehört. Zu einem gemeinsamen wirtschaftspolitischen Vorgehen gegen die Krise konnten sich die Länder der EU damals wie heute nicht aufraffen. Während große und wirtschaftlich starke Länder wie die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien sich mit eigenen Krisenprogrammen halfen und auch weitgehend helfen konnten - bisher jedenfalls - waren die kleineren Staaten der EU bei der Abwehr der Krisenfolgen meist auf sich allein gestellt - mit zum Teil bizarren Folgen. Während die großen Länder fast durchweg ihre Staatsdefizite ausweiteten, um die Krise zu bremsen, zu bändigen und gegen zu steuern, waren kleine Länder wie zum Beispiel die baltischen Länder, Irland, noch mehr so arme Länder wie Rumänien und Bulgarien auf Anleihen der EU, internationaler Bankenkonsortien und zum Teil sogar auf den IWF angewiesen, um dringend benötigte Kredite für ihre Banken, ihre Wirtschaft und ihre staatlichen Haushalte aufzutreiben.


Wachsende Ungleichheiten in der EU

Die Folgen waren meistens, insbesondere seitens des IWF, strikte Sparauflagen, wie sie in der deutschen Geschichte mit der Ära Brüning zum Ende der Weimarer Republik verbunden sind: Rentenkürzungen, Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst und ähnliche sogenannte "Austeritätsprogramme", in deren Zentrum nicht die Ankurbelung der heimischen Wirtschaft und ein Gegensteuern gegen einen wirtschaftlichen Abschwung stand, sondern die Sicherung der Zahlungsfähigkeit gegenüber ausländischen Gläubigern.

Die Folgen dieser zum Teil erheblich gegenläufigen Strategie zwischen Zentrum und Peripherie in der EU waren "lehrbuchartig", könnte man zynisch sagen, wenn es nicht um die Arbeitsund Lebenssituation vieler Menschen ging. Während in den großen Kernländern der EU die wirtschaftliche Talfahrt gebremst und zum Teil bereits gestoppt werden konnte, ging und geht es in anderen Ländern weiter abwärts. Beispiel Rumänien: Das Bruttoinlandprodukt des ohnehin (neben Bulgarien) ärmsten Landes der EU fiel 2009, verstärkt durch die von IWF und anderen Geldgebern erzwungene staatliche "Sparpolitik", um 7 Prozent. Das litauische Bruttoinlandprodukt fiel sogar um 15 Prozent, in Lettland um 18, in Estland ebenfalls um 15 Prozent.

Inzwischen hat in zahlreichen Ländern der EU eine Art "Phase II" der Weltwirtschaftskrise begonnen: die Krise der öffentlichen Haushalte, hervorgerufen durch die infolge der Krisenabwehr explodierte Staatsschuld und die zeitgleich dramatisch gesunkenen Steuereinnahmen. Was hierzulande von der schwarz-gelben Regierung hartnäckig als offenes Thema vor sich her geschoben wird, nämlich die Frage: "Wer zahlt die Kosten der Krise?" - dieses Thema steht in anderen Ländern längst im Zentrum der Tagespolitik. Das gilt insbesondere für die kleinen, wirtschaftlich schwächeren Länder der EU.

Aber auch stärkere Länder wie Spanien hat es "erwischt". Obwohl das Bruttoinlandprodukt in Spanien 2009 "nur" um 3,7 Prozent fiel, also deutlich weniger als in Deutschland mit seiner extrem exportorientierten Industrie, stieg die Arbeitslosigkeit wegen der Depression in dem in Spanien wichtigen Bausektor auf Rekordhöhen. Für 2010 erwartet die spanische Regierung ein staatliches Haushaltsdefizit von 9,8% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Hektische Gegenmaßnahmen wie eine weitere "Liberalisierung" des ohnehin schon weit deregulierten Arbeitsmarktes sind bereits von der Regierung in Madrid angekündigt.


Jetzt: Griechenland?

Aktuell scheint es aber besonders die griechische Regierung erwischt zu haben. Die Regierung in Athen musste vor ein paar Wochen einräumen, sie habe über Jahre falsche, geschönte Zahlen über das Ausmaß der staatlichen Neuverschuldung an die EU gemeldet. Für 2009 gab sie zeitgleich ein Staatsdefizit von 12,7 Prozent des BIP an. Einer der Gründe für den extremen Anstieg des griechischen Defizits in 2009 ist der schroffe Rückgang des Welthandels und damit verbunden des Seehandels. Das hat die griechische Wirtschaft, in der das maritime Geschäft traditionell eine große Rolle spielt, hart getroffen.

Aber solche Realgründe für ein steigendes Staatsdefizit spielen aktuell keine Rolle. Seit der Mitteilung der Regierung über die jahrelang gefälschten Zahlen ist an den Finanzmärkten und in den Medien der Teufel los. Eine Meute von vorgeblichen "Finanzexperten" jeder Coleur überbieten sich seitdem mit Forderungen nach Lohnsenkung, Rentenkürzungen und anderen sozialen Grausamkeiten. Sie alle wollen verhindern, dass die griechische Regierung ihre Schuldpapiere nicht mehr bedient, womöglich keine Zinsen mehr zahlt. Aber auch hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit von Ländern wie Portugal und Spanien wächst die Nervosität in der EU und an den Finanzmärkten.

"Schuldenkrise lässt Märkte einbrechen", vermeldete etwa die "Berliner Zeitung" am 6./7. Februar. Und: "Die Angst vor einer Pleite einzelner Euro-Staaten verunsichert die Anleger rund um den Globus". Länder wie Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien würden an den Finanzmärkten als "riskante Schuldner" eingestuft und müssten Zusatzzinsen zahlen, wenn sie neue Anleihen an den Finanzmärkten verkaufen wollten.

Sogar der Einbruch der Börsenkurse weltweit - der Dax hat seit Jahresanfang knapp zehn Prozent verloren, der Dow Jones fiel um 5 Prozent - und der seit Anfang Dezember um knapp 9 Prozent gesunkene Wechselkurs des Euro gegenüber dem Dollar - wird jetzt der Regierung in Athen in die Schuhe geschoben. An allen Übeln der Welt sind auf einmal die Griechen schuld.

Ein bunter Chor ertönt da in den Gazetten - Nationalisten von ganz rechts, die schon immer gegen die Einführung des Euro waren, Spekulanten, die aus dieser wie aus jeder anderen Währungskrise schlicht ein Geschäft herausschlagen wollen, bis hin zu "antiimperialistischen" Grundsatzgegnern der EU und des Euro - sie alle wittern ihre Stunde, spekulieren über eine "Krise des Euro", den Ausstoß Griechenlands aus der Euro-Zone bis hin zur Rückkehr zur D-Mark.

All das wird sicher nicht geschehen. Aber es weckt Leidenschaften, beschäftigt Medien, Finanzwelt und Politik.

Ein wie immer hochgradig unseriöses Blatt, "Bild", fragt scheinheilig: "Machen die Krisenländer den Euro kaputt?" (7.2.10) und erklärt auch gleich die Hintergründe aus seiner Sicht: "Wie Griechenland haben sie jahrelang auf Pump gelebt, riesige Defizite angehäuft und ihre Wettbewerbsfähigkeit verspielt." Das ist nicht nur verlogen, wie ein einfacher Blick auf ein paar Tatsachen zeigt. Dahinter steht auch die nie aufgegebene Hoffnung mancher Kreise, Deutschland könne endlich wieder zum "Zuchtmeister Europas" aufsteigen.


Defizit infolge von Steuersenkungen

Doch zunächst ein paar Fakten.

Erstens: Griechenland hat in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes wirtschaftliches Wachstum hingelegt. Von 1997 bis 2007 stieg das Bruttoinlandprodukt - also die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen - je Kopf der knapp elf Millionen Menschen in Griechenland von umgerechnet 11.640 US-Dollar in 1997 auf umgerechnet 25.740 Dollar im Jahr 2007. (Zahlen nach Fischer-Weltalmanach 2000 und 2010). Selbst wenn man die Aufwertung des Euro gegenüber dem Dollar in diesem Zeitraum abzieht, bleibt ein beeindruckendes wirtschaftliches Wachstum. Ähnliche Ergebnisse zeigt ein Blick in die Statistischen Daten der EU. Diese weist für Griechenland in den Jahren 2000 bis 2008 für fast jedes Jahr ein etwa doppelt so hohes Wirtschaftswachstum auf wie hierzulande. Dass die griechischen Löhne immer noch niedriger sind als bei uns, hat sich dadurch noch nicht gewendet. Die Löhne von abhängig Beschäftigten liegen in Griechenland heute nominal bei ca. 60% der hiesigen Löhne (9,50 Euro pro Stunde laut Eurostat 2006, verglichen mit 16,20 Euro hierzulande). Aber: Griechenland hat deutlich aufgeholt in den letzten Jahren!

Eine Messgröße, die das auch verdeutlicht, ist das Bruttoinlandprodukt je Einwohner, gemessen in Kaufkraftparitäten (KKS) und verglichen mit dem Durchschnitt aller 27 EU-Länder (EU27=100). In Deutschland sank dieser Wert von 124,3% in 1997 - was bedeutet: die wirtschaftliche Leistung lag 1997 in Deutschland knapp 24,3% über EU-Durchschnitt - auf 115,6% in 2007. Der vermeintliche "Zuchtmeister" ist also wirtschaftlich zurück gefallen in diesen Jahren.

In der gleichen Zeit stieg das griechische BIP je Einwohner, in Kaufkraftparitäten und verglichen mit dem EU-27-Durchschnitt (=100), von 84,5% (1997) auf 94,3% in 2007. Mit anderen Worten: Die wirtschaftliche Leistung in Griechenland stieg deutlich schneller als im Durchschnitt der EU. In Deutschland dagegen stieg sie deutlich langsamer!

Dritte Messzahl für die Aufholbewegung Griechenlands ist die Arbeitslosigkeit. Sie ging von fast 12 Prozent im Jahr 1999 bis 2008 jedes Jahr kontinuierlich zurück - auf 8 Prozent in 2008.

Fazit all dessen: Die von der "Bild-Zeitung" in Anspielung an Jahrzehnte alte nationalistische Vorurteile genährte Legende von den faulen Griechen, die ihre "Wettbewerbsfähigkeit" verspielen, hält keiner Überprüfung stand.

Mehr noch: Es ist keine drei Jahre her, da schwärmten OECD-Ökonomen, Griechenland habe die "zweitbeste Performance aller Industrieländer", die Wirtschaft sei dank struktureller Reformen robuster geworden, die Etatkonsolidierung komme voran. Das längerfristige angelegte Potenzialwachstum wurde auf vier Prozent veranschlagt. Hierzulande lag es bei 2 Prozent. Und bei der EU-Kommission konnte man noch vor kurzem lange Lobeshymnen lesen, was Athen alles entbürokratisiert oder - von Elektrizitätswerken bis Telekommunikationsbetrieben - privatisiert habe.

Es war vor allem der Druck seitens der EU, diese Wirtschaftspolitik zu verbinden mit einem Wettlauf in Richtung Steuersenkung, dem sich die griechische Regierung nicht entziehen konnte und der sie nun in die Neuverschuldungsfalle getrieben hat - im Unterschied zur Bundesregierung, die vor wenigen Jahren die Mehrwertsteuer um 3% anhob und so das Defizit der öffentlichen Haushalte bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zum Glück deutlich verringern konnte. 2007 lag die sogenannte "Steuerquote" in Griechenland bei nur 20 Prozent. Zusammen mit Sozialversicherungsabgaben lag die "Steuer- und Abgabenquote" in Griechenland bei 31,3%. Das ist der fünftniedrigste Wert aller 24 OECD-Länder. Zum Vergleich: Die deutsche "Steuerquote" lag (laut Sachverständigenrat der Bundesregierung, Jahresbericht 2008/09) bei 22,7%, die Steuern- und SV-Abgaben-Quote bei 36,3%.

In dieser Niedrig-Steuer-Falle sitzt nun die griechische Regierung. Sie hat jahrelang das gemacht, was Westerwelle jetzt hier exerzieren will: die Steuern immer weiter gesenkt. Die infolge der Weltwirtschaftskrise sinkende Wirtschaftsleistung, insbesondere der tiefe Fall der Handelsschifffahrt, lässt diese ohnehin geringen Steuereinnahmen nun zusätzlich abfallen. Das Ergebnis ist eine explodierende Neuverschuldung und eine extrem schwache Position der griechischen Regierung gegenüber jeder Menge Gaunern, die ihr nun teure Kredite zu unverschämten Konditionen anbieten, um damit Geld zu machen und zugleich der Regierung in Athen ihre Vorstellungen von einer in ihren Augen "ordentlichen" Wirtschafts- und Haushaltspolitik aufzuzwingen.


Die EU greift ein

Inzwischen handelt die griechische Regierung. Am 15. Januar übermittelte sie - auch auf heftigen Druck der Europäischen Kommission, die über die jahrelang gefälschten Daten über die griechische Staatsschuld verständlich erbost war - der Kommission in Brüssel ihr Stabilitätsprogramm für den Zeitraum 2010 bis 2013. Danach soll das Haushaltsdefizit schon 2010 um extrem ehrgeizige 4 Prozentpunkte auf 8,7% des BIP gesenkt und danach auf 5,6 % im Jahr 2011, 2,8 % im Jahr 2012 und 2 % im Jahr 2013 zurückgeführt werden.

Das Programm sieht für 2010 ein Paket mit konkreten Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen vor. Auf der Einnahmenseite ist die Abschaffung von Steuerbefreiungen, die Anhebung der Verbrauchsteuern auf Tabak und Alkohol sowie die Bekämpfung von Steuerumgehung vorgesehen. Auf der Ausgabenseite wird die Regierung die Beamtenzulagen kürzen, 2010 keine Neueinstellungen vornehmen und danach für je fünf in den Ruhestand tretende Beamte nur noch einen neu einstellen. Die Regierung hat ferner eine Rückstellung für unvorhergesehene Ausgaben eingerichtet, 10% der für jedes Ministerium vorgesehenen Haushaltsmittel eingefroren und nominale Kürzungen bei öffentlichem Verbrauch und operationellen Ausgaben beschlossen. Nach Vorlage des Stabilitätsprogramms hat die griechische Regierung weitere Maßnahmen in Bezug auf Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor, Mineralölsteuer und Rentenreform angekündigt.

Am 3. Februar verabschiedete darauf die EU-Kommission ihrerseits ein Maßnahmenbündel, das in der Presse nicht ganz falsch als "EU entmündigt Griechenland" (Financial Times, 4.2.2010) bewertet wurde. "Erstmals macht Brüssel einem Mitgliedsstaat direkte wirtschaftspolitische Vorschriften: Die griechische Regierung muss sich einer rigiden Kontrolle durch die EU unterwerfen", schrieb das Blatt weiter. "Die Kommission nutzt damit die ihr nach dem Lissabon-Vertrag zustehende Möglichkeit, über die Haushaltskontrolle hinausgehende 'Empfehlungen' abzugeben, Das ist nur möglich, wenn ein Land gegen wirtschaftspolitische Grundregeln der EU verstößt und das Funktionieren der Währungsunion gefährdet." Die jahrelange Meldung falscher Zahlen zu Staatsschulden und Neuverschuldung ist zweifellos ein solcher Verstoß gegen Grundregeln, der damit erstmals in der Geschichte der EU geahndet wird.

In der Pressemitteilung der Kommission vom gleichen Tag wird das wie folgt geschildert: "Die Europäische Kommission hat am Mittwoch eine Reihe von Empfehlungen angenommen, um sicherzustellen, dass das griechische Haushaltsdefizit bis 2012 auf unter 3% des BIP abgesenkt wird, die Regierung bald Reformen einleitet, um ihre Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen, und ganz generell eine Politik betreibt, die den langfristigen Interessen Griechenlands und dem allgemeinen Interesse des Euroraums und der Europäischen Union insgesamt dient. Angenommen wurden eine Stellungnahme zum griechischen Stabilitätsprogramm für den Zeitraum 2010-2013, eine Empfehlung zur Korrektur des übermäßigen Defizits nach Artikel 126 Absatz 9 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und eine Empfehlung für Strukturreformen nach Artikel 121 Absatz 4 AEUV. Darüber hinaus wurde ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das gewährleisten soll, dass die Behörden ihrer Pflicht zur Übermittlung verlässlicher Haushaltsstatistiken nachkommen. ... Die Kommission begrüßt auch die von der griechischen Regierung ... angekündigten zusätzlichen finanzpolitischen Maßnahmen, die die Lohn- und Gehaltskosten im öffentlichen Sektor, die Mineralölsteuer und die Rentenreform betreffen und der Aufrechterhaltung der im Programm gesetzten Haushaltsziele dienen."

Ob das reichen wird, um die Finanzmärkte zu beruhigen, wird sich zeigen. Zur Zeit muss die griechische Regierung Zinsen von 6% an den Finanzmärkten zahlen, wenn sie neue Anleihen aufnehmen will. Das sind deutlich mehr als hierzulande der Bund für seine Anleihen zahlen muss, aber immer noch weniger als zum Beispiel der US-Bundesstaat Kalifornien aktuell zahlt, der unter seinem berühmt-berüchtigten Gouverneur Schwarzenegger von einer Beinahe-Pleite in die nächste schliddert.


EU überdenkt Wirtschaftsstrategie

Am Donnerstag, dem 11. Februar, wollen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel über eine neue "Wachstums- und Wirtschaftsstrategie bis 2020" beraten. Das wird spannend, nicht nur im Hinblick auf die griechische Neuverschuldung. Schließlich ist die sogenannte "Lissabon-Strategie", die die EU in den vergangenen Jahren verfolgt hatte und mit der sie zu einem der schnellsten wachsenden Wirtschaftsmärkte der Welt aufsteigen wollte, nicht nur beim Abbau von Staatsschulden und öffentlichen Defiziten, sondern auch in einer ganzen Reihe von anderen, zentralen Punkten grandios gescheitert. So war die Arbeitslosigkeit in der EU auch schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise weiter unvertretbar hoch und das wirtschaftliche Wachstum der EU deutlich niedriger, als erwünscht.

