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ROTFUCHS/199: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 245 - Juni 2018


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

20. Jahrgang, Nr. 245, Juni 2018


Aus dem Inhalt
  • Ostermärsche 2018
  • Appell aus Nagasaki: "Nie mehr Hibakusha!"
  • Zum Militärschlag gegen Syrien
  • Giftige Propaganda
  • Kuba: Neuer Präsident gewählt
  • Kritik an der Politik Israels oder Antisemitismus?
  • Noch einmal zum 2. Juni 1967
  • Berufsverbote und ihre Folgen
  • Erinnerung an Kwame Nkrumah
  • Arbeiterklasse: Der verkannte Machtfaktor (2)
  • Lenins Vermächtnis für die Arbeiterbewegung
  • Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte
  • Sprache als Friedensarbeit
  • Stimmen aus aller Welt über die DDR
  • Das Kinderfest in Moskau und Artek
  • Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
  • Leserbriefe

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Abrüsten statt aufrüsten!

Im 20. Jahrhundert begann das imperialistische Deutschland zwei Kriege gegen Rußland bzw. die Sowjetunion, die zu Weltkriegen führten. Im 21. Jahrhundert hat die jetzt Bundesrepublik Deutschland heißende imperialistische Macht zusammen mit den USA und anderen Verbündeten einen militärischen Aufmarsch gegen Rußland begonnen.

Das Land soll erneut zu hohen Rüstungsausgaben gezwungen werden, Sanktionen sollen es schwächen, subversive Aktionen häufen sich. Die NATO ist 2016 mit den Warschauer-Beschlüssen auch formal wieder zur Politik der Stärke und der atomaren Abschreckung zurückgekehrt. Der US-Raketenabwehrschirm in Europa wird in diesem Jahr mit der Stationierung entsprechender Systeme im polnischen Redzikowo vollendet.

Und die deutsche Bevölkerung? Oft wird auch unter Kommunisten und Sozialisten beklagt, daß die Friedensbewegung schwach sei. Ist das die Realität? Jedenfalls nicht die ganze. Richtig ist vielmehr: Das Ergebnis des jahrelangen neuen propagandistischen Trommelfeuers gegen Rußland, das den NATO-Aufmarsch in Osteuropa, die Sanktionen und Geheimdienstaktionen begleitet, ist sehr bescheiden. Ein Musterfall ist das Verpuffen der Hysterie, die westliche Politiker und Medien im Fall Skripal nach dem angeblichen Ausbringen eines Nervengifts am 4. März im britischen Salisbury erzeugen wollten. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa berichtete am 19. März, es habe ermittelt, daß 91 Prozent der Befragten in der Bundesrepublik keine Angst vor Rußland haben, in der Altersgruppe der 18- bis 29jährigen seien es sogar 98 Prozent. Forsa-Chef Manfred Güllner erklärte, daran habe der Ukraine-Konflikt nichts geändert. Etwa 74 Prozent sind zwar der Meinung, daß die deutsch-russischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind. Noch etwas mehr, nämlich 76 Prozent, finden aber, daß auch die Beziehungen zu den USA "weniger gut oder schlecht" sind. 2010 meinten noch 81 Prozent, diese seien gut. Sie geben Donald Trump für ihre Meinungsänderung die Schuld.

Und die Friedensbewegung? Ja, sie bringt gegenwärtig nicht Hunderttausende auf die Straße, solche Zahlen waren schon immer eine Ausnahme. An den Ostermärschen dieses Jahres beteiligten sich jedoch Zehntausende, erheblich mehr als im vergangenen Jahr, aber immer noch viel zu wenige. Wer in Berlin am Ostersonnabend bei naßkaltem Wetter erlebte, welch beachtliche Zahl von Menschen sich durch Moabit bewegte, wer sah, wie sie die Polizeischikanen gelassen und fröhlich ertrugen, wer die große Rede des katholischen Theologen Eugen Drewermann gehört hat, der wird immer noch einräumen, daß es mehr Demonstranten geben muß. Aber zu sagen, bei der Friedensbewegung passiere nichts, ist falsch und bedient bewußt oder unbewußt diejenigen, die an Aufrüstung gegen Rußland, an dessen Einkreisung und auch an einem Krieg Interesse haben.

Deren Beauftragte in den Redaktionen haben es jedenfalls nicht geschafft, in der Mehrheit der Bevölkerung so etwas wie eine Kriegsstimmung zu erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu dem, was sich am 1. August 1914 vor dem Berliner Schloß zutrug. Wenig später waren Postkarten mit Aufschriften wie "Jeder Schuß ein Ruß, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klaps ein Japs" zu haben, und die deutsche Professorenschaft faselte fast geschlossen von einem "Verteidigungskrieg".

Es ist allerdings kein so großer Unterschied zu 1939. Damals bedurfte es einer gigantischen antipolnischen Lügenproduktion und des Täuschungsmanövers mit dem Sender Gleiwitz, um die Bevölkerung auf Krieg einzustimmen. Den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begleiteten bereits sehr viele mit Unbehagen.

Der Westen bietet heute wieder Aufrüstung, Sanktionen, Subversion und Propaganda gegen Rußland auf. Ein "Gleiwitz" oder eine militärische Konfrontation sind jederzeit möglich. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung konnte bisher für ein neues Abenteuer imperialistischen Größenwahns nicht gewonnen werden. Gewollt ist daher Abstumpfung. Helfen wir in der Friedensbewegung mit, das zu verhindern. Unterstützen wir den Aufruf "Abrüsten statt aufrüsten"!

Arnold Schölzel

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Ostermärsche 2018

Die diesjährigen Ostermärsche waren ein Erfolg. Das Netzwerk Friedenskooperative konnte auch dieses Jahr wieder eine Zunahme bei den Teilnehmerzahlen bilanzieren. In einigen Städten wie Bremen und Hannover lag die Beteiligung sogar deutlich über den Erwartungen der Veranstalterinnen und Veranstalter. Insgesamt gab es bundesweit über 100 Aktionen und Veranstaltungen. Diese Entwicklung macht Mut und gibt Hoffnung, daß angesichts der zunehmenden Aufrüstung und der angespannten Weltlage sich wieder mehr Menschen aktiv für Frieden einsetzen.

"Abrüsten statt aufrüsten!" war auf so gut wie allen Ostermärschen ein Hauptthema, zusammen mit u. a. Atomwaffen abschaffen, Rüstungsexporte stoppen und der Forderung nach einer neuen Entspannungspolitik mit Rußland. In vielen Redebeiträgen, auf Plakaten sowie Bannern war die Forderung nach Abrüstung vertreten. Viele Ostermarsch-Aktive sammelten Unterschriften für "abruesten.jetzt", so daß über Ostern die Zahl der Unterschriften weiter anstieg. Dank diesem Engagement haben wir mittlerweile die 50.000er Marke geknackt!

Die Ostermärsche haben gezeigt, daß die Forderung nach Abrüstung über den etablierten Kreis der Friedensbewegung hinausgeht. Der Plan der Bundesregierung, in den kommenden Jahren für Krieg und Militär bis zu 30 Milliarden Euro mehr auszugeben, alarmiert viele Menschen und läßt sie wieder oder zum ersten Mal für Frieden und Abrüstung auf die Straße gehen.

Auch viele gewerkschaftliche Gruppen haben sich u. a. aus diesem Grund verstärkt an den diesjährigen Ostermärschen beteiligt. Dies zeigt, daß die Abrüstungsbewegung weiter wächst. Die Ostermärsche haben uns neuen Auftrieb gegeben. Unser Signal in Richtung Bundesregierung muß noch deutlicher werden: Rüstet endlich ab! Gebt das Geld sinnvoll für Bildung, Gesundheit und andere soziale Bereiche aus statt für Bomben und Krieg!

Philipp Ingenleuf (Friedenskooperative)

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Wollen wir wirklich die Führung übernehmen?

Als "großen Schritt für Europa" wertete die "Bundesministerin der Verteidigung" das am 13.11.2017 von den Außen- und Verteidigungsministern der EU in Brüssel unterzeichnete Abkommen über eine "Ständig strukturierte Zusammenarbeit" in der "Verteidigungspolitik", Code-Name "Pesco". Hervorgehoben wird für die bisher 23 teilnehmenden Staaten unter anderem eine angeblich höhere Effizienz bei Rüstungsprojekten. In Wahrheit ist "Pesco" nur ein erster Schritt zur künftigen europäischen Militärunion und damit zu der lange angestrebten Armee der Staaten Europas. Da jedoch - vor allem von Westeuropas führenden Politikern immer wieder betont - Europa bis zum Ural reicht und damit Rußland, Ukraine sowie Georgien einschließt, wird es von vornherein keine Armee der Europäer, sondern eine Armee der EU, eine Armee Westeuropas sein, gerichtet gegen einen imaginären "Feind" aus dem Osten. Befürworter sprechen von einem Trumpf gegenüber Trump und den USA, deren Interessen zunehmend in Richtung Asien zielen, und von einem wirksamen Drohpotential gegenüber Rußland unter Führung Putins. Nicht hervorgehoben wird, daß selbst mit einer auf die EU begrenzten Armee eine solide Grundlage für dauerhafte Profite führender deutscher und französischer Rüstungsschmieden geschaffen würde. Deutschland, zentraler und wirtschaftlich stärkster Staat der EU, setzt vor allem auf seine umfangreich vorhandenen Möglichkeiten zur Ausbildung militärischer Führungskader, die erprobte gemeinsame Ausbildung national gemischter Einheiten auf deutschen Truppenübungsplätzen, die Schaffung moderner und umfangreicher militärischer Logistik und die Nutzung seiner eben gebildeten Teilstreitkraft für die elektronische Kriegsführung. Daß man in einer EU-Armee deutschen Einfluß und deutsche Führungspositionen anstrebt, kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Erfolg bei der Schaffung einer EU-Armee wäre nahezu deckungsgleich mit einigen der schon im "Weißbuch 2016" genannten Ziele. So hieß es dort u. a.: "Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substantiell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen." Für den kritischen Beobachter bleibt bei einer immer stärkeren Militarisierung Europas unter zunehmend deutschem Einfluß zu fragen: Wer bedroht eigentlich den Westen Europas? Deutsche Soldaten marschieren seit anderthalb Jahrzehnten durch Afghanistan, deutsche Soldaten marschieren durch den Irak, deutsche Soldaten marschieren durch die Wüsten Malis, deutsche Marinesoldaten durchpflügen ohne genaues Ziel und ohne präzise Aufgaben mit den Schiffen der Kriegsmarine die Wellen des Mittelmeeres. Deutsche Militärpiloten transportieren an Bord ihrer Riesenjumbos Soldaten in krisengefährdete Länder oder suchen an Bord von Kampfjets nach dem "Feind".

Es ist genug! Deutsche Soldaten sollten nicht und nie mehr außerhalb deutscher Grenzen marschieren. Die deutsche Geschichte liefert genügend Belege dafür, daß solches Marschieren Deutschland nie zum Vorteil gereichte. Es ist Zeit, mit einer Stimme zu rufen: Nein! Diese Führung wollen wir nicht übernehmen!

Martin Kunze, Templin

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Endspurt bei der Rettung von "Melodie & Rhythmus"

Vor neun Jahren hat der Verlag 8. Mai, in dem auch die "junge Welt" und die deutschsprachige Ausgabe der kubanischen Monatszeitung "Granma" erscheinen, die 1957 in der DDR gegründete Musikzeitschrift "Melodie & Rhythmus" (M&R) übernommen und sie zu einem Quartalsmagazin für Kultur von unten, für die Musik, die Literatur und den Film der klassenbewußten Teile der Arbeiterbewegung, der Unterdrückten und der Revolutionäre auf der Welt gemacht - zu einem Magazin der Gegenkultur. Anfang 2018 aber teilte der Verlag mit, daß das aktuelle Afrika-Heft voraussichtlich die letzte Ausgabe sein wird.

Die Reaktionen waren beeindruckend. Nur sehr wenige Abonnenten nutzten ihr Sonderkündigungsrecht, die meisten signalisierten: Macht unbedingt weiter! Viele Leser erklärten ihre Bereitschaft, das Überleben der Zeitschrift aktiv zu unterstützen.

Was dazu nötig ist, läßt sich berechnen: 1700 zusätzliche Abonnements, davon 1000 bis Ende Juni 2018. Ein Normal-Abo kostet im Jahr für vier Ausgaben 26,90 €, ein Förder-Abo 36,90 €. Der Verlag stellt nun sogenannte Perspektiv-Abos für M&R zur Verfügung: Sie treten nur in Kraft, d. h. müssen nur dann bezahlt werden, wenn die Zeitschrift weiter erscheint. Vorher wird nicht kassiert.

Die Zwischenbilanz: Bis zum 11. Mai bestellten 554 Menschen ein Perspektiv-Abo, d. h. mehr als die Hälfte des Zieles wurde erreicht. Zuspruch findet die Rettungskampagne, so der Verlag, besonders unter fortschrittlichen Kulturschaffenden. Alle bisher erschienenen Texte sind unter melodieundrhythmus.com im Internet zu finden. Am Freitag, dem 22. Juni, laden verschiedene Künstler außerdem in das Berliner Kulturzentrum Wabe (Danziger Straße 101) ein, um einen Solidaritätsbeitrag zu erzielen.

Und auch das gehört zu diesem Tag: Am 22. Juni 1942 begann der Überfall der Nazi-Wehrmacht auf die Sowjetunion. Heute sind deutsche Soldaten wieder in vielen Ländern aktiv. Damalige und heutige Kriege waren und sind ohne entsprechende kulturelle Vorarbeit nicht möglich Der Erhalt der M&R ist kein Selbstzweck, sie wird als wichtiges Instrument auch im Kampf gegen Kriege dringend gebraucht.

A. Sch.

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Friedensdeklaration von Nagasaki
"Nie mehr Hibakusha!"

Diese Worte drücken den Herzenswunsch der Hibakusha (der Opfer der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki) aus, daß in der Zukunft niemand in der Welt wieder die Erfahrung der katastrophalen Zerstörungen erleben muß, die durch Nuklearwaffen verursacht werden. In diesem Sommer (2017) hat dieser Wunsch viele Nationen in aller Welt erreicht und zum Abschluß eines Vertrages geführt. Der Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen, der ihre Anwendung und darüber hinaus ihren Besitz oder ihre Stationierung untersagt, wurde im Juli durch 122 Nationen verabschiedet - von mehr als 60 Prozent der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen.

Ich möchte diesen Vertrag, der das Leiden und die Kämpfe der Hibakusha erwähnt, "den Vertrag von Hiroshima und Nagasaki" nennen. Ich möchte gleichfalls unsere tiefste Dankbarkeit gegenüber allen Nationen ausdrücken, die den Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen unterstützen, den Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen und allen anderen, die mit solch einer kraftvollen Bestimmtheit gewirkt und den Mut aufgebracht haben, die Welt von diesen Waffen zu befreien.

Es gibt noch immer etwa 15.000 Nuklearwaffen auf der Welt. Die internationale Situation zu den Nuklearwaffen wird immer angespannter, und ein starkes Gefühl der Angst breitet sich aus, daß diese Waffen tatsächlich wieder eingesetzt werden könnten. Die Nuklearstaaten lehnen außerdem diesen Vertrag ab, und es ist kein Ende auf dem Weg zu "einer Welt ohne Nuklearwaffen" in Sicht. Die Menschheit ist nun mit der Frage konfrontiert, wie dieser Vertrag, der endlich abgeschlossen wurde, umgesetzt werden kann.

Ich richte hiermit den folgenden Appell an die Nuklearstaaten und die Nationen unter ihrem Nuklearschirm: Die nukleare Bedrohung wird nicht enden, solange Nationen für sich in Anspruch nehmen, daß Nuklearwaffen für ihre nationale Sicherheit unentbehrlich sind. Bitte überdenken Sie Ihre Politik, Ihre Nationen durch Nuklearwaffen schützen zu wollen. Der Nichtverbreitungsvertrag (NPT) sollte für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein, um ihre Nuklearwaffenarsenale abzubauen. Kommen Sie bitte dieser Verpflichtung nach!

An die japanische Regierung richte ich diesen Appell: Ungeachtet der Tatsache, daß die japanische Regierung eindeutig gesagt hat, daß sie die Führerschaft übernimmt, eine Welt frei von Nuklearwaffen anzustreben und eine Brückenrolle zwischen den Nuklearstaaten und Nichtnuklearstaaten zu spielen, ist ihre Haltung der Nichtbeteiligung an den diplomatischen Verhandlungen für einen Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen für uns absolut unverständlich. Als das einzige Land in der Welt, das zu Kriegszeiten tatsächlich Atombombenabwürfen ausgesetzt war, bitte ich die japanische Regierung, dem Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen zur frühestmöglichen Gelegenheit beizutreten. Die internationale Gemeinschaft erwartet die Beteiligung Japans.

Ferner bitte ich die Regierung dringend, daß sie eine Botschaft an die Welt richtet, welche die pazifistische Gesinnung der Verfassung Japans enthält, die der Nation entschieden untersagt, niemals wieder in einen Krieg einzutreten, und daß sie als Schritt auf dem Weg zu einer Welt frei von Nuklearwaffen jetzt eine bestimmte Politik verfolgt, die das Konzept eines Vertrags über eine nuklearwaffenfreie Zone im Nordosten Asiens prüft.

Niemals werden wir die Tatsache vergessen, daß am 9. August 1945 um 11.02 Uhr eine Atombombe genau hier explodierte und 150.000 Menschen tötete oder schwer verletzte. An diesem Tag haben die Explosion und der Feuersturm die Stadt Nagasaki in ein verkohltes Stück Land verwandelt. Menschen, deren Haut sich abschälte und herabhing, schwankten in der zerstörten Stadt herum und suchten ihre Familien, andere wanderten einfach verwirrt umher. Entgeisterte Mütter standen neben ihren Kindern, die schwarz verbrannt waren. Jeder Winkel der Stadt wirkte wie eine Höllenlandschaft.

Viele dieser Menschen konnten keine angemessene medizinische Betreuung erhalten und starben. Und auch heute, 72 Jahre nach diesem Tag, leiden die Körper der überlebenden Hibakusha durch die Strahlungsschäden weiter. Nicht nur, daß die Atombombe die Leben der geliebten Familienmitglieder und Freunde ausgelöscht hat, es wurde auch ihr eigenes weiteres Leben auf grausame Weise geprägt.

Anführer aller Nationen der Welt: Kommen Sie bitte, und schauen Sie sich den Ort des Atombombenabwurfs an. Ich möchte, daß Sie sehen, was hier unten geschehen ist auf dem Erdboden unter der Pilzwolke, nicht aus einer Perspektive hoch über ihr; ich möchte, daß Sie alle mit Ihren eigenen Augen sehen und mit Ihren eigenen Herzen spüren, wie grausam die Atombombe die Würde menschlicher Wesen zerstört hat. Ich möchte, daß Sie sich vorstellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihre eigene Familie an diesem Tage in Nagasaki gewesen wäre.

Wenn Menschen schmerzliche und erschütternde Erfahrungen durchlebt haben, neigen sie dazu, die Erinnerung daran in ihren Herzen zu verschließen und zu zögern, darüber zu sprechen. Das ist so, weil darüber zu sprechen bedeutet, daran erinnert zu werden. Dennoch ist die Tatsache, daß die Hibakusha weiterhin über ihre Erfahrungen sprechen, während sie ihre körperlichen und geistigen Narben erdulden, ein Akt von Mitgliedern der menschlichen Familie, unsere Zukunft zu schützen, und es ist ein Ergebnis ihrer Entscheidung, ihre Botschaft unbeirrt zu verbreiten.

Diesen Aufruf richte ich an alle Menschen in der Welt: Die beängstigendsten Dinge sind das Desinteresse und das fortschreitende Vergessen. Ergreifen wir den Staffelstab von denjenigen, die den Krieg erlebt haben, und von den Hibakusha, so daß er nahtlos in die Zukunft weitergetragen wird.

Die 9. Generalkonferenz der Bürgermeister für den Frieden findet gegenwärtig hier in Nagasaki statt. Viele Vertreter aus kleinen und großen Städten, die schmerzliche Erinnerungen an Krieg und Bürgerkrieg haben, nehmen an diesem Verbund von 7400 Gemeinden teil. Die Stadt Nagasaki beteiligt sich mit unseren Freunden an der Bewegung der Bürgermeister für den Frieden und an der Verbreitung der Botschaft, daß wir die Welt vorantreiben können, wenn wir unsere Kräfte vereinigen und niemals aufgeben, als kleine Stadt für den Frieden zu beten, wie die Hibakusha es uns gezeigt haben.

Wir werden beweisen, daß die Worte "Nagasaki muß der letzte Ort bleiben, der einen Atombombenabwurf erlitten hat", diese Worte, welche die Hibakusha ständig wiederholt haben, bis ihre Stimmen heiser geworden sind, ein gemeinsames Anliegen und Ziel der gesamten Menschheit geworden sind.

Das Durchschnittsalter der Hibakusha beträgt heute 81 Jahre. Das Zeitalter, in dem die Hibakusha noch leben, geht seinem Ende entgegen. Ich fordere die japanische Regierung nachdrücklich auf, die Unterstützung zu verbessern, die den Hibakusha gewährt wird.

Ich gedenke hiermit aller, die durch den Atombombenabwurf getötet wurden, und ich erkläre, daß wir, die Einwohner der Stadt Nagasaki, allen Menschen in aller Welt die Hand reichen, die für eine nuklearwaffenfreie Welt beten und die weiterhin unermüdlich an der Umsetzung der Beseitigung von Nuklearwaffen und für einen ewigen Weltfrieden arbeiten.

Tomihisa Taue
Bürgermeister von Nagasaki, 9. August 2017

(Red. gekürzt; siehe auch den Appell von Shinzo Hamai, Bürgermeister von Hiroshima, vom 6. August 1962, RF 224, Seite 6)

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Militärschlag gegen Syrien völkerrechtswidrig!

In demagogischer, skrupelloser und brutaler Weise haben die westlichen Führungsmächte insbesondere in den letzten zwanzig Jahren die Vorstellung popularisiert, daß Militärschläge als humanitäre Interventionen oder/und als Konsequenz fehlender Übereinstimmung im UN-Sicherheitsrat notwendig, alternativlos und angemessen seien, obgleich die entsprechenden Völkerrechtsverstöße nicht nur für Juristen offensichtlich sind.

Die UN-Charta kennt nur zwei Ausnahmen zum absoluten zwischenstaatlichen Gewaltverbot und des Androhens mit Gewalt: das Recht auf Selbstverteidigung und das Mandat des Sicherheitsrates. In bezug auf eine bindende Legitimation durch den Sicherheitsrat ist einschränkend hinzuzufügen, daß die Gewaltanwendung nur aus Gründen der Aufrechterhaltung des Weltfriedens zu erfolgen hat.

Die USA, Großbritannien und Frankreich wurden von Syrien nicht angegriffen. Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates zum Einsatz militärischer Gewalt lag nicht vor. Der Bruch des Völkerrechts ist so eindeutig, daß sich jede Beschönigung oder Bagatellisierung als strafbare Begünstigung verbietet. Erschreckend ist, daß sich die BRD und die Europäische Union auf die Formel der "Angemessenheit" geeinigt haben.

Natürlich steht auch außer Frage, daß der Einsatz von Chemiewaffen gegen das Völkerrecht verstößt. Giftgas wurde nach dem Grauen im I. Weltkrieg bereits 1925 im sogenannten Genfer Protokoll geächtet. Wenn schlüssige Beweise vorliegen, dann wäre auch ein solcher Völkerrechtsverstoß zu ahnden, und zwar in Übereinstimmung mit der UN-Charta und nicht in Selbstjustiz.

Die UNO, in der sich die realen Machtverhältnisse widerspiegeln, setzt der fortwährenden, den Weltfrieden gefährdenden Gewaltandrohung und Gewaltanwendung vor allem durch die USA, Großbritannien und Frankreich nichts entgegen. Offenkundige Völkerrechtsverbrechen werden vom UN-Sicherheitsrat geduldet, wenn sie von den USA und ihren Vasallen begangen werden. Selbst das später eingestandene Belügen des Sicherheitsrates, das der Kriegsbegründung gegen den Irak diente, blieb für die USA folgenlos. Das "ius ad bellum" (das Recht zum Krieg) ist - man kann es nach zwei verheerenden Weltkriegen nicht glauben - faktisch wieder völkerrechtliches Gewohnheitsrecht geworden. Das nach dem II. Weltkrieg entstandene, auf dem Prinzip der friedlichen Koexistenz beruhende demokratische Völkerrecht - eine Errungenschaft der zivilisierten Menschheit - wird immer mehr ausgehöhlt.

Im Interesse des Erhalts der Menschheit muß es ein Zurück zu Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen geben, wie sie in der UN-Charta niedergelegt sind. Parlamentarische und außerparlamentarische Initiativen und Aktivitäten sind das Gebot der Stunde, "denn", um mit Brecht zu sprechen, "der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden".

Dr. Hans-Jürgen Joseph, Berlin

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Der syrische Krieg

Eine "Revolution" war der syrische Krieg nie. Die Behauptung, es handele sich um eine solche, verbreiteten allerdings die bei der Inszenierung von Konterrevolutionen erfahrenen westlichen Staats- und Konzernmedien seit März 2011. Das hatte auch unter Linken die gewünschte, nämlich entsolidarisierende Wirkung, so daß z. B. im Dezember 2012 die Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping zusammen mit anderen die Initiative "Adopt a Revolution" unterstützte. Wer wissen wollte, was sich bis dahin tatsächlich in Syrien abspielte, hätte sich die Frage stellen können, woher und wie Zehntausende Dschihadisten und die Unmengen Waffen, mit denen der Krieg ausgefochten wurde, ins Land kamen. Sie wurden in von westlichen Geheimdiensten koordinierten Konvois aus Tunesien und Libyen übers Mittelmeer, die Türkei, Jordanien und den Irak nach Syrien gebracht, sie wurden finanziert von den Öldiktaturen, Israel half mit.

