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ROTFUCHS/216: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 264 - Januar 2020


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 264 - Januar 2020



Aus dem Inhalt

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Provokationen erhöhen die Kriegsgefahr

Die fortschrittliche Menschheit gedenkt im Mai des 75. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus. Die NATO begeht das Jubiläum auf ihre Weise. Sie hält im April und Mai an der russischen Grenze unter dem Namen "Defender 2020" das größte Manöver seit 25 Jahren ab. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" legte am 31. Oktober kühl die Absichten dieser Übung dar: "Jeder Angreifer, gemeint sind hier natürlich russische Verbände, soll wissen, daß man es beim Angriff auf einzelne Truppenteile des Bündnisses alsbald mit der ganzen Wucht der NATO zu tun bekommt." Die Zeitung berichtete, daß die USA zwar ihre Truppenstärke in Westeuropa stark reduziert und 2013 ihre letzten Panzer vom Kontinent abgezogen hätten: "Doch seit einigen Jahren wachsen sowohl Kapazitäten als auch Fähigkeiten wieder."

Alle neun Monate werde unter der Bezeichnung "Atlantic Resolve" inzwischen eine vollständige US-Brigade mit jeweils 5000 Soldaten, 2500 Fahrzeugen und Containern per Schiff, Eisenbahn und über die Straße zu Übungen und turnusgemäßem Wechsel an die NATO-Ostgrenze gebracht.

Nun aber, zitierte das Blatt den Kommandeur der US-Truppen in Europa, Christopher Cavoli, sei es an der Zeit für einen neuen, größeren Schritt: "Es ist ein ziemlich großer, oder, um es mit Cavoli zu sagen: 'We are starting it with a bang. - Wir beginnen es mit einem Knall.'" Gemeint ist "Defender 2020". Dazu werden mehr als 20.000 amerikanische Soldaten über den Atlantik und dann nach Osteuropa gebracht; es sei die größte Verlegeübung seit einem Vierteljahrhundert. Insgesamt sollen mehr als 37.000 Soldaten aus 19 Staaten aufmarschieren. Dazu kommen rund 33.000 Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen, Jeeps und Material-Container.

Die Friedensbewegung mobilisiert gegen diese - auch ökologische - Ungeheuerlichkeit. Am 24. November 2019 fand dazu in Leipzig eine erste Beratung statt. Die Einlader kündigten in einer Pressemitteilung an, die geplanten Aktionen reichten "von der Aufklärung der Zivilbevölkerung und der Militärs mit Verteilaktionen an Bahnhöfen und Transparenten an Brücken über eine Mahnwachen-Stafette an der gesamten Strecke und Aktionen des zivilen Ungehorsams bis hin zu rechtlichen Schritten". Höhepunkt sollen eine Kundgebung und Demonstration an einem zentralen Ort des Transportkorridors wie Magdeburg oder Cottbus sein. Am 18. Januar wird es in Hamburg und am 26. Januar erneut in Leipzig weitere Aktionsberatungen geben.

Die Einlader halten fest, daß Größe und Ort des Manövers "eine Provokation gegenüber Rußland" darstellen und die Gefahr einer militärischen Konfrontation in sich tragen. Der Zeitpunkt kurz vor dem 75. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus vor allem durch die Rote Armee sei "nicht zufällig gewählt", es handele sich um ein "geschichtsvergessenes Signal an den ehemaligen Verbündeten".

Das ist richtig. Kommunisten, Sozialisten, andere Linke und Friedensaktivisten werden in vielfältiger Weise an den geplanten Aktionen teilnehmen. Eine Position der Äquidistanz, die auch von Teilen der Partei Die Linke gepflegt wird, ist unangebracht. Der NATO-Gipfel von London am 3. und 4. Dezember 2019 hat erneut belegt, wer Aggressor und wer Verteidiger des Weltfriedens ist: Die VR China wurde dort offiziell zum Feind und der Weltraum zum Kriegsschauplatz erklärt. Wie ernst Rußland dies nimmt, zeigte die Beratung Wladimir Putins mit dem Kollegium des russischen Verteidigungsministeriums am Abend des 4. Dezember, auf der er sagte: "Die militärische und politische Führung der USA betrachtet generell den Weltraum als Schauplatz militärischer Handlungen und plant demgemäß dort militärische Operationen." Er bekräftigte die Haltung Rußlands, die Militarisierung des Weltraums zu vermeiden. Die Entwicklung verlange aber nun größere Aufmerksamkeit für die eigenen Fähigkeiten in diesem Bereich.

Belege, wie der Imperialismus die Gefahr für den Frieden steigert, kommen im Wochentakt: Am 7. Dezember berichtete das US-Internetportal "Defense One", daß der US-Kongreß das Geld für die von Trump gewünschten "Weltraumstreitkräfte" (Space Force) der Armee zur Verfügung stellen wird. Es wird Zeit zu verhindern, daß er den "großen Knall" auslöst.