Damit stellen sich viele, grundlegende und weit über die aktuelle griechische Krise hinausreichende Fragen für die EU.

Wie soll es künftig wirtschaftspolitisch weiter gehen in der EU? Wie will die EU wieder zu dauerhaftem und nachhaltigem wirtschaftlichen Wachstum kommen, die explodierten Staatsschulden in einer Vielzahl von Ländern - keineswegs nur in Griechenland! - wieder einfangen und die steil ansteigende Arbeitslosigkeit wieder auf ein erträgliches Niveau zurückfahren? Diese und noch viel mehr Fragen stellen sich nun der neuen EU-Kommission, die in diesen Tagen in ihr Amt gewählt wird. Antworten liegen auf fast allen Feldern noch nicht vor.

Deutschland wolle die Diskussion über eine neue Wirtschaftsstrategie im Europäischen Rat gemeinsam mit Frankreich verbreitern, verkündete am vergangenen Wochenende die deutsche Kanzlerin. Das sind schöne Worte. Aber eine wirtschaftspolitische Strategie für die Europa, gar für die nächsten zehn Jahre, ist das noch lange nicht.

Es wird also spannend sein, wie die EU ihre Wirtschaftsstrategie neu formuliert und wie sie dabei insbesondere das immer noch große und durch die Wirtschaftskrise wieder steigende Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern in der EU verringern, wie sie Armut und Arbeitslosigkeit wieder abbauen und die Staatsschulden wieder zurück fahren will. Darum geht es in Wirklichkeit - nicht um Griechenland.   rül

Raute

Bundesverfassungsgericht zu Regelsätzen

Hartz IV nachgebessert, aber nicht revidiert

Am 9. Februar hat das Verfassungsgericht über die Regelsätze nach SGB II (Hartz IV) geurteilt. Keine Kritik hatte das Gericht an der Höhe der Regelsätze. Auch an den Beträgen für Kinder, die in der letzten Zeit besonders in der Kritik standen, hatte das Gericht keine Beanstandungen.

Das Gericht hat im Gegenteil die Regelsätze ausdrücklich gebilligt: "Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums besonders weit ist." Entsprechendes auch über die Regelsätze für Partner und Kinder.

Damit haben sich Hoffnungen (bzw. bei der Regierung Befürchtungen), dass das Gericht die Regelsätze außer Kraft setzt, zerschlagen.

Das Gericht hat nur das Verfahren zu deren Bestimmung gerügt. Somit muss die Regierung erst einmal die Regelsätze in der Höhe nicht ändern; auch nicht die für Kinder. Materiell ändert sich nur etwas für besondere Härtefälle bei Pflege, Krankheit u.ä., wo sofort zusätzliche Leistungen gewährt werden müssen, wenn niemand anders eintritt (Versicherung usw.), wobei das Gericht aber selber schreibt, "dass sie nur in seltenen Fällen in Betracht kommen".

Für nicht verfassungsmäßig hielt das Gericht nur das Zustandekommen der Regelsätze, aber auch nicht sehr grundsätzlich. Das gewählte Statistikmodell sei zulässig, aber nicht in allen Einzelheiten durchsichtig. Statistikmodell heißt, es wird der faktische Verbrauch der untersten 20% der Einkommen (ohne SGB II-Bezieher) zugrunde gelegt. Dass dann für bestimmte Ausgaben noch einmal Kürzungen des statistisch erhobenen Verbrauchs vorgenommen werden, sehen die Richter als zulässig an. Allerdings müsste das sachlich fundiert sein; Schätzungen "ins Blaue hinein" seien nicht zulässig. Das sei aber bei der Festsetzung des Regelsatzes 2005 geschehen. Warum etwa beim Strom einfach 15% weniger angesetzt werden, sei nicht nachvollziehbar. Warum für Bildung gar nichts berücksichtigt wurde, habe der Gesetzgeber ebenso nicht begründet.

Die Fortrechnung nach den Renteneinkommen sei nicht nachvollziehbar, das sei eine an die Bruttolöhne angekoppelte Bewegung und habe mit dem Existenzminimum nichts zu tun (Anmerkung: eine Erhöhung entsprechend der Inflationsrate wäre geringer ausgefallen). Dass für zwei Personen 180% des Betrages für eine Personen reichen müsse, wäre ebenfalls nicht statistisch nachgewiesen. Dito der Regelsatz für Kinder, der ebenfalls nur als Prozentsatz von dem Bedarf eines Erwachsenen abgeleitet sei; auch hier müsse der tatsächliche Bedarf erhoben werden. Ebenso sei der Betrag von 100 Euro pro Schuljahr nicht aus Erhebungen abgeleitet, sondern willkürlich.

Nun muss der Bundestag bis Ende des Jahres eine neue Regelsatzverordnung beschließen. Ob dabei höhere Beträge herauskommen? Von Arbeitgeberverbänden und von Roland Koch (CDU) gibt es schon die Forderung, die Sätze abzusenken; das ist durch das Gerichtsurteil nicht ausgeschlossen.


Jobcenter bleiben

In vielen Städten und Landkreisen wird die Betreuung von Langzeitarbeitslosen in Jobcentern als gemischte Verwaltung von Bundesagentur für Arbeit und städtischen Sozialbehörden angeboten. Das hatte das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahren gerügt. Gemischte Verwaltungen von Bundesbehörden und Kommunen verdunkelten, wer für was verantwortlich sei. Die große Koalition hatte bereits eine Grundgesetzänderung vorbereitet, um die Fortsetzung der Jobcenter zu ermöglichen; auch die Bundesländer waren dafür. Das scheiterte damals an der CDU-/CSU-Fraktion, die eine weitere Ausdehnung von sogenannten Optionskommunen verlangte; das sind Kommunen oder Landkreise, die auch die Arbeitsvermittlung in eigener Regie betreiben.

Arbeitsministerin von der Leyen setzte die Beteiligten unter Druck; sie kündigte einen Gesetzentwurf an, der faktisch die alte Trennung in Arbeitsvermittlung durch Bundesagentur und Sozialbetreuung durch die Kommune hergestellt hätte. Dagegen gab es aus den Gemeinden viele Proteste. Nachdem die Bundesländer erklärten, sie würden im Bundesrat einem Gesetzentwurf zur Trennung nicht zustimmen, ging es jetzt rasch: Die Ministerin war sowieso schon immer für eine Grundgesetzänderung; die SPD signalisierte Zustimmung und die CDU-Fraktion wird damit getröstet, dass es eine "moderate" Erhöhung der Zahl der Optionskommunen geben wird.

Damit bleibt eine umstürzende Änderung bei der Verwaltung von Langzeitarbeitslosen aus; der zähe Kampf in den einzelnen Kommunen für sinnvolle Arbeitsangebote, spezielle Maßnahmen für Jugendliche, für Migranten usw., gegen sinnlose Ein-Euro-Jobs geht aber weiter.

Alfred Küstler

Raute

Hamburg: Aufklärungsbedarf nach dem gewaltsamen Tod eines psychisch Kranken

Gravierende Lücken

Am 26. Dezember 2009 wurde ein 38jähriger psychisch kranker Mann durch drei Polizeikugeln so schwer verletzt, dass er starb. Die genauen Umstände dieses schrecklichen Ereignisses werden im Verfahren gegen den Beamten aufgeklärt werden müssen, der die tödlichen Schüsse abgab. Fest steht bisher, dass die Polizei seine Tür aufbrach, dass er daraufhin im engen Flur den eindringenden Polizisten mit einem Messer entgegenkam, dass die Polizei zunächst Reizgas einsetzte, das jedoch ohne Wirkung blieb, und dass ein Beamter dann schoss.

Vor weniger als zwei Jahren war in Hamburg schon einmal ein psychisch kranker Mann von Polizei erschossen worden. Deshalb und ungeachtet der strafrechtlichen Aufklärung drängen sich Fragen auf, vor allem nach möglichen strukturellen Problemen bei der Ausbildung der Polizei und bei der Vorbereitung von Polizeibeamten auf schwierige polizeiliche Situationen im Umgang mit Menschen in Krisensituationen. Fragen also danach, was verändert werden muss, um die Gefahr tödlich endender Eskalationen absolut zu minimieren. Diesen Fragen ging auf Antrag der Linken am 28. Januar der Innenausschuss nach.

In Berlin existiert ein Krisendienst, der für Menschen in Krisensituationen rund um die Uhr erreichbar ist. Zwischen diesem Krisendienst und der Polizei besteht eine Kooperationsvereinbarung, die sich auf viele Bereiche erstreckt. Seit Juli 2008 sieht eine sogenannte Geschäftsanweisung der Berliner Polizei außerdem vor, dass der Krisendienst bei Einsätzen im Zusammenhang mit psychisch Kranken zum Einsatz hinzugezogen werden soll. Das heißt, dass erfahrene Fachleute der Polizei in solchen schwierigen Einsätzen beistehen.

In Hamburg existiert erstens ein vergleichbarer, rund um die Uhr erreichbarer Krisendienst dagegen nicht. Der sozialpsychiatrische Dienst hat bis 16 Uhr geöffnet; es gibt jedoch einen Psychiatrischen Notdienst (PND), den die Polizei bei Einsätzen im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen rufen kann. Doch es gibt, das ergab die Befragung des Senats, keine polizeilichen Dienstvorschriften oder Handlungsanweisungen, die regeln, dass der PND oder Polizeipsychologen zum Einsatz hinzugezogen werden sollen. Auf eine Schriftliche Kleine Anfrage antwortet der Senat ausweichend: "Maßnahmen der Polizei bei psychisch Kranken in Krisensituationen müssen sich am jeweiligen Einzelfall orientieren." Fachleute hinzuzuziehen gehört augenscheinlich nicht zu den grundlegenden Maßnahmen in diesen Fällen.

So kam es dann, dass die beiden Streifenbeamten, die nach der Alarmierung der Polizei durch die Mutter des Kranken vor Ort eintrafen, offenbar nur eine einzige Handlungsoption ins Auge fassten, nämlich die Tür wenn nötig mit Gewalt zu öffnen, hinter der der an einer schweren Psychose leidende Mann sich verbarrikadiert hatte. Das, obwohl sie laut Senatsauskunft alle erforderlichen Informationen über den Zustand des Mannes hatten, also zumindest von der akuten Krisensituation wussten und davon, dass die Mutter zu ihrem Sohn nicht mehr durchgedrungen war. In der Dreiviertelstunde vom Eintreffen bis zu den Todesschüssen forderten sie Verstärkung durch Polizei und Feuerwehr an, so dass sich schließlich zwölf Uniformierte vor Ort versammelten - Fachleute, also den Psychiatrischen Notdienst oder Polizeipsychologen forderten sie diese ganze Dreiviertelstunde lang nicht an.

Niemand weiß, wie sich die Situation entwickelt hätte, wären die Polizeibeamten durch im Umgang mit psychisch Kranken erfahrene Fachleute unterstützt worden. Aber das Risiko, dass die gewaltsame Öffnung der Tür - wegen Ruhestörung!, wie Polizeipräsident Jantosch die keineswegs selbstverständliche Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Wohnung begründete - bei einem verstörten Menschen zu unkalkulierbaren Reaktionen führen kann, hätten Fachleute mit Sicherheit erkannt. So eskalierte die Situation für die Beamten offensichtlich völlig überraschend.

Die Polizeibeamten, das wurde in der Innenausschusssitzung deutlich, sahen in dem psychisch kranken, randalierenden Mann vor allem den "Störer". Andere als polizeiliche Maßnahmen, mit der Situation fertig zu werden, gehörten nicht zu ihren Handlungsoptionen.

Dass es keine Dienstanweisung gibt, in solchen Krisensituationen zwingend Fachleute hinzuzuziehen, ist das eine. Ein weiteres strukturelles Problem liegt womöglich in der Umsetzung von Ausbildungsinhalten in die polizeiliche Praxis. Streifenbeamte haben in ihrer Ausbildung 25 Unterrichtseinheiten zum Thema "Umgang mit psychisch erkranken Personen" absolviert. Fortbildungsveranstaltungen vermitteln ein einschlägiges "einsatzbezogenes Training"; wie und in welchem Umfang, blieb unklar. Reicht das? Es gibt, wie auf eine Frage zu erfahren war, auch Dienstbesprechungen in Revierwachen, die Fälle von psychisch kranken Menschen im Revier und den Umgang mit ihnen thematisieren; aber wie die Besprechungen in die polizeiliche Praxis einfließen, darüber kann die Innenbehörde schon keine genaueren Angaben mehr machen.

Über 10.000 Mal werden Polizisten in Hamburg jährlich wegen "Ruhestörung" gerufen - Einsätze, die oft schwierig oder sehr schwierig sind, manches Mal auch gefährlich, und immer ein sicheres Urteil erfordern. Wie lernen junge Polizeibeamtinnen und -beamte die Grenzen und Risiken polizeilicher Maßnahmen beim Einsatz gegen Menschen in Krisensituationen beurteilen? Wie lernen sie, Maßnahmen zu ergreifen, die dem "jeweiligen Einzelfall" tatsächlich angemessen sind?

Die Vertreter von Polizei und Innenbehörde beantworteten im Innenausschuss Fragen nach strukturellen Problemen und Defiziten ausweichend. Der Innenausschuss will nach Abschluss der Aufklärung des konkreten Falles erneut mögliche Schlussfolgerungen erörtern.

Christiane Schneider

Raute

Türkei: Statt demokratischer Veränderungen hat die AKP den Vernichtungskurs gewählt

Die Kommunalwahlen in der Türkei Ende März letzten Jahres glichen in den kurdischen Gebieten einem Referendum für eine demokratische Änderung der Türkei. Die prokurdische DTP hatte nach den erfolgreichen Parlamentswahlen, in denen sie in Fraktionsstärke ins türkische Parlament einzog, nun fast 100 Bürgermeisterposten errungen. Deutlich wurde, dass in den kurdischen Provinzen der Türkei nach fast 30 Jahren Guerillakampf und wütender militärischer Unterdrückung die kurdische Zivilgesellschaft eine Entwicklung genommen hat, die über den Aufbau demokratischer Strukturen, Organisationen und Parteien an eine Punkt gelangt ist, wo es kein Zurück mehr gibt. Die Forderungen nach Respektierung unterschiedlicher Ethnien und Kulturen und ihrer verfassungsrechtlicher Verankerung, nach demokratischem Wandel in den kommunalen Strukturen, nach eigenständiger wirtschaftlicher Entwicklung der kurdischen Region können nicht mehr mit kleinen Häppchen wie Zulassung von kurdischem Fernsehen, Radio oder der Erlaubnis kurdischer Sprache befriedigt werden. Allein am Beispiel des geplanten Staudammprojekts bei Hasankeyf wird deutlich, wie sich in der kurdischen Bevölkerung bis auf die Dörfer eine demokratische Bewegung entwickelt, die selbstbewusst die eigenständige wirtschaftliche Entwicklung einfordert. Ein Ergebnis dieser Bewegung ist die Rücknahme der Kreditzusagen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz für das umstrittene Staudammprojekt.

In dieser Situation kündigte die regierende AKP unter Ministerpräsident Erdogan wieder einmal Pläne für die Änderung der Situation der Kurden in der Türkei an. Der türkische Innenminister kündigte im Parlament eine "demokratische Öffnung" einer "neuen Türkei" an. Dieser "Lösungsvorschlag" beinhaltete lediglich etwas mehr kurdisches Fernsehen, wozu eine spezielle Genehmigung erteilt werden muss.

Gleichzeitig versuchte die AKP den Einfluss des Militärs auf die türkische Politik einzudämmen. Generalstabsoffiziere wurden verhaftet, die Prozesse wegen Putschversuchen, Entführungen und Morden sogenannter "unbekannter Täter" usw. laufen derzeit noch.

Die PKK unterstützte diese Entwicklung mit einem erneuten einseitigen Waffenstillstand der Guerilla im April letzten Jahres. Da von Seiten der Regierung nichts Bedeutendes kam in Richtung Änderung der Politik, versuchte die PKK erneut die Entwicklung zu befördern. Eine Friedensgruppe aus den Guerillalagern und dem Flüchtlingslager Maxmur kam im Oktober über die Grenze des Iraks in die Türkei. Sie wurde von mehreren Millionen Kurden begeistert empfangen und brachte den Lösungsvorschlag, die sog. "Roadmap", des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan einer größeren Öffentlichkeit zur Kenntnis.

Für die Militärführung und die AKP war das eine entscheidende Wende. Sie erkannten, dass die kurdischen Provinzen politisch verloren gehen. Das Militär muss eine weitere Beschneidung seiner Privilegien fürchten, bisher konnte es ungehindert in den kurdischen Provinzen operieren und von der wirtschaftlichen Ausbeutung Kurdistans profitieren. Im kommenden Jahr finden die Parlamentswahlen statt. Die AKP muss befürchten, dass sie ihre absolute Mehrheit im türkischen Parlament verliert. Sie hat die Hoffnungen der arbeitenden Menschen im Westen und im Osten der Türkei auf Verbesserung der Lebenssituation - ob im wirtschaftlichen oder im kulturellen Leben - enttäuscht. Von ihren Versprechungen vor den Wahlen vor vier Jahren ist kaum etwas übrig geblieben. Vielmehr ist die Schere zwischen Reich und Arm im Westen der Türkei weiter aufgegangen, gewerkschaftliche Rechte werden weiter mit Polizeigewalt unterdrückt. Und der Abstand in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen dem Westen und dem Osten der Türkei ist auch weiter gewachsen. Die AKP braucht in dieser Situation die Stimmen aus den kurdischen Provinzen. Hatte sie diese das letzte Mal durch das Versprechungen wie der Gewährung individueller Rechte für die Kurden und wirtschaftlicher Entwicklung des Ostens erhalten können, sind diese Hoffnungen auf den Nullpunkt gesunken. Nach Umfragen war ein überwältigender Sieg der prokurdischen DTP zu erwarten. So fachten Militär und AKP die übelsten nationalistischen Stimmungen und Instinkte an. Sie bedienten sich dabei auch der nationalfaschistischen MHP, in Deutschland besser unter Graue Wölfe bekannt. Pogromartige Ausschreitungen gegen kurdische Wohnviertel in den Städten und Dörfern im Westen der Türkei waren die Folge, Parteibüros wurden von einem aufgebrachten Mob überfallen, Parlamentsabgeordnete angegriffen bis hin zu bewaffneten Angriffen auf kurdische Menschen.