Das mit der "Revolution" scheint sich erledigt zu haben. Ein Bürgerkrieg allerdings, wie ersatzweise behauptet, war der syrische Krieg auch nie, sondern ein imperialistischer Interventionskrieg. Am 2. August 2013 hatte der Hamburger Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel in der "FAZ" diese Innovation so zusammengefaßt: Im Irak hätten die Invasoren bei wechselndem Kriegsgrund den Regimewechsel "eigenhändig" besorgt, in Syrien handele es sich um "eine dem Anschein nach mildere Form des Eingriffs, da sie den Sturz des Regimes dessen innerer Opposition überläßt, die von außen nur aufgerüstet - und freilich auch angestiftet - wird". Überschrift seines Artikels: "Der Westen ist schuldig".

Was der Jurist vor fünf Jahren wußte, weiß Katja Kipping heute noch nicht. Am 12. April erklärte sie im "taz"-Interview: "Die verschiedenen Großmächte haben diesen Konf likt f leißig befeuert." Das hat den gleichen Gehalt wie die Aussage, Nazideutschland und Sowjetunion hätten vor 80 Jahren den Spanischen Krieg fleißig befeuert, oder wie die nach 1990 von gewendeten DDR-Wissenschaftlern zu hörende These, die antikolonialen Befreiungskriege z. B. in Mosambik oder Angola seien von sozialistischen Ländern und vom Westen angeheizt worden. Nelson Mandela sah das anders und fuhr deswegen nach seiner Befreiung sofort nach Havanna, um sich für die kubanische Waffenhilfe beim Kampf in Angola zu bedanken. Er hielt den Sieg über die Marionetten des Westens und die Truppen des Apartheidregimes für historisch - für ganz Afrika.

Am 30. September 2015 begannen russische Streitkräf te ihre Hilfsaktionen für die syrische Regierung. Ziel war die Zerschlagung der dschihadistischen Terrorbanden und die Sicherung der staatlichen Integrität - also die Herbeiführung einer strategischen Niederlage des Westens. Das ist weitgehend gelungen. Washington, London, Paris und Berlin sind nicht bereit, ihr Scheitern hinzunehmen. Noch schwanken die verbündeten Brandstifter zwischen symbolischen Militärschlägen wie am 7. April 2017 oder am 14. April 2018 und direkter Konfrontation mit Rußland. Die Neigung zu Letzterem nimmt in einigen Teilen des US-Establishments offenkundig zu. Wer das nicht sagt, sondern alle Beteiligten in gleicher Weise verantwortlich macht, lenkt von dem ab, was im Friedenskampf nötig ist: Die Kriegsverursacher klar benennen und Druck auf die Bundesregierung ausüben, aus dem Bündnis mit ihnen auszusteigen.

Arnold Schölzel

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Giftige Propaganda

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Mehr Verhandlungen statt Bomben!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Kuba: Neuer Präsident gewählt

Anläßlich der Wahl von Miguel Díaz-Canel zum neuen Präsidenten der Republik Kuba am 19. April erklärte Petra Wegener, Vorsitzende der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba: "Die Umstände des Wechsels an der Spitze des kubanischen Staates zeigen, daß die kubanische Revolution über eine erheblich größere gesellschaftliche Verankerung verfügt, als oftmals im Ausland wahrgenommen wird." Allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz verfolge das Land seinen Entwicklungsplan, der zwischen 2011 und 2016 in einer breiten gesellschaftlichen Debatte diskutiert und verabschiedet worden sei.

Weiter erklärte Petra Wegener: "Mit dem Wechsel im Präsidentenamt erweist sich, daß die politische Stabilität Kubas keinesfalls, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, auf die Macht und die Autorität von Einzelpersonen zurückgeht. Hinsichtlich der fortgesetzten Angriffe auf Kuba führte Wegener aus: "Die Gegner Kubas werden sich neue Vorwände basteln und sich auf eine neue Stoßrichtung einigen müssen, um ihre Aggressionen gegen Kuba zu legitimieren. Das gilt auch für die US-Regierung, deren Helms-Burton-Gesetzgebung zur juristischen Absicherung der Blockade gegen Kuba explizit mit dem Familiennamen Castro verbunden ist." Die ersten Kampagnen gegen den neuen kubanischen Präsidenten, die in Miami bereits angelaufen sind, konterkarieren die Entscheidung der US-Regierung von 2014, die Regierung der Republik Kuba als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen.

Petra Wegener stellte abschließend fest: "Unbenommen aller zu erwartenden Kampagnen und Angriffe ist der 19. April 2018 zugleich der 57. Jahrestag der Niederschlagung der US-gestützten Invasion in der Schweinebucht, ein guter Tag für die kubanische Revolution, hat sie doch einmal mehr ihre Nachhaltigkeit und ihre Zukunftsorientierung unter Beweis gestellt."

Aus einer Presseerklärung der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba, Köln/Frankfurt a. M.


Der 58 Jahre alte neue Präsident Kubas arbeitete bis 1987 hauptamtlich für den Kommunistischen Jugendverband "Unión de Jóvenes Comunistas" (UJC) und war in Nikaragua UJC-Sekretär für die dorthin entsandten Kubaner. Nach seiner Rückkehr wurde er Sekretär des Provinzkomitees der UJC in Villa Clara. Gleichzeitig gehörte er dem nationalen Vorstand der UJC an und wurde 1993 zum Zweiten Sekretär der UJC gewählt. 1993 wurde er Mitglied des Provinzkomitees der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) in Villa Clara und 1994 zu dessen Erstem Sekretär gewählt, dem höchsten öffentlichen Amt auf regionaler Ebene. 2003 wechselte er von Villa Clara in die Provinz Holguin, wo er ebenfalls den Posten des Ersten Parteisekretärs übernahm. Im selben Jahr wurde er mit 43 Jahren als bisher jüngstes Mitglied ins Politbüro gewählt. Im Mai 2009 wurde er Minister für Hochschulbildung. Am 24. Februar 2013 wurde Diaz-Canel zum Ersten Vizepräsidenten des Staatsrates gewählt.

Am 19. April 2018 wählten 99,83 Prozent der Abgeordneten (603 der 604 Anwesenden) des nationalen Parlamentes Diaz zum neuen Staatspräsidenten Kubas. Er ist damit der erste Präsident Kubas, der nach der Revolution geboren wurde.

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Schwarzer Tag für Brasilien: Lula in Haft

Seine Verfolger haben ihn, doch sie kommen zu spät. Lula ist längst eine lebende Mythengestalt und ein Symbol, weit über Brasilien und Lateinamerika hinaus. Sein Name steht schon jetzt in den Geschichtsbüchern neben solchen wie Salvador Allende, Fidel Castro oder Hugo Chávez. Wer die Brutalität Lateinamerikas aus der Historie kennt, wer auch nur erahnt, was Millionen Menschen mit diesem Namen verbinden, wird den Schmerz, die Wut und die Trauer ermessen können, die seine Gefangennahme bei ihnen auslöst. Es ist ein Stich ins Herz für Linke vieler Schattierungen.

Lula, das ist in den Augen der "kleinen Leute" in Brasilien der Mann, der nicht nur erfolgreich dafür gekämpft hat, daß der Hunger verschwindet, daß die Kinder der Armen Universitäten besuchen können, daß es Ärzte und Medizin für alle gibt. Der Name Lula hat sich in die Biographien vieler Familien eingeschrieben. Sein Kampf war vor allem auch einer, der den Menschen, die für die oberen zehntausend nicht zählen, ihre Würde zeigte. Seine politischen Fehler und schlechten Kompromisse wiegt das leicht auf. In einer Gesellschaft, die eine extreme Ungleichheit kennzeichnet, die seit jeher von sozialer und rassistischer Diskriminierung und Gewalt geprägt ist, hat der Arbeitersohn ohne Universitätsabschluß aus dem rückständig gehaltenen Nordosten der herrschenden kleinen arroganten weißen Elite erfolgreich die Stirn geboten. An die Stelle von Unterwürfigkeit gegenüber Washington trat ein neues Selbstbewußtsein. Er war ein Präsident, den die Welt respektierte.

Für Brasiliens Linke bedeutet dieser Tag ein neues schweres Trauma. Er kommt nicht unerwartet. Seine politischen Gegner jagen Lula seit Jahrzehnten. Ohne ihn auszuschalten, hätten sich der Medienkonzern Globo und Konsorten den kalten Putsch auch sparen können. Statt Demokratie herrscht nun der Ausnahmezustand. In einem intakten Rechtssystem wäre das Urteil gegen Lula längst annulliert worden, sein Richter Sérgio Moro säße selbst im Knast. Aber es gibt auch Gutes über Brasiliens Juristen zu sagen: Hunderte Rechtsgelehrte und Strafverteidiger kämpfen dort bereits für Lulas Freiheit. Dem Enthauptungsschlag, der gegen sie geführt wird, setzen Brasiliens Linkskräfte nun Einheit im Kampf für die Demokratie und gegen den Faschismus entgegen. Einer neuen Generation für den Kampf um die Macht hat Lula noch mit auf den Weg geholfen.

Peter Steiniger

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Kritik an der Politik Israels oder Antisemitismus?

Der Völkermord der deutschen Faschisten an über sechs Millionen Juden gehört für immer zur Schande Deutschlands. Antisemitismus, der erneut in diesem Land auftritt, ist keine Meinungsäußerung, sondern ein Verbrechen, das mit allem Nachdruck bestraft werden muß. Häufig aber wird berechtigte Kritik an der Politik der Herrschenden in Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt. Das ist falsch.

Der Staat Israel wurde vor 70 Jahren am 14. Mai 1948 auf einem Teil des Territoriums von Palästina gegründet, nachdem das britische Mandat aufgehoben worden war und die britischen Truppen abgezogen waren. Am 29. November 1947 hatte die UN-Vollversammlung den Beschluß über die Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat gefaßt. Die Palästinenser wurden nicht gefragt. Sie lehnten den Teilungsplan ab. Die Sowjetunion stimmte diesem Beschluß zu, weil die Kibbuzbewegung als eine Vorstufe zum Sozialismus angesehen wurde. Jerusalem - von zentraler Bedeutung für Juden, Christen und Muslime - sollte eine international verwaltete Enklave werden. Der Beschluß ist nach wie vor bedeutsam, da er als völkerrechtliche Legitimation Israels ebenso gilt wie für den palästinensischen Rechtsanspruch auf einen eigenen Staat.

Die Absicht, einen Staat Israel zu schaffen, stand im Mittelpunkt des I. Jüdischen Weltkongresses im August 1897 in Basel. Auf diesem Kongreß unterbreitete der Wiener Schriftsteller Theodor Herzl den Vorschlag, Palästina jüdisch zu besiedeln. Seine Gedanken dazu hat er in seinem Hauptwerk "Der Judenstaat" vorgelegt. Es war eine Reaktion besonders auf die antijüdischen Pogrome vor allem in Osteuropa im 19. Jahrhundert. Diese Idee griff der britische Außenminister Lord Balfour auf und schlug am 2. November 1917 vor, eine jüdische Heimstatt in Palästina zu gründen. Hier lebten zu diesem Zeitpunkt vorwiegend Araber. Juden bildeten nur eine Minderheit. Der faschistische Völkermord an den Juden war dann ein entschiedener Antrieb, um die Idee von Herzl zu verwirklichen. Doch das Ziel war vor allem auch, den Staat Israel so wiederherzustellen, wie er an dieser Stelle vor fast 3000 Jahren bestanden hatte.

Zwischen dem 15. und 13. Jahrhundert v. u. Z. wanderten die Israeliten in Paläst ina ein. Unter David (1002-963) und Salomo (963-925) errichteten sie ein Großreich. Der Einheitsstaat zerfiel Ende des 10. Jahrhunderts v. u. Z. in die beiden Reiche Israel und Juda. Nur Israel ging aus dem Zusammenbruch als das größere Machtgebilde hervor. 721 v. u. Z. wurde Israel von den Assyrern, 597 v. u. Z. Juda von den Babyloniern erobert. Die Herrschaften über Palästina wechselten danach mehrfach: Perser, Alexander von Makedonien, Ptolemäer, Seleukiden und Römer. Nach der endgültigen Zerschlagung des jüdischen Staates durch die Römer im Jahre 70 begann die Zerstreuung der Juden über Vorderasien, Nordafrika und den Mittelmeerraum. Ein kleiner Bevölkerungsteil blieb immer im Land. Den Römern folgten nach 395 Byzantiner, Perser, Araber und die europäischen Kreuzfahrer. Von 1517 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war Palästina Provinz des Osmanischen Reiches. Danach wurde es britisches Mandatsgebiet.

Unter der osmanischen Herrschaft hatten Araber und Juden im "Heiligen Land" weitgehend friedlich zusammengelebt. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 begannen die Vertreibung der Palästinenser und die andauernden blutigen Auseinandersetzungen. Das Recht der Juden auf eine Heimstatt nach den Verfolgungen, denen sie nicht nur in Deutschland ausgesetzt waren, ist unbestritten. Aber eine historische Legitimität für die Wiedergründung eines Staates Israel an dieser Stelle, der seit 721 v. u. Z., also seit fast dreitausend Jahren, hier nicht mehr existierte, gibt es nicht.

Nach der Gründung des Staates Israel kam es 1948/49 zum ersten arabisch-israelischen Krieg gegen die verstärkte jüdische Landnahme. Israel konnte sein Staatsgebiet über die im Teilungsplan vorgesehenen Grenzen hinaus erweitern. Beim Waffenstillstand 1949 umfaßte es rund drei Viertel der Fläche Palästinas. 600.000 bis 800.000 Palästinenser wurden vertrieben. Jordanien annektierte 1949 gegen den Einspruch der anderen arabischen Staaten das sogenannte Westjordanland. Auch im zweiten Krieg 1956, bei dem Israel die Aggression Großbritanniens und Frankreichs gegen Ägypten wegen der Verstaatlichung des Suezkanals unterstützte, mußten weitere Zehntausende Palästinenser fliehen. Der Krieg wurde durch die entschiedene Haltung der Sowjetunion beendet.

Die UN-Resolution 242 vom 22. November 1967 war eine Reaktion auf den Sechstagekrieg, den dritten Nahostkrieg. Israel besetzte in diesem Krieg das Westjordanland, die Sinai-Halbinsel, annektierte Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen. Die Eroberungen umfaßten insgesamt eine Fläche, die etwa das Dreifache des israelischen Territoriums ausmachte. Dort lebten rund eine Million Menschen. Der UN-Sicherheitsrat hatte in den Resolutionen 233 und 234 eine sofortige Einstellung der kriegerischen Aktivitäten gefordert. Dem waren die beteiligten Staaten nachgekommen, zuletzt Israel am 10. Juli 1967. Als das Thema in der UNVollversammlung diskutiert wurde, gab es in wesentlichen Fragen keinen Konsens. Wer am Krieg schuld sei und wie das Sicherheitsbedürfnis der verschiedenen Seiten berücksichtigt werden könnte, darüber gab es unterschiedliche Auffassungen. Nur in einem Punkt herrschte Übereinstimmung. Die von Israel begonnenen Veränderungen am Status von Jerusalem seien null und nichtig, man solle die israelische Regierung auffordern, sie rückgängig zu machen. Nach mehreren Monaten Verhandlungen konnte schließlich ein Fortschritt erzielt werden, und der Sicherheitsrat verabschiedete einstimmig die Resolution 242. Sie forderte den Rückzug Israels "aus (den) Gebieten. die während des jüngsten Konfliktes besetzt wurden", im Gegenzug für eine Anerkennung Israels und die Respektierung seiner Sicherheit "frei von Bedrohung und Gewalt". Der englische Original- und Arbeitsentwurf enthielt keinen bestimmten Artikel, was so ausgelegt werden konnte, daß der Rückzug nicht aus allen Gebieten erfolgen sollte. Der Versuch der Sowjetunion, das Wort "alle" einzufügen, scheiterte in den Verhandlungen. Diese Resolution wurde bisher nicht verwirklicht, auch nicht in der abgeschwächten Form eines Teilabzugs. Lediglich die Sinai-Halbinsel wurde bis 1982 nach dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag zurückgegeben.

Für die Palästinenser ist die Annahme dieser Resolution und damit die Anerkennung des Existenzrechtes Israels ein Kompromiß. Am Völkermord an den Juden sind nicht die Araber, sondern die deutschen Faschisten schuld, an der Vertreibung aus Palästina die Römer. Aber mit der Gründung des Staates Israel begann die Vertreibung der Palästinenser aus ihren angestammten Wohnsitzen.

Die Durchsetzung der UN-Resolution 242 ist die einzige Möglichkeit, Frieden im Nahen Osten zu erreichen. Israel ist dazu gegenwärtig nicht bereit. Es nimmt weiter Kurs auf ein neues Großreich. Dazu dienen die illegale Siedlungsbewegung und die Deklaration ganz Jerusalems zur Hauptstadt Israels, was durch die irrationale Politik des US- Präsidenten unterstützt wird. Ein Frieden in Nahost ist nicht abzusehen.

Dr. Kurt Laser

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"Meine Tochter, dies sind die Tränen des Kampfes ..."

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Springer-Presse und die Erschießung Benno Ohnesorgs
Noch einmal zum 2. Juni 1967

Westberlin, 2. Juni 1967, 20.30 Uhr. Vor der Deutschen Oper an der Charlottenburger Bismarckstraße und in ihrer unmittelbaren Umgebung spielen sich Szenen ab, bei denen es sich um regelrechte Menschenjagden handelt. Uniformierte Polizei sowie Kriminalbeamte in Zivil, sogenannte Greiftrupps, zerstreuen mit großer Brutalität eine Menschenansammlung, die gegen den iranischen Diktator Schah Reza Pahlewi demonstriert hatte. Tränengas und Wasserwerfer werden aus Nahdistanz gegen fliehende Demonstranten eingesetzt.

Während der Schah und seine Frau Farah Diba, umgeben von Bonner und Westberliner politischer Prominenz, in der Oper klassischer Musik lauschen, eskaliert die Situation. Die Einsatzleitung der Polizei verbreitet wahrheitswidrig die Nachricht, ein Kollege sei von einem Demonstranten erstochen worden. Daraufhin wird noch hemmungsloser auf Fliehende und am Boden liegende Menschen eingedroschen. Auch der 27jährige Germanistik-Student Benno Ohnesorg, der auf den Hinterhof des Grundstückes an der Krummen Straße/Ecke Schillerstraße geflohen ist, wird von mehreren Polizisten mit dem Gummiknüppel verprügelt. Als er die Hände hebt und sich abwenden will, naht von hinten der als "Greifer" eingesetzte Kriminalobersekretär Karl-Heinz Kurras mit gezogener Waffe. Aus etwa zwei Metern Entfernung schießt er den wehrlosen Ohnesorg in den Hinterkopf. Er habe in dessen Händen "ein Messer blitzen sehen", erklärt er später wahrheitswidrig.

Der Krankenwagen, der erst zwanzig Minuten später eintrifft, startet eine Irrfahrt, da die zunächst angefahrenen Westend- und Albrecht-Achilles-Klinika sich angeblich weigern, den Studenten bei sich aufzunehmen. Erst um 21.35 Uhr wird der inzwischen verstorbene Ohnesorg ins Krankenhaus Moabit eingeliefert, wo als Todesursache "Schädelbasisbruch durch Anwendung stumpfer Gewalt" angegeben wird. Am Kopf des Erschossenen werden Manipulationen vorgenommen. Der Totenschein vermerkt wider besseres Wissen, daß Ohnesorg erst im Krankhaus gestorben sei.

Der Todesschütze Kurras wird von Westberliner Gerichten zweimal freigesprochen. Bis zum heutigen Tag gibt es Fragen zum genauen Tathergang und zur Rolle der damaligen Westberliner Polizeiführung und des Senats, denen offenbar mehr an einer Verschleierung als an einer rückhaltlosen Aufklärung der Ereignisse am 2. Juni gelegen war. Es bleibt die Frage: Wie müssen wir das Geschehen im Frühjahr 1967 in die gesellschaftspolitische Situation jener Zeit einordnen? Welche Vorgeschichte und welche Wirkungen hatte der 2. Juni 1967?

In Westberlin wurde seit Ende der vierziger Jahre das politische Klima von aggressivem Antikommunismus beherrscht. Die Stadt war von den Herrschenden zum "Leuchtfeuer der Freiheit" inmitten der "totalitären" DDR ausgerufen worden. Systematisch hetzten vor allem die Springer-Presse sowie die Rundfunkanstalten SFB ("Sender Freies Berlin") und RIAS ("Rundfunk im amerikanischen Sektor") tagtäglich gegen die DDR und die UdSSR, aber auch gegen Kommunisten und alle anderen Bürgerinnen und Bürger Westberlins, die sich für eine Politik der Vernunft nach innen und außen einsetzten. Dabei spielten die "BZ", die "Bild-Zeitung" und RIAS-Sendungen wie "Aus der Zone für die Zone" sowie die SFB-"Abendschau" eine zentrale Rolle.

Verknüpft wurden hier Argumente aus der "antibolschewistischen" Mottenkiste des deutschen Faschismus mit den Formen modernen Massenjournalismus und dem Appell an die traditionellen Denk- und Verhaltensweisen kleinbürgerlichen Spießertums. Ein gefährliches Gebräu!

Da die bürgerlichen Parteien und die SPD in den entscheidenden politischen Fragen keine relevanten Unterschiede aufwiesen, die Zeitungen aus dem Hause Axel Springer fast eine Monopolstellung auf dem Westberliner Zeitungsmarkt hatten und die Kommunisten in der Stadt zahlreichen Repressionen ausgesetzt waren, existierte viele Jahre lang keine größere oppositionelle Kraft. Als sich dies in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zu ändern begann und vor allem die Studenten der "Freien Universität" (FU) aufbegehrten, reagierten die Herrschenden mit immer härteren Maßnahmen.

Die FU war 1948 als bewußt antikommunistischer Widerpart zur Humboldt-Universität im damaligen sowjetischen Sektor gegründet worden. Die USA hatten dabei umfangreiche materielle Hilfestellung geleistet. Sie finanzierten u. a. den Henry-Ford-Bau und stellten großzügig Gelder für die Vergabe von Stipendien in den Vereinigten Staaten zur Verfügung. Vielen späteren Westberliner Spitzenpolitikern, darunter der von 1967 bis 1977 amtierende Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD), waren Studienaufenthalte in den USA ermöglicht worden.

Das vollkommen unkritische Verhältnis zur Politik der USA, die kompromißlose Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den sozialistischen Staaten und eine grundsätzliche Ignoranz bzw. die "theoretische" Diffamierung des Marxismus waren für die Studierenden der FU bis in die sechziger Jahre hinein zur Selbstverständlichkeit geworden. Studenten der FU? Das waren vor allem antikommunistische "Fluchthelfer", die DDR-Bürgerinnen und Bürger in den "freien Westen" schleusten, das waren Akademiker, für die der Kapitalismus die beste aller Welten darstellte. Seit der Mitte der sechziger Jahre begann sich jedoch dieses Bild zu wandeln.

Im Juni 1964 beteiligten sich 2000 Studenten, auch von der Pädagogischen Hochschule und der Technischen Universität Westberlins, an einer Protestdemonstration gegen die Kandidatur des CDU-Politikers Heinrich Lübke für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident.

Lübke war in der Zeit des Faschismus an der Konzeption von Bauplänen für Konzentrationslager beteiligt. Studenten wurden verhaftet, der Konvent der FU protestierte gegen den brutalen Polizeieinsatz. Ebenfalls Aufsehen erregte, als im Mai 1965 der Rektor der FU dem Publizisten Erich Kuby wegen seiner kritischen Auffassungen zur politischen Entwicklung in der BRD untersagte, in Räumen der Universität an einer Podiumsdiskussion zum Thema "Restauration oder Neubeginn - Die Bundesrepublik 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges" teilzunehmen. Nur kurz darauf wurde der Assistent Ekkehart Krippendorff entlassen, ein junger Politologe, weil er Kritisches zur Politik des FU-Rektors geäußert hatte.

Die Liste derartiger Vorfälle ließe sich verlängern. Auch für eine größere Öffentlichkeit Gefallen im Kampf für die Freiheit (LIBERTÉ) Ölgemälde von Geli M. Korshew (1976) wurde deutlich, daß innerhalb der Studentenschaft der FU das Potential kritischer Kommilitonen, die sich ihre eigene Meinung zu wichtigen Fragen der Innen- und Außenpolitik bildeten und dies auch außerhalb des Campus demonstrierten, nicht mehr als eine "unbedeutende Minderheit" abgetan werden konnte.

Zeitgleich wurden die Studienbedingungen an der FU und den anderen Westberliner Hochschulen angesichts rasant steigender Studentenzahlen immer komplizierter. Beides muß als Auslöser der studentischen Proteste berücksichtigt werden: die sich verschlechternde Situation in Hörsälen und Bibliotheken, die Pläne für eine "Verschulung" des Studiums, der immer noch alles und alle dominierende "ordentliche Professor" als fast unumschränkter Herr auf seinem Lehrstuhl einerseits und das um sich greifende Gefühl, daß die Politik in Westberlin und in der BRD insgesamt einer grundlegenden Veränderung bedürfe andererseits. Dabei artikulierten sich unter den Studenten, nicht zuletzt im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), auch bereits Stimmen, die unüberhörbar die Legitimität der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse anzweifelten und die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels zu Rate zogen, um die Architektur dieser Verhältnisse zu analysieren.

Doch es war vor allem eine Thematik, die der studentischen Bewegung nicht nur in Westberlin eine gewaltige Schubkraft verlieh: der Krieg des US-Imperialismus in Vietnam.