Dies schaffte die Stimmung für das Verfassungsgericht, die prokurdischen DTP im Dezember 2009 zu verbieten: "Einer Partei, die mit dem Terrorismus zu tun hat, kann keine Organisationsfreiheit eingestanden werden", begründete das Gericht das Urteil. Der Parteivorsitzenden Türk und ein zweiter Abgeordneter verloren ihr Mandat im Parlament, ihnen und 35 weiteren Politikern der DTP wurde für fünf Jahre untersagt, öffentliche Ämter zu bekleiden. Damit sollte u.a. auch der Fraktionsstatus der DTP im Parlament beseitigt werden. Leyla Zana, nicht Mitglied der DTP, erhielt im Verbotsurteil ebenfalls ein erneutes Verbot, sich politisch zu betätigen.

Die Abgeordneten der DTP und die Bürgermeister in den kurdischen Provinzen traten in die neu gegründete Partei BDP (Partei für Frieden und Demokratie) ein. Durch den Eintritt eines fraktionslosen Abgeordneten in die BDP konnte der Fraktionsstatus im Parlament wieder erlangt werden. Am letzten Wochenende wurden als Vorsitzende der neuen BDP auf dem ersten Parteikongress die Parlamentsabgeordneten Gülten Kisanak und Selahattin Demirtas gewählt.

Ahmed Türk, Vorsitzender der verbotenen DTP reichte gegen das Verbot Klage beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ein.

Nach dem Verbot der DTP setzte eine Verfolgungs- und Verhaftungswelle gegen kurdische Politiker ein. Unter anderem wurden sechs Bürgermeister in Handschellen abgeführt und vor dem Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Derweil sitzen etwa 900 Politiker und Funktionäre der verbotenen DTP und der BDP in Haft. Osman Baydemir, Oberbürgermeister von Diyarbakir und eine der Persönlichkeiten des demokratischen Aufbruchs der Kurden, erhielt Ausreiseverbot aus der Türkei. Sein Reisepass wurde eingezogen. Gegen die Angriffe auf die kurdischen Strukturen finden seit Dezember Demonstrationen und Aktionen statt, deren Hauptträger kurdische Jugendliche sind.

In mehreren Stellungnahmen verweisen PKK und Guerillaführung darauf, dass die türkische Regierung sich auf einer Gratwanderung befindet. Sie warnen vor einer weiteren Verschärfung militärischer Angriffe und Übergriffe auf die legalen Strukturen und betonen ihrerseits, dass sie weiterhin an einer friedlichen Lösung des Konflikts Interesse haben. Erneut forderten sie eine Verfassungsänderung der Türkei.

Die türkische Regierung und das Militär haben sich für einen Kurs entschieden, der auf die Zerstörung und Vernichtung der demokratischen kurdischen Partei- und Organisationsstrukturen abzielt. Gegen die Guerillacamps im Irak wird derzeit ein neuer Angriff vorbereitet. Auch hier wird nicht auf Verhandlungen und Rückkehr und Wiedereingliederung der bewaffneten Kräfte in die Türkei gesetzt, sondern erneut ein Plan der völligen militärischen Vernichtung der PKK verfolgt. Seit Monaten betreibt die türkische Regierung dazu diplomatische Verhandlungen mit den USA, der irakischen Regierung bis hin zu direkten Besuchen bei der kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Größere Behinderungen von EU oder deutscher Regierung sind derzeit ebenfalls nicht zu erwarten. Die AKP hat keine demokratische Lösung für den Kurdenkonflikt entwickelt. Stattdessen hat sich die AKP derzeit für Krieg entschieden und hofft, so als Regierungspartei überleben zu können.   rub


Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN

"Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel"*

An diesem Tag, dem 31. Januar 2010, haben wir uns getroffen, um die Versammlung der afrikanischen Arbeiter von Rosarno in Rom zu bilden.

Wir sind die Arbeiter, die gezwungen wurden, Rosarno zu verlassen, nachdem wir unsere Rechte gefordert haben. Wir arbeiteten unter unmenschlichen Bedingungen. Wir lebten in verlassenen Fabrikhallen ohne Wasser und Elektrizität.

Unsere Arbeit wurde schlecht bezahlt. Wir haben unsere Schlafplätze jeden Morgen um 6 Uhr verlassen und sind nicht vor 20 Uhr zurück gekommen für 25 Euro, die nicht immer in unseren Taschen landeten.

Manchmal schafften wir es nicht einmal, nach einem Tag harter Arbeit überhaupt bezahlt zu werden.

Wir kehrten mit leeren Händen zurück, die Körper gebeugt vor Müdigkeit.

Wir waren seit mehreren Jahren Objekte von Diskriminierungen, Ausbeutung und Belästigungen jeglicher Art.

Wir wurden tagsüber ausgebeutet und nachts gejagt durch die Kinder unserer Ausbeuter.

Wir wurden geschlagen, belästigt, angesehen wie Tiere, ... entführt - jemand von uns ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Man hat auf uns geschossen, zum Spiel oder im Interesse von jemandem - wir haben weitergearbeitet.

Mit der Zeit wurden wir leichte Zielscheiben. Wir konnten nicht mehr.

Diejenigen, die nicht durch Schüsse verletzt worden waren, waren in ihrer Würde, in ihrem Stolz, Menschen zu sein, verletzt.

Wir konnten nicht mehr auf eine Hilfe warten, die nie kommen würde, weil wir unsichtbar sind, wir existieren nicht für die Behörden dieses Landes.

Wir haben uns sichtbar gemacht, wir sind auf die Straße gegangen, um unsere Existenz hinaus zu schreien.

Die Leute wollten uns nicht sehen. Wie kann jemand, der nicht existiert, demonstrieren?

Die Behörden und die Ordnungskräfte sind gekommen und sie haben uns aus der Stadt deportiert, weil wir nicht mehr in Sicherheit waren. Die Leute aus Rosarno haben sich bereit gemacht, uns zu jagen, zu lynchen, dieses Mal organisiert, in wirklichen Menschenjägergruppen.

Wir wurden eingesperrt in Haftzentren (geschlossenen Lagern) für Einwanderer.

Viele sind dort noch, andere sind nach Afrika zurückgekehrt, andere verstreut in einigen Städten des Südens.

Wir, wir sind in Rom. Heute sind wir ohne Arbeit, ohne Schlafplatz, ohne unser Gepäck, unsere Löhne immer noch ungezahlt in den Händen unserer Ausbeuter.

Wir sagen, dass wir Akteure des wirtschaftlichen Lebens dieses Landes sind, dessen Behörden uns weder sehen noch uns hören wollen. Die Mandarinen, die Oliven und die Orangen fallen nicht vom Himmel. Es sind Hände, die sie pflücken.

Wir hatten es geschafft, eine Arbeit zu finden, die wir verloren haben, weil wir ganz einfach gefordert haben, wie Menschen behandelt zu werden. Wir sind nicht als Touristen nach Italien gekommen. Unsere Arbeit und unser Schweiß nützen Italien wie sie auch unseren Familien nützen, die große Hoffnungen in uns gesetzt haben.

Wir verlangen von den Behörden dieses Landes, uns wahrzunehmen und unsere Bitten zu hören:

Wir fordern, dass die humanitäre Aufenthaltserlaubnis, die den elf in Rosarno verletzten Afrikanern zugestanden wurde, auch uns allen, die wir Opfer von Ausbeutung und unserer irregulären Situation sind, die uns ohne Arbeit lässt, verlassen und vergessen auf der Straße, zugestanden wird.

Wir wollen, dass die Regierung dieses Landes ihre Verantwortung übernimmt und uns die Möglichkeit garantiert, in Würde zu arbeiten.

Die Versammlung der afrikanischen Arbeiter von Rosarno in Rom


(*) Den oben stehenden Text, verfasst von afrikanischen Arbeitern aus Rosarno, die jetzt in Rom sind, bekam ich auf Umwegen aus Marokko - ich finde, er muss verbreitet werden, und ich versuche deshalb, ihn zu übersetzen (wie immer ist es nicht so einfach, die französische Sprache mit ähnlichem Klang und trotzdem richtig ins Deutsche zu übersetzen): lusido2002@yahoo.fr

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AKTIONEN ... INITIATIVEN


Demonstration gegen Bundeswehr an Schulen

FREIBURG. Die erste bundesweite Demonstration am 25.1.2010 gegen die Kooperationsvereinbarung von Land und Bundeswehr war mit mehr als 1300 TeilnehmerInnen ein deutliches Zeichen gegen das Unterrichten von Jugendoffizieren an Schulen. "Diese einseitige Sicht auf kritische Themen ist sehr problematisch. Die Schülerinnen und Schüler kriegen nicht die ganze Bandbreite der Thematik aufgezeigt - es fehlt die Sicht der anderen Seite." so Maggie Jaglo, Vorstand des u-asta Freiburg. "Wenn Jugendoffiziere von ihrem Einsatz in Afghanistan berichten, sollten auch FriedensaktivistInnen oder Deserteure eingeladen werden, um wirklich eine fundierte Diskussion zu ermöglichen."   www.u-asta.uni-freiburg.de


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Kooperationsvereinbarung Kultusministerium / Bundeswehr kündigen!

STUTTGART. Über 100 Personen und Organisationen fordern am 2. Februar 2010 in einem Brief Kultusminister Rau auf, die am 4. Dezember 2009 unterzeichnete Kooperationsvereinbarung zwischen Kultusministerium und Bundeswehr aufzukündigen. Der von der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Baden-Württemberg initiierte Brief wird u.a. von vielen Lehrern, Pädagogen, Erziehern, Pfarrern, Gewerkschaftern, Parteigliederungen und Friedensorganisationen aus Baden-Württemberg unterstützt.
Brief ohne Unterstützungsunterschriften: http://bawue.dfg-vk.de/


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Demonstration am 20. Februar: Truppen raus aus Afghanistan!

BERLIN. In dem Aufruf der Friedensbewegung für eine Demonstration am 20. Februar in Berlin heißt es: "Heute sind über 100.000 ausländische Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Die Menschen in Afghanistan fühlen sich dadurch nicht befreit, sondern besetzt. Das nährt den bewaffneten Widerstand. Jetzt sollen noch 40.000 weitere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan Krieg führen. Davon 850 aus Deutschland. Die Bundesregierung will im Bundestag beantragen: Truppenaufstockung für Afghanistan. Mit der Mehrheit der Bevölkerung sagen wir dazu Nein. Wir fordern die Bundestagsabgeordneten auf: Stimmen Sie mit Nein! Schicken Sie keine weiteren Truppen, sondern ziehen Sie diese ab! Nur dann hat der Frieden eine Chance, können die humanitären Hilfsorganisationen ungefährdet arbeiten ... " Keine Erhöhung der Truppen - Frieden und Aufbau statt Unterstützung für den Krieg!   www.afghanistandemo.de


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Hungerstreik in bayerischen Flüchtlingslagern

PASSAU. Mehr als 25 BewohnerInnen der Flüchtlingslager in Hauzenberg und Breitenberg (Landkreis Passau/Niederbayern) boykottieren seit dem 26 Januar 2010 die Annahme der Essenspakete, die sie anstelle von Bargeld als minderwertige Verpflegung bekommen. 11 Flüchtlinge in Hauzenberg sind darüber hinaus in unbefristeten Hungerstreik getreten, sie verweigern die Aufnahme fester Nahrung und nehmen lediglich Wasser und Tee zu sich. Die Flüchtlinge, unter ihnen der ehemalige kongolesische Fußball-Nationalspieler Nsumbu Dituabanza, fordern Recht auf Arbeit, Bewegungsfreiheit und Bargeld statt Essenspaketen.   www.fluechtlingsrat-bayern.de


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Atomkraftgegner planen 120 Kilometer lange Aktions- und Menschenkette

BERLIN/HAMBURG: Die Anti-AKW-Bewegung macht mobil gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Für den 24. April 2010 ruft ein breites gesellschaftliches Bündnis unter dem Motto "KettenreAktion: Atomkraft abschalten!" zu einer 120 Kilometer langen Aktions- und Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel auf. Die Kette wird dabei auch quer durch Hamburg führen.

Initiatoren der Anti-Atom-Kette sind der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Anti-Atom-Organisation ausgestrahlt, das Kampagnennetzwerk Campact und die Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad. An der Organisation der Aktion beteiligen sich Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbände, Gewerkschaften, Parteien, Jugendverbände und weitere Nichtregierungsorganisationen.

Die geplante Menschenketten-Demonstration soll nicht nur die beiden Pannen-Reaktoren in Krümmel und Brunsbüttel miteinander verbinden, sondern auch den Ausbau der erneuerbaren Energien in den Blickpunkt rücken. Auch im hessischen Biblis und im nordrhein-westfälischen Ahaus werden am 24. April Atomkraftgegner demonstrieren.    www.bund.net


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20.000 bei Waldorf Schulen Demo

STUTTGART. Rund 20.000 Schüler, Eltern und Lehrer von Freien Schulen haben am 19.01.2010 in der Stuttgarter Innenstadt demonstriert. In dem Demonstrationsaufruf der Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen Baden-Württemberg (AGFS) heißt es: "In der Koalitionsvereinbarung 2006 hatte das Land den Schulen in freier Trägerschaft zugesichert, die finanzielle Förderung im Laufe dieser Legislaturperiode auf 80% der Kosten eines staatlichen Schülers stufenweise anzuheben. Schon am 27. April 2005 erklärte Ministerpräsident Oettinger im Landtag: 'Die Landesregierung sieht Privatschulen als Partner im Bildungsauftrag. Wir wollen die Privatschulen in den nächsten Jahren sichern helfen.' Und weiter: 'Ich strebe an, in den nächsten Haushaltsjahren die Landesfördermittel Stück für Stück auf etwa 80% der tatsächlichen Kosten anzuheben.' Der vorliegende Haushaltsplanentwurf für die Jahre 2010 und 2011 zeigt, dass die Landesregierung dieses Ziel nicht erreichen wird." - Die AGFS vertritt die Schulträger der Schulen in freier Trägerschaft in Baden-Württemberg. Dazu gehören rund 680 so genannte Ersatzschulen mit ca. 135.000 Schülerinnen und Schülern. Ersatzschulen werden so genannt, weil es im staatlichen Schulwesen entsprechende Schulen gibt. Darüber hinaus bereichern die Freien Schulen die Bildungslandschaft mit ca. 500 Ergänzungsschulen, d. h. hier gibt es keine staatliche Entsprechung. Diese Schulen erhalten allerdings keine Regelzuschüsse.   www.waldorf-bw.de


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Apartheid-Opfer vs. Daimler

BERLIN. Der Auftritt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der WM in Südafrika steht unter keinem guten Stern. Das Problem ist nicht das DFB-Team, sondern dessen Hauptsponsor: Mercedes Benz. Bei SüdafrikanerInnen, die ihr Leben im Kampf gegen das rassistische Apartheidregime riskierten, ruft das Daimler-Logo dunkle Erinnerungen wach. Ein Bundesbezirksgericht in New York hat im April 2009 eine Sammelklage von Opfern des südafrikanischen Apartheidregimes zugelassen. Die Klage wegen Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen, die bereits 2002 Jahren eingereicht wurde, richtet sich gegen Unternehmen, die das rassistische Apartheidregime gestützt haben - darunter auch die deutsche Rheinmetall und der Daimler-Konzern. Die Kläger werfen den Unternehmen vor, entweder direkt völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrechte in Südafrika verletzt oder staatliche Menschenrechtsverbrechen durch die Lieferung entsprechender Güter ermöglicht und unterstützt zu haben. Mit ihren Geschäften verlängerten die Konzerne die politische Repression gegen den Schwarzen Befreiungskampf und die Destabilisierungskriege in der Region. - Mit zahlreichen Einsprüchen blockieren die fünf beklagten Firmen zzt. das weitere Verfahren ... Ziel der Klage ist eine angemessene Wiedergutmachung. Die Opfer verlangen die gesellschaftliche Anerkennung des begangenen Unrechts und umfangreiche soziale Programme für den Wiederaufbau und die Entwicklung benachteiligter Gemeinschaften. Neben der juristischen Aufarbeitung der Apartheid-Verbrechen könnte die Klage ein Präzedenzfall zur Durchsetzung von menschenrechtlichen Standards gegenüber internationalen Unternehmen sein.    www.medico.de


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"Volksaufstand" gegen Bahnhofsumbau?

STUTTGART. Am 2. Februar war offiziell Baubeginn für das Bahnprojekt Stuttgart 21, mit dem der jetzige Kopfbahnhof zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof umgebaut werden soll. Dennoch geben sich die Gegner nicht geschlagen. Am Montag, 8. Februar, waren wie jeden Montag seit Jahresbeginn, mehrere tausend Menschen am Bahnhof versammelt, um gegen den Bau zu demonstrieren. Eine Veranstaltung der Tiefbahnhof-Gegner im Rathaus war mit mehr als 600 Teilnehmern überfüllt. Nicht wenige sind überzeugt, dass sie einen "Volksaufstand" organisieren können, mit dem der Bau verhindert wird; sie hoffen darauf, dass die Baukosten derart aus dem Ruder laufen, dass der Bau eingestellt werden muss, oder auf ein positives Gerichtsurteil im Urheberstreit, den der Enkel des Bahnhofsarchitekten Bonatz wegen des geplanten Teilabrisses angestrengt hat.

Wer trägt den Protest? Mittelschicht, Kunst und Kultur - inzwischen sind nahezu das ganze Feuilleton, Krimiautoren und Schauspieler zu den Gegnern gewechselt. Es ist ein bestimmtes Lebensgefühl, was sich gegen das Bahnprojekt richtet. "Wir bleiben oben", ist die Losung. Darin drücken sich Ängste aus gegen eine rein funktionell begründete Technik und Architektur. Es geht nicht um Abwägung und Kompromiss, sondern um eine als existentiell gefühlte Entscheidung - die Stadt als gewohntes Umfeld wird nachher anders sein. Daher ist der Tonfall ruppig und extrem (siehe Plakat gegen Bahnchef R. Grube). Diese Bewegung klammert sich an alle auch entlegenen Möglichkeiten, das Projekt doch noch zu kippen: Urheberrecht, geologische Unwägbarkeiten, Geldmangel sind vorgebrachte Befürchtungen, die eine Umorientierung bei den entscheidenden Eliten bewirken sollen.

Dass sich der Protest so entwickelt hat, hängt mit dem sich über mehr als 15 Jahre hinziehenden Entscheidungsgang für das Projekt zusammen. 1995 wurde im Stuttgarter Gemeinderat mit einer übergroßen Mehrheit für das Projekt entschieden - nur Grüne (damals bedeutend schwächer) und REP waren dagegen. Der Planungsprozess begann zunächst mit den üblichen Bürgerbeteiligungen, stockte dann aber, weil verschiedene Verkehrsminister, insbesondere unter rot-grünen Bundesregierungen, am Projekt nur mäßiges Interesse zeigten - Finanzen für die Bahn flossen eher in den Osten. Erst als die Landesregierung erneut drängte und vor allem erklärte, stärker in die Finanzierung einzusteigen, startete das Projekt neu. Unter dem Gesichtspunkt, dass Entscheidungen, die das Gesicht einer Stadt dermaßen verändern und auf lange Zeit neu prägen, demokratisch begründet sein müssen, war das verheerend. Stuttgart 21 erscheint als Elitenprojekt, das je nach "Prestigedenken" der Beteiligten mal so und mal so entschieden wird.

Diese Eliten wirken aber jetzt sehr entschieden und nicht gewillt, dem Protest nachzugeben. Sie sind überzeugt vom Tiefbahnhof. Die Verkehrsinfrastruktur von Stuttgart als wichtiger Industrieregion im Südwesten müsse verbessert werden, das sei nur mit mehr Schienenverkehr möglich. Die weltweiten Erfahrungen der letzten Jahrzehnte habe sie zu der Auffassung gebracht, dass sich öffentlicher Verkehr in den großstädtischen Ballungsräumen und Metropolen nur unterirdisch verwirklichen lässt. Hohe Geschwindigkeiten und Verkehrssicherheit lassen sich in hochverdichteten Räumen auf bestehenden Trassen einfach nicht realisieren, so die Befürworter. Sie verweisen darauf, dass der tiefer gelegte Bahnhof die Anbindung des Stuttgarter Flughafens an das Eisenbahnnetz mit stark verringerten Reisezeiten ermöglicht. Ferner sei die Schnellbahntrasse Teil der europäischen Magistrale Paris-München-Wien-Budapest. Zur Begründung, warum das Land sich in hohem Maße finanziell beteiligt, wird auf die halbierte Fahrzeit von Stuttgart nach Ulm mit 28 Minuten verwiesen - wichtig für die künftige Entwicklung von Ostwürttemberg. Auch die Stadt würde nur profitieren: rund 100 Hektar Gelände werden nahe der Innenstadt frei.   Alfred Küstler

Raute

Viele Städte vor dem "Kollaps"

Schwerste Krise der Kommunalfinanzen beschädigt Demokratie

Der Deutsche Städtetag hat Anfang Februar "Alarm" geschlagen. Die Folgen der kapitalistischen Krise sind 2009 auf die Kommunen durchgeschlagen, 2010 wird sich die Lage weiterverschärfen. Hinzu kommen die langjährigen strukturellen Finanzprobleme vieler Städte, die immer mehr handlungsunfähig machen. Petra Roth (CDU), Oberbürgermeisterin von Frankfurt und Präsidentin des kommunalen Spitzenverbandes, spricht von der "schwersten Finanzkrise" der Kommunen seit dem Kriegsende.

Tatsächlich bestätigen die Zahlen des Anfang Februar veröffentlichten Berichtes des Deutschen Städtetages diese Aussage. Nach einem positiven Finanzierungssaldo aller Kommen (ohne Stadtstaaten) von +7,6 Mrd. Euro in 2008, geht der Bericht für 2009 von einem Finanzierungsdefizit von -4,45 Mrd. Euro aus und für 2010 von -12,05 Mrd. Euro. Das ist fast die Hälfte mehr, als das bisher höchste Finanzierungsdefizit von -8,4 Mrd. Euro in 2003. Gleichzeitig sind auch die kurzfristigen Kassenkredite rasant gestiegen. Sie lagen 2009 bei -33,8 Mrd. Euro und stiegen allein in den ersten drei Quartalen 2009 um 4 Mrd. Euro. Damit werden fast 20 % der Ausgaben der Kommunen durch Kassenkredite gedeckt. Die Finanzierungsprobleme der Kommunen sind also akut.

Eine der wesentlichen Ursachen dieser Entwicklung ist der Einbruch der Gewerbesteuereinnahmen der Städte, die - abzüglich der vom Bund kassierten Gewerbesteuerumlage - von 31,14 Mrd. Euro in 2008 um 17,4 % auf 25,75 Mrd. Euro in 2009 einbrachen. Für 2010 erwartet der Deutsche Städtetag einen weiteren Einbruch um 4,3 % auf 24,65 Mrd. Euro. Dieser Einbruch ist nicht nur krisenbedingt, vielmehr sind nach Berechnungen des Städtetages rund 900 Mio. Euro dieser Gewerbesteuer-Rückgänge der Unternehmenssteuerreform geschuldet. Insgesamt sanken schon 2009 die Steuereinnahmen der Städte um 7,7 Mrd. Euro. Neben der Gewerbesteuer ist der größte Minusposten der Einkommensteueranteil der Gemeinden, der von 2008 auf 2010 um 16 % sinken wird.

Bei den Ausgaben haben die Sozialausgaben der Städte die höchste Steigerungsrate. Sie werden 2010 den Rekordwert von 41,6 Mrd. Euro erreichen, doppelt so viel, wie Anfang der 90er Jahre. Das vorgebliche Ziel, die Kommunen bei den Sozialausgaben mit Hartz IV zu entlasten, ist längst widerlegt (siehe Grafik 2). Im Gegenteil: Die von Schwarz-Gelb im Bundestag bereits beschlossene Senkung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft auf 23,5 % macht deutlich, dass der Bund immer mehr Ausgaben auf die Kommunen abwälzt. Insgesamt erwarten die Städte dadurch einen Anstieg der Kosten der Unterkunft auf 11 Mrd. Euro, 27 % mehr als bei Einführung von Hartz IV.

Dass die Investitionen der Kommunen 2009 und 2010 trotzdem steigen, ist dem Konjunkturpaket II geschuldet. Allerdings steht dem Anstieg der investiven Zuweisungen an die Kommunen um 3 Mrd. Euro in 2010 ein Rückgang der laufenden Zuweisungen von 1,5 Mrd. Euro entgegen.

Angesichts dieser Situation wehrt sich der Deutsche Städtetag vehement gegen weitere Steuersenkungen sowie gegen die Senkung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft. Er hat von Anfang an einen Ausgleich für das Wachstumsbeschleunigungsgesetz von CDU/CSU und FDP gefordert, das allein Steuerausfälle von 1,6 Mrd. Euro bringen wird. Der Städtetag fordert eine Stabilisierung der Gewerbesteuer und Maßnahmen der Bundesregierung zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Kommunen.


NRW besonders hart betroffen

Dabei ist die Verteilung der kommunalen Finanzprobleme sehr ungleich. Besonders hart betroffen sind die Großstädte in Nordrhein-Westfalen und hier insbesondere die in schrumpfenden Regionen wie dem Ruhrgebiet und dem Bergischen Land um Wuppertal, Solingen und Remscheid. Mehr als die Hälfte der kommunalen Kassenkredite, 17 Mrd. Euro, entfällt auf Städte in NRW.

Eine interessante Studie des DGB Bezirks NRW kam bereits vor einem Jahr zu dem Schluss: "Es sind insbesondere die Gemeinden betroffen, die einen Strukturwandel erlebt haben. Allen voran die Kohlerückzugsgebiete ... Allen diesen Gebieten ist gemeinsam:

1. Ein Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.
2. Ein Rückgang der Bevölkerung ...
3. Ein gleichzeitig überproportionaler Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit und Sozialleistungen ...
4. Infolgedessen eine stark ansteigende Verschuldung, die in der Regel zu einem strukturellen Defizit führt.
5. Dies mündet in der Vergeblichkeitsfalle und führt zu völlig ungleichen Lebensbedingungen in armen und reichen Gemeinden ...

In einigen Kommunen kommen noch weitere Faktoren hinzu, die kommunal nicht beeinflussbar sind ..."

Die Stadt Duisburg konnte zuletzt 1992 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Seit 2003 unterliegt Duisburg dem Nothaushaltsrecht. Die Stadt verlor in 15 Jahren bis 2007 insgesamt 43.000 Einwohner (-8 %) und damit Steueranteile und Landeszuweisungen. Gleichzeitig ging die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung um 32.000 Personen (-17%) mehr als doppelt so stark zurück. Selbst in den für Thyssen-Krupp, dem größten Duisburger Konzern, profitablen Jahren vor dem Kriseneinbruch gelang es der Stadt nicht, aus den "roten Zahlen" zu kommen, obwohl die Gewerbesteuereinnahmen von 2003 bis 2007 um 167% stiegen.

Um die Dimensionen noch einmal deutlich zu machen: Während der kommunale Finanzierungssaldo im guten Jahr 2007 in den Flächenländern insgesamt bei +112 Euro pro Einwohner lag, lag er in NRW insgesamt bei nur +39 Euro pro Einwohner. Betrachtet man das Ruhrgebiet allein, lag der kommunale Finanzierungssaldo mit -99 Euro pro Kopf am untersten Ende der Skala. 2008 betrug der negative Finanzierungssaldo der Ruhrgebietskommunen -612 Mrd. Euro. Und dieser Saldo bezieht sich auf die laufenden Ausgaben, die Verschuldung selbst beträgt ein Vielfaches.

In seiner Studie hat der DGB deshalb ein ganzes Bündel von Forderungen entwickelt. Kern ist die Forderung nach einem Entschuldungsfonds, durch den die Gemeinden von Zinslasten und Tilgung der Altschulden entlastet werden sollen. Dies Entlastung soll die notwendige Liquidität freimachen, um durch die Senkung struktureller Haushaltsdefizite Investitionen zu ermöglichen und Beschäftigung zu sichern. Einen Teil der Altschulden soll die NRW-Bank übernehmen.


Kommunale Selbstverwaltung in Gefahr

Die Oberbürgermeister von 18 Ruhrgebietsstädten und Wuppertal haben die Forderung nach einem Entschuldungsfonds jetzt in einem Aktionsbündnis "Raus aus den Schulden" bekräftigt. Sie kündigen gleichzeitig allerdings harte Einschnitte für die Bevölkerung und "Eigenbeiträge" wie höhere Grundsteuern oder eine "Entschuldungsabgabe" an.

Solche rechtlich fraglichen Vorschläge sind wahrscheinlich vor allem der Verzweiflung geschuldet. Denn faktisch sind viele Städte im Ruhrgebiet und im Bergischen Land kaum noch handlungsfähig. Rund 200 Kommunen können in NRW keinen ausgeglichenen Haushalt mehr aufstellen. Die Anzahl der überschuldeten Kommunen, deren Eigenkapital aufgezehrt ist, wird von fünf Kommunen 2009 im Zeitraum 2010 bis 2013 voraussichtlich auf vierzig steigen. Das ist fast jede zehnte Kommune in NRW. Im Ruhrgebiet allein werden es voraussichtlich 19 Kommunen sein, das ist jede dritte Kommune. Diese Kommunen erhalten schon jetzt teilweise harte Auflagen durch die Kommunalaufsicht, die in NRW von den Regierungspräsidenten wahrgenommen wird.

Und das heißt: Die von oben, vom Land eingesetzten Regierungspräsidenten können die demokratischen Entscheidungen der gewählten Vertreter in den Räten außer Kraft setzen bzw. ihnen diktieren, was sie dürfen und was nicht.

In Oberhausen gab es im letzten Jahr heftige Auseinandersetzungen um die Auflage, keine Azubis mehr einzustellen. Mehrere tausend Menschen demonstrierten dagegen, der Regierungspräsident musste schließlich etwa die Hälfte der sonst üblichen Anzahl Auszubildende genehmigen.

In Essen hat die Düsseldorfer Bezirksregierung vorsorglich einen kompletten Ausgaben- und Investitionsstopp verhängt, obwohl der Haushalt 2010 noch nicht einmal im Entwurf vorliegt und Essen nach derzeitigen Prognosen erst 2013 überschuldet sein wird. Erlaubt sind nur noch pflichtige und vertraglich gebundene Ausgaben, alle freiwilligen Leistungen sind zu überprüfen. "Die Stadt Essen hat mit Aufstellung des Haushaltes und des Haushaltssicherungskonzeptes 2010 letztmalig Gelegenheit, das Ruder herzuzureißen und sich den bislang noch bestehenden Rahmen kommunaler Handlungsfähigkeit zu erhalten und möglichst langfristig zu sichern," heißt es zynisch in der entsprechenden Verfügung.

Zynisch ist diese Aussage auch deshalb, weil selbst die härtesten Zwangsbandagen kaum Aussicht auf Erfolg haben werden. Die Städte Hagen, Marl und Waltrop im Ruhrgebiet waren bereits unter Zwangsverwaltung und wurden von von den Bezirksregierungen eingesetzten Sparkommissaren "regiert". Nach kurzer Entspannung sind sie inzwischen wieder überschuldet.

Absehbar ist, dass in den Kommunen harte Kämpfe um Kürzungen stattfinden werden. In Wuppertal, einer 300.000-Einwohner-Stadt, soll das Theater geschlossen werden. Mehrere Tausend Kulturschaffende aus ganz NRW haben kürzlich dagegen protestiert. Andere Städte wie Essen diskutieren unter dem Stichwort "Anpassung der Infrastruktur" die Schließung von Sportanlagen, Bädern und die Verlagerung des Zentralen Städtischen Jugendzentrums. Sportanlagen, Bäder oder Stadtteilbüchereien, Spielplätze und Kindergärten sind aber nicht nur Einrichtungen der Daseinsvorsorge, sondern ebenso wie die Theater Kommunikationsräume. Das kulturelle Kapital der Stadt ist gefährdet, die kommunale Selbstverwaltung schon jetzt teilweise weg.

Wolfgang Freye


Quellen: "Aktuelle Finanzlage der Städte - Rückblick auf 2009 und Prognose für 2010", Bericht des Deutschen Städtetages, 2.2. 2010; Antwort der Landesregierung NRW auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen "Furiose Pleiten, ratlose Sparkommissare und regierungsamtliche Legenden - Sind die Kommunalfinanzen schon abgestürzt?" vom 21.1.2010; "Kommunalfinanzbericht Metropole Ruhr 2009 - Raus aus den Schulden!", Hrsg. Regionalverband Ruhr, 14.1.2010; "Finanzsituation der Kommunen in NRW - Probleme und Lösungsansätze", Hrsg. DGB NRW, Dezember 2008

Raute

Ausgang der OB-Wahlen in Freiburg offen

Am 25. April 2010 finden in Freiburg Oberbürgermeisterwahlen statt. Der amtierende OB Dieter Salomon (Grüne) hat seine erneute Kandidatur angekündigt, er wird unterstützt von den Grünen, den Freien Wählern und der Mehrheit der FDP.

Die CDU hat im Hinblick auf die gute Zusammenarbeit mit ihm beschlossen, keinen eigenen Kandidaten/in aufzustellen. Dies ist ein Novum in der Freiburger Kommunalpolitik. Bislang hatte die CDU immer einen/e Kandidaten/in aufgestellt, zuletzt 2002 die Lörracher Oberbürgermeisterin Heute-Bluhm, die im zweiten Wahlgang Salomon unterlag (H.B. erhielt 34,4%, Salomon 64,4%).

Für die SPD kandidiert der amtierende Sozial- und Kulturbürgermeister Ulrich v. Kirchbach, der in der Gemeinderatssitzung am 2.2.2010 von der Mehrheit des Gemeinderats (die Grünen enthielten sich) als Sozial- und Kulturbürgermeister wiedergewählt wurde.

Der dritte Kandidat, Günter Rausch, wurde von der Initiative "WiR" (Wechsel im Rathaus) aufgestellt. Diese Initiative, der derzeit rund 200 bunt gemischte Leute angehören, stellte zuerst in monatelangen Debatten ein Programm auf, dann wählte sie ihren Kandidaten: Der parteilose Rausch ist 57 Jahre alt und Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg. Er ist gelernter Verwaltungsfachmann aus Würzburg und ist in Freiburg bekannt geworden als Mitbegründer der Tafel, als Mieterbeiratsvorsitzender bei der Stadtbau und Betriebsratsvorsitzender bei der Vereinigung Freiburger Sozialarbeit. Vor allem aber ist er einer der

Sprecher der Bürgerinitiative "Wohnen ist Menschenrecht" (WiM), die im November 2006 den erfolgreichen Bürgerentscheid gegen den von einer Gemeinderatsmehrheit auf Initiative von Salomon bereits beschlossenen Verkauf der 7.500 städtischen Wohnungen organisierte.

Über den mutmaßlichen Ausgang der OB-Wahlen am 25. April wird derzeit in Freiburg heftig spekuliert. Die kommunalpolitische Situation seit der letzten OB-Wahl im Jahr 2002 hat sich grundlegend geändert. Damals kandidierten im ersten Wahlgang neben Salomon und Heute-Bluhm der SPD-Kandidat Bernhard Zepter und der Kandidat der links-alternativen Kräfte, Michael Moos. Nach 20 Jahren OB Böhme (SPD, Finanzstaatssekretär unter Helmut Schmidt), den viele als autoritären Alleinherrscher erlebt hatten, war 2002 ein Neuanfang gefragt, insbesondere auch ein anderer Führungsstil. Nachdem Bernhard Zepter und Michael Moos im zweiten Wahlgang ihre Kandidatur zurückgezogen hatten (Zepter 16,5%, Moos 14,3%), wurde Salomon von deren WählerInnen mitgewählt: es schien so, als ob sich damit eine Mehrheit links von der CDU gegen die CDU-Kandidatin durchgesetzt hatte.