Am 3. und 5. August Oktober 1964 erschienen auch in Westberlin die Zeitungen mit groß aufgemachten Meldungen über einen Angriff nordvietnamesischer Schnellboote auf die in internationalen Gewässern kreuzenden US-amerikanischen Zerstörer "Turner Joy" und "Maddox". Diese als "Tongkin-Zwischenfälle" bezeichneten Angriffe hatten allerdings einen Webfehler: Sie fanden nicht unprovoziert und nicht in der Weise statt, wie es das Pentagon behauptete. Der angebliche Angriff am 4. August war sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit frei erfunden worden.

Was war geschehen? Die Marine des südvietnamesischen Marionetten-Regimes hatte in den Tagen zuvor mehrere Angriffe auf die Küste der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) vorgenommen; die beiden in unmittelbarer Nähe kreuzenden Zerstörer mußten als potentielle Kräfte zur Feuerunterstützung bei den Attacken der südvietnamesischen Kriegsschiffe erscheinen.

Der provokatorische Charakter der Aktionen der US Navy zeigte sich auch daran, daß die zur "Vergeltung" von einem Flugzeugträger aus eingesetzten Jets sich bereits in unmittelbarer Nähe befanden, als die "Zwischenfälle" stattfanden. Von nun an wurde die DRV von den Luftstreitkräften der USA fast pausenlos bombardiert, legitimiert durch eine entsprechende Resolution des Kongresses, die sogenannte Tongkin-Resolution. Das Echo auf diese Handlungen der USA war in Westberlin nicht mehr von der bislang gewohnten Nibelungentreue zur wichtigsten "Schutzmacht" geprägt. Zwar folgten die Gazetten der Springer-Presse gehorsam den Sprachregelungen des Pentagons und entdeckten, daß in Vietnam die "Freiheit Berlins" verteidigt werde.

Doch die grausame Kriegsführung der USA in Vietnam, die anders als die heute geführten Kriege im Irak und Afghanistan den Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauern jeden Abend in den Nachrichtensendungen vor Augen geführt wurde, der Terror des Marionetten-Regimes in Südvietnam, vor allem die Flächenbombardements der B-52-Bomber, weckten Zweifel und offene Kritik an der Politik der USA.

Nicht nur bei Studenten, auch in Teilen der SPD regte sich offener Widerspruch. "Ich bin gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam - Ich bin SPD-Mitglied": Derartige Schilder trugen der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Beck und der spätere Senator Harry Ristock zusammen mit anderen Sozialdemokraten bei Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg.

An der FU und den anderen Hochschulen der Stadt war der eskalierende Krieg in Fernost der Anlaß für bislang nie gestellte Fragen: War die Aggression in Vietnam kein Zufall, sondern ordnete sie sich ein in die Logik US-amerikanischer Außenpolitik seit 1945, die von dem Ziel der ökonomischen, politischen und militärischen Beherrschung der Welt geprägt war? Ging es darum, den nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen überall auf der Welt zu demonstrieren, daß sie mit dem Einsatz massiver militärischer Gewalt durch die USA rechnen müßten? Und vor allem: Wie konnte man gegenüber den Vereinigten Staaten "Dankbarkeit" und "Vertrauen" an den Tag legen, wenn von ihnen im Fernen Osten die Souveränität von Staaten und die Menschenrechte Tag für Tag mit Füßen getreten wurden?

Auch in Westberlin entwickelten sich rasch Proteste gegen den Krieg der USA in Fernost. Erstmalig am 5. Februar 1966 formierten sich Tausende Studierende zu einem Demonstrationszug durch die City und blockierten die Kreuzung Joachimsthaler Straße/Kurfürstendamm. Das Amerikahaus in der Hardenbergstraße wurde mit Eiern beworfen, die Flagge der USA vom Mast gerissen. Die Reaktionen im Schöneberger Rathaus und in den Redaktionsstuben der Medien waren hysterisch.

Besonders übel wurde vermerkt, daß die SED Westberlin ihre Mitglieder mit großer Resonanz zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen hatte. Der Rektor der FU und der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt sandten "Entschuldigungsschreiben" an den amerikanischen Stadtkommandanten.

Von nun an war die Aggression des US-Imperialismus in Vietnam das beherrschende Thema der sich bildenden Außerparlamentarischen Opposition (APO), deren Kern Studenten bildeten, zu der aber immer mehr Lehrlinge, Jungarbeiter, Oberschüler, kritische Sozialdemokraten sowie die SED-W stießen. Ausgehend von der aktuellen US-Politik in Vietnam wurden auch die außenpolitischen Handlungen der Vereinigten Staaten, vor allem in den Entwicklungsländern, unter die Lupe genommen. Überall dort, wo es ihnen für die eigenen Interessen nützlich schien, hatten die USA oft mit dem Einsatz militärischer Gewalt oder mit Hilfe "verdeckter Aktionen" der CIA Marionetten-Regimes installiert: so im Iran 1953, in Guatemala 1954. Als der von den USA protegierte Schah am 2. Juni 1967 Westberlin besuchte, war es deshalb folgerichtig, daß den Demonstrationsaufrufen der APO Tausende folgten.

Die Zeiten der APO, die Generation der "68er", sind in den vergangenen Jahren Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen gewesen. Oft wird der "Mythos 1968" bemüht, um die damaligen Ereignisse zu relativieren. Es kann dabei der Verdacht entstehen, daß die Erinnerung an jene Zeit als Stimulans für die gegenwärtigen Bewegungen gegen die von der NATO geführten und angedrohten Kriege, gegen die Macht der Banken und das Diktat der kapitalistischen Finanzmärkte gegenüber den in die drohende Zahlungsunfähigkeit getriebenen Staaten der EU dienen könnte. Dies gilt es aus Sicht der Herrschenden unbedingt zu verhindern.

Dabei gibt es viel zu entdecken, wenn man die damalige Situation analysiert. Neue Aktionsformen sind entstanden: Genannt seien nur das "Umfunktionieren" von Sitzungen staatlicher und universitärer Gremien oder die Durchführung phantasiereicher Protestformen (z. B. massenhaftes "Spazierengehen" auf dem Kurfürstendamm). Auch die Einrichtung einer "Kritischen Universität" von seiten der Studentenschaft, die an der FU alternative, stark vom Marxismus geprägte Lehrinhalte vermitteln sollte, gilt es, in Erinnerung zu rufen. Aktueller denn je erscheint die in diesem Zusammenhang immer wieder verbreitete Parole: "Marx an die Uni!"

Die genauen Umstände des Todes von Benno Ohnesorg bergen bis heute noch das eine oder andere zu lösende Rätsel. Das betrifft nicht zuletzt die Person des Todesschützen Kurras und dessen geheimdienstliche Verstrickungen. Entscheidend bleibt aber, daß die Erschießung von Benno Ohnesorg vielen Westberlinern als Anlaß diente, sich über den Charakter der in ihrer Stadt betriebenen Politik völlig neue Gedanken zu machen und die von der Springer-Presse seit langem verbreiteten "Gewißheiten" endlich in Zweifel zu ziehen.

Dr. Reiner Zilkenat

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Berufsverbote und ihre Folgen

Willy Brandt ist als "Architekt" einer neuen Ostpolitik, mit welcher der Hallstein-Doktrin ein Ende gesetzt wurde, seinem Kniefall von Warschau, aber auch mit dem Radikalenerlaß, der offiziell die Bezeichnung "Gemeinsamer Runderlaß der Ministerpräsidenten und aller Landesminister zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst" vom 18. Februar 1972 trägt, in die Geschichte eingegangen. Beamter sollte nur werden dürfen, wer sich zur "freiheitlich-demokratischen" Grundordnung bekennt und sich verfassungsgemäß verhält. Von jetzt an konnte regelmäßig vor einer Einstellung im öffentlichen Dienst und vor einer Verbeamtung beim Verfassungsschutz angefragt werden, ob der Betreffende eine solche Verfassungstreue gewährleistet. Das betraf nicht nur neue Bewerber. Auch bereits eingestellte Personen wurden dieser Überprüfung unterzogen. Die Vorgehensweise war nicht gänzlich neu, da bereits in der Adenauer-Ära ein Bewerber abgelehnt wurde, wenn Zweifel an seinem Bekenntnis zur BRD aufkamen. Das Bundesverfassungsgericht segnete mit seinem Beschluß vom 22. Mai 1975 diesen Weg ab. Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer wegen ihrer Mitgliedschaft in der DKP entlassenen Lehrerin einen Verstoß gegen das Recht auf Meinungsfreiheit gesehen hat. Ursprünglich war der Radikalenerlaß gegen Gefahren sowohl von links als auch von rechts gedacht. Die spätere Praxis zeigte, daß es sich vorrangig um eine Vorschrift handelte, die vor allem gegen Linke zum Einsatz kam. In den europäischen Nachbarländern stieß diese Vorgehensweise auf heftige Kritik. Brandt mußte später einräumen, daß die Schaffung dieses Dekrets ein schwerer Fehler war. Prominentester Fall bei den Berufsverboten war der der jungen Lehrerin Silvia Gingold, Tochter des bekannten Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes Peter Gingold. Ihre Geschichte wurde vor allem auch in der DDR mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Auch ich schrieb damals voller Empörung dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einen Protestbrief, weil ich ihre Verdrängung aus dem Beamtendienst für Gesinnungsschnüffelei hielt. Auch wenn sich Silvia inzwischen längst im Ruhestand befindet, darf sie nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel vom Herbst vergangenen Jahres weiterhin durch den Verfassungsschutz bespitzelt werden. Da sie sich in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes engagiert, gilt sie als "linksextremistisch". Selbst das Lesen aus den Erinnerungen ihres Vaters auf öffentlichen Veranstaltungen wurde ihr zum Vorwurf gemacht.

Inzwischen gibt es zwar die Regelanfrage bei Bewerbungen für den öffentlichen Dienst nicht mehr, wohl aber die Bedarfsanfrage, wenn Zweifel bestehen, "ob der Bewerber jederzeit für die freiheitlich- demokratische Grundordnung eintreten wird". Es wird geschätzt, daß etwa 1,4 Millionen Personen überprüft worden sind und 1100 davon nicht im öffentlichen Dienst verbleiben konnten oder gar nicht erst in diesen aufgenommen wurden. Die Auswirkungen dieser Art von Berufsbeschränkung sind bisher kaum untersucht. Jetzt hat die vom niedersächsischen Landtag berufene "Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlaß", Jutta Rübke, eine Dokumentation vorgelegt, die solche Folgen für das Land Niedersachsen untersucht. Damit ist man dort Vorreiter, und es bleibt zu hoffen, daß auch andere westliche Bundesländer dem folgen werden. Der von der Landesbeauftragten vorgelegte Bericht befaßt sich zunächst mit dem medialen Umgang mit dem Thema Radikalenerlaß und schildert sodann anhand von neun Einzelschicksalen die Auswirkungen der Berufsverbotspraxis auf die jeweils Betroffenen. Dabei wird deutlich, daß der Eingriff in das Leben jedes einzelnen deutliche Spuren hinterlassen hat und die Wunden längst nicht verheilt sind. In einem Anhang stellt die Dokumentation die normativen Grundlagen, vor allem Erlasse der Landesregierung und Beschlüsse des Landtages aus den Jahren 1972 bis 2016 vor. Der junge Historiker Dominik Rigoll - er war zum Zeitpunkt des Radikalenerlasses noch nicht geboren - erkannte unter anderem, daß es darum ging, "den verschwindend kleinen Kreis von DKPMitgliedern aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten". Der damalige Innenminister Genscher brachte es auf den Punkt: Die DKP würde "eindeutig verfassungsfeindliche Ziele" verfolgen. Das gelte zwar auch für die NPD, aber Fälle von Berufsverbot benachteiligter NPD-Mitglieder aus jenen Jahren sind bisher nicht bekannt geworden. So ist es am Ende dann doch wieder wie zur Zeit Adenauers, der geeignete Nazibeamte zurückholte und auch mit seinem Erlaß von 1950 vor allem die KPD und mit ihr zusammenarbeitende Organisationen bekämpfen wollte. Diese Denkart paßt zu dem bereits ein Jahr später gestellten Antrag der Bundesregierung auf Verbot der KPD, dem das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 17. August 1956 nachkam.

Das Verdienst von Jutta Rübke und ihren Mitstreitern ist es, die sozialen und psychischen Folgen des politischen Irrweges Radikalenerlaß mit der vorgelegten Dokumentation erstmals deutlich gemacht zu haben.

Ralph Dobrawa

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Vor 65 Jahren wurden Ethel und Julius Rosenberg hingerichtet
Ein Justizmord des kalten Krieges

Aus den USA kommt die Meldung, das Oberste Gericht des Staates Alabama habe die Vollstreckung des Todesurteils gegen den farbigen Bürgerrechtskämpfer John Harris verschoben. John Harris wurde beschuldigt, einen Polizisten ermordet zu haben. Das Gericht verurteilte ihn zum Tode, obwohl für die Anschuldigung nicht der geringste Beweis vorlag.

Die Bürgerrechtsbewegung in den USA hat wiederholt die Aufhebung des Urteils gegen John Harris gefordert, aber die Justiz scheint offenbar gewillt, einen Unschuldigen hinrichten zu lassen. Mit politisch unbequemen Leuten hat man in den USA sehr oft kurzen Prozeß gemacht. In den Tagen, da das Schicksal von John Harris weite Kreise in den USA erregt und bereits internationale Aufmerksamkeit hervorruft, jährt sich zum fünfundzwanzigsten Mal der Tag, an dem in New York das Ehepaar Rosenberg hingerichtet wurde. Ethel und Julius Rosenberg starben am 19. Juni 1953 auf dem elektrischen Stuhl, weil reaktionäre Kreise in den USA einen großen Propagandacoup brauchten, um ihre gegen Frieden und Fortschritt gerichtete Politik bei den Massen populär zu machen.

Anfang der fünfziger Jahre gab es in den Vereinigten Staaten eine Massenverfolgung von politisch links stehenden Bürgern, durch die Tausende Menschen ihrer Existenz beraubt und öffentlich diskriminiert wurden. Der berüchtigte "Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit" unter dem Senator McCarthy und dem späteren Präsidenten Richard Nixon verfolgte gnadenlos alle Amerikaner, die auch nur im Verdacht standen, mit der von der Regierung betriebenen Politik des kalten Krieges gegen die sozialistischen Länder nicht einverstanden zu sein.

Der Reaktion in den USA fehlte noch ein ganz großer Propagandaschlager, mit dem sie die Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer Verfolgungsmaßnahmen zu überzeugen gedachte. Und deshalb brachte sie die Rosenbergs, die als Sympathisanten der Friedensbewegung bekannt waren, unter dem Vorwand, sie hätten amerikanische "Atomgeheimnisse" an die Sowjetunion verraten, vor Gericht. Die Anklage hatte als einzige Zeugen für ihre Behauptungen zwei Kriminelle, deren Aussagen von Widersprüchen strotzten. Es existierten keine Beweise gegen die Rosenbergs, die fortwährend ihre Unschuld beteuerten. Außerdem war nicht nur in Fachkreisen bekannt, daß es längst kein "Atomgeheimnis" mehr gab, daß Physiker in aller Welt lange vor Hiroshima und Nagasaki wußten, wie man eine Kernspaltung hervorrufen und folglich auch Atomwaffen herstellen konnte. Trotzdem wurden die Rosenbergs zum Tode verurteilt.

Eine mächtige internationale Bewegung für ihre Rettung erhob sich. Es wurden Millionen Unterschriften gesammelt, der Papst, führende Geistliche aller Konfessionen, Wissenschaftler wie Albert Einstein, Künstler wie Pablo Picasso verwandten sich für Ethel und Julius Rosenberg. Sogar drei amerikanische Bundesrichter verlangten ein Wiederaufnahmeverfahren.

Aber alle Bemühungen blieben vergeblich. Nach fast dreijähriger Haft wurden die Rosenbergs vor nunmehr 65 Jahren hingerichtet. Die ganze Infamie und die politischen Hintergründe des Verfahrens kamen zum Ausdruck, als die Justizbehörden den Rosenbergs kurz vor der Hinrichtung Begnadigung anboten, allerdings unter der Bedingung, daß sie sich öffentlich schuldig bekennen, andere Leute belasten und sich von ihren politischen Ansichten lossagen würden.

Ethel und Julius Rosenberg lehnten dieses niederträchtige Ansinnen ab und starben lieber unschuldig, ehe sie sich zum Werkzeug gemeiner Provokateure machen ließen.

Der berühmte französische Schriftsteller François Mauriac, ein konservativer Katholik, der sich aus tiefster Überzeugung für die Rosenbergs eingesetzt hatte, schrieb dazu: "In einer Zeit des Opportunismus und Zynismus weigerten sie sich, selbst um den Preis ihres eigenen Lebens mit dem Finger auf andere, unschuldige Menschen zu weisen. Mit einem profunden moralischen Dilemma konfrontiert, trafen sie ohne zu zögern die Wahl, obgleich es für sie um Leben und Tod ging."

Aber auch heute wird in den USA, um alle Bewegungen, die der Regierungspolitik zuwiderlaufen, in Mißkredit zu bringen, mit den gleichen Methoden gearbeitet wie im Falle der Rosenbergs. Dies beweist die Affäre um Angela Davis, die nur durch weltweite Proteste vor einem Todesurteil bewahrt blieb und schließlich freigesprochen werden mußte. Der Kampf um das Leben Unschuldiger ist auch heute noch notwendig.

Gestützt auf W. Lierenfeld (DVZ-Archiv)

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Erinnerung an Kwame Nkrumah

Die Gründung des unabhängigen Staates Ghana im Jahr 1957 war ein Einschnitt von weittragender Bedeutung: Im Ergebnis der von kolonialer Unterdrückung befreiten einstigen britischen Kronkolonie Goldküste in Westafrika wurde Ghana aus der Taufe gehoben. Und Kwame Nkrumah, ihr erster Präsident, wurde für alle Afrikaner ein großer Hoffnungsträger. Dies geschah noch drei Jahre vor dem historischen "Afrikanischen Jahr" 1960, in dem 18 Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten. Jene nachfolgende bewegte Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs habe ich in der Erinnerung bewahrt.

Im September 1962 begannen meine Kommilitonen und ich an der Karl-Marx-Universität in Leipzig das Afrikanistik-Studium. Bereits in den ersten Lehrveranstaltungen war der in diesem Land angestrebte nichtkapitalistische Entwicklungsweg ein wichtiges Thema. Afrika- und Kolonialhistoriker Ulrich van der Heyden untersucht und bewertet in seiner Publikation "Kwame Nkrumah - Diktator oder Panafrikanist?" die widersprüchliche Politik des afrikanischen Staatsmannes vorrangig "im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Konkurrenz in Westafrika". Der hierbei fixierte Zeitrahmen: Beginn der Machtübernahme (1957) bis zum Sturz (1966) und nachfolgend die "Post-Nkrumah-Ära" (mit Auswirkung bis in die 80er Jahre). Van der Heyden stellt den theoretischen Ansatz Nkrumahs, seinen Panafrikanismus, seine Zukunftsvision eines geeinten unabhängigen freien Afrika - ausführlich dargelegt in seinem Buch "Afrika muß eins werden" (Köhler und Amelang, Leipzig 1965) - in Frage. Dennoch: Allein die Rückbesinnung auf das politische Vermächtnis dieser afrikanischen Führungspersönlichkeit ist lobenswert, weil Nkrumah im Bewußtsein vieler Menschen längst nicht mehr wahrgenommen wird.

Die Studie ist in acht Abschnitte untergliedert. Ulrich van der Heyden betont, daß seit Ende der 50er Jahre das subsaharische Afrika, insbesondere Ghana, "zu einem wichtigen Objekt in der Außenpolitik der beiden deutschen Staaten" wurde. Für die DDR sind der Antiimperialismus und das solidarische Prinzip uneigennütziger Hilfe für die nationalen Befreiungsbewegungen weltweit bis zum Schluß "konstante Paradigmen ihrer Außenpolitik". Aufklärend im besten Sinne - die gespannten Beziehungen der beiden deutschen Staaten zu Ghana betreffend - sind hingegen die Enthüllungen über die intriganten politisch-diplomatischen Aktivitäten der BRD zur Durchsetzung des "Alleinvertretungsanspruches", der sogenannten Hallstein-Doktrin. Schon die Errichtung der DDR-Handelsvertretung in Accra (1959), so der Autor, schürte im Bonner Auswärtigen Amt die "neurotische Angst", die Doktrin zu gefährden. "Jedermann weiß, daß es zwei Deutschlands gibt, entstanden im Ergebnis des letzten Krieges", verkündete der ghanaische Präsident auf der Konferenz blockfreier Staaten (1961).

Erinnert wird in der Studie an bedeutsame Fakten zur Ehrung Nkrumahs in der DDR: die Verleihung des Ehrendoktortitels durch die Berliner Humboldt-Universität und die angedachte, aber nicht erfolgte Ehrensenatorwürdigung durch die Universität Halle/Wittenberg. Indes sind auch kritische Anmerkungen zur Publikation notwendig. Zuvorderst die frivole Behauptung des Autors, im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR hätte es - außer dem vom Autor erwähnten Gottfried Lessing - "kaum jemanden mit Verständnis und Kenntnis der afrikanischen Kultur, Mentalität und Denkweise ..." gegeben (S. 28/29). Wahr ist, daß alle in afrikanischen DDR-Vertretungen tätigen Diplomaten akademisch gebildet, einige zudem promoviert waren und hinreichend über Afrika-spezifisches Wissen und insbesondere über solide indigene Sprachkenntnisse (wie Hausa und Swahili) verfügten. Zudem gibt es einige mutmaßliche Aussagen über erwähnte Vorgänge und Ereignisse (verbunden mit Nkrumahs politischem Handeln), deren Wahrheitsgehalt - selbst durch MfS-Akten - nicht zweifelsfrei belegt werden kann. Nicht zuletzt ist die bisweilen distanzierte Sprache des Autors westlicher Ausdrucksweise angepaßt (z. B. "DDR-Propaganda", "Ost-Spione") und für mein Verständnis zumindest fragwürdig.

Alles in allem ist die weitgehend quellengestützte Publikation von Ulrich van der Heyden dennoch eine wertvolle Erinnerung an einen international geachteten afrikanischen Staatsmann, dessen Vision eines geeinten Afrika bis heute eine große gesellschaftliche Utopie geblieben ist.

Wolfgang Semmler, Bernau


Ulrich van der Heyden: Kwame Nkrumah - Diktator oder Panafrikanist? Die politische Bewertung des ghanaischen Politikers in der DDR im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Konkurrenz in Westafrika. WeltTrends-Verlag, Potsdam 2017, 86 S., 14,90 €

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Hochschulen unter Kapitalherrschaft

Im "RotFuchs" 2/2016 wurde über die Gleichschaltung aller Hochschulen in der annektierten DDR berichtet. Deutlicher kann man die Erkenntnis, daß die Wissenschaft der jeweils herrschenden Klasse dienstbar ist, kaum dokumentieren. Als Mitstreiter der westdeutschen Studentenbewegung der 68er-Jahre war mir das stets bewußt, denn vor 50 Jahren gab es vielerorts Ansätze einer fortschrittlichen Wissenschaftskritik.

Diese ging von der fundamentalen marxistischen Erkenntnis aus, daß der Antagonismus zwischen der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zur Verschärfung der Klassengegensätze und zu wachsenden gesellschaftlichen und internationalen Widersprüchen führt.

Unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung werden Wissenschaft und Bildung heute radikaler denn je auf die Kapitalinteressen zugeschnitten. Ein wachsender Einfluß von Auftragsforschung und Sponsoren aus der Wirtschaft, Umstrukturierung der Hochschulen nach angloamerikanischen Vorbildern und zunehmende Privatisierung zeugen davon. Beispielsweise richtete die "Lidl-Stiftung" kürzlich der TU München 20 Professuren ein. Und Bertelsmann liefert neben seinen Expertisen eine "Monitor-Lehrerbildung". All das bewirkt Umstellungen von Zielen und Inhalten der Forschung und Lehre, der Studienbedingungen, eine Teilprekarisierung des akademischen Arbeitsmarktes und die folgenschwere Verwertung wissenschaftlicher Errungenschaften für Profitinteressen. Dabei hat nicht nur die militärische Auftragsforschung inhumane und desaströse Folgen, wie die Abgastests für die Automobilindustrie am Universitätsklinikum Aachen zeigte. Selbst die dringend benötigte ökologische Forschung bewegt sich häufig auf der Einbahnstraße neoliberal-marktwirtschaftlicher Opportunität.

Gerne wird auch wieder der Mythos von der vorgeblich "wertneutralen" Objektivität der bürgerlichen Wissenschaft unter den Studierenden verbreitet. Wie 1992 in Sachsen durch "die Reinigung der akademischen Gemeinschaft, ... im akademischen Wettstreit um Ideen und Qualität, Ruhm und Ansehen".

Unter den fortschrittlich Motivierten gibt es aber auch wieder Anklänge an die antikapitalistisch motivierte "Kritische Theorie" der "Frankfurter Schule". Die folgerte in den 68er-Jahren, die kleinbürgerliche Intelligenz sei fortan das revolutionäre Subjekt - Studentenbewegung als "Avantgarde". Die manipulierte Arbeiterklasse könne es nicht mehr sein, da allein der komplexe Fortschritt der Wissenschaften die gesellschaftliche Zukunft bestimme. Diese Theorie brachte allerlei Spielarten kleinbürgerlicher Ideologien wie die der "Grünen" hervor, vielfältig-individuell "anti-kollektivistisch", "innovativ", welche die zersplitterten marxistischen Studentengruppen marginalisierten. Heute werden unter der Annahme, der Kapitalismus sei reformfähig und in der Lage, soziale Verbesserungen zu bewirken, erneut faszinierende Ideen entwickelt. Ein Beispiel ist das "bedingungslose Grundeinkommen", nicht von Linken erdacht. Es entbindet die Unternehmer der Verantwortung für die Existenzbedingungen, macht Arbeitskämpfe überflüssig und ignoriert den Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Manche "innovativen Denkmodelle" aus deutschen Universitäten, wie das der "Piratenpartei", vernebeln die optimistische Sicht junger Studierender, verstärken deren Subjektivismus und bringen Egozentrik und Konsumgier hervor. Gerade darum bemühen sich Marktforschung, Wirtschaftspsychologie, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften. Die Erforschung des "Consumer's-Life-Value" (Wertindikator für ein Verbraucherleben) gehört zu diesem Trend.