Doch nach acht Jahren Salomon-Politik muss man feststellen, dass dieser OB eine derart "gute" CDU-Politik gemacht hat, dass die CDU auf einen eigenen Kandidaten verzichten kann und Salomon deshalb anders als 2002 nunmehr auf viele WählerInnen der CDU hoffen kann. Ist die Wahl damit bereits entschieden?

Bei der Kommunalwahl am 7.6.2009 hatte die CDU 20,7%, Junges Freiburg/Die Grünen zusammen 27,1%, die Freien Wähler 6 % und die FDP 8,1%. Dem stehen gegenüber 17,9% der SPD, 7,8% der Linken Liste-solidarische Stadt, 4,3% der Kulturliste, 2,5% der Unabhängigen Frauen und 3,9% der Grünen Abspaltung GAF. Auf dem Papier eine klare Sache für Salomon. Aber man weiß von vielen OB-Wahlkämpfen, dass oftmals Amtsinhaber abgewählt werden. Salomon hat viele durch seinen arroganten, oft flegelhaften Stil verärgert. Viele haben deshalb vor, ihn keinesfalls zu wählen.

Viel wird vom Auftreten des Kandidaten von WiR (Wechsel im Rathaus) abhängen. In der "Zeitung am Samstag" v. 6.2.2010 erläutert er seine Vorstellungen: "Da wäre als erstes eine Bürgerversammlung in der Rothaus-Arena, um mit den Bürgerinnen und Bürgern einen neuen Prozess der intensiven Bürgerbeteiligung zu initiieren. Die Menschen sollen mehr mitgestalten, mehr mitreden. Sie sollen sich engagieren für ihre Belange und für das Gemeinwohl".

Dies entspräche "dem Verständnis für eine moderne Gesellschaft". Rausch: "Da wir parteilos sind und aus der Bürgerschaft kommen, können wir eine solche Bürgerkommune bestens schaffen. Links oder rechts spielt für uns keine Rolle. Parteien stehen hinter ihren Apparaten, wir hinter den Bürgern".

Neben einer solchen eher unklaren Positionierung stehen klare soziale Forderungen: "Mit der Kinderarmut steht Freiburg in Baden-Württemberg an dritthöchster Stelle. Jedes 5. Kind ist hier arm. Das geht nicht bei einer Stadt, die so reich ist wie Freiburg, die so viel Kultur hat. Unsere Idee ist, ein Kinderhilfswerk Freiburg zu gründen ... Es muss Chefsache sein, dass für jedes einzelne Kind ein Hilfeplan entwickelt wird. Bürger können Patenschaften übernehmen, sich dann um eine bestimmte Familie kümmern".

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Mietsituation in Freiburg: "In keiner Stadt Deutschlands wird im Verhältnis zum Einkommen so viel Miete gezahlt wie in Freiburg. Wir würden als erstes eine Mieten-Stopp-Konferenz einberufen: Mieter, Vermieter, Interessenverbände an einen Tisch." Ein städtisches Wohngeld auch für Studierende, ein deutlich günstigerer ÖPNV mit einem Sozialticket und schrittweise kostenlose Kindergärten sind weitere Programmpunkte Rauschs.

Der eigentliche Wahlkampf hat noch nicht begonnen. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, wie "WiR" mit ihrem Kandidaten Rausch die direkte Auseinandersetzung mit den beiden Profis aus dem Rathaus besteht. Es stimmt schon, was Rausch in einem Gespräch mit dem "Wochenbericht" sagt: "Salomon hat schon einmal geglaubt, er sei der sichere Sieger" - und am Ende erlebte er eine katastrophale politische Niederlage. Auch in den traditionell grünen Stadtteilen wie der Wiehre hatten ihm runde 60% der WählerInnen die Gefolgschaft versagt, eine Entschuldung der Stadt mittels Verkauf all ihrer Mietwohnungen fand auch bei den Haus- und Wohnungseigentümern keine Mehrheit. Doch dieser Bürgerentscheid ist vier Jahre her, darauf lässt sich, das haben schon die guten Wahlergebnisse der Grünen bei der Kommunalwahl 2009 gezeigt, keine OB-Wahl im April 2010 gewinnen. Die Schwäche von "WiR" und ihrem Kandidaten liegt bisher darin, dass eine direkte Auseinandersetzung mit Salomon und an zweiter Stelle Kirchbach weitgehend vermieden werden soll. Rausch: "Die Idee ist: ein gutes Leben für alle. Wir werden alle Menschen, auch die, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, dazu aufrufen zur Wahl zu gehen, denn sie haben jetzt eine Alternative". Es ist absehbar, dass dies nicht ausreichen wird. Ohne eine politische Demontage des jetzigen Amtsinhabers wird es keinen "Wechsel im Rathaus" geben.   mim

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Studie zu Gesundheitsrisiken durch Fluglärm: FRANKFURT a.M. Die Linke im Römer hat eine Studie zur Untersuchung der Gesundheitsrisiken durch Fluglärm beantragt: Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen: Für die Erstellung einer epidemiologischen Studie zu Gesundheitsrisiken durch Fluglärm im Umfeld des Flughafens Frankfurt Main, werden ausreichend Mittel in den Haushalt eingestellt. Die Arbeit soll nach dem Vorbild der vom Umweltbundesamt beauftragten Fall-Kontroll-Studie von Prof. Dr. Eberhard Greiser, "Risikofaktor nächtlicher Fluglärm" im Umfeld des Flughafens Köln-Bonn (2009), erstellt werden. Die Studie soll in Kooperation mit den Nachbargemeinden, die dazu bereits ihre Bereitschaft bekundet haben, in Auftrag gegeben und von der Stadt Frankfurt mitfinanziert werden. Begründung: Eine Übertragung der Ergebnisse der o. g. Untersuchungen ergab für das Umfeld des Flughafens Frankfurt (ca. 1,7 Mio. mit mehr als 42 dB belastete Bewohner) eine Erhöhung des Risikos für Herz- und Kreislaufkrankheiten um 19 %, für die koronare Herzerkrankung um 21 %, für Schlaganfall um 25 % und für Brustkrebs bei Frauen um 34 %. Die Untersuchung kann aber nicht ohne weiteres auf das Umfeld des Flughafens Frankfurt übertragen werden. Für Die Linke im Römer ist es wichtig, die Bevölkerung der Stadt Frankfurt am Main über die aktuellen und durch den Ausbau zu erwartenden Risiken durch Fluglärm zu informieren, sowie diese Risiken in die Planung zur Gesundheitsvorsorge mit aufzunehmen.
http://dielinke-im-roemer.de


Gebührenfreie Schule! AURICH. "Bildung muss gebührenfrei sein", fordert der Linke Kreistagsabgeordnete Martin Heilemann und lehnt eine private IGS (Integrierte Gesamtschule) in Hinte und Krummhörn als "bildungspolitische Geisterfahrt" ab. Wer privatisiert, enteignet und grenzt immer die Menschen aus, die am dringendsten auf öffentliche Leistungen angewiesen sind", sagt Heilemann. Bildung sei als öffentliches Gut von den Kommunen vorzuhalten. "Wer jetzt durch eine Privatisierung Kernkompetenzen an Dritte abgibt, riskiert das Öffnen der Büchse der Pandora, die man hinterher nicht mehr zukriegt". Die Linke werde sehr sorgsam die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens prüfen werde, um die Pläne der Verwaltung zu verhindern, "sofern die Räte dazu nicht die Kraft aufbringen".
http://die-Linke.de/nc/politik/kommunal/aktuelles_aus_den_kommunen


Ungerecht und unsozial: TÜBINGEN. Obwohl die Gutachter eine Privatisierung der Müllabfuhr empfehlen, will der Tübinger Rat diese nicht an private Konkurrenz abgeben! Und das ist gut so! Denn die 19 Mitarbeiter der städtischen Entsorgungsbetriebe haben einen Tarifvertrag und einen Lohn, von dem sie leben können! Private Anbieter sparen durch Dumpinglöhne, wie z.B. im Muldentalkreis. Dort gibt es einen Stundenlohn von 6,73 Euro. Übrig bleiben im Monat knapp 880 Euro. Davon kann keine Familie mit Kindern ohne staatliche Unterstützung leben. Sie muss Wohngeld und ergänzende soziale Leistungen beantragen. Am Ende zahlt der Kreis drauf. Im Muldentalkreis waren dies für einen Müllmann 3840 Euro pro Jahr. In Stuttgart wurde die Privatisierung der Müllabfuhr verhindert. Die Müllgebühren konnten dort 2009 um 5% gesenkt werden. Für das Jahr 2010 sind 4% vorgesehen. Auch die Kommune Bergkamen holte die privatisierte Müllabfuhr zurück. Dadurch spart die Stadt 330.000 Euro im Jahr, das sind 30% Noch andere Kreise holten sich die Müllabfuhr von Privaten in öffentliche Obhut zurück: der Rhein-Sieg-Kreis, Kreis Aachen, Neckar-Odenwaldkreis, Rhein-Hunsrückkreis und Uckermark. Beim Gutachten für den Kreis Tübingen sind nur betriebswirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend. Es wird auch kein Hehl daraus gemacht, dass die Einsparungen von bis zu 25% durch die niederen Löhne der Beschäftigten erreicht werden. Es kann aber nicht sein, dass die Einsparungen von den 19 Mitarbeitern der Müllabfuhr alleine bezahlt werden. Das ist im höchsten Maße ungerecht und unsozial!
Angela Hauser, Linke-Stadträtin, Tübingen http://die-linke.de/nc/politik/kommunal/aktuelles_aus_den_kommunen


Kein Stellenabbau bei der Stadt! HANNOVER. "Wir haben uns bereits bei den Haushaltsberatungen dagegen ausgesprochen, dass die Stadt auf Kosten der Beschäftigten spart. So sollte man auch mit den eigenen Beschäftigten nicht umgehen, das schafft nur unnötig böses Blut." So kommentiert der linke Ratsherr Oliver Förste die Drohungen des Kämmerers Marc Hansmann (SPD) im Zusammenhang mit den Tarifverhandlungen, bis zu 200 Stellen bei der Stadt abzubauen. "Das würde zu einer weiteren Verdichtung der Arbeit und einer Verschlechterung der Dienstleistungen für die Bürger führen." "Die Beschäftigten der Stadt haben bereits in den vergangenen Jahren mit 2% ihres Bruttolohns zur Haushaltskonsolidierung beigetragen. Dafür sollte sich der Kämmerer bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken und nicht noch einen Zuschlag verlangen", so Förste weiter. Auch die von Hansmann und Rot-Grün verlangte Arbeitszeitverlängerung um eine halbe Stunde hätte im Übrigen den Abbau von rund 70 Stellen zur Folge. Nicht zuletzt deshalb hat Die Linke im Rat gegen das rot-grüne Sparpaket gestimmt.
http://www.linksfraktion-hannover.de


Wie erfahren die Berechtigten vom Sozialticket? MÜNCHEN. Anfrage der Fraktion der Linken: Nach den bisher vorliegenden Informationen blieb die Nachfrage nach dem Sozialticket hinter den Erwartungen zurück. Allerdings gibt es Meldungen, das Ticket sei nicht an allen Automaten, die Monatskarten vertreiben, auch zu erhalten. In den Tarifinformationen an den Haltestellen ist die IsarCard S nicht zu finden; selbst in den Verkehrsmitteln der MVG, in denen andere durch Zuschüsse betriebene Angebote wie die Nachtlinien beworben werden, wird das Sozialticket nicht beworben. Vor diesem Hintergrund stellt die Linke u.a. folgende Fragen: Geben alle Ticketautomaten des MVV die Isar-Card S aus? In welchen Schritten über welchen Zeitraum ist die weitere Umrüstung geplant? Warum gibt es bei den auf U- und S-Bahnhöfen ausgehängten Tarifinformationen keine Hinweise auf die IsarCard S? Warum gibt es keine Werbung für die IsarCard S in den Fahrzeugen der MVG? Wie ist das Verhältnis von Anspruchsberechtigten zu Anzahl der ausgestellten Münchenpässe innerhalb des Rechtskreis des SGB in München absolut und prozentual? Wurden und werden Bezieher von Grundsicherung (SGB II + XII) systematisch auf das Angebot des Münchenpasses und der mit ihm verbundenen Vergünstigungen hingewiesen? Wird mit dem Bewilligungsbescheid eine Information zum München-Pass verschickt?
http://www.dielinke-muenchen-stadtrat.de


Die Linke unterstützt "zuHAUSe in Bochum (HAUS)": BOCHUM. Am 7. Februar finden in Bochum die landesweiten Wahlen zu den Integrationsräten/Ausländerbeiräten der NRW Kommunen statt. Wahlberechtigt sind alle nicht eingebürgerten Bochumer Bürgerinnen und Bürger, die mindestens 16 Jahre alt sind. Erstmalig dürfen auch eingebürgerte Personen wählen, bei denen die Einbürgerung weniger als fünf Jahre zurück liegt. Gewählt werden an diesem Tag die 10 direkt gewählten Mitglieder für den Ausschuss Migration und Integration (AMI) der Stadt Bochum, der aus 21 Mitgliedern besteht. Dazu erklärt Sebastian Michaelis, Sprecher der Bochumer LinkeN: "Die Liste "zu-HAUSe in Bochum (HAUS)" ist eine Bündnisliste, die sich aus verschiedenen Bochumer Gemeinden zusammengefunden hat und inhaltlich die meisten Gemeinsamkeiten mit den integrationspolitischen Forderungen unserer Partei aufweist, wie zum Beispiel der Forderung nach dem kommunale Wahlrecht für alle MigrantInnen. Daher unterstützen wir als Die Linke die Liste 4 für die anstehenden Wahlen. Außerdem hoffen wir, dass die hier in Bochum lebenden MigrantInnen sich an den Wahlen zahlreich beteiligen."
http://www.dielinke-bochum.de


Auflösung der öffentlichen Ordnung durch Privatisierung und Sparmaßnahmen: HAMBURG. Der Schnee hat in diesem Winter hat nicht nur vielen HamburgerInnen Freude gemacht, sondern auch die Stadt an ihre Grenzen gebracht und die Folgen von Sparmaßnahmen und Privatisierung aufgezeigt. Etliche Bereiche in der Stadt sind nicht mehr bzw. waren lange Zeit nicht nutzbar. Viele Fußwege, Fahrradwege und selbst Bushaltestellen und U-Bahn-Zugänge waren nicht geräumt. Die Fraktion Die Linke hat deshalb ein Antrag eingereicht, der den Senat auffordert über sein Winterräumkonzept und dessen Umsetzung, über die Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlichsten Akteuren des Winterdienstes und über die zukünftigen Planungen für Fahrradfahrer und Fußgänger Bericht zu erstatten. Zudem fordert die Fraktion in einer schriftlichen Kleinen Anfrage Auskunft über das Ausmaß, Ursachen und Folgen der gegenwärtigen Lage, unter anderem über die Anzahl der durch Schnee- und Eisglätte bedingten Unfälle sowie Namen, Leistungen und Kosten der privaten Winterdienste. Besonders dramatisch scheint die Situation auf Bezirksebene zu sein: Nachdem weite Bereiche des Winterdienstes privatisiert wurden, konnten jetzt die beauftragten privaten Firmen den Anforderungen nicht nachkommen. Privatisierung hatte also die faktische Abschaffung des Winterdienstes zur Folge! Die Folgen treffen vor allem ältere und gehbehinderte Menschen hart, für die jeder Weg in den letzten Tagen und Wochen zum Abenteuer wurde. Als Folge berichten die Hamburger Krankenhäuser von auffallend vielen Patienten mit Knochenbrüchen. Die Verantwortung wird von einer Stelle auf die nächste geschoben. Die offiziellen Stellen verweisen auf die privaten Akteure, die häufig ihrer Streupflicht nicht nachkämen. Zudem übernimmt die Klimahauptstadt für den Radverkehr im Winter bisher keinerlei Verantwortung. Als vollwertiges Verkehrsmittel betrachtet der Senat das Fahrrad im Winter offensichtlich nicht.
http://www.die-linke-hh.de

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Verdi führt die Tarifverhandlungen gemeinsam mit der GdP, der GEW und der DBB-Tarifunion im Deutschen Beamtenbund. Eine Welle von Warnstreiks geleitet die Verhandlungen. Die vor allem auf das "Kaufkraftargument" gestützte Legitimation der Forderung - Volumen ca. 5% - wird durch Hinweise auf die soziale Bedeutung der öffentlichen Dienste und die spendable Bankensubvention durch die öffentliche Hand gestützt. Die öffentlichen Arbeitgeber zeigen sich bisher völlig unbeeindruckt. Ein Schlichtungsverfahren würde zu einer Zeit, in der die IG Metall auf viel verzichtet, um gemeinsam mit den Arbeitgebern die Politik zu arbeitsplatzerhaltende Maßnahmen zu veranlassen, wohl eher zugunsten der Arbeitgeberseite ausgehen.


Tarifsteigerungen statt Klientelpolitik und Steuergeschenke!

ESSEN. "Wir unterstützen die Tarifforderungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und ihrer Gewerkschaften nach angemessenen Entgeltsteigerungen. Denn die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Dienstleistungen ist eine notwendige gesellschaftliche Aufgabe und mindestens genau so systemrelevant wie die Banken. Der öffentliche Dienst ist unverzichtbar für eine soziale und solidarische Gesellschaft. Aber gute öffentliche Dienstleistungen sind nur dann gesichert, wenn die Beschäftigten angemessen bezahlt werden. In den vergangenen zehn Jahren ist die Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst deutlich hinter der Gesamtwirtschaft zurückgeblieben. Das schlägt sich negativ auf die Motivation der Beschäftigten, die Neubesetzung offener Stellen mit qualifiziertem Personal und damit insgesamt auf die Qualität des öffentlichen Dienstes nieder. In der Wirtschaftskrise wäre Lohnzurückhaltung im öffentlichen Dienst zudem eine fatale konjunkturpolitische Entscheidung. Jetzt geht es um die Stärkung der Kaufkraft. Und das geht nicht mit Klientelpolitik und Steuergeschenken an die Besserverdienenden, wie es die Bundesregierung mit ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz vorgibt. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst macht aber auch das Problem der jahrelangen Unterfinanzierung der Kommunen deutlich, das durch die jetzigen Steuergeschenke der Bundesregierung noch verschärft wird. Ohne Steuergerechtigkeit und eine grundlegende Reform der Kommunalfinanzen sind diese Probleme nicht lösbar."
www.dielinke-essen.de


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Gewerkschaftsmitgliedschaft in Europa

Zwei kürzlich erschienene Publikationen befassen sich mit der Entwicklung der Gewerkschaftsmitgliedschaft in den europäischen Staaten. Zum einen ist dies ein Bericht der Stiftung zur Erforschung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Dublin.(1) Die Publikation (nur in Englisch erhältlich) enthält Daten über die Gewerkschaftsmitgliedschaft und ihre Zusammensetzung nach Geschlechtern für den Zeitraum von 2003 bis 2008. Das Dokument enthält keine Beurteilungen, liefert aber Informationen zur inneren Struktur der jeweiligen nationalen Gewerkschaftslandschaft. Wie die beigefügte Graphik zeigt, ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild, zu dessen Erklärung sicher sehr verschiedene Einflussfaktoren untersucht werden müssten. Auf jeden Fall scheint eine starke institutionelle Einbindung in die Gesellschaft (wie etwa in den Skandinavischen Ländern oder Belgien) kein ausreichender Garant für Stabilität. Ebenfalls die Fokussierung auf Mobilisierung im politischen Feld, wie von den französischen Gewerkschaften (in der Graphik nicht aufgeführt) eingeübt, erweist sich nicht als zentraler Schlüssel zum Erfolg. Die (meisten) französischen Gewerkschaften verlieren weiter Mitglieder.

Dublin Foundation: Veränderungen im gewerkschaftlichen
Organisationsgrad, 2003-2008 (%)
Belgien
Griechenland
Zypern
Finnland
Norwegen
Italien
Rumänien
Slowenien
Portugal
Großbritannien
Niederlande
Malta
Dänemark
Schweden
Ungarn
Österreich
Lettland
Polen
Bulgarien
Estland
Litauen
Slowakei
+  6,8
+  6,0
+  5,7
+  5,7
+  4,5
+  4,3
+  4,2
+  2,6
+  2,2
+  0,7
-  1,2
-  2,0
-  3,3
-  5,8
-  9,3
-  9,9
- 15,8
- 16,1
- 16,2
- 18,4
- 34,1
- 34,1

Und zum Anderen ist dies eine unter dem Titel "Koalitionsfreiheit, Arbeitnehmerrechte und sozialer Dialog in Mittelosteuropa und im westlichen Balkan" erschienene Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung.(2) Die Broschüre geht dem nicht durchgängigen aber teilweise dramatischen Zerfall gewerkschaftlicher Strukturen in den im Titel genannten Ländern nach.

Sie stellt die Frage, wie sich gesellschaftliche (fehlende) Einbindung und (fehlende) Anerkennung und damit zusammenhängend eine rechtliche Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit und des Tarifvertragsrechts entwickeln und die gewerkschaftliche Attraktivität beeinflussen können. Es werden die rechtliche Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit und ihre spezifischen Beschränkungen sowie rechtliche Restriktionen der Tariffähigkeit besprochen. Neben diesen Informationen finden sich auch interessante Schlussfolgerungen, unter anderem:

- der Organisationsgrad ist höher, wo eine Dualität von Gewerkschaft und betrieblicher Interessenvertretung vorzufinden ist;

- Länder mit ausschließlich oder überwiegend betrieblicher Entgeltfindung haben eine geringere Tarifbindung als Länder mit Flächentarif;

- während des Transformationsprozess nach 1989 stand die nationale Frage im Zentrum, die Aus- und Neugestaltung der industriellen Arbeitsbeziehungen verzögerte sich.

Um haltbarere Urteile über den aktuellen Zustand der Gewerkschaften bzw. ihrer Erosion fällen zu können, reichen die untersuchten Aspekte jedoch kaum aus. Dazu müssten z. B. auch erörtert werden, ob und wenn ja welche Modernisierungskonzepte die Gewerkschaften für die ökonomische Entwicklung hatten und haben, oder auch die Frage welche tradierten Funktionen die jeweiligen Gewerkschaften in dem gesellschaftlichen Systemzusammenhängen haben oder haben könnten. Gleichwohl ist für an der Fragestellung Interessierte das Datenmaterial der ersten Publikation und die Informationen über die Arbeitsbeziehungen in der zweiten recht nützlich.   rog

Quellen:
(1) Trade union membership 2003-2008; Dublin Foundation 2009, www.eurofound.europa.eu
(2) Koalitionsfreiheit, Arbeitnehmerrechte und sozialer Dialog in Mittelosteuropa und im westlichen Balkan - Kurzfassung; Heribert Kohl 2009, Download unter http://library.fes.de/pdf-files/id/06603.pdf


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Kieler Betriebs- und Personalräten zu kommunalen Aufgaben

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]


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Europäische Tarif-Koordinierung?

Im Dezember 2009 hat der EGB Richtlinien für die Koordinierung der Tarifbewegungen 2010 verabschiedet.(1) Im Einleitungsteil des Dokumentes wird für 2009 diagnostiziert, dass in 2009 die Lohnhöhe in Europa gehalten werden konnte - nach Abzug der Inflation ein leichtes Plus von 0,5%. Gleichwohl sei in einigen Ländern (baltische Staaten) deutliche Einbrüche in der Lohnhöhe zu verzeichnen. Als Auswirkung der Krise wird für 2010 vor allem ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit vermutet, wesentlich aber ein Angriff der Arbeitgeber auf die Lohnstandards und die Arbeitbedingungen generell, begleitet von einer weiteren Verbetrieblichung der Lohnverhandlungen. Ein wenig trotzig werden die Schlussfolgerungen bzw. Prinzipien für die Koordinierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik mit dem Statement eingeleitet, dass die Beschäftigten nicht für die Krise zahlen werden. Gegenseitige Unterbietung durch Zugeständnisse bei den Löhnen sein inakzeptabel - wenn auch aus lokaler Sicht verständlich. Stattdessen sollen die folgenden Leitlinien die Positionierungen bestimmen:

Gewerkschaften dürften sich auf keinen Fall darauf einlassen, sinkende Produktivität als Argument für ein Abschmelzen der Löhne zu akzeptieren,
Tarifabschlüsse sollen mindestens Produktivitäts- und Preissteigerungen abbilden,
Die Fähigkeit Tarifverträge abzuschließen soll ausgebaut werden, vor allem für die Niedriglohnbereiche des Arbeitsmarktes,
Bezüglich der Krise fordert der EGB Arbeitszeitreduzierungen und öffentliche Lohnsubventionierungen.

Der EGB selbst will vor allem einen besseren Informationsaustausch zwischen den Tarifvertragsparteien fördern und in die öffentliche Debatte eingreifen.

Dass die vorgelegten Leitlinien sehr allgemein bleiben und nicht wirklich ein Arbeitvorhaben skizzieren, in dem für einzelne Länder und Branchen Aussagen getroffen oder Vorhaben umrissen werden, spiegelt auch grundsätzliche Probleme. Generelle Erfahrungen mit den bisherigen Versuchen, Tarifpolitik auf europäischer Ebene zu koordinieren, weisen auf eine Reihe recht unterschiedlicher Schwierigkeiten:

Konkrete Vorgaben für die Tarifverhandlungen sind sehr schwer umsetzbar (z.B. die Vereinbarung von Dorn für die Metallwirtschaft).
Die Tariffähigkeit ist wesentliche Existenzberechtigung für die jeweiligen nationalen Gewerkschaften, die Abgabe von Kompetenz zu verlangen ist äußerst heikel.

Das Festhalten an der nationalen Zuständigkeit führt aber auch z. B. dazu, dass bisher noch kaum strategisch auf die zunehmende Tendenz des Abschlusses von Vereinbarungen im Rahmen von Europäischen Betriebsräten eingegangen wird. Eher herrscht die Haltung vor, dass darf nicht sein. Was generell in den Verbänden auf europäischer Ebene begrüßt wird, ist die Koordinierung im Sinne von Informationsaustausch. Eventuell ist der Wunsch, die bestehenden nationalen Tarifvertragssysteme mittels europäischer Leitlinien zu koordinieren, auch einem zu starken Glauben an zentrale Lenkung und Leitung geschuldet.   rog

Quelle:
(1) http://www.etuc.org/a/6781?var_recherche=Collective%20Bargaining

Raute

WIRTSCHAFTSPRESSE

Ernährungsindustrie beklagt Preisverfall. FAZ, Do. 14.1.10. Das Verramschen von Lebensmitteln müsse ein Ende haben, verlangte J. Abraham, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Seine Branche habe 2009 ein Minus von 4,2% verzeichnet, der stärkste Rückgang seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Die Schuld daran gibt Abraham dem Einzelhandel.


Zeitarbeitsbranche wehrt sich gegen Angriffe. Der Bundesverband für Zeitarbeit wehrt sich gegen Vorwürfe der OECD, es gebe Missstände beim Kündigungsschutz für Zeitarbeiter. Verbandsgeschäftsführer L. Hinsen sagte, die Aussage, Deutschland falle international durch eine Zweiklassengesellschaft am Arbeitsmarkt auf, in der Zeitarbeiter einen mangelnden Kündigungsschutz hätten, sei nicht haltbar. "Zeitarbeit in Deutschland unterliegt vollständig dem allgemeinen Arbeitsrecht. Es existiert kein spezielles Kündigungsrecht für die Zeitarbeitsbranche." Die Systematik der OECD, mit der befristete Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeiter in einen Topf geworfen würden, hält der Verband für unsinnig.


Viele Unternehmen sind nicht von der Krise betroffen. FAZ, Do. 21.1.10. Gut ein Drittel der deutschen Unternehmen ist nach Einschätzung der Sparkassen nicht von der Wirtschaftskrise betroffen oder hat gar von ihr profitiert. Rund 20% der Unternehmen seien stark betroffen, davon 5,6% in ihrer Existenz gefährdet, teilte der Deutsche Sparkassen-Giroverband (DSGV) zu einer Mittelstandsstudie mit. Schnell erholen dürfte sich die Informationstechnik sowie der Groß- und Außenhandel. "Demgegenüber werden sich die Branchen, die stark vom Inlandskonsum abhängig sind, wesentlich schwächer entwickeln."


Pharmaindustrie will staatliche Preisfestlegung verhindern. FAZ, Frei. 22.01.10. Künftig wollen Pharmahersteller die Preise auch für verschreibungspflichtige Medikamente mit den Kassen aushandeln, wenn es nach den Vorstellungen des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) geht. Die Bundesregierung will das alte Verfahren, nach dem die Krankenkassen die stetig steigenden Preise für Medikamente tragen müssen, ändern. "Wir können uns der Verantwortung für die Arzneimittelausgaben der Kassen nicht entziehen", sagte der BPI-Vorsitzende B. Wegener. Die Pharmaindustrie ist besorgt, dass die Regierung ihnen einen Preis für die neuen Produkte vorschreiben könnte, um den weiteren Ausgabenanstieg zu begrenzen.

Zusammenstellung: rst

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

Islamic Banking - der moralisch bessere Kapitalismus?

In Mannheim will eine Bank ab dem Frühjahr Geldgeschäfte anbieten, die sich nach den islamischen Religionsgesetzen richten. Die Kuveyt Türk Beteiligungsbank mit Sitz in Istanbul und Kuwait setzt dabei auf türkische Familien aus dem Umland von Mannheim. Geldgeschäfte nach islamischem Recht gelten zwar als konservativ, aber auch als eine Alternative, die Ethik und Wirtschaft miteinander verbindet. Der politische Islam sieht darin sogar die Alternative zum moralisch zerrütteten westlichen Bankwesen. Hält seine Moral der Wirklichkeit stand?


"Zinslose Banken" - Banken ohne Gewinn?

Grundgedanke des islamischen Bankgeschäfts ist das auf den Propheten Mohammed zurückgehende Zinsverbot, das im Koran Sure 3, 275 formuliert wird (siehe Kasten). Dafür gibt es eine Vielzahl von Anweisungen, die in den islamischen Gesetzen (z.B. der "Shari'a") ihre Anwendung finden und erklären, was gemäß dem Koran als erlaubt ("halal") oder nicht zulässig ("haram") gilt.

Insbesondere verboten sind: Alle zinsbasierte Transaktionen. Also der gesamte Kernbereich, das Geldgeschäft, von Banken und Versicherungen entsprechend westlicher konventioneller Praxis. Transaktionen, die spekulative Elemente enthalten, sind nicht erlaubt. Zum Beispiel ist es verboten, Güter zu horten, um durch eine künstlich geschaffene Verknappung den Preis ansteigen zu lassen. Dementsprechend sind Glücksspiele und vergleichbare Aktivitäten im Finanzwesen verpönt.

Verboten sind die Produktion und der Handel mit Alkohol oder Tabak. Ebenso die Verarbeitung und der Handel mit Schweinefleisch. Produkte, die mit Pornographie oder mit Prostitution zusammenhängen sind nicht zulässig. Und: Geschäftsaktivitäten, die sich auf die Herstellung und Distribution von Rüstungsgütern beziehen, sollen nicht sein.

Entscheidendes Kriterium bei allem Finanzgebaren gemäß dem Islamic Banking ist der Grundsatz, allen Aktivitäten muss eine warenwirtschaftliche Transaktion zugrunde liegen und in der Geschäftsbeziehung darf das Risiko der Geschäftspartner nicht unausgewogen sein.

Wegen des Zinsverbots werden die islamischen Banken häufig als "zinslose Banken" bezeichnet. Doch trifft das nicht die Sache. Auch islamische Banken erwarten selbstverständlich eine Gegenleistung, wenn sie Kapital für ein Vorhaben zur Verfügung stellen. Dazu hat die islamische Bankenbranche eine Reihe von Finanzierungsformen entwickelt.


Das islamische Zinsverbot

Im Koran, Sure 2, 275 - 280 heißt es: "Diejenigen, die den Zins verzehren, werden nur so aufstehen, wie der aufsteht, den der Satan packt und verprügelt. Dies, weil sie sagen: Das Verkaufen ist gleich dem Zinsnehmen. Aber Gott hat das Verkaufen erlaubt und das Zinsnehmen verboten. Gott vernichtet das Zinsnehmen, und er verzinst die Almosen. Und wenn (ein Schuldner) in Bedrängnis ist, dann gewährt ihm Aufschub, bis sich (bei ihm) Erleichterung einstellt. Dass ihr (es ihm) aber als Almosen erlasst, ist besser für Euch, so Ihr Bescheid wisst."

Wie das erlaubte Veräußerungsgeschäft vom verwerflichen Wucher (riba) zu unterscheiden ist, gehört zu den umstrittensten Fragen der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh).

Der klassische islamische Jurist al-Kasani (gest. 1191) zum Beispiel definiert riba als "jeden geldwerten Vorteil beim gegenseitigen Vertrag, dem keine Gegenleistung gegenüber steht".

Der moderne ägyptische Jurist al-Sanhuri (gest. 1971) vertritt die Ansicht, nur Wucherzinsen seien verboten; die im Geschäftsleben üblichen "moderaten" Zinsen verstießen hingegen nicht gegen den Islam.

Die Mehrheit der islamischen Juristen ist aber weiterhin der Auffassung, der Islam verbiete den Zins. Diese Auffassung liegt auch dem Islamic Banking zugrunde.


Beispiele Islamischen Wirtschaftens

Im Islamic Banking kann der im westlichen Bankgeschäft übliche Vorgang einer Finanzierung aufgrund des Zinsverbotes nicht umgesetzt werden. Verschiedene Finanzierungstechniken ermöglichen es allerdings den islamischen Banken, auch diese Kundenbedarfe zu befriedigen.


Wadiah- oder Qard-Hassan-Prinzip - die Bank als Dienstleister

Girokonten sind als wichtigstes Bindeglied zwischen Kunden und Bank auch im Bereich des Islamic Banking unverzichtbar. Islamische Girokonten beruhen auf dem Wadiah- oder dem Qard-Hassan-Prinzip. Auf Basis des Wadiah-Prinzips werden die Einlagen des Kunden entgegengenommen und treuhänderisch verwahrt. Die Einlagen können von der Bank verwendet werden, so lange es sich um shar'ia-konforme Geschäfte handelt. Die Risiken, die dadurch entstehen könnten, muss das Kreditinstitut alleine tragen. Ein Kunde mit einem Wadiah-Girokonto erhält zwar keinen Guthabenszins, kann aber andere Bankdienstleistungen nutzen.

Ein Girokonto nach dem Qard-Hassan-Prinzip funktioniert in ähnlicher Weise. Der Unterschied zwischen beiden Produktvarianten liegt weniger im Konzept, als vielmehr darin, wie sie in den islamischen Ländern vermarktet werden.

Jeder an ein Girokonto gebundenen Service, wie Überweisungen, Daueraufträge, Schecks oder die Nutzung von Geldautomaten wird im Islamic Banking angeboten und genutzt. Einen wesentlichen Unterschied gibt es nur im Bereich der Dispositionskredite bzw. Überziehungen. In diesem Fall darf die Bank Ihrem Kunden keine Sollzinsen in Rechnung stellen. Deshalb wird das Konto mit einer Gebühr belastet, meist unabhängig von der Höhe der Überziehung. Die Kunden der islamischen Banken sind verpflichtet den Sollsaldo schnellstmöglich auszugleichen. Wird ein Konto über einen längeren Zeitraum konstant im Soll geführt, behält sich das Institut das Recht vor, dem Kunden die Kontoverbindung zu kündigen.