Eine Zauberformel der Politikwissenschaftler lautet: "Transparenz und Bürgernähe im demokratisch-pluralistischen Diskurs". Auch pseudodemokratische Spielwiesen wie "Kinder-Unis" oder "Schülerparlamente", "Bürgeranhörungen" als Gelegenheiten, Unmut loszuwerden, dienen eher dazu, Akzeptanz für politische Absichten zu erreichen und die Menschen "mitzunehmen" als ihnen auch nur ein Fünkchen realer Entscheidungsmacht abzutreten.

Gemessen an den heutigen Zuständen hatten Forschung und Lehre während der 68er-Bewegung an vielen westdeutschen Hochschulen fortschrittliche Inhalte: Antikapitalismus, Antifaschismus, Sozialgeschichte, kritische Pädagogik, Literatur, Sozialpsychologie, Soziologie mit qualifizierter Kritik des bürgerlichen Akademismus und der Instrumentarien zur Manipulation öffentlicher Meinung wie des Konsumverhaltens. Diese sind heute weitaus differenzierter und massenwirksamer entwickelt. Die Vernachlässigung kritischer Forschung gegen solche Steuerungsmethoden im subjektiven Sektor wirkt sich negativ auf die Entwicklung, Effizienz und Attraktivität fortschrittlicher Ideen für Problemlösungen unter sich ständig verändernden gesellschaftspolitischen Verhältnissen aus. Wer sich als Marxist versteht, sollte bedenken, daß nicht jedes menschenfreundlich anmutende akademische Patentrezept unter kapitalistischen Rahmenbedingungen dem Fortschritt dient, sondern selbst als Etappenziel im Kampf für die Abschaffung der Ausbeutung und der Herrschaft des Kapitals kontraproduktiv wirken kann.

Jobst-Heinrich Müller

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Seit Jahren verweigert Amazon tarifliche Verhandlungen
"Die Arbeitsbedingungen machen viele krank"

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LUTZ JAHODA: LUSTIG IST ANDERS ...

Ursachenforschung
(auch als Abzählreim zu verwenden)

Auf der morschen Jenseitsmauer
hockt noch immer Adenauer
samt der aufgewärmten Brut,
was uns heut noch schaden tut.

NPD und AfD.
Schmerzen bis zum großen Zeh.
Ach, wie sich die Bilder gleichen:
Keine guten Zukunftszeichen!

CDU und SPD,
Abstieg tat schon immer weh.
Schmerzlich ist es, so zu sühnen,
bitter auch der Weg der Grünen.

CSU -
raus bist auch du!
Winke, winke, winke!
Übrig bleibt Die Linke!

Deutschland.
Ein Trauermarsch mit lyrischem Abgang

Die Grundrichtung rechts war immer schon da
unter einigen Menschen des Westens.
Gehegt und gepflegt durch Konrad A.
Als Nachlaßverwalter tat er das bestens.

Der Osten hatte gut aufgeräumt
im Land zwischen Oder, Werra und Elbe.
Ein geläutertes Deutschland ist ausgeträumt.
Das Erbe aus Bonn ist noch immer dasselbe.

Die Saat ist aufgegangen,
die Eurosternlein prangen
schon lange nicht mehr klar.
Europa staunt und schweiget.
Seht, aus dem Moder steiget,
was leider stets vorhanden war.

Aus: Lutz Jahoda / Reiner Schwalme:
Lustig ist anders, Norderstedt 2017

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Die Arbeiterklasse zwischen Mythos, Verleugnung und Realität
Der verkannte Machtfaktor (Teil 2)

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Die Fabel von der göttlichen Weltordnung

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Lenin Vermächtnis für die internationale Arbeiterbewegung
Sendung des Deutschlandsenders vom 29. August 1974

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Die Arbeitsproduktivität - das letztlich entscheidende Kriterium?

Der Artikel "Über Arbeitsproduktivität und Systemvergleich" von Hermann Jacobs im RF (Februar 2018) ist von der Absicht getragen, mit einer neuen Sichtweise die zentrale ökonomische Kategorie Arbeitsproduktivität zu betrachten und sie politökonomisch und gesellschaftspolitisch anders einzuordnen. Im Kern geht es in diesem Beitrag um zwei Fragestellungen, die der Autor auf seine Weise beantwortet und welche zugleich zur Diskussion herausfordern.

Erstens: Taugt die ökonomische Größe Arbeitsproduktivität zum Systemvergleich?

Die Kategorie Arbeitsproduktivität ist ein untrennbarer Bestandteil des Arbeitsprozesses in der materiellen Produktion. Sie widerspiegelt das Ergebnis der Tätigkeit eines einzelnen oder des Gesamtarbeiters (Gesamtbeschäftigte in der Industrie, in der Landwirtschaft, im Bauwesen, im Güterverkehr usw.) in einer Zeiteinheit. Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeutet betriebswirtschaftlich weniger Zeitaufwand respektive weniger Arbeitskräfte für ein bestimmtes Produktionsvolumen in der Zeiteinheit. Die Betriebswirtschaft läßt viele andere Varianten und Kombinationen der die Arbeitsproduktivität beeinflussenden Komponenten zu. Die Arbeitsproduktivität als ökonomische Schlüsselkategorie wirkt zweifach: kostensenkend und mehrprodukterhöhend. Konstituierende Faktoren gesteigerter Arbeitsproduktivität sind Qualitätsverbesserungen der Produkte, Veredelungsprozesse je Tonne eingesetzten Materials, die Substitution beim Materialeinsatz, die Leichtbauweise. Die Wirkungslinien bzw. Abfolgen: Arbeitsproduktivität - Nationaleinkommen - erweiterte Reproduktion einschließlich des Erhalts und der Erweiterung der nichtökonomischen Bereiche der Gesellschaft sind in jedem Lehrbuch für Politische Ökonomie ausführlich beschrieben. Das Niveau der Arbeitsproduktivität ist aber nicht schlechthin eine Relation Aufwand - Ergebnis. Im Niveau der Arbeitsproduktivität und ihrer Steigerungsraten zeigen sich unmißverständlich die Fähigkeiten, die Kraft und die Ausdauer der Gesellschaft, auf die Anforderungen von Wissenschaft, Technik, Technologie und Organisation erfolgreich zu reagieren, auf Dauer massenhaft Triebkräfte für einen ständigen technologischen Wandel zu entfalten und zielgerichtet zu lenken. Das Produktivitätsniveau und seine Steigerungsraten sind ein konzentrierter Ausdruck dafür, wie dynamisch, stabil und belastbar eine Volkswirtschaft ist, wie groß ihre Handlungsmöglichkeiten auf den internationalen Waren- und Finanzmärkten sind. Das Leistungsvermögen einer Gesellschaft findet auch in solchen ökonomischen Größen wie Akkumulationsraten, Kaufkraft der Bevölkerung, Verhältnis der nationalen Währung zur international etablierten Leitwährung, Import-/Exportbilanz seinen Ausdruck. Das aber sind ökonomische Folgegrößen - vor allem resultierend aus gestiegener bzw. gesunkener oder stagnierender Arbeitsproduktivität. Mit dem Niveau der Arbeitsproduktivität kann keine Antwort darauf gegeben werden, wie politisch und sozial die Gesellschaft ausgerichtet ist, wie wirksam demokratische Systeme, Formen und Methoden funktionieren. Die politischen und sozialen Charakteristika einer Gesellschaft sind bestimmend dafür, in welchen Größenordnungen die gestiegene Arbeitsproduktivität den Klassen, Schichten, Bevölkerungs-und Beschäftigtengruppen zugute kommt, wer das Hauptinteresse an steigender Arbeitsproduktivität hat. Die Wirtschaft und ihr Produktivitätsniveau verkörpern im Organismus Gesellschaftsordnung das Knochen- und Muskelsystem, das alle nichtproduktiven Bereiche stofflich und finanziell absichert, ihnen Stabilität verleiht und erst ihre erweiterte Reproduktion ermöglicht. Die Arbeitsproduktivität schafft erst den Spielraum für alle sozialen und kulturellen Fortschritte in der Gesellschaft. Sie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Identifikation des einzelnen mit der politischen Ordnung, in der er lebt. Die Arbeitsproduktivität als klassen- und gesellschaftsneutrale ökonomische Größe, ihre Steigerungsraten als Ausdruck eines allgemeinen ökonomischen Gesetzes, in allen Gesellschaftsformationen wirkend, erlaubt keine gesellschaftspolitische Analyse. Sie widerspiegelt allerdings ziemlich treffend den Grad der auf Produktivität und Effizienz ausgerichteten Wirtschafts- und Finanzpolitik der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Innerhalb der Kennziffern und Kriterien, die für den Systemvergleich herangezogen werden, nimmt die Arbeitsproduktivität einen hervorgehobenen Platz ein. Das gründet sich in erster Linie auf ihre objektiv bedingte besondere Funktion im Reproduktionsprozeß. Das sind zweitens vorteilhafte Möglichkeiten der Berechnung. Über Preisbereinigungen lassen sich weitgehend objektive Vergleiche zwischen Gesellschaftsordnungen vornehmen, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Relation zu einem Einwohner des betreffenden Staates gesetzt wird.

Die von Dr. Peter Elz im März-RF angesprochene Orientierung, den sozialen und sozialpolitischen Faktoren (Wohnungsbau, Gesundheitswesen, Schulsystem, Krankenkassen, Rentensystem) im internationalen Systemvergleich ein größeres Gewicht beizumessen, ist berechtigt. Damit würde eine komplexere Sicht auf die Gesellschaftsordnung ermöglicht, würden die wirklichen Stärken und Schwächen einer Ordnung deutlicher zutage treten. Die vergleichende Analyse setzt allerdings voraus, die genannten Faktoren qualitativ zu werten und quantitativ zu messen. Einige Faktoren können, durch die Spezifik der jeweiligen Ordnung bedingt, überhaupt nicht miteinander verglichen werden. Wenn der Vergleich der sozialen und sozialpolitischen Faktoren nicht eine Momentaufnahme bleiben soll, setzt das ihre ständige erweiterte Produktion voraus. Auch dieser Vergleich läuft letztlich darauf hinaus: Wie muß das Produktivitätsniveau beschaffen sein, um das soziale Umfeld der Menschen dauerhaft zu sichern und schrittweise zu verbessern?

Rückblickend kann festgestellt werden, daß in der ökonomischen Theorie und in der Wirtschaftspraxis der DDR die Arbeitsproduktivität noch viel stärker im Focus hätte stehen müssen. Leistungsvergleiche und Leistungsbewertungen in der Industrie verloren ihre kritische Schärfe, ihre mobilisierende Aussage, wurden aufgeweicht, weil die Arbeitsproduktivität nicht die Nr. 1 unter den Bewertungskriterien war. Ähnlich war es bei Nachweisen in der persönlichen Leistungsbewertung. Lenins Forderung als Maxime für den Sozialismus blieb in zu vielen Fällen bloße Losung.

Die von Hermann Jacobs vertretene Auffassung von einer angeblichen Überbewertung der Arbeitsproduktivität kann so nicht akzeptiert werden.

Zweitens: War unser Produktivitätsrückstand gegenüber den entwickelten imperialistischen Industriestaaten eine maßgebliche Ursache für das Scheitern?

H. Jacobs schreibt in seinem Artikel: "Der Sozialismus brach nicht wegen Rückstandes noch in der Produktivität zusammen. Er ist überhaupt nie aus ökonomischen Gründen 'zusammengebrochen'. Wie soll denn ein solcher Zusammenbruch ausgesehen haben? Es hätte doch mindestens 'plötzlich' zu einem gewaltigen Rückgang der Produktion kommen müssen - nicht erst 1989/90, sondern schon davor."

Man kann daraus schließen, daß es also in erster Linie außerökonomische Gründe waren, die zur Niederlage geführt haben. Es sind demnach Fehler, Versäumnisse, Unterschätzungen und Fehlinterpretationen durch die Politik von Partei und Staat bei Existenz einer halbwegs intakten Wirtschaft. Hermann Jacobs geht noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt: "Der eigentliche Grund für das Ende lag eben nicht in der Ökonomie, sondern im Interesse einer Politik, die sich nur einer ökonomischen Begründung bemächtigte, um für glaubwürdiger und erfolgverheißender genommen zu werden." Danach ist die Wirtschaft nur Opfer einer politisch gewollten Schuldzuweisung. Es tritt immer deutlicher zutage, daß es eine Vielzahl von Faktoren, Prozessen, Umständen, Enttäuschungen und verschlossener Möglichkeiten war, die in ihrer Komplexität zur Niederlage führte. Die einzelnen Faktoren waren ihrem Inhalt nach politischer, ökonomischer, finanzieller und planerischer Natur. Innerhalb dieser Faktoren nimmt der Zustand der Wirtschaft Anfang/Mitte der 80er Jahre, ihre abnehmende Dynamik, ihr nachlassendes Vermögen, mit den großen weltweit sich vollziehenden technologischen Umwälzungen Schritt zu halten, einen besonderen Platz ein.

Die DDR befand sich schon auf Grund ihrer relativ schlechten Ausgangslage in einem ständigen Aufholmodus auf den Gebieten Arbeitsproduktivität und Konsum, insbesondere bei technischen Konsumgütern. Gemessen und verglichen wurde die DDR-Wirtschaft nicht mit kapitalistischen Randstaaten, sondern mit der BRD, mit imperialistischen Industriestaaten. Die Produktivitätsrückstände, die über drei Jahrzehnte hinweg nicht kleiner wurden (sie betrugen Jahr für Jahr ca. 25 bis 30 Prozent), waren Auslöser für viele Initiativen in den Betrieben und Kombinaten, um über den Weg der Konzentration der Industriekapazitäten, um durch Rationalisierung und Neuererbewegung, durch größeren persönlichen Einsatz am Arbeitsplatz schrittweise die Produktivitätslücke zu schließen.

Für die Partei- und Staatsführung der DDR gab es von Anfang an zwei große Ausgabenfelder. Das waren einmal die Wirtschaft und ihre Produktivität und zum anderen die stetige Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung. Mit dem neuen ökonomischen System der Planung und Leitung sollte in der ganzen Breite der Volkswirtschaft ein großer dauerhafter Schub für hohe Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität ausgelöst werden. Der Stoppschalter für diesen bedeutsamen Schritt wurde nicht in Berlin gedrückt. Der umfangreiche Maßnahmekomplex großer sozialpolitischer Verbesserungen (Wohnungsbauprogramm, Gesundheitswesen, Bildung, Hochschulen) war materieller Ausdruck der Bedürfnisse der Bevölkerung. Damit war zugleich die berechtigte Erwartung verbunden, mit verbesserten sozialen Lebensbedingungen stimulierend auf die Wirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit einzuwirken. Das ist nur in geringem Maße in Erfüllung gegangen. Dieser erhebliche Aufwand wurde leider vom größten Teil der Bevölkerung nur als Bringepflicht des Staates gegenüber den Bürgern wahrgenommen.

Praxisfern und ziemlich abwertend ist allerdings die von Hermann Jacobs aufgestellte Behauptung, wonach die politischen Funktionsträger der DDR sich mit vermeintlichen Schuldzuweisungen an die Wirtschaft aus der Verantwortung für das Scheitern genommen hätten. Es war doch ein Axiom des sozialistischen Aufbaus in der DDR - die Wirtschaft wurde politisch geführt. Der Hauptinhalt aller politischen Entscheidungen war ökonomischer Natur.

Anfang/Mitte der 80er Jahre begann eine Welle von Hochtechnologien durch die Industrien der imperialistischen Staaten zu fluten. Die DDR hatte große Schwierigkeiten, da mitzuhalten. Der Produktivitätsrückstand wurde wieder größer. Einzelne Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik, einige Leuchttürme in der Industrie - Kombinate und Institute - haben gezeigt, was im Sozialismus machbar ist. Sie haben aber nicht durchgehend das Niveau der Arbeitsproduktivität anheben können und zu einer höheren Dynamik geführt. Dem Bemühen um höhere Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität standen einige Faktoren mit stark bremsender und negativer Wirkung entgegen. In ihrer Verkoppelung waren sie die Achillesferse der DDR-Wirtschaft. Dazu gehörten das Fehlen einer konsequent auf Produktivität und Effektivität ausgerichteten Leitung und Planung mit all ihren ökonomischen und sozialen Vorteilen und Vergünstigungen - aber auch mit negativen Folgen für Betriebe und den einzelnen. Das waren die schon in den 70er Jahren radikal gekürzten Rohstoff- und Materialimporte durch die UdSSR bei einem gleichzeitigen Preisanstieg. Es fehlten die Möglichkeiten, Zulieferungen auf Hochtechnologieniveau für Hochtechnologieerzeugnisse in den RGW-Ländern zu beziehen. Das war die Strategie des Westens, insbesondere der NATO, die DDR von den interessanten Technologiemärkten zu isolieren, den Zugang außerordentlich zu erschweren. Die DDR hatte im Vergleich mit anderen großen Industriestaaten nur ein begrenztes Industriepotential mit dünner eigener Materialdecke. Das alles hat das Schließen der Produktivitätslücke außerordentlich erschwert.

Über den Zustand und die Perspektiven der DDR-Industrie 1989/90 gab es eine weitgehend objektive Wertung, die allerdings von der Treuhand total ignoriert wurde. Ausgehend vom festgestellten Produktivitätsniveau und den vorhandenen technologischen und ökonomischen Möglichkeiten war man der Meinung, die Industrie so strukturell zu gliedern. So hätte ein Drittel der Industriekapazitäten die reale Chance gehabt, auf den kapitalistischen Märkten erfolgreich mitzuspielen. Hier war die Lücke in der Arbeitsproduktivität weitgehend geschlossen. Ein weiteres Drittel wäre sanierungs- und modernisierungsfähig gewesen, hätte nach zwei bis drei Jahren auf ein höheres Produktivitätsniveau gehoben werden können. Das letzte Drittel der Industriekapazitäten hätte in technologischer, ökonomischer und finanzieller Hinsicht keine Chance zum Überleben gehabt. Die genannte Produktivitäts- und Effektivitätsstruktur der DDR-Industrie sah für die UdSSR und die anderen RGW-Länder noch weitaus schlechter aus. Obwohl ein Drittel der Industrie international wettbewerbsfähig war, sind wir nie aus dem Rückstand in der Arbeitsproduktivität herausgekommen, wodurch letztlich die Fortführung aller sozialpolitischen Maßnahmen hätte in Frage gestellt werden müssen. Das Produktivitätsniveau, gemessen auf der Basis Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, lag 1989 bei 65 Prozent des westdeutschen Niveaus. Unser Produktivitätsvorsprung gegenüber Spanien, Griechenland und Portugal konnte da nicht als Beruhigungskissen wirken.

Das Nichtschließen der Produktivitätslücke, die schwindende eigene Manövrierfähigkeit auf den kapitalistischen Märkten und die Unwirksamkeit der sozialistischen Staatengemeinschaft (RGW) waren Symptome eines langsamen Sterbens der Wirtschaft in der DDR. Das Sterben vollzog sich in Stufen, in einer Auf- und Abwärtsbewegung, immer wieder Kräfte und Mittel mobilisierend, ohne daß die Wirtschaft plötzlich kollabiert wäre.

Das langsame ökonomische Sterben war ein kollektives Sterben, beginnend schon in den 60er Jahren in der UdSSR mit der Nichtdurchführung einer tiefgreifenden Wirtschaftsreform. Das langsame ökonomische Sterben hatte sich bereits viele Jahre vor 1989/90 abgezeichnet. Es ist deshalb eine undialektische und ahistorische Betrachtungsweise, wenn Hermann Jacobs einen plötzlichen Zusammenbruch des ökonomischen Systems vermißt, und er meint, es hätte deshalb auch kein ökonomisches Scheitern gegeben.

Die von Lenin hervorgehobene Rolle der Arbeitsproduktivität in der Systemauseinandersetzung hatte unbestritten eine große mobilisierende Wirkung, auch wenn dem Sozialismus der Erfolg versagt blieb. Die Arbeitsproduktivität wird auch unter den Bedingungen der Industrie 4.0 ein wichtiges Kriterium bleiben. Es ist aber abzusehen, daß mit dem gleichen Status neben die Arbeitsproduktivität solche Kriterien treten wie Ergebnisse der ökologischen Anstrengungen des Staates (Boden, Wasser, Luft) und Verbesserungen des Gesundheitszustandes der Bevölkerung.

Prof. Dr. Achim Dippe, Berlin

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Prof. Götz Dieckmann: Abc des Marxismus

Als Beitrag zum 200. Geburtstag von Karl Marx gibt der "RotFuchs"-Förderverein eine von Götz Dieckmann zusammengestellte 56seitige Broschüre "Abc des Marxismus" heraus.

Sie enthält Lenins Essay "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus", ein Vorwort des Autors, 28 kurze Beiträge zu Stichworten wie Arbeit, Grundfrage der Philosophie, Religion, Zyklische Krise sowie einen Artikel "Der Antikommunismus - die Grundtorheit unserer Epoche".

Die als Einführung in unsere wissenschaftliche Weltanschauung und als Anregung zu deren weiterem Studium geeignete Broschüre kann gegen eine Spende beim "RotFuchs"-Vertrieb bestellt werden.

Tel.: 030-53 02 76 64 oder
Mail: vertrieb@rotfuchs.net

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Zur neuen Textausgabe von Marx' "Kapital", Band 1
Ein kapitaler Traum

Ist Thomas Kuczynski ein Träumer? Da macht sich der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr jugendliche Wissenschaftler 1997 auf, eine neue Textausgabe (NTA) des ersten Bandes von Karl Marx' Kapital zu offerieren. Zwanzig Jahre akribischen Forschens, Übersetzens, Umrechnens, Glättens und das Mühen, dem Ganzen die richtige Form zu geben, sollte es brauchen, bis er Ende des vergangenem Jahres diese im doppelten Sinne gewichtige Arbeit als Buch präsentieren konnte.

"Die Sache" begann 1997 mit dem Auftauchen der Arbeitsnotiz von zwei Mitarbeitern des Marx-Engels-Instituts Moskau, verfaßt am 5. Februar 1930. Sie skizzierten Vorstellungen zu einer geplanten Volksausgabe, die jedoch nie verwirklicht werden konnten. Diese, so die Moskauer Wissenschaftler, könne jedoch mit Blick auf die französische Ausgabe und Kuczynskis jahrelanger tiefgründiger Beschäftigung mit Marx, besonders auch mit dem "Kapital", Gestalt annehmen.

Neben der französischen hat Kuczynski alle von Marx und Engels veröffentlichten Ausgaben und Übersetzungen berücksichtigt. Ziel war es, dem Lesepublikum eine Ausgabe zur Verfügung zu stellen, die ihm zweierlei liefert: eine lesefreundliche und zugleich zuverlässige, auf den Marxschen Texten und den ihnen zugrunde liegenden Quellen basierende Arbeit. Denn das Lesen der bisherigen Ausgaben war oft mit einigen Tücken verbunden.

Ein Beispiel: im "Kapitel VIII. der Arbeitstag" wird die Kinderarbeit angeprangert, und wir lesen, daß Knaben in Walzwerken bei 86 bis 90 Grad arbeiten mußten - eine Temperaturangabe in Fahrenheit. Erst durch die Einfügung 30-32°C in der NTA entsteht für uns daraus ein Bild. Das gleiche trifft bei der Umrechnung der Maße und Gewichte zu. Wer verliert nicht den Lesefaden und die Vorstellungskraft, will er Fuß und Zoll in unser metrisches System umrechnen - und wer tut es? Von Marx zitierte Passagen in französisch, englisch, italienisch, lateinisch und (alt-)griechisch sind übersetzt. Und auch die Einfügung der Fußnoten in den fließenden Text (typographisch immer als solche erkennbar) machen ihn lesbarer.

Bleibt festzustellen: Es handelt sich nicht um eine "volksthümliche" Ausgabe. Was Kuczynski vorlegt, ist eine neue, verbesserte Volksausgabe - kein verbesserter Marx! Wer also im klassischen dunkelblauen Band 23 der MEW oder einer anderen Ausgabe "Das Kapital" (Bd. I) gelesen hat, hatte natürlich keinen grundsätzlich anderen Marx vor sich - eine Konkordanz zu den verschieden Ausgaben findet sich im Anhang.

Einen scharfen, gleichsam pathologischen Blick in Marx' Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und die laut Kuczynski "ziemlich verwickelte Editionsgeschichte" gewährt ein historisch-kritischer Apparat, der auf USB-Stick dem Buch beigelegt ist.

Bei den "technischen" Bemerkungen möchte ich die "Vorbemerkung für jene, die ein Buch mit dem Nachwort anfangen zu lesen" hervorheben. Es erläutert, wie das Kopfwerkzeug zu diesem Band leichter zu gebrauchen ist, bis zu dem Hinweis, daß der Einstieg besser gelingt, wenn man wie bei Korsch mit dem fünften Kapitel beginnt oder bei Kapitel acht. Was den Leser freilich nicht der Mühe entheben soll, sich dann durch die zurückgestellten Kapitel zu "kämpfen". Gleichermaßen erledigt sich mit dem Studium des ersten Bandes der Kritik der politischen Ökonomie natürlich nicht das Studium der zwei weiteren Bände. Geradezu brennend aktuell ist ja das im dritten Band behandelte Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Kuczynskis Traum ist es, dazu anzuregen, nicht nur über Marx zu reden, wozu wir in diesem Jahr reichlich Gelegenheit haben, sondern neu über Marx nachzudenken, ihn vor allem zu lesen, ihn zu studieren!