Murabahah - die Bank als Zwischenhändler

Murabahah entspricht einem Abzahlungskauf, da die Bank als dritte Partei zwischen Käufer und Verkäufer tritt. Der Unterschied zum Islamic Banking besteht jedoch darin, dass auch die Finanzierung Bestandteil des Kaufvertrages bleiben muss. Das heißt, ein Kunde, der ein Auto finanzieren möchte, beauftragt seine Bank, dieses zu kaufen. Im Anschluss an den regulären Kauf, veräußert die Bank das Auto inklusive eines vorher vereinbarten Gewinnaufschlages in Raten an den Kunden zurück. Da es im Islam absolut verboten ist mit Waren oder Gütern zu handeln, die entweder nicht existent sind oder sich (noch) nicht im Eigentum eines der Vertragspartner befinden, muss die Bank zwingend vor Vertragsabschluß - und sei es nur für eine logische Sekunde - das Eigentum am Finanzierungsgegenstandes erwerben. Deshalb meldet die Bank erst dann Kaufinteresse an, nachdem der Kunde eine einseitig bindende Kaufverpflichtung abgegeben hat.

Juristisch gesehen unterscheidet sich die murabahah aber von einem Finanzierungsgeschäft: Die Bank finanziert hier nicht ein fremdes Geschäft, sondern ist selbst "Zwischenhändler". Es handelt sich um ein Veräußerungsgeschäft und keine Form des Kredits. Im Falle einer Zahlungsunfähigkeit des Kunden bei Fälligkeit des Kredites können keine Verzugszinsen seitens der Bank beansprucht werden. In diesem Fall werden meist vertraglich Spenden für wohltätige Zwecke vereinbart.

Dies ist die am häufigsten genutzte Variante der Finanzierungsmethoden im Bereich des Konsumentenkredites.


Mudarabah - die Bank als Investor

Mudarabah ist eine Finanzierungsform, die man mit einer konventionellen stillen Beteiligung vergleichen kann. Die Bank nimmt die Position des Investors ein, während der Kunde, als Unternehmer, sein fachliches Knowhow und seine Arbeitskraft einbringt. Die Besonderheit dieser Methode besteht in der Vereinbarung am Anteil des Ertrages für die Bank. Der Gewinn des Unternehmens wird zwischen der Bank und dem Unternehmer nach einem zuvor vereinbarten Satz aufgeteilt. Im Verlustfall hat der Kapitalgeber, in diesem Fall also die Bank, die Verluste zu tragen, während der Unternehmer auf seinen Lohn verzichten muss und seine Arbeitskraft daher ohne ein greifbares Ergebnis aufgewendet hat.


Ijarah - die Bank als Leasinggeber

Sehr verbreitet als Finanzierungsform ist Ijarah, die islamische Leasingfinanzierung. Kreditinstitut und Kunde schließen einen Kaufvertrag ab, mit dem kein Eigentum sondern ein Nutzungsrecht auf den Käufer, also den Kunden, übergeht. Der Ijarah-Geber, also die Bank, muss Eigentümer des Objektes sein und auch während der gesamten Laufzeit bleiben. Sie muss außerdem das Objekt gegen Beschädigung oder Verlust versichern und alle eventuellen zukünftigen Kosten und Verpflichtungen übernehmen. Dem Kunden entstehen somit neben seiner vertraglich vereinbarten Leasinggebühr keine weiteren Kosten. Nach Ablauf der Vertragslaufzeit geht das Nutzungsrecht und damit der Besitz wieder an die Bank über, die das Objekt erneut verleasen oder verkaufen kann.


Religiöse und politische Gründe für das Wirtschaften mit dem Zinsverbot

Das Zinsverbot ist keine Besonderheit des Islam. Auch in den "heiligen" Schriften von Judentum und Christentum wird das Zinsnehmen als nicht von Gott gewollt dargestellt. Sie beschreiben in der Regel den gesellschaftlichen Grundwiderspruch als den zwischen Gläubigern und Schuldnern. Das biblische Sprichwort präzisiert den allgemeinen Gegensatz von Reich und Arm: "Der Reiche herrscht über den Armen, und wer Darlehen nimmt, wird Sklave dessen, der verleiht" (Sprüche 22,7). Ab dem achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ist in den antiken Klassengesellschaften des heutigen Palästina der Übergang von "normaler" Verschuldung zu unumkehrbarer Überschuldung zu beobachten. Im "Normalfall" einer Notlage durch Krankheit, Missernte oder Krieg leiht eine Bauernfamilie Lebensmittel oder Saatgut, um zu überleben und um neu produzieren zu können. Danach wird das Geliehene zurückgegeben; das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Funktioniert dieser Ablauf nicht mehr, weil die Not andauert, setzt sich ein Mechanismus in Bewegung, der zuletzt mit dem Ruin des ehemals selbständigen Bauern endet. Für das Geliehene muss Pfand gegeben werden. Kann das Darlehen mit den Zinsen nicht zurückgezahlt werden, bleibt nur noch der Absturz die Schuldsklaverei.

Hier werden vielfältige neue Regelungen der sozialen Beziehungen eingeführt, wie sie im Alten Testament im Bundesbuch und im Deuteronomium aufgeschrieben sind: Die Sklavengesetze (2. Mose 21,2ff), das Zinsverbot und Pfandrecht (2. Mose 22,24f), die Ordnung der Gerichtsbarkeit (2. Mose 23), die soziale Ausrichtung der Brache und der Arbeitsruhe am siebten Tag (2. Mose 23,10), der Schuldenerlass, der alle sieben Jahre vorgesehen ist (5. Mose 15,1ff), eine Sozialsteuer für die Armen (5. Mose 14), das Verbot der Auslieferung entlaufener Sklaven (5. Mose 23,16), sowie das Gebot der täglichen Entlohnung von Lohnarbeitern (5. Mose 24,14f).

Es geht uns bei der Lektüre dieser alten Texte nicht darum, ob diese Regularien tatsächlich alle damals umgesetzt worden sind. Vielmehr spiegeln sie die damalige soziale Problemlage und den sozial-ethischen Blick der Verfasser der Texte auf die damalige Gesellschaft wider. Auch das Neue Testament, z.B. in der Bergpredigt, und die christliche Kirche haben diese Vorstellungen übernommen. Erst der Reformator Calvin hat im 16. Jahrhundert ausdrücklich das Zinsennehmen befürwortet und damit den sich herausbildenden Kapitalismus gefördert. Die katholische Kirche hat sich im Jahre 1822 dieser Entwicklung angepasst und das Zinsverbot in ihrer Rechtsordnung gestrichen. Deshalb ist der Kapitalismus für die christlichen Kirchen ungebremst akzeptabel geworden.

Auch Mohammed traf im siebten Jahrhundert eineinhalb Jahrtausende später in den Stadt- und Stämmeverbänden der arabischen Halbinsel auf vergleichbare gesellschaftliche Zustände. Mekka war ein wichtiges Handelszentrum in dem einige wenige Großhändler über viel Macht verfügten. Sie verliehen an kleine Bauern Geld, mit dem diese Saatgut erwerben konnten. Wenn diese Bauern die ihnen überlassene Summe nicht fristgerecht zurückzahlen konnten, so wurde die Höhe des geschuldeten Betrags verdoppelt. Da diese verdoppelte Summe in den meisten Fällen erst recht nicht aufgebracht werden konnte, führte diese Form der Zinswirtschaft zur Versklavung der zahlungsunfähigen Personen.

Dennoch reichen diese historischen Hinweise nicht aus, die heutige Wirksamkeit und Attraktivität für die islamische Welt, ohne Zinsen zu wirtschaften, zu erklären. Ein Zitat von Max Weber kann hier meines Erachtens weiterhelfen: "Zunächst führt jede ökonomische Rationalisierung des Tauscherwerbs zur Erschütterung der Tradition, auf welcher die Autorität des heiligen Rechts überhaupt beruht. Schon deshalb ist der Trieb nach Geld als Typus rationalen Erwerbsstrebens religiös bedenklich. ... Vor allem aber ist es der unpersönliche, ökonomisch rationale, eben deshalb aber ethisch irrationale Charakter rein geschäftlicher Beziehungen als solcher, der auf ein niemals ganz klar ausgesprochenes, aber um so sicherer gefühltes Misstrauen gerade bei ethischen Religionen stößt. Jede rein persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch, wie immer sie sei, einschließlich der völligen Versklavung, kann ethisch reglementiert, an sie können ethische Postulate gestellt werden, da ihre Gestaltung von dem individuellen Willen der Beteiligten abhängt, also der Entfaltung karitativer Tugend Raum gibt. Nicht so aber geschäftlich rationale Beziehungen, und zwar je rational differenzierter sie sind, desto weniger. Die Beziehungen eines Pfandbriefbesitzers zu dem Hypothekenschuldner einer Hypothekenbank, eines Staatsschuldscheininhabers zum Staatssteuerzahler, eines Aktionärs zum Arbeiter der Fabrik, eines Tabakimporteurs zum fremden Plantagenarbeiter, eines industriellen Rohstoffverbrauchers zum Bergarbeiter sind nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht karitativ reglementierbar." ("Religiöse Ethik und die Welt", S. 453)


Das moderne islamische Finanzwesen

Das moderne islamische Finanzwesen hat seine Wurzeln in den Unabhängigkeitsbestrebungen der früheren arabischen, überwiegend britischen Kolonien. In den 50er Jahren entwickelten sich grundlegende Ideen, die nationale Identität arabischer Länder wiederherzustellen. Dabei diente der Islam als Abgrenzungsinstrument gegen das westliche kapitalistische Wirtschaftssystem.

Wesentlichen Anteil an der Entwicklung von Banken, die unter Bezugnahme auf das religiös begründete Verbot ohne Zinsen arbeiteten, hatten einerseits die ägyptische Regierungen unter Gamal Abd anNasir und Anwar as-Sadat und andererseits der aus dem Irak stammende Ayatholla Muhammad Baqir as-Sadr. Die ägyptische Regierung gründete 1971 mit der Nasser Social Bank die erste zinsfrei arbeitende nationale Bank, die unter staatlicher Aufsicht stand. Ziel der Errichtung dieser Sparkasse war es, die Landbevölkerung zu einer konstanten Spartätigkeit anzuregen, damit der für die Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens notwendige Kapitalbildungsprozess vom wirtschaftlich dominanten Agrarsektor überhaupt gewährleistet werden konnte. Teilweise wurde diese Bank nach dem Vorbild deutscher Raiffeisen-Sparkassen organisiert. Die Entscheidung für das Arbeiten ohne Zinsen sowie für die Einhaltung islamischer Gebote bei finanziellen Transaktionen sollte es erleichtern, die gläubige und mit wirtschaftlichen Entwicklungen kaum vertraute Landbevölkerung als Kunden zu gewinnen. Diese Bank gilt als wichtiges Vorbild für die Errichtung staatlicher, ohne Zinsen arbeitender Banken.

Die treibenden Kräfte und Vorreiter des Islamic Bankings sind heute in den Golfstaaten, vor allem in Bahrain, Dubai und Malaysia zu suchen. Seit seinen Anfängen in den späten 70er Jahren hat sich das moderne Islamic Banking von einer Nische zu einem breiten Markt entwickelt. Mit einem geschätzten Marktvolumen von zuletzt bis zu 700 Mrd. US-Dollar an shari'a-konformen Assets wuchs das Islamic Banking in den vergangenen Jahren ausgesprochen schnell. In den 90er Jahren war es erst auf 100 Mrd. Dollar gekommen. Die rasche Verbreitung ebenso wie die Tatsache, dass rund 20% der Weltbevölkerung Muslime sind und der Islam in 25 Ländern den Status einer Staatsreligion einnimmt, hat dazu geführt, dass sich westliche Geldinstitute verstärkt mit diesem Thema befassen, um im Geschäft zu bleiben. Die Deutsche Bank ist mit von der Partie. 2004 gründete sie in London den Think Tank "Dar Al Istithmar" zum Thema Islamic Finance. Seit 2000 vertreibt auch die Commerzbank-Gruppe in Deutschland den Al Sukoor European Equity Fund, einen Aktienfonds, der Anspruch auf Islamkonformität erhebt.

Natürlich verstärkt sich aufgrund der weltweiten rasanten Entwicklung auch beim Islamic Banking der Widerspruch zwischen ökonomischer Effizienz und religiöser Wahrhaftigkeit. Je liberaler das Shari'a-Board einer Bank - die bankeneigene Kontrollkommission - ist, desto freizügiger fallen Entscheidungen über erlaubte Konstrukte aus.


Islamic Banking: Der moralisch bessere Kapitalismus?

Dennoch ist das Islamic Banking nicht nur eine scheinheilige Angelegenheit, bei der alles doch auf das gleiche kapitalistische Gehabe hinaus läuft. Ob er aber der moralisch bessere Kapitalismus ist? Zumindest sein Anspruch ist entsprechend hoch. In einem Interview mit der "Berliner Zeitung" im November 2009 beantwortet Michel Sahle Gassner, der für den Zentralrat der Muslime in Deutschland islamische Finanzprodukte zertifiziert und Vizepräsident einer Schweizer Privatbank ist, die Frage: "Wäre die Finanzkrise vermieden worden, wenn sich die Finanzwelt an die islamischen Regeln gehalten hätte?" mit der Aussage: "Sie wäre zumindest nicht so schlimm ausgefallen. Die US-Immobilienkrise, die ja am Ursprung der Finanzkrise stand, hätte es in dieser Form jedenfalls nicht gegeben. Denn nach islamischem Recht wäre es undenkbar gewesen, dass Banken Kunden, die sich das gar nicht leisten können, zum Kauf von Häusern drängen, nur um diesen Menschen Kredite anzudrehen, die sie dann in Paketform an die ganze Welt weiterverkaufen. Diese Praxis zeigt, wie degeneriert gewirtschaftet worden ist. Das islamische Finanzwesen steht dagegen für Maß, Realitätssinn und Anstand."

Karl-Helmut Lechner


Quellen:
Katharina Pfannkuch: "Das Zinsverbot in der Praxis des Islamic Banking", Hamburg, 2009
Katrin Geilfuß: "Islamic Banking in Deutschland - Risiko oder Chance aus Sicht deutscher Banken?" Erschienen im e-Journal of Practical Business Research unter: http://www.e-journal-of-pbr.de in der Sonderausgabe Bank Nr. 2 (04/2009)
Kilian Bälz: zenith business 3/2005 "Islamic Finance: Finanziert mit Gottes Hilfe"
Rainer Kessler: "Sozialgeschichte des alten Israel", Darmstadt 2006
Max Weber: "Religiöse Ethik und die Welt" in "Wirtschaft und Gesellschaft", Zweitausendundeins, Neu Isenburg, 2005, S. 453

Raute

Die Münchner Nato-Sicherheits-Konferenz hat sich als Forum der Rechtfertigung militarisierter Außenpolitik gefestigt. Ein Zeichen dafür ist, dass der Oberbürgermeister zum ersten Mal seit sieben Jahren die Konferenzteilnehmer zum städtischen Empfang eingeladen hatte. OB Ude meint, die auch an Russland, die VR-China und den Iran gerichtete Einladung beweise, dass man hier um friedliche Konfliktlösung ringt. Wir dokumentieren die Presseerklärung der Veranstaler (siehe diese Seite unten) und eine in skeptischem Ton gehaltene, reich bebilderte Darstellung der Münchner Webseite Luzi-M.


Teilnehmer_innenzahl blieb erneut hinter den Erwartungen des Aktionsbündnisses zurück

Nato-Sicherheitskonferenz 2010 zu München

7.2.10. München. Geringere Beteiligung bei "SiKo"-Protesten. Ein Bericht von Redaktion Luzi-M.

Schlechtes Wetter, zum Teil hahnebüchene Inhalte und ein gewisser Gewöhnungseffekt dürften dieses Jahr für eine eher schwache Beteiligung an den Aktionen gegen die 46. Münchner Sicherheitskonferenz geführt haben. Etwa 3000 Kriegsgegner_innen waren den Aufrufen zur Großdemonstration am Samstag gefolgt. Die Polizei war dennoch mit 3700 Beamt_innen präsent. Bereits am vergangenen Mittwoch hatte sich dies angedeutet. Lediglich 30 Teilnemer_innen nahmen an der von der SDAJ organisierten "satirischen Jubeldemo" statt.
http://www.fotobocks.de/fotos/100203jubeldemo/index.html. Auch diesesmal waren die Aktivist_innen und "Protestmanager" (AZ) als "Bonzen" verkleidet, die "mehr Krieg" für "ihre Interessen" forderten. http://www.abendzeitung.de/muenchen/163873. Wolfram Kastners und Peter Zimmermanns Kunstaktion zum Verbot der Verhüllung des Friedensengels kam ohnehin ohne viel Beteiligung aus. Hier zählen gute Bilder und die Anwesenheit der Presse. http://www.fotobocks.de/fotos/100204friedensengel/index.html


Kontrollierter Protest

Am Freitagabend dann (fast) same precedure as every year. Wie schon im Vorjahr fand die Aktion am Marienplatz nur wenig Resonanz. Mit großer Bühne, Konzert und Videoleinwand protestierte das Bündnis - dem weiträumig abgesperrten Alten Rathaus zugewandt - gegen den städtischen Empfang der Konferenzteilnehmer_innen.

Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hatte nach einer sieben Jahre langen Pause den Empfang gerechtfertigt. Die Demonstrant_innen seien eben nicht in der Lage zu verstehen, dass sich die Konferenz verändert habe. Guido Westerwelles Forderung nach Aufbau einer europäischen Armee und von Guttenbergs Absage an weitreichende Abrüstungsforderungen dürften die anwesenden Rüstungsvertreter_innen erfreut haben. Nach einer Veränderung der Konferenzinhalte hört sich dies jedoch nicht an.

Dennoch waren es nur rund 150 vorwiegend ältere Kriegsgegner_innen, die sich das Gerede von den "Kriegstreibern", die "hinter Gitter gehören" anhörten. Nahezu ebenso viele Zivilbeamt_innen mischten sich dem Anschein nach darunter. Empört zeigten sich mehrere Aktivist_innen darüber, dass "die Bonzen" nun einen Empfang bekämen. "Wir lassen uns das nicht gefallen", schrie der Sänger der Punkband "Sparpaket" und gab das Signal für lauten Krach, der über den Marienplatz hallte.