Bernd Gutte


Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie / Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. 800 Seiten, mit USB-Card, VSA-Verlag, Hamburg 2017, 19,80 €, ISBN 978-3-89965-777-7

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BUCHTIPS

Stefan Bollinger: Lenin
Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker
Basiswissen Politik / Geschichte / Gesellschaft / Ökonomie

Angefeindet, bekämpft, verteufelt und schließlich angeschossen wurde der Revolutionär, Theoretiker und Realpolitiker Lenin, der es 1917 unternahm, einen völkermörderischen Krieg zu beenden und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Er haßte den Krieg, Kriegstreiber und "linke" Helfershelfer des Krieges. Er wollte den Bruch mit Zarismus, Kapitalismus und der Herrschaft von Adel wie Bourgeoisie. Das erreichte er in Rußland, von vielen Linken im Westen im Stich gelassen. Unter seiner Führung waren ein unverschuldeter Bürgerkrieg und die Intervention ausländischer Mächte, der Wiederaufbau eines zutiefst rückständigen, armen, zerstörten Landes zu meistern. Unter schier aussichtslosen Umständen suchte und fand er Lösungen und öffnete den Weg in eine neue Zivilisation.

Seine Denkweise und sein politisches Handeln werden rekonstruiert, um zu überprüfen, was davon auch heute noch für eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung, für den Kampf gegen Krieg und für die Sicherung des Friedens nützlich sein könnte.

PapyRossa-Verlag, Köln 2017, 148 S., 9,90 €, ISBN
978-3-89438-656-6


Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft

Der globale Kapitalismus hat seit seiner Entstehung nicht nur Waren, sondern auch "Rassen" und "Spezies" produziert. Ihm liegt ein rassistisches Denken, eine "schwarze Vernunft" zugrunde, wie der große afrikanische Philosoph und Vordenker des Postkolonialismus Achille Mbembe in seinem brillanten und mitreißenden Buch zeigt.

Der sich anscheinend unaufhaltsam weiter ausbreitende Kapitalismus in seiner neoliberalen Spielart überträgt die Figur des "Negers" nun auf die gesamte "subalterne Menschheit". In diesem Prozeß des "Schwarzwerdens der Welt", so die radikale Kritik Mbembes, bilden auch Europa und seine Bürger mittlerweile nur noch eine weitere Provinz im weltumspannenden kapitalistischen Imperium.

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 332 S., 28 €, ISBN:
978-3-518-58614-3
(oder suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 17 €, ISBN:
978-3-518-29805-3)


Gerd Wiegel: Ein aufhaltsamer Aufstieg
Alternativen zu AfD und Co.

Trotz ihres einflußeichen rechtsextremen Flügels in ihrer Gesamtheit zwar nicht faschistisch oder neofaschistisch, aber radikal rechts, nationalistisch-konservativ bis völkisch wie zugleich marktradikal, also allemal gefährlich, so kennzeichnet Gerd Wiegel die "Alternative für Deutschland". Er stellt ihre unterschiedlichen innerparteilichen Tendenzen dar, zeigt, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, wie sie gegeneinander konkurrieren und sich bei allen Reibereien und Flügelkämpfen gegenseitig ergänzen.

Er analysiert Geschichte und Programm der AfD und ihre im neoliberalen Kapitalismus wurzelnden Erfolgs- und Aufstiegsbedingungen. Dies verknüpft er mit Überlegungen für erfolgversprechende Antworten. Diese reichen weiter als nur bis zu Wahlarithmetik und Regierungsbündnissen. Sie stellen die strategische Frage in den Vordergrund, wie eine konsequente linke Politik der völkischen Instrumentalisierung der "sozialen Frage" begegnen und wie sie es langfristig bewirken kann, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so zu verändern, daß der AfD der Boden entzogen wird.

PapyRossa-Verlag, Köln 2017, 126 S., 12,90 €,
ISBN: 978-3-89438-616-0

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Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte

Man ist geneigt, das Buch eher "Die ganze Wahrheit" zu nennen. Sicher, es ist nur die eine Sicht, von der aus Yanis Varoufakis europäische Geschichte und Gegenwart beschreibt. Doch was er da zu Papier bringt über die Diktatur der Finanzoligarchie in Europa und des "Westens" überhaupt, das ist alarmierend, mehr als nur ernüchternd und teilweise so kraß, daß man es kaum glauben mag. Angesichts dessen, daß kein Versuch bekannt ist, gegen Inhalte des Buches etwa gerichtlich mit Unterlassungsklagen vorzugehen, darf man von dessen Authentizität ausgehen.

Die oft wörtlich wiedergegebenen Aussagen mächtiger Vorder- und Hintermänner und -frauen der Machtelite sind also zutreffend. Und sie scheinen geeignet, Anzeigen wegen krimineller Rechtsbrüche gegen höchste "Würdenträger" zu erstatten.

Die Lektüre des opulenten Werkes (rund 600 Seiten plus 50 Seiten teils inhaltsschwere Anmerkungen, weitere Seiten Register) kann man niemandem abnehmen, allerdings steht es in vielem einem guten Kriminalroman nicht nach. Die Spannung nimmt bis zur letzten Seite nicht ab, obwohl man bereits von vornherein weiß, wie das Ergebnis ist.

Varoufakis trat nach wenigen Monaten im Amt als griechischer Finanzminister zurück, da er nicht bereit war, dem griechischen Volk gegenüber Handlungen zu vertreten, die es im Volksreferendum gerade eben abgelehnt hatte. Zuvor war er mit dem Versprechen angetreten, die Diktatur insbesondere der Troika (des Trios von EU, IWF und EZB) gegenüber seinem Land zu beenden und ein neuerliches Spardiktat nicht mehr zuzulassen. Und dafür hatte er eigene Vorstellungen und Pläne.

Bekanntlich überließen mehrere sogenannte systemtragende Banken Europas, vornehmlich Deutschlands und Frankreichs, dem Staate Griechenland so viel Kredite in risikoreicher, hochspekulativer und teils wohl auch rechtswidriger Weise, daß nach 2008 die Finanzkrise eigentlich den Ausfall dieser Kredite bewirkt hätte. Die Griechen waren jahrelang von rechten christlich-demokratischen Regierungen vertreten worden. Diese machten gemeinsame Sache mit den Banken, lenkten die Kreditgelder großenteils in die eigenen und die Taschen der Reichen und trieben den Staat in immer höhere Schulden, die nun nach Ausbruch der Finanzkrise nicht mehr tragbar waren.

Statt aber die rechtlichen Folgen zu akzeptieren und entsprechende Regulierungen einzuleiten, wurden völlig entgegen den Normen neue Kredite an Griechenland vergeben. Diese dienten der Bedienung der Banken, die nun Gelegenheit nahmen, sich auf Kosten des Landes aus der Misere herauszumogeln.

Diese Kredite wurden medial als "Hilfspakete" deklariert, die vertraglich bzw. mit dem damit verbundenen Diktat an Sparmaßnahmen gegen das griechische Volk gekoppelt wurden, welche soziale Katastrophen auslösten. Die gleichen Kräfte, die für das entstandene Desaster verantwortlich waren, sorgten nun dafür, daß das griechische Volk die Zinsen für die Schulden bezahlte und dabei noch als faul und korrupt verunglimpft wurde. Die Renten hat man unter die Hälfte gekürzt, die Arbeitslosigkeit besonders unter der Jugend stieg steil an. Die Einkommen der Normalverdiener sanken umgekehrt proportional.

Das alles erfolgte also bei weiter stark steigenden Kreditschulden Griechenlands und sinkenden Einnahmen des Volkes und des Staates. Die Verschleuderung von nationalem Eigentum an private Ausländer war eine weitere Maßgabe der Troika, die an die schiere Existenz des Staates Griechenland selbst rührte. Spielräume für eigenes Regieren reduzierten sich gegen Null. Dieses Szenario läßt Varoufakis detailreich und trotzdem mit Einzelheiten nicht überfrachtet vor dem geistigen Auge vorbeiziehen und entwickelt dabei seinen erstaunlichen Plan für einen griechischen Ausweg. Erstaunlich ist er deshalb, weil er noch nicht einmal einen Bruch mit dem kapitalistischen System vorsieht, sondern sich völlig im wirtschaftlichen Organisationsrahmen bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse bewegt.

Dies ist ihm als Kenner der internationalen Ökonomie möglich, wobei seine fast sagenhaft zu nennenden Beziehungen in diverse hochrangige Kreise in der Welt hilfreich sind. Überraschende Begegnungen werden von ihm diesbezüglich geschildert, was ihm auch gehöriges Mißtrauen in eigenen politischen Parlamentskreisen einbrachte.

Doch was angesichts dessen, was Varoufakis mit den "Waffen" der bürgerlichen Finanzökonomie zu parieren versucht, passiert, ist nicht nur schwer zu glauben. Es entlarvt einen hochbrisanten Zustand in Europa und der westlichen Welt und die Hemmungslosigkeit der Herrschenden.

Die Lektüre läßt angesichts der realen politischen Geschehnisse den Atem stocken. Ehrlich meinende Linke sollten aufhören, von Reformen zu sprechen, die einen Wandel einleiten könnten.

Varoufakis beschreibt die übliche verfehlte, teils regelwidrige offizielle Finanzpolitik in der Eurozone. Insbesondere berichtet er konkret nachvollziehbar, wie sich über Grenzen hinweg die herrschenden Finanz- und Wirtschaftskreise unter großzügiger Gewährung von "Schmiergeldern" und "Geschenken" gegenüber den jeweiligen Regierungs- und Machtzirkeln den erwirtschafteten Reichtum gegenseitig in die Taschen füllten und weiter füllen.

Als nun in Griechenland dieser desaströse und verbrecherische Prozeß durch die Wahl des Syriza-Parteienbündnisses 2015 drohte, öffentlich zu werden, und zudem auch noch tatsächlich planvoll unter Schuldzuweisungen beendet werden sollte, passiert scheinbar Unfaßbares.

Es wird deutlich, daß sich die verantwortlichen Kreise in Europa und der Welt nicht in die Karten schauen lassen wollen. Wie das abläuft, ist jetzt von Varoufakis in allen Details mit Namen, Hausnummer und "Handschrift" dargelegt. Die wirklichen Verhältnisse der Macht in Europa liegen offen. Die Wahrheit all dessen wäre eigentlich geeignet, soziale Explosionen hervorzurufen. Denn Griechenland ist nur ein Test- oder Beispielfall, der noch für weitere Staaten wie Italien, Spanien, Portugal, ja sogar für Frankreich (weiter) anwendbar ist.

Damit wurde faktisch die erste "Betriebsanleitung" dafür verfaßt, wie ein Wandel in Europa nicht funktioniert. Für jede politisch agierende Person, insbesondere jeden Parlamentarier in einer der bürgerlichen "Volksvertretungen" in Europa sollte das Buch Pflichtlektüre sein, für jeden Linken sowieso. Dabei sei betont, daß der Stoff in einer hervorragenden Übersetzung präsentiert wird.

Die Mißgeburt der Währungsunion ohne eine Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktunion war nur für wenige ein Segen. Dies wird bei Varoufakis überdeutlich. Absehbar wird die zu erwartende Zukunft für die Völker in den europäischen Nationalstaaten. Der "normale" Profit reicht nicht mehr, weshalb die Sozialstandards extrem nach unten "entwickelt" werden müssen. Varoufakis "lernte unmittelbar die besonderen Umstände und Gründe kennen, warum unser Kontinent in einem Morast versank, aus dem er womöglich lange nicht mehr herauskommen wird". (S. 7)

Den Bericht von Varoufakis darüber nur als "Enthüllung" zu bezeichnen, würde zu kurz greifen. Denn er gibt darüber hinaus wichtige und detaillierte Antworten darauf, wie radikal und tiefgreifend der Wandel sein muß, um aus der Sackgasse kommen zu können. Der Kapitalismus im Endstadium an den Grenzen des für den Globus Tragbaren stellt die Menschheit vor Aufgaben, die dringend gelöst werden müssen.

Teile des dazu Nötigen macht Varoufakis sichtbar. Aber auch das Ausmaß und die Schwierigkeiten werden erkennbar. Der neue Weg wird ohne langwierigen und harten Kampf nicht zu gehen sein. Der "Abschied" von Ausbeutung und Unterdrückung ist notwendig. Ob dies auf "sanfte" Art möglich wird, ist angesichts der skrupellosen Methoden der Herrschenden und der Anhäufung von Mitteln der Gewalt durch sie äußerst zweifelhaft.

Renato Lorenz
Berlin


Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte.
Verlag Antje Kunstmann, München 2017.
662 Seiten, 30 €

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Ist Marxismus noch zeitgemäß?

Die DDR hat viel hinterlassen, was erst jetzt seine positive Wirkung wieder entfalten kann. Das hat mit den Zuständen zu tun, in denen sich die Bürger des ostdeutschen Staates gewollt oder ungewollt nach der Konterrevolution wiederfanden. Sie treiben schneller und schneller einer Krise zu, die sich nicht auf die Wirtschaft und eine lang anhaltende Rezession beschränkt, sondern die Menschheit und die zivilisatorischen Errungenschaften mehrerer Jahrhunderte gefährdet.

Wer vor diesem Hintergrund das Buch des Philosophen Herbert Hörz (geb. 1933) "Ist Marxismus noch zeitgemäß? Erfahrungen, Analysen, Standpunkte" liest, dem wird einerseits schmerzlich bewußt, was 1989 und 1990 abgebrochen wurde, andererseits belegt der Band, daß es nicht gelungen ist, tabula rasa zu machen.

Die Disziplin, die Hörz repräsentiert, die philosophische und historische Erforschung von Wissenschaftsentwicklung, ist nicht verschwunden.

Herbert Hörz studierte Philosophie und Physik in Jena und an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitete danach an deren Philosophischem Institut. Er war dort 1959 Mitbegründer des Lehrstuhls "Philosophische Probleme der Naturwissenschaften" und habilitierte sich 1962 mit einer Arbeit zu Philosophie und Quantenmechanik. 1965 wurde er zum Professor berufen und war von 1968 bis 1972 Direktor der Sektion Philosophie, danach leitete er bis 1989 den Bereich "Philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung" am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der DDR (korrespondierendes Mitglied 1973, ordentliches Mitglied 1977). Von 1998 bis 2006 war er Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften in Berlin und ist seit 2009 deren Ehrenpräsident. Die Wurzeln seines Engagements liegen in einem Ethos, das unmittelbar mit der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit verbunden ist. Hörz deutet nur selten an, wie er zu seiner Haltung kam. Einmal heißt es: "Von der Physik zur Philosophie kommend, bin ich es gewohnt, auf klare Problemstellungen zu achten, argumentativ begründete Lösungen anzubieten und offene Fragen zu formulieren." Und das, läßt sich anfügen, erlebt der Leser in den vier Hauptabschnitten dieses Buches: klare Definitionen, Erwägungen pro und contra, ohne den Leitfaden zu verlieren.

"Was zog mich am Marxismus an?", fragt sich der Verfasser an anderer Stelle seines Buches, und antwortet: "Für mich war und ist der Marxismus kein 'Ismus' neben anderen, sondern Beachtung aller argumentativ begründeten Auffassungen der Vergangenheit und Gegenwart, die aus ihrer weltanschaulichen interessengeleiteten Enge zu befreien sind. Er verbindet für mich Wahrheitssuche und Humanität, da er auf Fortschritt orientiert und das Bestehende kritisch auf seine Entwicklungspotenzen untersucht."

Dieser Begriff von Marxismus erwächst aus einer lebenslangen Beschäftigung mit Wissenschaft, genauer: Hörz war und ist Gesprächspartner ungezählter Wissenschaftler. Seit seinem Buch über den Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901-1976) aus dem Jahr 1966 und dem Briefwechsel mit ihm stand er immer wieder im Meinungsaustausch sowohl mit führenden Naturwissenschaftlern als auch mit bedeutenden Vertretern anderer Disziplinen. Eigene Abschnitte widmet er seinem Lehrer, dem Philosophen Georg Klaus (1912-1974), dem französischen Philosophen Dominique Lecourt (geb. 1944), dem Schweizer Marxisten Konrad Farner (1903-1974), dem evangelischen Theologen Emil Fuchs (1874-1971), dem Musikwissenschaftler Georg Knepler (1906-2003) und dem kürzlich verstorbenen Ökonomen Elmar Altvater (1938-2018). So vielfältig die Disziplinen sind, die von den Genannten repräsentiert werden, so facettenreich ist das Bild vom "Marxismus in der Entwicklung", das Hörz im letzten Buchabschnitt zeichnet. Er behandelt die Frage von Determination und Zufall ebenso wie das Thema Industrie 4.0.

Das besagt: Hörz versteht Marxismus als integralen und integrativen Bestandteil von Wissenschaftsentwicklung, als Feind jeder Dogmatik, aber auch jeder Beliebigkeit. Letztlich geht es ihm um die Lösung der drängenden Menschheitsprobleme - von der Bedrohung des Friedens bis zur Gefährdung der natürlichen Umwelt. Der Titel seines Buches entsprang der Bitte einer "RotFuchs"-Gruppe 2016, zum Thema "Ist der Marxismus noch zeitgemäß?" zu referieren. Was ihm damals abgefordert wurde, ist hier als vorläufige Bilanz eines wissenschaftsorientierten Marxismus nachzulesen. Hörz zitiert Margot Honecker, die 2012 zu westlichen "Möchtegern-Historikern" formulierte: "Wir müssen aus der Verteidigungsstellung heraus und offensiver ihre Politik entlarven, ihre Entstellungen." Hörz kommentiert: "Aus den Fehlern der Vergangenheit ist zu lernen, um das humanistische Konzept einer Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten als echte Alternative zum Haifischkapitalismus aufzubauen!" Sein Buch ist in diesem Sinn eine Anleitung zum Handeln.

Arnold Schölzel



Herbert Hörz: Ist Marxismus noch zeitgemäß?
trafo-Verlagsgruppe, Berlin 2016, 296 S., 26,80 €

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Zur Einführung des AGB der DDR vom 16. Juni 1977

Der "RotFuchs" veröffentlichte im Februar einen Beitrag über das neue Arbeitsgesetzbuch (AGB) der DDR. Das regt mich an, dieses Thema noch einmal aufzugreifen. Vorausschicken möchte ich, daß ich an seiner Ausarbeitung beteiligt war.

Ich kann bestätigen, mit welchem Eifer die Werktätigen über den Entwurf des Gesetzes diskutierten. Aus Gewerkschaftsgruppen, Arbeitskollektiven und anderen autorisierten Gremien kamen deren Meinungen direkt in die Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung des Gesetzes. Diese arbeiteten sehr intensiv in Klausur an den Formulierungen des Gesetzestextes unter Auswertung und Beachtung der Vorschläge und Hinweise. Die gesamte Arbeit stand unter Federführung des FDGB, dessen Fraktion das fertige Gesetz in der Volkskammer zur Abstimmung einbrachte.

Als Mitglied der Arbeitsgruppe des Bundesvorstandes des FDGB war ich verantwortlich für die Erarbeitung des Kapitels IV des Gesetzes und habe zu seiner Einführung eine Erläuterung geschrieben, die vom Tribüne-Verlag 1982 veröffentlicht wurde. Worauf bezogen sich Hinweise und Vorschläge? Man verlangte z. B. eindeutige Formulierungen zur Ausgestaltung der Arbeitsaufgabe des Betriebs, was eine wichtige Voraussetzung für die Gewährleistung der Arbeitsdisziplin war. Gefordert wurden klare Aussagen zur Verantwortung der Leiter bezüglich Anleitung und Befähigung der Werktätigen. Viele Hinweise bezogen sich auf die eindeutigeren Festlegungen zum Weisungsrecht der Leiter, was für die Einhaltung der Arbeitsdisziplin ebenso wichtig war.

Ich hatte die Möglichkeit, den Gesetzentwurf in der tschechischen Volksrepublik innerhalb der Gewerkschaft (ROH) vorzustellen, was dort auf großes Interesse stieß. Es wurde betont, daß das Beispiel DDR bei der Ausarbeitung eines eigenen AGB sehr hilfreich sei.

Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurde die Rechtssicherheit der Werktätigen deutlich gestärkt. Die umfassende Diskussion führte auch dazu, daß sich die Werktätigen nun im Arbeitsrecht viel besser auskannten, was zur Folge hatte, daß Arbeitsrechtsstreitigkeiten und Konfliktkommissionsverhandlungen zunächst zunahmen. Betriebsangehörige nahmen ihr Unterstützungsrecht aus ihrer gewerkschaftlichen Mitgliedschaft, bei Arbeitsrechtsstreitigkeiten durch einen kostenlosen Prozeßvertreter vertreten zu werden, mehr in Anspruch.

Bedingt durch meine Tätigkeit als Dozent für Arbeitsrecht an der Gewerkschaftshochschule in Bernau war ich auch als ehrenamtlicher Prozeßvertreter tätig, so vor dem Kreisgericht im Arbeitsrechtsstreit oder auch in der Rechtsberatung. Das neue AGB und sein Zustandekommen war ein Paradebeispiel lebendiger sozialistischer Demokratie und diente letztlich zur Gewährleistung des Rechts auf Arbeit aller arbeitsfähigen Bürger, ein Recht, das künftig erst wieder erkämpft werden muß.

Dr. Werner Kulitzscher,
Berlin

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Sprache als Friedensarbeit

Bei einer Begegnung auf neutralem Boden sollten Autoren, deren gemeinsames Ausdrucksmittel das Deutsche ist, die jedoch nicht nur aus verschiedenen Ländern kommen, sondern zweifellos viele Dinge sehr verschieden betrachten und beurteilen, miteinander in ein Gespräch eintreten.

Wir haben Meinungsunterschiede und Unvereinbarkeiten auf wichtigen Gebieten. Sie trennen uns. Gerade sie sind es aber auch, die uns heute hier zusammengeführt haben, unter der Annahme, daß wir fähig sind, sie zu überwinden oder mindestens sie zurückzustellen, um jenes lebenswichtigen gemeinsamen Anliegens willen, das Friedensförderung heißt. Das nämlich kann und muß uns gelingen, nicht durch Ignorieren unserer Verschiedenheiten und Gegensätze, sondern gerade dadurch, daß wir uns ihrer bewußt bleiben. Mehr als für andere führt der Weg dahin für uns, deren Arbeits- und Wirkungsmittel das Wort ist, über die Sprache.

Unsere Gastgeber haben, als sie unser Arbeitsprogramm entwarfen, mir die Ehre erwiesen anzunehmen, daß mir das Thema "Sprache als Friedensarbeit" sicher zusagen würde. Damit hatten sie recht, und ich bin ihnen dankbar für die Anregung, wenn auch nicht ohne Einschränkung für die Formulierung. Vielleicht glaubten sie gerade damit dem Sprecher aus einem Land entgegenzukommen, von dem man zu wissen glaubt, es neige einer unanschaulichen, trockenen, abstrakten Sprache zu, einer Sprache, der zuzuhören anstrengend sein kann. Die dem Sprecher bewiesene freundliche Absicht bleibt zu loben, sie wirft aber eine weitergreifende Frage auf:

Darf denn Sprache in erster Linie daran gemessen werden, ob sie glatt und eingängig ist? Muß nicht oft gerade das leicht Eingängige mißtrauisch machen? Die Erfahrung lehrt: Wahrheiten machen es uns in der Regel nicht so leicht! Wer zu ihnen vordringen will, muß bereit sein, Sprachhürden in Kauf zu nehmen.

Noch einmal ein wenig Nachdenken über Wörter: Ich gebrauchte soeben die Ausdrücke trocken, unanschaulich, abstrakt - in ihrem eindeutig abschätzigen Sinn. Ersetzen Sie sie aber durch rational, präzise, klar, so haben Sie damit im Grunde die gleichen Eigenschaften bezeichnet, die mit der ersten Wortgruppe gemeint waren, nur ohne die Voreingenommenheit, die ihr zugrunde lag, ohne die innere Ablehnung, die sich darin mitteilte.

Für dieselbe Sache andere Wörter, objektive Benennungen anstelle von subjektiven, ästhetizistischen oder moralisierenden Kategorien, positiv oder zumindest wertfrei besetzte Wortsignale, und schon kann sich Aufgeschlossenheit herstellen, Verständnis für fremde Ansichten, Bereitschaft zu Verständigung: Sollte da nicht eine Lehre zu finden sein für Schriftsteller, denen die Förderung des Friedens - und nicht nur des Friedens unter Literaten - am Herzen liegt?

In diesem Sinne mache ich mir mit Freuden zu eigen, was man für mich formuliert hat: Sprache als Friedensarbeit - oder sagen wir bescheidener: als ein Teil der Riesenarbeit, die von vielen auf vielen Ebenen für die Friedensförderung zu leisten ist.

Denn, es ist ja keine Frage: Eine entwickelte Sprache, die wie das Deutsche überaus komplexen sozialen Beziehungen zu dienen hat, bietet zahllose Möglichkeiten des positiven wie des negativen Gebrauchs. Ihren Reichtum, ihre Ausdrucksmöglichkeiten im positiven Sinn der Friedensförderung zu nutzen, das kann und das muß also unser Beitrag zu der zu leistenden Riesenarbeit sein.

Ich höre das Stichwort, das zu fallen pflegt, wenn jemand sagt, was ich eben sagte. Das Stichwort lautet: Propaganda. Man erklärt eine Aussage zur Propaganda und meint damit, sie sei Lüge. Wieder ein Beispiel dafür, daß wir uns ohne Notwendigkeit Begriffe verdächtig machen lassen, weil sie vom Faschismus für seine Zwecke konfisziert wurden. Propaganda ist jedoch keineswegs zwangsläufig das, was sie in der Goebbelsschen Praxis war: Lüge und Demagogie. Das Bestreben, Gedanken zu verbreiten, die man für zutreffend und den Menschen förderlich erachtet, ist die natürlichste Sache von der Welt. Wir alle betreiben Propaganda, wenn wir unsere Ansichten äußern, für sie werben und gegebenenfalls sie gegen Widerspruch verteidigen.

Fürchten wir uns also nicht vor dem Wort, wenn es sich auf Widerstand gegen Hochrüstung und Atomkrieg bezieht. Treten wir aber, wo immer wir können, dem Mißbrauch der Sprache für zerstörerische Zwecke entgegen! Denn eines ist erwiesen und sicher: Sprache kann zu mancherlei herhalten. Sie ist, hierin dem technischen Fortschritt bis hin zur Atomkraft vergleichbar, schönster Höhenflüge fähig, aber auch schlimmstem Mißbrauch ausgesetzt.

Eine tadelfreie, gepflegte und ausdrucksstarke Sprache, die wir bewundern und der wir uns gern vorbehaltlos anheimgeben möchten - sie kann barbarische Inhalte in sich tragen, monströse Menschenfeindlichkeit, an Wahnsinn grenzende Unvernunft. Die Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart fehlen nicht. Eines davon, das uns noch lange in den Ohren klingen wird, lautet: "Es gibt Wichtigeres als den Frieden." (Dieser Satz stammt von Alexander Haig - US-amerikanischer Offizier und Politiker. NATO-Oberbefehlshaber in Europa, Außenminister unter Ronald Reagan.)

Verlangen wir also von der Sprache mehr als Korrektheit und Wohlklang. Verlangen wir von ihr Vernunft und Humanität! Verlangen wir von ihr Wahrheit und Klarheit!

Henryk Keisch
(RF-Archiv)

Der österreichische PEN-Club veranstaltete 1982 in Wien ein Treffen der PEN-Zentren deutschsprachiger Länder zu dem Thema "Gefährdete Sprache". Henryk Keisch aus der DDR hielt dort das hier in Auszügen wieder veröffentlichte Referat.

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Psychoterror im Kindergarten

Es gibt Nicht-"Pädagogen", die sich, guten Glaubens und im Auftrag der Kirche handelnd, bemüßigt fühlen, bereits Kindern im Vorschulalter Sündenängste einzutrichtern und die Hölle heiß zu machen.

Hierzu ein ganz konkretes Beispiel aus den ersten Lebensjahren unserer Kinder Gregor und Regine. Beide, damals gerade vier und fünf Jahre alt, gingen in einen Kindergarten, der sich - es war in den 70er Jahren - in katholischer Trägerschaft befand, und meine Frau und ich, wir waren entsetzt, als die Kinder eines Tages ganz verstört und verängstigt aus dem Kindergarten nach Hause kamen und hervorstießen, der Pater Ambrosius habe gesagt, wenn man Böses tue, komme man nach dem Tod in die Hölle und werde in ein ewig brennendes Feuer geworfen, das tue entsetzlich weh, da müsse man immerzu brennen, brennen und brennen, und das höre nie, nie, nie mehr auf. - "Mami, stimmt das?" fragten sie, und ich hörte (mit Erleichterung), wie meine Frau sagte: "Nein, das müßt ihr nicht glauben. Was der Pater Ambrosius da erzählt, das ist ein großes Märchen wie das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Aber mit der Hölle ist das so, wie ihr es im Fernsehen gesehen habt: wie da in Vietnam, wo die Amerikaner Napalmbomben abwerfen, die Kinder verbrannt sind. Wo die Menschen einander so etwas antun, da bereiten sie einander die Hölle, aber nicht im Jenseits oder nach dem Tod, sondern hier auf der Erde. Und überall da, wo sie freundlich und hilfsbereit und zärtlich zueinander sind, da können sie einander auch den Himmel bereiten." Und beide Kinder waren daraufhin getröstet und erleichtert und sprangen vergnügt davon.

Freilich: Wenige Tage später hörte ich die Stimme der Kindergärtnerin an der Haustür, wie sie zu meiner Frau sagte: "Ich soll einen schönen Gruß von Pater Ambrosius bestellen, und Sie möchten doch, bitte, seine pädagogischen Absichten nicht durchkreuzen." Und ich hörte mein Frau antworten: "Aber nein, Fräulein, ich glaube, Sie sehen das falsch. Sie dürfen unsere pädagogischen Absichten nicht durchkreuzen!" Die Kindergärtnerin zog von dannen, und unsere Kinder wurden im katholischen Kindergarten natürlich sofort abgemeldet.

So hatte meine Frau die Sache vom Kopf auf die Füße gestellt. Der Psychoterror war aufgehoben, und an die Stelle eines krank machenden illusionären Schreckensszenarios war das Bild einer realen Welt getreten, in der es zwar auch Qual und Schrecken gibt, aber eben auch Freude und Glück, und in der bei allem Jammer dennoch zu leben sich lohnt.

Theodor Weißenborn

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Von der Abwicklung und dem Ausverkauf der DDR

Nach der Einführung der Währungsunion am 1. Juli 1990 war die Einverleibung der DDR durch die BRD am 3. Oktober 1990 nur noch Formsache. Am Ende der DDR versprach der bis heute in herrschenden Kreisen als "Kanzler der Einheit" gefeierte Helmut Kohl, die neuen Bundesländer "schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt". Es gab zu dieser Zeit aber auch andere Stimmen, wie die des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass, der vom "Schnäppchen namens DDR" sprach, das mit der deutschen Einheit "nun dem westdeutschen Kapital zufallen" würde. Wer von beiden recht behalten sollte, zeigte sich dann sehr schnell.

Die völlige Liberalisierung des ostdeutschen Marktes, die schnelle DM-Einführung und die dadurch gestiegenen Löhne und Kosten der Betriebe, der mit dem westdeutschen und ausländischen Kapital hereinbrechende Konkurrenzdruck sowie der Wegfall osteuropäischer Handelspartner traf die Produktions- und Handelsbetriebe der einstigen DDR völlig unvorbereitet. Allein die mit dem radikalen Systemwechsel einhergehende ungebremste Einführung der DM und die damit verbundene Aufwertung der Ostmark um ca. 300 % hätten, ungeachtet der ökonomischen Beschaffenheit der DDR, "auch ein einigermaßen stabiles Land in Westeuropa [...] durch diesen Aufwertungsschock in eine tiefe Anpassungskrise gestürzt".

Der abrupte Systemwechsel hin zu einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung führte schließlich zu einer Krise und einem umfassenden Einbruch der ostdeutschen Wirtschaft, von der oft nicht mehr zurückblieb als der "Staub von Brandenburg". So schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Jahren 1990 und 1991 um ca. 40 %. Betroffen von diesen Entwicklungen war insbesondere der staatlich regulierte Industriesektor der DDR (dazu zählten u. a. Maschinen- und Fahrzeugbau, Optik und Feinmechanik sowie Elektronik). Bis Ende 1991 sank die industrielle Produktion um ca. 65 %, was den Konkurs einer Vielzahl ostdeutscher Betriebe nach sich zog. Es handelt sich bei diesen Einbrüchen um Größenordnungen, wie sie bislang in Friedenszeiten für keine Industrienation beobachtet wurden.

Selbst während der Weltwirtschaftskrise zum Ende der zwanziger Jahre betrug der relative Einbruch der Industrieproduktion in Deutschland nur etwa 40 %, und das reale Bruttoinlandsprodukt fiel damals um Werte, die zwischen 20 und 30 % lagen.

In der Wirtschafts- sowie Politikwissenschaft wird mit Blick auf diesen ökonomischen Einbruch zu Recht oftmals von einer "Schocktherapie", einem "Super Big Bang" oder auch von der "kollapsartigen Preisgabe der ostdeutschen Industrie" gesprochen. All diese Begriffe verweisen auf den umfassenden Strukturbruch, der sich schon in den ersten beiden Nachwendejahren in Ostdeutschland vollzogen hat te. Heute erinnern daran noch die in vielen ostdeutschen Städten sichtbaren - inzwischen "blühenden" - Industrieruinen.

Nachdem noch in den Jahren 1989 und 1990 Transparente wie "Helmut Kohl, nimm uns an die Hand, und zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland!" auf Demonstrationen in vielen ostdeutschen Städten zu finden waren, änderten sich die Aufschriften recht schnell. Schon wenige Jahre später prägten Slogans wie "Treuhand - Kohls Mafia in Ostdeutschland", "Soll die Arbeitslosigkeit in den Bürgerkrieg führen?" oder "Vielen Dank Treuhand für die aktive Sterbehilfe!" die Demonstrationen der ostdeutschen Bevölkerung. Diese neuen Losungen stehen in direkter Verbindung mit dem industriellen Einbruch in Ostdeutschland und gleichzeitig mit einer sich vollziehenden umfangreichen Privatisierung, die von der am 1. März 1990 gegründeten Treuhandanstalt (THA) organisiert wurde.

Die ursprüngliche Aufgabe der THA lautete: "Wahrung des Volkseigentums und seiner Verwaltung im Interesse der Allgemeinheit". Doch nach dem Ende der DDR und der damit verbundenen Wiederherstellung des Privateigentums an den Produktionsmitteln kam es zur Neuausrichtung der THA. Nun diente sie als Anstalt des öffentlichen Rechts, die außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle stand, der Privatisierung und Verwertung des volkseigenen Vermögens der DDR, das zu Beginn der THA auf 650 Mrd. DM geschätzt wurde.

Der damalige Präsident der Treuhand, Karsten Rohwedder, erwartete einen längeren wirtschaftlichen Prozeß in Ostdeutschland. Er sagte dazu: "Ich gehe davon aus, daß 70 bis 80 Prozent der DDR-Betriebe erhalten bleiben, wenn nicht sogar mehr." Dabei wurde die Aussage "Schnelle Privatisierung, entschlossene Sanierung und behutsame Stillegung" zu Rohwedders Motto. Dementsprechend folgte eine Welle von Verkaufs- bzw. Privatisierungsgeschäften, die fast ausschließlich mit westdeutschen Käufern abgewickelt wurden.

Diesen "seriösen Käufern" wurden die ehemaligen Volkseigenen Betriebe (VEB) zu Spottpreisen angeboten und verkauft. Der Spruch "Für'n Appel und 'n Ei" hatte zur damaligen Zeit Hochkonjunktur. Bis zum Mai 1992 konnten entsprechende Erfolge vermeldet werden: Es waren zu dieser Zeit schon knapp 1500 Betriebe mit ca. 250.000 Beschäftigten stillgelegt. Mit dem Amtsantritt von Birgit Breuel als Präsidentin der THA im Jahre 1991 wurde die Philosophie von Rohwedder weiterentwickelt. Breuels Motto lautete: "Privatisierung ist immer noch die beste Sanierung."

Gemäß dieser Ausrichtung erfolgte die weitere Arbeit der Treuhand. So kam es unter Breuel zum schnellen und massenhaften Verkauf von ostdeutschen Betrieben und Produktionsvermögen. Um die Privatisierungen entscheidend zu beschleunigen, "flossen erhebliche öffentliche Mittel in Form von direkten Beihilfen, Verlustübernahmen, Entschuldung und Freistellung von ökologischen Belastungen der Immobilien an westdeutsche und ausländische Unternehmen".

Als die Treuhand, die zum größten Konzern der Welt aufstieg, am 31.12.1994 ihre Arbeit beendete, hatte sie von den ihr unterstehenden 12.354 volkseigenen Unternehmen mit 45.000 Betriebsstätten in der ehemaligen DDR insgesamt 6546 (53 %) privatisiert, 1588 (13 %) reprivatisiert, 310 (2,5 %) kommunalisiert und 3718 (30 %) stillgelegt. Damit wurde die Treuhand schließlich zum Symbolnamen für die Zerstörung der ostdeutschen Industriestruktur. Von den übriggebliebenen Betrieben gingen 85 % an westdeutsche Eigentümer, 10 % an ausländische Investoren und 5 % an ehemalige DDR-Bürger. Oftmals waren dabei auch die Grundstücke, Gebäude und Ausrüstungen auf westdeutsche Unternehmen übergegangen, die somit ihre Absatzchancen im In- und Ausland ausbauen konnten. Nach der skandalträchtigen Schließung der Treuhand (bis dahin machte sie 256 Mrd. DM Schulden, was bis heute nicht aufgearbeitet ist) gingen die Privatisierungen weiter. So privatisierte die Nachfolgeorganisation, die "Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben", noch weitere 4370 Unternehmen in den Jahren 1995 bis 1998.

"Grund und Boden in Wessi-Hand, wo ist unser Heimatland?"

Auch dieser Slogan war zu Beginn der 90er Jahre bei Protesten gegen den rücksichtslosen Ausverkauf des DDR-Vermögens zu hören. Was war passiert? Mit der deutschen Einheit ging auch der umfangreiche Bestand an volkseigenen Grundstücken und Gebäuden als Verwaltungs- und Finanzvermögen in das unmittelbare Eigentum des Bundes über. Der bundesrepublikanische Staat übernahm ca. 124.000 Immobilien sowie große Liegenschaften im Umfang von ca. 342.000 Hektar und weiteres umfangreiches Eigentum in zuvor staatlich gelenkten Bereichen (z. B. im Hotelgewerbe, in der Energie- und Wasserversorgung sowie im öffentlichen Nahverkehr). Die Wiedereinführung des Privateigentums an Grund und Boden wirkte sich dahin gehend aus, daß ein großer Teil der einstigen volkseigenen und genossenschaftlichen Immobilien umfassend privatisiert wurden. In diesem Bereich fand eine Übertragung von Wohnungs- und Industriegrundstücken im Wert von 200 Mrd. bis 250 Mrd. DM (nach westdeutschen Preisen von 1989) statt. Dies führte dazu, daß sich bis heute ein großer Teil des Eigentums an Immobilien in den Händen nicht ortsansässiger Personen und Gesellschaften befindet. Lediglich 5 % des privatisierten Vermögens blieb in ostdeutschem Besitz. Es veränderten sich somit auf direktem Wege die städtischen Rahmenbedingungen von Grund auf.

In der DDR war das Recht auf Arbeit verfassungsrechtlich gewährleistet und Ende 1989 mit über 9,7 Millionen Erwerbstätigen die Vollbeschäftigung fast erreicht. 92 % aller Frauen waren erwerbstätig, und alle Jugendlichen erhielten eine Facharbeiter-, Fachschul- oder Hochschulausbildung. Auch auf dieser Ebene änderte sich mit der Abwicklung der ostdeutschen Wirtschaft die Situation völlig: "Arbeiterinnen und Arbeiter wurden vom ziemlichen Souverän zum wichtigsten Kostenfaktor." Von nun an wurde die Arbeitskraft wieder zur Ware, und das Grundrecht auf Arbeit ging verloren. Das hatte fatale Folgen, da durch die weitgehende Zerschlagung der Großbetriebe einerseits die durchschnittlichen Betriebsgrößen der Unternehmen sanken und andererseits die Arbeitslosenzahlen sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen rasant anstiegen. So sank bis Ende 1995 die Zahl der Beschäftigten auf 5,31 Mio., was einem Beschäftigungsniveau von 55 % im Vergleich zu 1989 entsprach. Allein die Zahl der Industriebeschäftigten ging um 80 % zurück. Dieser Arbeitsplatzabbau war in ganz Osteuropa einmalig: Während in der DDR in der Industrie, dem Kern der Wirtschaft, nur 20 % der Arbeitsplätze erhalten werden konnten, sind es in Tschechien 68 %, in Ungarn 76,8 % und in Polen 85 %

Mit Blick auf Ostdeutschland läßt sich festhalten, daß bezogen auf die Einwohnerzahl heute weniger Menschen in der Industrie als in allen anderen westeuropäischen Ländern arbeiten. Auch in der Land- und Forstwirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und dem militärischen Apparat kam es zu einem massiven Arbeitsplatzabbau. In der Landwirtschaft, die nach der Industrie die wichtigste Basis der sozialistischen Ökonomie darstellte, fielen fast 80 % der Arbeitsplätze weg.

Die Zahl der Erwerbstätigen schrumpfte von 834.000 (1989) auf 165.000 (1994). Einen vergleichbaren Beschäftigungsabbau gab es in den einstigen politischen und staatlichen Einrichtungen der DDR, die durch hohe Beschäftigungsquoten gekennzeichnet waren. Insgesamt über eine Million Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst und den politischen Einrichtungen entlassen oder (zwangsweise) vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Bis zu 80 % des gesamten wissenschaftlichen Personals der DDR wurden entlassen, darunter insbesondere das Personal an Universitäten und Fachhochschulen. Über 5000 Professorinnen und Professoren schieden aus dem Dienst aus.

Doch nicht alle Arbeitsbereiche mußten Verluste hinnehmen: Das für kapitalistische Systeme umfangreiche Banken- und Versicherungswesen wies, neben der Baubranche, einen Beschäftigungsanstieg um 120 % auf. Dieser Anstieg konnte aber den Beschäftigungseinbruch in den anderen Bereichen nicht ansatzweise aufhalten. Im Gegenteil: Innerhalb von nur drei Jahren stiegen die Arbeitslosenzahlen von 240.000 (1990) auf 1,35 Mio. (1992). Davon betroffen waren vor allem ältere Beschäftigte und Frauen. Lag die Erwerbsquote der Frauen in der DDR 1989 noch rund 20 % über dem BRD-Niveau, fiel diese Quote schon zwei Jahre nach dem Ende der DDR unter den westlichen Stand.

Neben den registrierten Arbeitslosen befanden sich ca. 400.000 Menschen in sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und ähnlichen Beschäftigungsverhältnissen, sowie ca. 500.000 in der beruflichen Weiterbildung. Hinzu kamen noch weitere 1,5 Mio. "Arbeitnehmer", die auf Kurzarbeit (zumeist mit null Stunden) heruntergesetzt wurden. Die Unterbeschäftigungsquote lag zu diesem Zeitpunkt bei ca. 34 %. Dies führte schließlich zu einem bis zum Jahre 1997 dauernden Anhalten der Arbeitslosenquote von 18 % bis 19 % der Erwerbsbevölkerung.

Der ökonomische Strukturbruch, die massiven Arbeitsplatzverluste und der hohe Anstieg sowie die Verfestigung von Arbeitslosigkeit führten zu einer demographischen Krise in Ostdeutschland. Einerseits kam es zu einer massiven Abwanderung von Ost- nach Westdeutschland, was vor allem junge und qualifizierte Menschen betraf. Zum anderen gab es einen enormen Rückgang der Geburtenzahlen. Im Jahre 1989 wurden noch knapp 200.000 Kinder geboren. Innerhalb von nur sechs Jahren sank die Zahl auf 80.000 Geburten, was einen Geburtenrückgang von 60 % bedeutet.

Dadurch nahmen die Einwohnerverluste weiter zu. Davon betroffen waren fast alle ostdeutschen Städte, darunter besonders die industriell geprägten Städte wie Schwedt und Eisenhüttenstadt. Aber auch größere Städte, die eine differenzierte ökonomische Basis aufwiesen, wie Leipzig, Halle und Magdeburg, mußten enorme Einwohnerverluste hinnehmen. Allein die drei sächsischen Großstädte - Dresden, Leipzig und Chemnitz - verloren bis 1998 rund 11 % ihrer Einwohner (in Leipzig waren es über 90.000). Auch Klein- und Mittelstädte waren dieser Entwicklung ausgesetzt. Die Bevölkerungsverluste in den sächsischen Mittelstädten lagen bis 1998 bei 14,8 % in Zwickau, bei 15,7 % in Görlitz und in Hoyerswerda sogar bei 21 %. Insgesamt betrachtet verzeichneten alle Städte mit mindestens 20.000 Einwohnern zwischen 1989 und 2000 einen Einwohnerverlust von zusammen 864.000 Menschen. Vergleichbare Entwicklungen fanden auch in den ländlichen Gebieten im Osten statt.

Dieser massive Bevölkerungsrückgang setzte in Ostdeutschland einen Schrumpfungsprozeß in Gang, der bis heute weitreichende Folgen hat: Wohnungsleerstand, Rückzug in die Innenstadt, das Entstehen und Ausbreiten sozialer Spaltungen, Veränderungen in der Infrastruktur (Unterauslastung, Rückbau, Schließung), sinkende kommunale Finanzen und ein dramatischer Rückgang der Einwohnerdichten.

Letztendlich bleibt festzuhalten, daß die Folgen der kapitalistischen Transformation in Ostdeutschland zu Beginn der 90er Jahre dafür gesorgt haben, daß im Ostteil Deutschlands ganze Landstriche deindustrialisiert wurden. Die von Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" stellten sich in Form von Betriebsstillegungen und der rasant ansteigenden Arbeitslosigkeit ein. Es kam letztendlich zu einer stagnierenden bzw. rezessiven Wirtschaftsentwicklung, die bis heute anhält. Damit zeigte sich, was Versprechungen von seiten des Kapitals und Kohls Ankündigung vom Oktober 1990, Deutschland werde "mit seiner wiedergewonnenen nationalen Einheit dem Frieden in der Welt dienen", wert sind!

Ralf Jungmann

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Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.

Helen Park
Journalistin, Großbritannien

Obgleich wir nun schon zwei Jahre in der DDR leben, gibt es immer wieder etwas, was uns in Erstaunen versetzt. Kürzlich wollten mein Mann und ich mit unserem Familiennachwuchs eine Kindervorstellung im Kino besuchen. Jedoch fanden wir dort nur verschlossene Schalter. Wir dachten, wir hätten uns vielleicht geirrt, und wandten uns an ein anderes Ehepaar mit Kindern. Von ihnen erfuhren wir zu unserer großen Verwunderung, daß der Eintritt frei ist. Offensichtlich sah man uns unsere Skepsis an, und das Ehepaar erklärte uns freundlich, daß an bestimmten Tagen, vor allem in den Schulferien, für Kindervorstellungen kein Eintritt verlangt wird. Wie ist so etwas möglich? Unsere erstaunten Gesichter, die Selbstverständlichkeit, mit der unsere Gesprächspartner uns dies erklärten, machten zwei unterschiedliche Denkungsarten deutlich, Denkungsarten, wie sie durch zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme geprägt wurden. Für sie war es etwas völlig Alltägliches, daß Kinotheater kostenlose Filmvorführungen für Kinder veranstalten. Für uns war das etwas völlig Neues, kannten wir doch nur private Kinos, die ohne den Gewinn von Eintrittsgeld nicht existieren könnten. In England ist es unmöglich, Filme zu mieten, die Angestellten zu bezahlen und dann noch kostenlose Vorführungen für Kinder zu geben. Ich will damit nicht sagen, daß Eltern weniger für ihre Kinder übrig haben, aber hier ist dies eine der vielen Leistungen der Gesellschaft für die Kinder.

Und noch etwas möchte ich zum Thema sagen. Wer da glaubt, den Menschen in den sozialistischen Ländern würden Informationen über das Leben im Westen vorenthalten, den kann ich da völlig beruhigen. Ein Blick in die Tageszeitung mit dem Kinoprogramm verrät mir, daß 40 Prozent der gezeigten Filme Produktionen aus kapitalistischen Ländern sind, darunter aus den USA, Frankreich und Großbritannien. Ich bezweifle ernsthaft, daß eine gleiche Anzahl von Filmen aus sozialistischen Ländern diese Woche in den Kinos meiner Heimatstadt Chester laufen. Ich weiß auch eine Antwort dafür. Würden im Westen mehr Filme über das tatsächliche Leben in den sozialistischen Ländern gezeigt werden, könnten vielleicht zu vielen Leuten die Augen aufgehen über die Vorteile, die diese Gesellschaftsordnung den Menschen bietet. Sie würden erfahren, daß es hier keine Inflation gibt, daß die Arbeitsplätze gesichert sind und daß der Lebensstandard höher ist, als es ihre Medien sie immer glauben machen wollen. Mit anderen Worten: Sie würden erfahren, daß all die Dinge des Lebens, für die sie hart kämpfen müssen, im Sozialismus garantiert sind.



Joel Agee
Schriftsteller, USA

Meine Frau und ich sind unlängst von einem Urlaub in Ostberlin zurückgekehrt, und unsere Bekannten reagieren auf diese Tatsache mit Äußerungen, die von Mitleid bis zu krankhafter Neugierde reichen. Wenn ich sie dränge, sich eine Vorstellung von dem Ort zu machen, stellt sich heraus, daß sie ihn sich anscheinend als ein eingemauertes Labyrinth von nassen, grauen und leeren Straßen und halbzerfallenen Gebäuden vorstellen.

In Wirklichkeit ist Ostberlin eine überraschend attraktive Hauptstadt mit einem reichhaltigen kulturellen Angebot. Der Tourist kann die sauberen, breiten Straßen und interessanten Museen durchstreifen. Er kann sich leicht unter das Volk mischen, ohne daß es in irgendeiner Weise Kontrollen oder bürokratische Belästigungen gibt.

Ich erinnere mich gern an den ersten Tag unseres Aufenthaltes. Es war früher Nachmittag, als wir unser Zimmer im Hotel Berolina verließen und auf die vom Sonnenlicht überflutete Karl-Marx-Allee traten: große Wohnhäuser mit verzierten Mauersimsen, einladende Geschäfte und Kaufhallen und in einiger Entfernung ein luxuriös aussehendes Filmtheater. Niemand hastete. Alle Passanten waren hübsch und sportlich modern gekleidet.