Einige hundert Meter entfernt - am Marienhof - wurden derweil die Tagungsteilnehmer_innen vom Hotel Bayerischer Hof zum Alten Rathaus gebracht. Mit Bussen, Limousinen oder auch zu Fuß gelangten sie zum städtischen Empfang, einige sogar direkt an der Gegendemonstration entlang.

Zum zweiten Empfang des Abends im Nobelrestaurant "Käfers" am Prinzregentenplatz hatten die "Anarchisten/Rätekommunisten" mobilisiert. Traditionell lädt der Münchner Anwalt Seybold vor allem die US-Delegation ein, inzwischen hat die Veranstaltung zum High Society Event entwickelt, zu dem auch Veronika Ferres kommt. Draußen beschützten rund einhundert Polizist_innen das Nobelrestaurant - vor etwa zehn Kriegsgegner_innen.

Am Samstag kamen bei Nieselwetter rund 3000 Demonstrant_innen zur "Großdemonstration gegen die Nato-Sicherheitskonferenz" zusammen. Geschlagene zweieinhalb Stunden harrten sie zunächst am Marienplatz aus, bis es nach den teils furchtbaren Redebeiträgen der bekannten Redner_innen endlich voran ging. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung etwa rechnete erst lange die "enormen Kosten" des Afghanistankrieges vor, um dann zu sagen, dass dies aber "nicht unsere Argumentation" sei. Ansonsten beschränkte sich das Gros der Kritik auf den Bundeswehreinsatz in Afghanistan.

Erst gegen halb vier Uhr setzte sich der Demozug in Bewegung. Nach dem ersten "Bündnisblock" folgte der von der Polizei so gefürchtete "schwarze Block", der etwa 500 Teilnehmer_innen gehabt haben dürfte. Zwischen diesen und den Lautsprecherwagen drängten sich einige rote Fahnen. Dahinter folgten die kleineren Blöcke von Verdi, Linke und anderen. Relativ groß wirkte am Ende der Jugendblock.

Abgesehen von kleineren Rangeleien hielt sich die Polizei weitgehend zurück. Lediglich bei den zahlreichen Versuchen, mit Seitentransparenten zu laufen, wurde die Demonstration gestoppt, bis die Banner wieder eingepackt wurden. Alle Seitenstraßen waren mit Polizeiwägen und Sperrgittern abgeriegelt. Nur wer fehlerfrei "Königspinguin" sagen konnte durfte durch, was sich offenbar schon früh durchgesprochen hatte. Über den Oberanger zog die Demonstration zum Sendlinger Tor, wo noch eine Zwischenkundgebung abgehalten wurde, bei der bereits die ersten Teilnehmer_innen angesichts der Dauer und des Wetters gingen.

Beim anschließenden Weg ins Hauptbahnhofviertel wollten sich Innenminister Herrmann und Polizeipräsident Schmidbauer direkt ein Bild von der Arbeit ihrer Untertanen machen. Dies hielten manche zwar für "pure Provokation", die meisten Demonstrationsteilnehmer_innen aber ignorierten die "Oberen". Schließlich ging es mit der Stimmung ohnehin langsam bergab. Der Redner im Lautsprecherwagen betonte schon fast durchgehend die Friedlichkeit der Demonstrant_innen und lud die Polizist_innen ein, sich beteiligen.

Kurz vor dem Hauptbahnhof ließen eine Rauchkerze und ein Böllerwurf auf Polizist_innen nochmal Nervosität bei diesen aufkommen. Dennoch schien die Luft raus zu sein. Am Bahnhofsplatz beschloss die Demoleitung im Einvernehmen mit der Polizei, die Demonstration am Karlsplatz/Stachus vorzeitig abzubrechen. Offiziell wurden das Wetter und die geringer werdende Teilnehmer_innenzahl als Grund angegeben.

Tatsächlich löste sich die Demonstration am Stachus schnell auf und die Teilnehmer_innen zerstreuten sich. In der Fußgänger_innenzone sorgte eine quer gezogene Polizeikette dafür, dass nur Shopping-Freund_innen (und solche, die danach aussahen) durchkamen. Die unanbhängig vom Ausgang der Demonstration angekündigte Kundgebung am Odeonsplatz fand offenbar nicht statt. So konnten die Teilnehmer_innen der "MSC" ungestört zur Residenz gebracht werden, wo am Abend der nächste Empfang stattfand.

Die geringe Teilnehmer_innenzahl spiegelt sich auch in der Bilanz der Polizei wieder, die von "nur" vier Festnahmen "wegen Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Vergehen nach dem Versammlungsgesetz (Schutzbewaffnung)" und einer wegen des "Bengalischen Feuers" spricht.

Bereits am vergangenen Dienstag hatte die Polizei die Festnahme zweier Jugendlicher eskaliert. Vor dem offenbar von Zivilbeamt_innen beobachteten "EineWeltHaus" in der Schwanthalerstraße wurden die beiden Jungs wegen angeblichem Aufkleberklebens (!) festgenommen.

Als sich mehrere Gäst_innen über die rüde Behandlung beschwerten, rückten in kurzer Zeit haufenweise Polizeibusse vor dem Treffpunkt des "Aktionsbündnisses" an, mehr oder weniger alle Beteiligten wurden kontrolliert.

In einer ersten kurzen Einschätzung sucht das Aktionsbündnis nach Ursachen der geringen Beteiligung:

"Dass die Zahl der DemontrationsteilnehmerInnen diesmal etwas geringer war als in den vergangenen Jahren, lag u.a. wohl an den miserablen Wetterbedingungen, aber auch daran, dass viele, die regelmäßig von auswärts nach München kommen, sich in diesem Jahr auf die Großdemonstration und die Blockadeaktionen gegen den Naziaufmarsch am 13. Februar in Dresden konzentrieren. Möglicherweise sehen aber auch viele, die für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan eintreten, diese Forderung bereits als halb erfüllt an, nachdem inzwischen alle Politiker nur noch von 'Abzugsperspektiven' reden." (Siehe auch S.22 d.Z)

In den Kommentaren zu einem Indymedia-Artikel wird dagegen deutlich Kritik an den Aktionen gegen die "MSC" laut, sowohl in inhaltlicher wie in organisatorischer Hinsicht. "Wie letztes Jahr war die Teilnahme am Protest nur schwer zu ertragen", meint eine Teilnehmerin, "echt kein schöner Anblick". Ein "Arbeiter aus einem lokalen anarchistischen/rätekommunistischen Zusammenhang" empfiehlt für die Zukunft "eine kurze Kundgebung mit kurzen Redebeiträgen, eine straighte Demo mit inhaltlich aussagekräftigen Parolen".
http://de.indymedia.org/2010/02/272631.shtml

EinE DrittEr kritisiert, dass die "Inhalte, die bei den Kundgebungen rübergebracht wurden, ziemlich verkürzter, reformistischer Mist waren. (Trauriger Tiefpunkt war die Anmerkung, die Siko würde dem Staat ja viel Geld kosten und das wäre nicht nötig). Von linksradikaler Seite gab's so gut wie keinen Inhalt, nur ein paar Parolen vom Lauti, die sich im wesentlichen auf 'Die Nato bedeutet Krieg - Deshalb muss sie weg' beschränkten."

www.luzi-m.org

Raute

http://sicherheitskonferenz.de/de/2010-nach-der-Siko-Demo

Kurze Einschätzung der Proteste gegen die Nato-Kriegstagung

Trotz Kälte und Dauernieselregen haben sich rund 3.000 Menschen am Samstag an der Demonstration anlässlich der sog. Münchner Sicherheitskonferenz beteiligt.

Die zentrale Forderung unserer Demonstration war der sofortige Abzug der Nato- und Bundeswehrtruppen aus Afghanistan und damit die Beendigung des Krieges, der bereits Zehntausende Tote und Verletzte unter der afghanischen Bevölkerung gekostet hat.

Dass die Zahl der DemonstrationsteilnehmerInnen diesmal etwas geringer war als in den vergangenen Jahren, lag u.a. wohl an den miserablen Wetterbedingungen, aber auch daran, dass viele, die regelmäßig von auswärts nach München kommen, sich in diesem Jahr auf die Großdemonstration und die Blockadeaktionen gegen den Naziaufmarsch am 13. Februar in Dresden konzentrieren. Möglicherweise sehen aber auch viele, die für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan eintreten, diese Forderung bereits als halb erfüllt an, nachdem inzwischen alle Politiker nur noch von "Abzugsperspektiven" reden.

Eines der wesentlichen Ziele unserer Proteste haben wir erreicht: wir haben in der Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass die Nato ein Kriegs- und Aggressionsbündnis und keine Verteidigungs- oder gar Friedensallianz ist.

Gleichzeitig haben wir klar gemacht, dass die sog. Sicherheitskonferenz nichts anderes ist, als eine medienwirksam inszenierte Kriegspropaganda-Veranstaltung, die gerade in diesem Jahr den Zweck hatte, die Nato-Truppenaufstockung in Afghanistan zu rechtfertigen und die Fortsetzung des Krieges als Beitrag zu Frieden und Stabilität zu verklären.

Dass wir mit unserer Argumentation durchaus erfolgreich sind und unsere Proteste ihre Wirkung haben, zeigen die hilflosen Versuche des Siko-Veranstalters W. Ischinger, der sich gezwungen sah, gebetsmühlenartig zu beteuern, auf der Nato-Tagung im Bayerischen Hof gehe es ausschließlich um die Sicherung des Weltfriedens. Diese schönfärberische Selbstdarstellung ist pure Heuchelei, das hat auch die 46. Nato-Tagung bestätigt.

Für uns und für die gesamte Friedens- und Antikriegsbewegung bedeutet das, dass wir dieses politische Täuschungsmanöver immer wieder entlarven müssen, und dass wir nicht nachlassen dürfen - mit immer mehr Menschen - den Druck auf die Bundesregierung und die Bundestagsabgeordneten zu erhöhen, um die Kriegspolitik Deutschlands zu stoppen.

Die nächste bundesweite Aktion der Friedensbewegung findet bereits am 20. Februar in Berlin statt.

Claus Schreer

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Gleichgewicht hergestellt?

Der Rückzug Oskar Lafontaines aus der Bundespolitik erfolgt aus gesundheitlichen Gründen, fällt aber zeitlich mit einer Krise der Strategie der Bundespartei zusammen, die - das sagen die Fakten - in der alten Konstellation nicht bewältigt werden konnte. Ein Blick auf die biografischen Daten der jetzt in Vorschlag gebrachten neuen Vorstandsbesetzung macht den Einschnitt deutlich. Hier gelangen politische Erfahrungen zur Repräsentation, die nach dem Anschluss der DDR oder sogar erst in Folge der Fusion von WASG und PDS gewonnen wurden. Diese Änderung, die auf dem Parteitag im Mai besiegelt werden soll, wird unumkehrbar sein, die damit im Organisationsleben und in der Öffentlichkeit verbundene Aufregung hat ihre Funktion: Sie steigert die Aufmerksamkeit.

Ein wichtiges Moment in der ablaufenden Veränderung ist der Übergang weg von einer charismatischen, intuitiv operierenden Parteiführung hin zu einer verantwortlichen Geschäftsführung. Dieser Übergang, der sich in der inneren Organisation der Partei seit längerem abspielt, wird nun auf den Umgang der Parteispitze mit der Öffentlichkeit und mit der Wählerschaft übergreifen. Das muss eintreten, sobald und sofern die wichtigen Parteiämter doppelt besetzt sind. "Einsame Entscheidungen" können nicht zu zweit, viert oder sechst getroffen werden, auch intuitiv, "aus dem Bauch heraus", kann sich Gleichklang nicht ergeben. Entscheidungen können in einer solchen Konstellation am leichtesten durch Verhandlung und Verständigung erzielt werden; freilich ist die Gefahr groß, dass nichts entschieden werden kann.

Die Stabilisierung der Vorstandsgremien der Linken scheint möglich, ist aber noch nicht gelungen. Ein erhebliches Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass die jetzt vorgeschlagene Vorstandsorganisation Eingriffe in die Satzung erfordert, denn die Konstruktion der "Doppelspitze" ist in der geltenden Satzung bis zum anstehenden Parteitag terminiert. Die Partei kann die unvermeidlich gewordene Änderungen im Vorstand nicht im festen Rahmen einer Satzung vollziehen, sie muss den schwankenden Boden einer auf konkrete Ziele hin zugeschnittenen Satzungsänderung betreten. Als Problem der neuen Personalkonstellation wird sich zweifellos herausstellen, dass die Auswahl nicht eindeutig unter dem Gesichtspunkt der Eignung getroffen wurde, der Grund für die Ablösung Dietmar Bartsch war eben nicht, dass man jemand besseren sah, Bartsch hätte eigentlich ganz gut in einen weniger intuitiv und mehr sachlich wirkenden Vorstand gepasst.

Muss intuitive, charismatische Führung einer geschäftsmäßigen Erledigung von Vorstandsarbeit weichen, so muss dringend der "Geschäftszweck" geklärt werden. Wie es heißt, steht die Veröffentlichung eines Entwurfs zum Parteiprogramm binnen weniger Wochen bevor. Dieser Entwurf wird nicht auf einer breit in der Mitgliedschaft und in der Öffentlichkeit veranstalteten Klärung der politischen Erfahrungen und Ziele der Partei beruhen können, er wird dem vorgreifen müssen.

Bis Mitte Mai soll sich bei der Linken also nicht weniger als Satzung, Vorstand und programmatische Ziele ändern, gleichzeitig wird die Partei anlässlich der NRW-Wahlen durch eine breite Öffentlichkeit gezählt, gewogen und taxiert. In der Partei haben in dieser sehr schwierigen Situation die Adhäsionskräfte überwogen, wahrscheinlich wird auch das Ergebnis der NRW-Wahl den Eindruck bestätigen, dass ein Gegengewicht zu den herrschenden Kräften gebraucht wird, die Frage nach der Richtung ihres politischen Impulses aber dringlich wird, auch in der Öffentlichkeit, auch vor den Wählerinnen und Wählern.


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12.08.2009

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26. Januar 2010 - Der Vorschlag für die Besetzung der Spitzenfunktionen der Partei Die Linke durch den Rostocker Parteitag am 15. und 16. Mai 2010

Der nachfolgende Vorschlag wurde von den Mitgliedern des Geschäftsführenden Parteivorstandes und den Landesvorsitzenden gemeinsam mit Gregor Gysi erarbeitet und vom Parteivorstand mehrheitlich bestätigt.

Parteivorsitzende
Gesine Lötzsch (Kurzbiographie auf www.linksfraktion.de)
Klaus Ernst (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)

Stellvertretende Parteivorsitzende
Katja Kipping (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)
Sahra Wagenknecht (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)
Halina Wawzyniak (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)
Heinz Bierbaum (Kurzbiographie auf www.linksfraktion-saarland.de)

Bundesgeschäftsführer
Caren Lay (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)
Werner Dreibus (Kurzbiographie auf www.linksfraktion.de)

Bundesschatzmeister
Raju Sharma (Kurzbiographie auf www.linksfraktion.de),

Mitglied im Geschäftsführenden Parteivorstand mit besonderer Verantwortung für die Parteibildung
Ulrich Maurer (Kurzbiographie auf www.die-linke.de und www.linksfraktion.de)

http://die-linke.de/die_linke/nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/der-vorschlag/

Martin Fochler

Raute

TERMINE

Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation: Jahrestagung 2010

Schwerpunktthemen:
• Linke Reformpolitik heute
• Militarisierung der Außenpolitik und linke Gegenstrategien

Samstag und Sonntag, 27./28. März in Hannover

Naturfreundehaus in der Eilenriede, Hermann-Bahlsen-Allee 8, 30655 Hannover

Samstag, 27. März

1. 12.30 Uhr, Einlass, Registrierung

2. 13.00 Uhr, Begrüßung, Eröffnung

3. 13.15 bis 16.00 Uhr, Vorträge und Diskussion "Linke Reformpolitik heute"
   a) Einleitung Martin Fochler, Rückgriff auf "Gesetze" der gesellschaftlichen Entwicklung bei Marx und unsere Rezeption
   b) Lutz Brangsch, Rosa Luxemburg-Stiftung, Referat zum Thema "Evolution - wie sich die Gesellschaft verändert"
   c) Christiane Schneider, Luhmann und die Systemtheorie und ihr Nutzen aus linker Perspektive

4. Kaffeepause

5. 17.00 Uhr Neuwahl des Vorstands

6. Beschluß zum Kassenbericht und Bericht der Finanzprüfung, Beschluss über den Haushalt 2010

7. Politische Berichte: Satzung, Neuwahl der Redaktion

Sonntag, 28. März

Militarisierung der Außenpolitik und linke Gegenstrategien.
Referent: NN. mit anschließender Diskussion

Anmeldung ab sofort und spätestens bis 22. Februar bei:

Alfred Küstler, GNN Verlag Süd,
Telefon: 0711-624701
Mail: alfred.kuestler@gnn-verlage.com


*


Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 11. März.

Redaktionsschluss: Freitag, 5. März. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de.
Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die nächsten Erscheinungstermine, jeweils donnerstags: 8. April, 6. Mai, 2. Juni

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische Bildung,
linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph Cornides,
Ulrike Detjen, Emil Hruska, Claus-Udo Monica,
Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,
Tel. 040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21.
E-mail: gnn-hamburg@freenet.de - Alfred Küstler,
GNN-Verlag, Postfach 60 02 30, 70302 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32.
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210 112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
50825 Köln, Venloer Str. 440, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft der
Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale Befreiung"
werden in den Politischen Berichten veröffentlicht.
Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, 50825 Köln, Venloer Str. 440
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Bezugsbedingungen: Einzelpreis 4,00 Euro. Ein
Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
Sozialabo: 46,80 Euro. Ausland: + 6,50 Euro
Porto. Buchläden und andere Weiterverkäufer erhalten
30 % Rabatt.

Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


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Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 2, 11. Februar 2010
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
Venloer Str. 440, 50825 Köln
E-Mail: gnn-koeln@netcologne.de
Internet: www.gnn-verlage.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2010