Eine Verkehrsampel, die lange auf Rot geschaltet war, hinderte uns an einer Kreuzung, die Straße zu überqueren. Da kein Polizist zu sehen war, der uns hätte aufhalten können, und keine Gefahr bestand, daß wir hätten überfahren werden können, gerieten wir in Versuchung, das rote Signal zu ignorieren, doch wir überlegten uns das, als wir sahen, daß die anderen Fußgänger sich gehorsam daran hielten. Eine junge Frau hörte eine amüsierte Bemerkung von mir und meiner Frau mit und erklärte freundlich und in gutem Englisch, daß es wichtig ist, das zu beachten, um den Kindern ein gutes Beispiel zu geben, die schließlich am häufigsten Opfer von Verkehrsunfällen seien.

Wir gingen über den Alexanderplatz, ein großes asphaltiertes Rondell, umgeben von prachtvoll wirkenden Appartement-Warenhäusern, und hielten einen Augenblick inne, um einen Blick auf die Spitze des Fernsehturms zu werfen.

Wir begannen, eine Vorliebe für die ruhige Seite der Stadt zu empfinden. Das heißt nicht, daß die Menschen Träumer sind, ganz und gar nicht. Sie sind offensichtlich hellwach, nüchtern, zielstrebig und sehr ernst (wenn auch nicht ohne Humor), sobald es um Arbeit und Freizeit geht. Doch es ist alles so geräumig, weil architektonisch nichts überladen ist und die Überkommerzialisierung fehlt: niedrige Gebäude und breite Straßen und Plätze, die die Stadt - besonders gegen Abend - zu einer malerisch beleuchteten Kulisse machen.

Überall zwischen dem Alexanderplatz und anderen florierenden Einkaufszentren begegneten wir dieser Atmosphäre nüchterner Romantik (wenn man sich eine solche Kombination überhaupt vorstellen kann) - sogar in der Friedrichstraße, einer der belebtesten Straßen der Stadt. Wir gingen an die Stelle, wo die Weidendammbrücke über die Spree führt, eine alte Brücke, an deren eisernem Geländer zu beiden Seiten ein preußischer Adler eingegossen ist. Irgendwie gelingt es diesem unfreundlich aussehenden Vogel nicht, den strengen Respekt zu erwecken, den seine Schöpfer wollten. Dutzende von Möwen stehlen ihm die Schau. Am anderen Ufer steht ein Gebäude mit dem Emblem des Berliner Ensembles. Das ist Bertolt Brechts berühmtes Theater. Dort werden vor allem Aufführungen von Stücken des Meisters geboten. Die Theater haben in Ostberlin allgemein ein hohes Niveau, und es gibt viele Theater.

In der Nähe der Weidendammbrücke befindet sich noch eine andere Brücke, die Monbijou-Brücke, mit Blick auf die Museumsinsel. Sie bietet exakt das, was ihr Name verspricht - eine Insel mit fünf großen und eindrucksvollen Gebäuden im neoklassizistischen Stil, in denen mehr Gemälde, Skulpturen und Antiquitäten untergebracht sind, als wir uns während unseres dreiwöchigen Aufenthaltes in Berlin ansehen konnten.

Auf einen amerikanischen Besucher Ostberlins, der von den Vorstellungen des kalten Krieges geprägt ist, die beinahe zwangsläufig zu unserem Reisegepäck gehören, kann die Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit eine befreiende, beinahe entwaffnende Wirkung haben. Es gibt zum Beispiel kaum Kriminalität - und das kommt nicht nur in der Statistik zum Ausdruck, sondern in einem Gefühl der Sicherheit, die am Tage und des Nachts auf den Straßen herrscht.


Erstaunliches fand sich vor Jahrzehnten in westlichen Zeitungen z. B. über das I. Deutschlandtreffen der Jugend in der Hauptstadt der DDR, Berlin - so etwa im "Münchner Merkur" vom 1. Juni 1950:

"Die in einem Hubschrauber über der Friedrichstraße kreuzenden westlichen Stadtkommandanten Westberlins konnten sich mit eigenen Augen von den gewaltigen Ausmaßen des kommunistischen Aufmarsches überzeugen. Sie und ihre Vorgesetzten sollten sich aber auch davon überzeugen, daß ein sehr großer Prozentsatz der Marschierer durchaus keinen gezwungenen und gedrückten Eindruck machte, sondern von der Wahrheit der mitgeführten Parolen überzeugt zu sein schien."

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Notizen zum ersten internationalen Kinderfestival 1977
Das Kinderfest in Moskau und Artek

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Kinder zuerst ...

Das Kind", heißt es in Artikel 9 der UNO-Deklaration zum Schutze der Kinder, "hat ein Recht auf Schutz vor Grausamkeit." Das bezieht sich nach meiner Lesart auch auf geistige Bereiche. Doch der Schutzraum Kindheit, erst im 19. und 20. Jahrhundert durch verantwortungsvolle Pädagogen errichtet, geht zunehmend verloren. Der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman beschreibt in seinem Buch "Das Verschwinden der Kindheit" diesen Prozeß.

Wenn eine Katastrophe droht, sagt man, die Kinder sind zuerst zu retten. Unsere Welt ist kein sinkendes Schiff, aber sie ist bedroht wie nie. Die Menschheit ist nicht nur ökologisch, sondern auch moralisch an eine Randgrenze geraten. Es werden kaum noch ethische Werte, sagen wir ruhig Leitbilder oder Ideale, vermittelt. Liegt das daran, daß es in diesem Jahrhundert zuviel verlogene und mißbrauchte Ideale gab? Aber Kinder und Jugendliche brauchen Ideale. Es ist die moralische Basis ihres Erwachsenwerdens.

Für die Kinder in den neuen Bundesländern ist es besonders schwer, sich zurechtzufinden, sind sie doch nach der "Wende" in den Zwiespalt zweier Wertgefüge geraten. Unter sozialistischen Vorzeichen wurden sie zum Kollektivdenken erzogen, aufgefordert, den Schwächeren zu helfen, Solidarität zu üben und im Glück anderer Menschen auch das eigene Glück zu finden. (War das so schlecht?) Die neue Gesellschaft jedenfalls verlangt ihnen ein anderes Verhalten ab. Den Hauptmechanismus, daß das Geld die Welt regiert, erkennen sie schnell. Gefragt sind die Erfolgstypen, die starken Einzelkämpfer, die "clever", immer "fit" und voll "Power" sind; Gefühle dürfen nicht gezeigt werden, sie offenbaren Schwäche. Wer Schwächen zeigt, ist leichter angreifbar. Und wer sich ergibt, wird nicht etwa geschont, sondern erst recht geschlagen.

Auch das Alltagsleben wird mehr und mehr beherrscht von der kalten Sprache der Technik und des Geldes, die bis in die intimsten Bereiche eindringt. Und am besten gibt man sich immer cool. Denn an der Wärme könnte man scheitern. Wie sehr würde der "Kleine Prinz" in dieser Welt frieren!

So könnten Worte wie Liebe, Zärtlichkeit, Güte und Barmherzigkeit eines Tages aussterben - und wir merken es gar nicht.

Von klein auf lernen Kinder durch Medien und Werbung ihre Hauptaufgabe: leidenschaftliche Konsumenten zu sein. Sie sollen das essen, trinken und anziehen, was ihnen suggeriert wird. Ethische Werte sind da wenig gefragt. Sie stören den Schlaf, den Appetit und schaden dem Ego. Wie schwer haben es Eltern, Lehrer und verantwortungsbewußte Erwachsene, dem entgegenzuwirken. Es ist Schwerstarbeit. Denn die Sprache der Gewalt in den Medien, in Videos und Videospielen wird immer brutaler. Das Angebot in Spielzeugläden gleicht einem Totschlag der Phantasie oder animiert zum Krieg im Kinderzimmer. Damit sinken die Grenzen für Scham und Unrechtsbewußtsein. Wachsendes Gewaltverhalten ist jetzt schon an Kindergartenkindern zu beobachten. Kein Wunder, in vielen Trickfilmen darf ja schon ab sechs Uhr früh fröhlich das Blut fließen.

Die Recherchen zum Gewaltverhalten an Schulen sind erschreckend. Viele Lehrer sind total überfordert, Eltern tragen ihre eigenen sozialen Konflikte auf dem Rücken der Schwächeren aus. Und das sind in jedem Fall die Kinder. Die Kinder zuerst ...

Und es ist vor allem ein neues Phänomen, das uns erschüttert: die Mörder und Brandstifter werden immer jünger. In England entführten zwei Zehnjährige einen Zweijährigen und folterten ihn zu Tode. Sie taten es nach dem Vorbild ihres Lieblingsvideos, das "Kinderspiele" heißt. Wer da noch den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gewalt und Perversion in den Medien und dem in der Realität leugnet, der ist entweder blind oder will es aus ganz bestimmten Gründen sein.

Als Gegenargument wird benutzt, die Realität sei ebenso grausam. Ja, sie ist es leider. Weitgehend ungeschützt erleben Kinder in allen Teilen der Welt Kriege, Hunger, Elend, sexuellen Mißbrauch oder sind Langzeitopfer von Atomversuchen und -katastrophen.

Gibt es einen Weg aus diesem Teufelskreis? Wohl kaum. Dennoch muß den Kindern die Hoffnung vermittelt werden, daß die Vernunft der Menschen stärker ist, wie es auch die Märchen tun. Ja, auch Märchen sind grausam. Aber am Ende siegt das Gute.

Das uralte Menschheitsprinzip Hoffnung scheint auf den Kopf gestellt. Die heutigen Leitbilder suggerieren: das Starke, das Böse, das Dumpfe darf triumphieren. Dies animiert Kinder und Jugendliche zur Nachahmung. Wenn der starke, gefühlskalte, brutale Held gewinnt, muß ich auch so sein ...

Eine Gesellschaft, in der die negative Ethik dominiert, ist zum Untergang verurteilt. Sie läßt zu, daß das Kostbarste, was sie besitzt, nämlich ihre Kinder, zusehends verrohen. Eine heile Welt gab es nie. Aber es gab immer die Vision von ihr. Diese Vision müssen wir erhalten, damit Kinder und Jugendliche sie weitergeben können. Sonst kommt die Welt ans Ende. Die Kinder zuerst ...

Christa Kozik


Dieser Beitrag erschien erstmals vor bald einem Vierteljahrhundert zum Internationalen Kindertag 1994. Die Dinge haben sich seither nicht zum Guten entwickelt. Wenn der Weg in den Abgrund aufgehalten werden soll, müssen die mahnenden Worte unserer Autorin wie die der vielen gleichermaßen Besorgten so oft wiederholt und so weit verbreitet werden wie nur möglich - um der Kinder und um unser selbst willen.


Frühe Kindheit

Als Kind ging ich gern durch die Blumen
und mochte die Spitzen der Saat.
Da lag auf dem Feld in den Gräsern
ein junger toter Soldat.

Aus einer schlesischen Kleinstadt
war unser Treck gekommen.
Die Thüringer haben schnell noch
ihre Wäsche von der Leine genommen.

Als ich Brennesseln essen mußte,
fragt' ich Mutter, ob Gott Winterschlaf hält,
wenn statt blanker Regentropfen
Eisen vom Himmel fällt.

Der Junge, mit dem ich spielte,
der war am Morgen tot,
weil die Bombe das Haus zerstörte.
Und nachts war der Himmel rot.

Da kamen auch manchmal Kolonnen
mit vergittertem Blick und stumm.
Von Weimar her sind sie gekommen,
und oftmals fiel einer um.

Wir spielten gerne mit Scherben,
die in den Trümmern lagen,
und einer alten Standuhr.
Doch die hat nie mehr geschlagen.

Erst als der Krieg zu Ende war,
wurde mein Schlaf ruhig und tief,
und ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten,
wenn ich zum Milchholen lief.

Chr. K.

*

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Wahrlich, wir leben in ernsten, fast witzlosen Zeiten. Früher war die Bandbreite zwischen Vergnügen und ernstem Aufbegehren vielfältiger. Weil wir jünger waren, selbstbewußter, verwegener? Diese Erklärung reicht nicht aus. Die Dimensionen sind gewaltiger geworden, die Spanne zwischen Weltalarm und heimischem Behagen wird für uns "einfache Menschen" zum Slalom der Gefühle. Das Wort vergnügt klingt gefährlich harmlos. Der Autor Frank Schätzing bekennt, daß er inzwischen künstliche Intelligenz weniger fürchtet als unüberlegtes Handeln des US-Präsidenten, und sagt: "Ich habe noch nie solch eine Diskrepanz zwischen Absicht und Wahrnehmung erlebt." Ja, er habe "aktuell mehr Angst vor komisch frisierten Dummköpfen am roten Knopf als vor maschineller Intelligenz".

Das Wort vergnügt klingt gefährlich harmlos. Ist die Welt so, in der wir uns immer leicht verärgert umtun, oder bilden wir uns das nur ein, weil uns keine andere Ausrede einfällt, während wir bewegt werden, von einer Befürchtung zur anderen?

Wenn ich nicht herzlich lachen kann, lache ich inzwischen eher gar nicht. Lache auch nicht mit? Und war doch früher eine bekannte Lachwurzen, manchmal sogar witzig. Ich erinnere mich, ach ja. Wie haben wir das früher hingekriegt? Hochempfindlich in großen Zusammenhängen und manchmal bis in die Nähe von Albernheit entspannt. Was uns ärgerte, befand sich in Arbeit. Oder wir haben es uns so hingedreht, ach, oft auch einfach geglaubt.

Das konnte gelegentlich umschlagen. Als Weihnachten einmal abgeschafft werden sollte und der Rundfunk angewiesen wurde, keine Weihnachtslieder zu spielen, ließ das Volk sich umgehend für den abgeschobenen Christengel die lächerliche "Jahresendfigur" einfallen. Darüber gab es so viele Witze und so viel "Melden" nach oben, daß wir im Jahr darauf über die Menge von Einfällen der Medien wie über manche Weihnachtsklänge und -figuren lachten. Es war eine Pointe, eine politische.

Warum uns zur Zeit das Lachen im Halse steckenbleibt, ist leicht erkennbar. Es dampft wieder einmal aus Töpfen, die schon zu oft durch ihren üblen Duft verraten haben, was sonst noch durchgekommen wäre.

Der eigentliche Skandal um zwei verkorkste Rapper ist, daß die Jury zum Jagen getragen werden mußte, und es erst eines gerechten Aufschreiens der Aufrechten bedurfte, um eine gesellschaftliche Reaktion zu wecken. Wahr ist, daß die unsäglichen Texte vorher bekannt waren. Am Verleihungsabend war das gut gelaunte, exklusive Publikum bis auf einen ehrenwerten Rapper mit allen Ausgezeichneten im reinen. Die inzwischen einen Bürgerschreck auslösende CD war vorher im Handel. Alles war öffentlich, aber die Reaktionen darauf, zumindest die der Zuständigen, kamen zu spät, als daß jemand dafür gelobt werden könnte. Und auffallend ist doch, wie hinterher versucht wurde, aus veröffentlichter Gesinnung einen unangenehmen Einzelfall zu machen, nahe von derbem Jungenstreich, jedenfalls eine Ecke, wo weder Material noch Duldungen hingehörten. Die Wahrheit ist, daß es sich um veröffentlichte Gesinnung handelt, und daß dies Leuten erst auffiel, als die Oberschicht zur Meinung geschubst wurde.

Ja, wir leben in ernsten Zeiten. Es kursieren Witze, aber zum Lachen sind die nicht. Allzu häufig richten sich die Pointen gegen Menschen, die sich nicht wehren können. Politische Witze sind eine ehrwürdige Tradition, aber was stört, ist, daß sie meist zu spät kommen, und auch wenn sich die Pointe aufschwingt gegen nach rechts drängende Persönlichkeiten, ist doch unübersehbar, daß da Leute gewählt wurden, die nicht aufhören können, Begriffe für sich zu vereinnahmen. Sie wollen wieder das Vaterland retten. Und auf welche Weise? Sie rufen dazu auf, daß Deutschland sich seiner Größe statt seiner historischen Niederlagen erinnern möge. Sie sammeln Unterschriften gegen einen Teil der Menschheit, der ausbaden soll, was von zerstörerischen Weltgeistern auferlegt wurde - der ganzen Welt, nicht nur ihnen, aber es liegt in der Luft, das Wort vom Herren- ebenso wie das vom Untermenschen. Von den Besserwissern im Parlament ausgehend und zumindest in ihrem Sinne gibt es vielerlei Aufrufe zur Unruhe. Aber Frau Steinbach steht nicht für Mitmenschlichkeit, auch wenn sie immer so tut, als ginge es ihr aus historischer Sicht einzig um die Mitschuld der Polen am globalen Unglück des zweiten Weltkriegs. Ja, wir leben in ernsten Zeiten. Ein gelungener politischer Witz ist mir lange nicht erzählt worden. Und ich erinnere mich doch, daß in der DDR, nicht immer geschmackvoll, oft auch trampelnd, aber meist taufrisch in Pointen geriet, was es verdient hatte. Um wirklich witzig zu sein, braucht man eine feste Meinung und viel Kraft. Die Erinnerung grinst. Ich war nicht immer so ernsthaft verkopft. Als junge Kulturredakteurin beim "Eulenspiegel" hätte ich mit der heutigen "Gedankentiefe" und den Stop-Schildern im Hirn nicht bestehen können.

Den Auftrag für meine erste Mittelseite im Blatt empfand ich als große Ehre, und daß der erfahrene Zeichner Louis Rauwolf mir zur Seite stand, als wir beide die Pressevorführung eines neuen Autos in Zwickau für das Blatt erkunden durften, war schön. Den Trabant habe ich später geliebt. Der halbe Oktoberklub fand in ihm Platz. Uns nützte in Zwickau, daß wir alle Einwände gegen den Trabbi von seinen Erbauern geliefert bekamen. Dies wurde der Inhalt unserer Mittelseite. Die Reaktion darauf war üblich. Wir hatten die Arbeiterklasse beleidigt, und so reiste der Generaldirektor an, um für uns beide lebenslängliches Berufsverbot zu fordern. Das war ernst gemeint. Damals war aber Peter Nelken unser Chefredakteur. Er hörte sich den Text des Gastes an und wir dann sein schönes lautes jiddisches Lachen, das durch rasch geöffnete Türen durchs Haus drang. Unser Mann hatte die Nazis überlebt, hatte viele Kinder und eine Haltung. Er meinte: Wer auf diesem Chefstuhl länger als zwei Jahre sitzt, muß etwas falsch gemacht haben.

Und dann schickte er Kuddel Klamann und mich los, um zu ermitteln, ob die Frauen recht hatten, über unsere Damenoberbekleidung im Handel so zu schimpfen, wie seine Frau und seine Töchter es taten. Die liebenswürdige Erfahrung dieser Reise war, daß Klamann wirklich in jeder Stadt von einem schönen jungen Weib erwartet wurde, wie er es immer behauptete, und wir ihm nie geglaubt hatten. Die "öffentliche" Empörung über unseren Verriß konnten wir, wie beim ersten Mal, überstehen.

Ich kann nicht darüber lachen, daß Berlin verkommt, verkloppt wird, sich ausliefert an die Extreme des Kapitals, und daß die ganz normalen Menschen darunter leiden, aufgescheucht sind. Sie versuchen, sich zu wehren, erste Anzeichen deuten auf einen möglichen richtigen Weg: Solidarität, erkennen, erfahren und sammeln, was immer sich als Dagegen machen läßt. "Lach & Schieß", das war einmal harte Politik und samtweiche Nahrung für die Seele, aber derzeit gibt es kaum Vergleichbares. Auf fast allen Gebieten haben wir es mit einer großen Menge von Leichtbegabten und einem Mangel an Meistern zu tun.

Aber es gibt uns noch, die Berliner. Wir haben wenig gemacht, nur als Besucher gestreikt. Hat geklappt, nach einem halben Jahr untauglicher Versuche geht da einer, der es nicht geschafft hat, eine ehrwürdige Tradition im Osten Berlins zu zertrümmern. Das ist doch schon was.

Durchatmen gehört zum Weiterleben. Ich lese mal wieder, was der alte Marcel Reich so gesagt hat und Werner Finck ... die Reihe ist sehr lang. Ach ja, und den "Echo" gibt es in der alten Form nicht mehr. Er war ein kapitalistisches Ungeheuer. Ehre ausschließlich für Verkaufszahlen? Da lachen ja die Hühner. Wenigstens die.

*

LESERBRIEFE

Ich sitze in der thüringischen Kirche von Denstedt im Weimarer Land, um eine Karfreitagsmusik mit Stücken von Franz Liszt zu hören. Meine Blicke schweifen durch den Kirchenraum. Vorn ein fast weißer klassizistischer Kanzelaltar, auf dem einige goldene Verzierungen besonders ins Auge springen, ganz oben das "Gottesauge" in Gold. Auf der hölzernen Tonne der Kirchendecke spannt sich ein filigranes Schmuckband in Grau und Rot von Empore zu Empore. An den Wänden sind jahrhundertealte stark verwitterte Epitaphien aufgestellt, und bei einem ist ein Ritter in Rüstung zu erkennen. Sowohl auf dem Altar als auch an der linksseitigen Kirchenwand sind Kruzifixe angebracht: der Gehenkte in der trostlosen Haltung eines Gemarterten. Er kann mit seinen Händen nichts Gutes mehr tun. Vor dem steinernen Altar hängt ein schön gewebtes Schmucktuch. Es stellt das Schiff der Kirche dar, das sich wie zeitlos über die bewegten Wellen tragen läßt. Zur Frau neben mir sage ich leise: "Mich haben sie dort über Bord geworfen ..." Sie antwortet lächelnd: "Aber ertrunken bist du nicht!" Ich antworte: "Nun schwimme ich selber!" Jetzt soll die Musik beginnen. Der Organist erklärt die Programmfolge: Orgelvorspiel und -nachspiel von Bach, dazwischen Liszts Töne zu fünf von 14 Kreuzwegstationen, danach ein Requiem von Liszt. Wir sitzen in einer Liszt-Kirche! Bevor sich der Organist auf die Orgelbank begibt, spricht er noch ein Gebet. In mir haben sich die Worte festgesetzt: "... denken wir daran, daß der Tod des Heilands am Kreuz uns zum Heil erfolgte. Im Zeichen dieses Kreuzes werden wir frei von der Sünde des Bösen."
Während die merkwürdig abgehackt wirkenden Tonsequenzen Liszts mal leise, mal laut den Raum erfüllen, taste ich mit den Augen über das Sichtbare dieses Raumes: Tod ringsum an den Wänden. Tot der Ritter in seiner nachgeformten Blechrüstung, tot der kleine und der größere Jesus an den Kreuzen. Und dann blicke ich durch die einfachen Glasfenster, die in die Mauern eingelassen sind. Ich sehe etwas Rundes, das mich an einen Stahlhelm erinnert. Und tatsächlich: draußen an der Kirchenmauer habe ich schon beim Hereingehen das Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg bemerkt. Über der Ruhmestafel für die "Helden" ein aufwendig geschmückter Türsturz, der von einem steinernen Stahlhelm bekrönt ist. Die Sünde des Bösen, der Tod, den die umgekommenen "Helden" erleiden mußten, nachdem sie anderen den Tod gebracht hatten. Als die letzten Töne verklungen sind und der Meister an der Orgel mit einem kleinen Beifall belohnt wird, erheben wir uns von der Kirchenbank und streben dem Ausgang zu - vorbeikommend im Dämmerlicht unter der Empore an zwei alten hölzernen Ehrentafeln voller Namen. Darüber die Erklärung: "Den treuen Söhnen Denstedts", Tafeln für die "Helden" von 1870/71. Draußen will ich das Kriegerdenkmal von 1914/18 fotografieren mit dem triumphierenden Stahlhelm. Tatsächlich - er war sichtbarer Gast der Karfreitagsmusik. Und daneben die jüngste Gedenktafel für Denstedts Soldaten von 1939/45, gestiftet vom örtlichen Jägerverein. Überschrift: "Im ehrenden Gedenken". Der Tod von Jesus am Kreuz soll uns von der Sünde des Bösen frei machen. Im Auto auf der Heimfahrt sage ich zur Frau neben mir: "Die Kirchenwand hat noch freie Flächen. Vielleicht kommt demnächst hier eine weitere Tafel dazu. Auf der Tafel könnten die Worte stehen "in Afghanistan gefallen" oder "in Syrien".
Wie werden wir von der Sünde des Bösen frei?

Peter Franz, Taubach


Der Außenminister und der "Fall Skripal": Da belügt der Mann doch dreist das Volk. Rußland würde angeblich die Mitarbeit an der Aufklärung verweigern, schwafelt er vor der Kamera. Tatsächlich ist es genau andersrum: Die Brandstifter in London verweigern die Bereitstellung einer Giftprobe und lassen keine Einsicht in die Ermittlungsakten zu. Der Pharmareferent auf dem Gesundheitsministersessel sieht Hartz IV hierzulande nicht als Armut, sondern als Normalität. Mit der Mentalität eines Vertreters redet er dem Volk ein, daß die Bürgerversicherung den medizinischen Fortschritt gefährdet, weil die Privaten ihn allein finanzieren. Für wie blöd hält uns eigentlich Merkels Wunderkind? Die abgeschobene Umweltministerin (SPD), die vom Landwirtschaftsminister (CSU) übel hinters Licht geführt worden war, als er in Brüssel gegen die verabredete Linie verstieß, regte sich über die Gegenstimmen bei der "Wahl" Merkels auf. Warum halten sich die Leute nicht an den Fraktionszwang und winken einfach durch, wie immer? Daß die "GroKo 2" auf Druck der Unternehmer zustande kam, scheint kein Wähler geschnallt zu haben. So kann man gespannt sein, was uns in den nächsten Jahren noch blüht. Bereits 1990 prophezeite uns der Distel-Spötter Peter Ensikat: "Wir werden noch staunen, mit wie wenig Stimmen man hier Wahlsieger werden kann."

Dr. med. Gerd Machalett, Siedenbollentin


Die Beschuldigung der syrischen Regierung, Giftgas eingesetzt zu haben, wurde von den Westmächten immer dann erhoben, wenn die syrischen Streitkräfte entscheidende Fortschritte im Kampf gegen die Terroristen gemacht haben. Beweise wurden in keinem Fall erbracht und selbst von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) nicht gesucht, trotz Aufforderung von Rußland und Syrien. Die OPCW wurde bekanntlich mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, weil 2013 unter ihrer Aufsicht das Chemiewaffenpotential Syriens vernichtet wurde. Die Angriffe wurden durchgeführt, Stunden bevor ein Team von Ermittlern der OPCW bei Duma eintreffen sollte, um festzustellen, ob am 7. April tatsächlich ein Chemiewaffen-Angriff stattgefunden hat.
Die Angriffe der USA, Frankreichs und Großbritanniens richteten sich gegen ein Bildungszentrum und wissenschaftliche Laboratorien in der Nähe von Damaskus, eine ehemalige Raketenbasis 15 Meilen westlich von Homs und auf den Luftwaffenstützpunkt Al-Dumayr östlich von Damaskus (nach Berichten des russisches Militärs). Von den 103 abgefeuerten Raketen konnten 71 durch die syrische Luftabwehr vernichtet werden. Opfer gab es nicht.
Entgegen früheren Aussagen soll es ein einmaliger Angriff sein. Der begrenzte Umfang der Aggression deutet darauf hin, daß es nach der öffentlichen Kraftmeierei mehr darum geht, vor der eigenen Bevölkerung das Gesicht nicht zu verlieren. Rußlands entschlossene, aber besonnene Politik dürfte zur Eindämmung der Ambitionen der Aggressoren beigetragen haben.
Auch wenn sich Putins Hoffnung auf die Durchsetzung des gesunden Menschenverstandes nicht erfüllt hat und er die völkerrechtswidrige Aggression scharf verurteilte, bemüht er sich um des Weltfriedens willen um Deeskalation.

Horst Neumann, Bad Kleinen


Der gemeinsame Angriff der sich selbst als demokratisch legitimierte Staaten bezeichnenden USA, Frankreich und Großbritannien auf ein souveränes Land ist entschieden zu verurteilen. Nur auf Verdachtsmomente für einen angeblichen Giftgasangriff gegründet, wird ohne UNO-Mandat gebombt und damit das Völkerrecht mit Füßen getreten. Anstatt deeskalierend zu wirken, wird fleißig Öl ins kriegerische Feuer geschüttet. Eine unabhängige Bestätigung für die Vorwürfe gibt es nicht, aber die Bundesregierung begrüßt diese Luftschläge.
Frau Merkel hält das Ganze für "berechtigt und angemessen", und der neue sozialdemokratische Außenminister bläst ohne erkennbare Sachkenntnis ins gleiche Horn.
Es kann einem Angst und Bange werden, ob solcher auf Krieg und vorsätzlicher Konfrontation gepolte Außenpolitik der USA und von NATO-Staaten. Krieg löst keine Probleme, er schafft nur Tod, Elend und Leid. Deshalb muß auf eine friedliche, also diplomatische Offensive für Syrien und anderswo gesetzt werden. Politiker an den Verhandlungstisch!

Raimon Brete, Chemnitz


Es ist eine primitive wie auch provokatorische Denkart, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin indirekt zu unterstellen, daß er aus Freude an internationalen Streitigkeiten die "Pfeile" gegen sich selbst "spitzt, vergiftet und schießen läßt". Doch es gibt für Putins Gegner eine Vielzahl von Gründen, ihm "Dreck unter den Lehm zu mischen" und so das politische Klima zu vergiften, was die Gefahr eines heißen Krieges ungemein verschärft.
Mit großer Sorge verfolge ich das Agieren von Staatenlenkern der Europäischen Union, die unisono das bedachte Handeln der russischen Regierung verurteilen. Offensichtlich fällt es den führenden Politikern des Westens schwer, eigene Versäumnisse im Umgang mit den in Rußland Regierenden wahrzunehmen und einzugestehen. Bei einer weisen Haltung wäre es nach meiner Überzeugung auch zu keinem kriegerischen Geschehen in der Ukraine mit der gegenwärtig verhärteten Situation gekommen. Ich bedaure, daß deutsche Politiker angesichts der besonderen Geschichte Deutschlands gegenüber dem Riesenland im Osten in den Chor der Vorverurteiler einstimmen.
Bei allen Gedanken über Ausgangsorte und Praktiken dieses verurteilungswürdigen Giftanschlages gibt es keine rechtsstaatliche, juristisch exakte Schuldbestätigung gegen die russische Administration.
Die Geschichte des vergangenen wie auch des neuen Jahrtausend belegt, daß oft gerade die Beschuldiger sich in der Nähe der Täterschaft befanden, ja selbst Täter, Inspiratoren des Bösen waren. Ich erinnere an das inszenierte polnische Attentat auf den Sender Gleiwitz, an die Vorgänge zur Auslösung des Krieges gegen den Irak und an die für mich schwer durchschaubare Rolle Saudi-Arabiens bei der Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates.
Für die Gegenwart und noch mehr die Zukunft muß mit dem zunehmenden Einfluß solcher Staaten wie China, Rußland, Indien, Iran, Korea und anderer gerechnet werden. Da wird sich manch eine Denk- und Verhaltensweise zeigen, die unseren Vorstellungen fremd, aber nicht feindlich ist. Dabei ist uns Rußland als Handelspartner doch in keiner Weise fremd, sondern auch aus Sicht vieler deutscher Unternehmer nahe.

Dr. Wilfried Meißner, Chemnitz


Nach dem Giftgaseinsatz in Syrien meinte die Bundeskanzlerin, sich telefonisch fingerzeigend mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ins Benehmen setzen zu müssen. Sie wurde von ihm vor Provokationen gewarnt. Prompt folgte daraufhin ein Zusammentreffen mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


In der Nacht vom Freitag, dem 13. April, detonierten Raketen und Bomben der USA in Damaskus, der Hauptstadt Syriens und anderen Orten des kriegsgebeutelten nordafrikanischen Staates am Mittelmeer.
"Vergeltung" hieß es lauthals von Trump, May und Macron, für Giftgas gegen Menschen in der Stadt Duma, das angeblich von Assad abgelassen worden sei. Wie nah liegt doch diese Rechtfertigung für Tötung und Zerstörung, schlechthin für Krieg gegen Syrien, der inzwischen bewiesenen falschen Behauptung der USA 2014, Iran besitze Atomwaffen und wolle sie gegen die USA zum Einsatz bringen. Die "Vergeltung" ist ein Vorwand, eine erneute provokante Erfindung der USA, um ihr tatsächliches Ziel in Syrien zu erreichen: Al-Assad weg und sein Öl den USA.
Wie nun reagiert die BRD als NATO-Partner von USA, England und Frankreich auf das aggressive Ignorieren des Völkerrechts durch seine "Freunde"? Abgesehen von mehrfach zu dieser Frage gesendeten Talkshows deutscher Fernsehsender kulminiert die Antwort wohl in der Aussage der Bundeskanzlerin Merkel: "Der Militäreinsatz war erforderlich und angemessen, um die Wirksamkeit der internationalen Ächtung des Chemiewaffeneinsatzes zu wahren und das syrische Regime vor weiteren Verstößen zu warnen."
Einen Krieg als "erforderlich" und "angemessen" zu beurteilen, ist verbale Kriegsbeteiligung und Verhöhnung seiner Opfer. Worte dieser Prägung sind Waffen wie detonierende, zerstörende und tötende Raketen. Daran ändern auch vorausgegangene und zurückhaltende wörtliche Beteuerungen, sich nicht am Zerstören und Töten beteiligen zu wollen, nichts. Das ist allenfalls pure Heuchelei.

Manfred Wild, E-Mail


USA und NATO greifen mit ihrem Vorgehen in Syrien indirekt Rußland an. Als ehemaliger Angehöriger der Berliner Grenztruppen der DDR weiß ich um die Gefährlichkeit der drei aggressivsten westlichen Staaten: Frankreich, Großbritannien und die USA. Deren Geheimdienste leisten dabei ganze Arbeit. Wie im Irak haben sich diese drei Atommächte mit unwahren Behauptungen selbst "legitimiert", um ihren Kriegskurs zu begründen und damit zum wiederholten Mal internationales Recht mit Füßen getreten.

Günter Schmidt, Chemnitz


"Die Lieferung von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wird nicht genehmigt in Länder, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht." So steht es in den Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung. Aber die Türkei führt Krieg gegen die kurdische Bevölkerung auf dem Territorium Syriens und wird mit Leopardpanzern von der Bundesrepublik Deutschland beliefert.
Saudi-Arabien führt seit 2015 einen völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg gegen die Huthi-Rebellen in Jemen und wird aus Deutschland mit Patrouillenbooten ausgestattet.
Die deutschen Konzerne haben drei Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und Kriegsmaterial im Werte von rund 162 Millionen Euro an das ebenfalls zur Kriegsallianz zählende Emirat Kuwait geliefert.
Wer die Richtlinien, die er selber verabschiedet hat, unterläuft, macht sich unglaubwürdig.

Dr. Matin Baraki, Marburg


Die neue Bundesregierung macht bei dem Spiel mit dem Krieg und der Ankurbelung der Rüstungsschraube kräftig mit! So werden Rüstungsexporte genehmigt in Krisenländer und sogar in Länder wie die Türkei, die einen Angriffskrieg gegen die Kurden in Syrien anzettelten! An der Aufrüstung der Bundeswehr wird, wie Frau von der Leyen jüngst verkündete, kräftig weiter gefeilt! Dazu gehören auch die sinnlosen Ausgaben für Schnöggersburg in Sachsen-Anhalt, die eingesetzt werden, damit Kriegsspiele so real wie möglich für Bundeswehr und NATO stattfinden können. Das Ziel, die Rüstungsausgaben um 2 % des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, zeigt deutlich, wohin die Reise gehen soll. Auch die Haltung der Bundesregierung zu Atomwaffen gehört dazu. So sendet sie ein mehr als falsches Signal, wenn sie den USA weiterhin gestattet, ihre Atomwaffen auf dem Boden der BRD zu stationieren. Dies zeigt deutlich, daß sie nicht gewillt ist, den Vertrag der UN zur Ächtung von Atomwaffen zu unterzeichnen. Die Bundesregierung macht sich damit auch mitschuldig, wenn sich die Spirale der atomaren Aufrüstung immer weiterdreht!

René Osselmann, Magdeburg


Atomwaffen sind wirklich "die verdrängte Bedrohung" (RF Nr. 243, S. 2). Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß diese Waffen, auch wenn sie nicht eingesetzt werden, eine tödliche Gefahr für die Menschheit bedeuten. In dem Beitrag ist nachzulesen, welche Folgen es haben würde, wenn nur ein Prozent der 14 000 Atomwaffen in den Arsenalen der Welt explodieren würden. Ich lasse mir auch von Physikern nicht einreden, daß im Unterschied zu herkömmlichem Sprengstoff Atomwaffen sicher sind, wenn sie nur irgendwo lagern, und nicht irgendwann explodieren können. Die Bewegung für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland müßte Massencharakter annehmen, ebenso die Forderung, daß die Bundesregierung den UN-Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet. Einen Atomwaffenerstschlag durch Rußland wird es nicht geben. Bei den USA ist alles möglich. Das ist so nicht nur wegen Trump, der sich damit brüstet, das Atomwaffenarsenal der USA modernisiert zu haben. Tatsächlich hat das schon Obama getan, dem völlig zu Unrecht der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Von Rußland kann man nicht verlangen, einseitig auf Atomwaffen zu verzichten. Ohne die Brechung des US-Atomwaffenmonopols würde die Menschheit heute vielleicht nicht mehr existieren. Aber Rußland hätte sich wenigstens der Forderung nach dem vollständigen Verbot aller Atomwaffen anschließen können.
Ich greife auch noch einzelne Sätze aus anderen Beiträgen heraus, die mir gefallen haben: Gut finde ich, daß Matin Baraki aus dem besprochenen Buch den sogenannten Arabischen Frühling zitiert, "der keiner wurde". (S. 5) Ein Vergleich mit dem Europäischen Völkerfrühling 1848/49 ist auf jeden Fall nicht angebracht.
Ich stimme auch der Bemerkung von Herbert Meißner zu, daß die heutige Demokratie keine ist. (S. 21)
Den Satz Theodor Weißenborns finde ich treffend, daß den Kapitalismus in seinem Lauf (anscheinend) auch die wachsten Geister nicht aufhalten. Ursprünglich war das ja auf den Sozialismus gemünzt ... (S. 28)

Dr. Kurt Laser, Berlin


Als ich meinem Briefkasten die neueste Ausgabe des "RotFuchs" entnahm, verschob ich trotz des schönen Wetters meinen geplanten Spaziergang und blätterte statt dessen im aktuellen Heft. Wie immer sind nicht wenige Beiträge enthalten, die mich interessieren und von deren Inhalten ich eine gewisse Orientierung erwarten kann. Das trifft auch auf den Leitartikel von Arnold Schölzel zu. Widerspruch regt sich in mir jedoch zu seiner Einschätzung: "Das internationale Kräfteverhältnis hat sich verändert - und nicht zugunsten des Imperialismus." Ich bezweifle das.
Auch denke ich an die angstmachende Rechtsentwicklung in fast allen europäischen Staaten.
Sicherlich ist es vorteilhaft, daß sich Rußland um ein gutes Verhältnis (Bündnis) mit China bemüht und die Sache bereits erste Früchte zu tragen scheint, aber das ändert nichts an meiner Auffassung: Aktuell bestimmt der Imperialismus des Westens das Geschehen in der Welt. Diese Einsicht ist auch für mich äußerst bitter, aber sie entspricht der aktuellen Lage. Das andere ist Wunschdenken.

Reinhardt Koblischke, Aschersleben


Wie schön zu lesen die wohlwollende, doch scharfe Kritik an Sahra Wagenknechts Buch von Prof. Meißner. Ich erinnere an Marx' Worte von den Umständen, die den Menschen zum Handeln (und Denken) bewegen. Da sind sicherlich eine ganze Menge neuer Bücher der alten BRD in den Erkenntnishorizont von Wagenknecht geraten und haben einen typischen Verdrängungsvorgang verursacht. Es kann jetzt nur gehofft werden, daß dieser Artikel auch ankommt und zur Kenntnis genommen wird. Wenn Menschen nicht alleingelassen werden und sich auch nicht abschotten, kann ihnen ein Desaster erspart bleiben, ganz besonders, wenn man ständig von seinen Feinden umgeben ist. Früher habe ich Sahra Wagenknecht bewundert, wenn sie sich nicht ohne weiteres jeder euphorischen Parteitagsklatschfeier für Gysi anschloß und als einzige in der vorderen Reihe sitzenblieb und abwartete. Jetzt gratulierte auch sie Merkel zu deren erneuten Wahl als Kanzlerin.
Wollten sie und Dietmar Bartsch wirklich Anteil nehmen an der Freude von Merkel darüber, weiter Macht und Reichtum der Reichen vermehren zu dürfen, sich an Sozialabbau, an der Forcierung von Deutschlands Weltmachtbestrebungen beteiligen zu können und so das Land in Richtung Abgrund zu regieren? Ich hoffe jetzt auf die Antwort von Sahra Wagenknecht - aber nicht nur von ihr - auf die sehr richtig gestellten Fragen,

Renato Lorenz, Berlin


Im April-"RotFuchs" äußerten sich einige Leser zu meinem Beitrag "Über Arbeitsproduktivität und Systemvergleich". Kurt Laser sagt zur Auffassung von Georg Fülberth, daß die "bisherige Form des Sozialismus ­... an der Unreife ihrer Ökonomie und ihrer Unterlegenheit in der Systemauseinandersetzung zugrunde ging": "Dem kann ich zustimmen." Dem stimme ich gerade nicht zu. Kein (realer) Sozialismus ist "zugrunde gegangen". Schon gar nicht aus Gründen "ökonomischer Unreife".
Rußland zum Beispiel ist eben nicht ein "untergegangenes Land", denn wäre die Sowjetunion "untergegangen", hätte man dies am heutigen Rußland zu konstatieren gehabt. Es gäbe kein Rußland "nach der Sowjetunion" mehr, Rußland wäre - als Sowjetunion untergegangen - ein nicht mehr existierender Staat. Was jedoch zu betonen ist: Eine Dauerform der Rüstung schwächt jede Ökonomie, egal ob sozialistische oder kapitalistische. Egal ob die der Sowjetunion oder die der USA. Die UdSSR eben früher als die USA. Aber die USA - ein kapitalistisches Land - eben auch. Das sehen wir heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem "Ende" der Sowjetunion.
Was ich eigentlich wollte, ist, das Argument von der Arbeitsproduktivität als dem Maß für den Systemvergleich Sozialismus - Kapitalismus auf die Waagschale zu legen. War es entscheidend für die Lebensfähigkeit des Sozialismus, und zwar für die bisherige Geschichte des Sozialismus? Nein, denn wäre es in dieser Bedeutung, dann hätte der "Zusammenbruch der Sowjetunion" bereits irgendwann zwischen 1920 und 1930 stattgefunden, zu einer Zeit also, wo es in der UdSSR noch gar keine nennenswerte Industrie gab und der Faktor "Arbeitsproduktivität" mangels Produktivität noch gar nicht für die Existenzfähigkeit des Sozialismus hätte herangezogen werden können.
Woran mißt man Arbeitsproduktivität? Am Pro-Kopf-Vergleich, landesweit? BIP durch Anzahl der Bewohner eines Landes? Müßte China dann ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von ca. 40 Billionen Dollar produzieren, um mit den USA in der Frage Arbeitsproduktivität gleichzuziehen und so gewiß zu sein, im Systemvergleich nicht unterzugehen? Doch wir sehen, daß China drauf und dran ist, gerade in dieser Kennziffer die USA zu überholen.
Zu Thomas Fenner: "Wieviel Arbeitszeit wurde regelrecht vergammelt und mit privaten Tätigkeiten verbracht. Vom Pfusch wegen mangelhafter Organisation oder fehlendem Material mal ganz abgesehen." Dazu: Auch Planen im Gesamtzusammenhang einer Wirtschaft muß erst gelernt werden. Ich habe 30 Jahre als Stück-Lohnarbeiter in Berliner volkseigenen Betrieben gearbeitet und meinen Lohn nie (!) anders als mit produktiver Arbeit verdient. Wenn dies also ein Problem war - es ist auf jeden Fall ein vielangewandtes Argument in der Kritik an der Planwirtschaft, am Sozialismus -, dann müßte es auch Erhebungen, Unterlagen darüber in den Planinstitutionen geben. In meinem Arbeitsbereich gab es dieses Problem nicht. Die Materialfrage macht auch nur Sinn bei der Stück-Lohnarbeit; sie bei Zeitlöhnern nachzuweisen, dürfte nicht so einfach sein.

Hermann Jacobs, Berlin


Vor einiger Zeit beherrschte ein Thema die Schlagzeilen auf den Titelseiten und die Kolumnen der Printmedien: Hans Modrow kämpft seit fünf Jahren darum, seine Akten einsehen zu dürfen. Seit dem 28. Februar 2008 beschäftigt sich das Leipziger Landgericht an geschichtsträchtiger Stelle mit dem Anliegen Modrows.
Woraus ergibt sich das Medieninteresse? Aus dem Lebensweg des Antragstellers? Sind da sensationelle Neuigkeiten zu erwarten? Wohl eher nicht. Wird das bisherige Tricksen der Behörden bei der Verschleppung der Entscheidung unter die Lupe genommen? Fürchten einige, daß das Wirken der Gauck-Behörde zum Maßstab werden könnte gemäß dem Bibelsatz: Mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen? Mindestens Pfarrer Gauck müßte ihn gekannt haben, und die Juristen wußten, daß das Recht für alle gleich gelten soll. Manche Zeitungen ("Sächsische Zeitung", "Dresdner Neueste Nachrichten") meldeten schon, daß Modrow auf einen "Teilvergleich" zwischen den Geheimdienstlern in Pullach und den Leipziger Richtern hoffen darf. Bricht das Lügengebäude zusammen, mit dem Minister und Juristen Hans Modrow an der Nase herumführen wollten?
Wer den seit fünf Jahren - am 13. Januar 2003 schrieb Hans Modrow seinen ersten Brief in Sachen "Akte" an die Behörden - andauernden Kampf verfolgen will, sollte den Bericht von Robert Allertz lesen "Ich will meine Akte! Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln". (Allertz ist das Pseudonym für einen Geheimdienstexperten, der schon vor der "Wende" Aktionen bundesdeutscher Dienste entlarvte.)
Bisherige Erfahrungen ergeben: Die "Opfer"/"Bespitzelten" des MfS durften ihre Akten einsehen. Viele Akten wurden zum Instrument der Erpressung, Geschichtsklitterung und Korruption.
Der Gesetzgeber Bundestag erließ Gesetze, die verbürgte Menschenrechte (auch Artikel 1 des Grundgesetzes) verletzten.
Der Staat schuf mit der Gauck-Behörde eine Institution, die sich widerrechtlich "Rechte" als Anklagebehörde und Gericht anmaßte.
Die Gauck-Behörde wie auch sein Leiter nahmen staatlich gewünschten und gelenkten Einfluß auf die "Aufarbeitung" der Geschichte der DDR, die als "Unrechtsstaat" verurteilt wurde. Diese Maßnahmen wurden offiziell damit begründet, daß "Opfer" des MfS sie wünschten.
Solche Absichten, die bis jetzt offizielle Politik sind, hat Hans Modrow nicht. Er sieht sich im Unterschied zu manchen Pfarrern nicht als Racheengel. Seine Anliegen sind in Briefen dokumentiert:
- am 11. Januar 2013 an den Innenminister Hans-Peter Friedrich,
- am 7. Mai 2015 an den Leiter des Bundesamtes des Verfassungsschutzes,
- am 28. Mai 2015 an Roland Jahn, den Amtsnachfolger Gaucks.
Manche Antworten reizen zur Satire.
Am 28. Februar 2018 faßte Hans Modrow vor dem Leipziger Verwaltungsgericht seine Forderungen in zwei Punkten zusammen: Er betrachte sie nicht als privates, sondern als gesellschaftliches Anliegen, das mindestens weitere 71.500 DDR-Bürger betrifft. Und: Es geht um die Darstellung der deutschen Geschichte, die dem inneren und äußeren Frieden dienen soll.

Prof. Dr. Horst Schneider, Dresden


Als ich im letzten "RotFuchs" den Beitrag über Erich Weinert las, wurden Erinnerungen an diesen Dichter wach.
Zu meinem 10. Geburtstag erhielt ich das Buch "Mädchenjahre" von Marianne Lange-Weinert. Fasziniert von ihren Erlebnissen mit der Familie wurde meine Neugierde geweckt, mehr über ihren Vater zu erfahren, diesen außergewöhnlichen Künstler kennenzulernen. Und so las ich alles, was ich bekommen konnte, über sein Leben, sein künstlerisches Werk, seine Gedichte, seine satirischen Texte. Als seine Arbeiten dann auch Schullektüre wurde, konnte ich manche Unterrichtsstunde mit meinen Beiträgen bereichern, was damals gerne angenommen wurde. In der Prüfung im Fach Deutsch in der 10. Klasse interpretierte ich mit Erfolg sein Gedicht "Kann ich als Deutscher mein Gesicht abwenden?"
Später selbst Lehrerin, gab ich mein Wissen und meinen Respekt diesem großartigen Menschen gegenüber meinen Schülern weiter.
Schade, daß er heute bei vielen vergessen ist. Seine politischen Gedichte sind aktueller denn je. Übrigens, "Mädchenjahre" - wenn auch "nur" ein Jugendbuch - zählt nach wie vor zu meinen Lieblingsbüchern.

Ingrid Wegner, Graal-Müritz


Anläßlich des 73. Jahrestages der Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald fand auf Einladung der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora am 15. April 2018 das IX. Treffen der Nachkommen auf dem Ettersberg statt.
Mehr als hundert Gäste, Weimarer Bürger, Antifaschisten und Interessierte nahmen bereits am Vortag an einer Gedenkveranstaltung teil. Im Rahmen des Projekts "1000 Buchen" vom Lebenshilfe-Werk Weimar/Apolda zur Erinnerung an die Todesmärsche aus dem KZ Buchenwald wurden Bäume für die jüdischen Häftlinge und den politischen Häftling Hans Gerhard Lehmann gepflanzt.
Das IX. Treffen der Nachkommen widmete sich dem Thema "Der Judenpogrom vom November 1938 und die Hilfe des Lagerwiderstands für die Juden im KZ Buchenwald". Historische Fakten, Fotos und Dokumente, mit einem Video eingespielt, stimmten die zahlreichen Gäste ein, unter ihnen die ehemaligen Häftlinge Naftali Fürst aus Israel und Andrej Iwanowitsch Moisejenko aus Weißrußland. Nach Grußworten vom Vorsitzenden der Lagerarbeitsgemeinschaft, Günter Pappenheim, und dem Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, Dominique Durand, referierte der Historiker Dr. Harry Stein zum Thema, was mit großem Interesse aufgenommen wurde. Schüler aus Weimar und Jena lasen aus Zeitzeugenberichten. Mit starkem Beifall wurde von den Teilnehmern des Treffens eine Erklärung verabschiedet. Das stille Gedenken am Block 22, dem sogenannten Judenblock, beendete das diesjährige bundesweite Treffen der Nachkommen.

Gerhard Hoffmann, Frankfurt/Oder


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
http://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2018/RF-245-06-18.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 245, 20. Jahrgang, Juni 2018
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2018

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