Arnold Schölzel

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Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA
Weder Herz noch Hirn

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VVN-BdA in Gefahr?

Die Entscheidung der Berliner Finanzverwaltung, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, hat scharfe Reaktionen nach sich gezogen. Neben Politikern meldete sich das Internationale Auschwitz-Komitee zu Wort. Vor dem Hintergrund alltäglicher rechtsextremer Bedrohungen bezeichnete dessen Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner die Entscheidung als Skandal. Die jüdische Gemeinde zu Berlin lehnte das Vorgehen gegen die VVN-BdA ebenfalls ab. Es sei nicht hinnehmbar, wenn der Staat demokratisches Engagement gegen Rechtsradikale und Nazis sanktioniere, sagte der Beauftragte der Jüdischen Gemeinde gegen Antisemitismus, Sigmount A. Königsberg. Er warnte davor, daß es heute die VVN-BdA, morgen einen anderen Verein treffen könne.

In einem Schreiben vom 4. November 2019 argumentiert das Finanzamt Körperschaften I des Landes Berlin, daß dem Verein die mit der Gemeinnützigkeit verbundenen Steuervergünstigungen "nicht zuerkannt werden" könnten. Zur Begründung verweist das Amt auf den Bayrischen Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2016. Darin werde "der Verein unter Extremistische Organisationen und Gruppierungen - Linksextremismus" aufgeführt, heißt es in dem Bescheid.

Gemeinnützige Vereine sind von vielen Steuerarten ganz oder teilweise befreit. Die Gemeinnützigkeit ist auch Voraussetzung dafür, daß Unterstützer ihre Spenden an eine solche Organisation von der Steuer absetzen können.

Die Nachricht löste eine Welle der Empörung aus. Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano hat die Bundesregierung aufgefordert, gegen die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die VVN-BdA vorzugehen. "Als zuständigen Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsägliche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN-BdA rückgängig zu machen", schrieb Bejarano am 25.11. in einem offenen Brief an Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Die 95jährige Ehrenvorsitzende der VVN-BdA bezeichnete die Entscheidung vor dem Hintergrund alltäglicher rechtsextremer Bedrohungen als Kränkung. (Wortlaut ihres offenen Briefes weiter unten.)

Die Bundestagsabgeordnete Zaklin Nastic (Die Linke) schrieb, sie sei "entsetzt" darüber, daß "Engagement gegen Rechtsextremismus unmöglich gemacht" werde. Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, sprach von einem weiteren "Alarmsignal für die demokratische Zivilgesellschaft".

Auch die Berliner Grünen kritisierten die Entscheidung. "Es ist absurd, daß einem Verein in Berlin die Gemeinnützigkeit aberkannt wird, nur weil eine bayrische Behörde" dessen Verfassungstreue bezweif le, erklärte Landesparteichef Werner Graf. Der Kampf gegen den Faschismus sei ein Kampf für das Gemeinwohl und für unsere Demokratie.

Die VVN-BdA wurde 1947 von Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Gefängnisse gegründet. Die VVN-BdA kämpft für eine antifaschistische Kontinuität, für eine Welt ohne Rassismus und gegen Neonazis und Antisemiten.

Im bayrischen Verfassungsschutzbericht tauchte die VVN-BdA als "größte linksextremistisch beeinflußte Organisation im Bereich des Antifaschismus" auf. Es wird behauptet, ihre Aktivitäten dienten "nicht nur dem Kampf gegen den Rechtsextremismus". Vielmehr würden "alle nicht-marxistischen Systeme" und damit auch die parlamentarische Demokratie von ihr als "potentiell faschistisch" betrachtet. Bei Körperschaften, die in Verfassungsschutzberichten des Bundes oder eines Landes auftauchen, darf laut Abgabenordnung die Gemeinnützigkeit "widerlegbar" bezweifelt werden. Mit anderen Worten: Die Beweislast, daß es sich bei der VNN-BdA um keine linksextremistische Organisation handelt, liegt bei der Vereinigung selbst.

"Wie soll man das beweisen?", fragte Thomas Willms, Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA. Er zeigte sich "schockiert" über die Entscheidung der Berliner Behörde: "In einer Phase des aufkommenden Rechtsterrorismus und in der die AfD das Geschichtsverständnis um 180 Grad drehen will, wird einem Verein wie unserem das gespendete Geld wieder weggenommen."

Das Finanzamt hat mittlerweile rückwirkend für die Jahre 2016 und 2017 eine Nachzahlung gefordert. Seine Organisation solle einen Betrag "in fünfstelliger Höhe" zahlen, sagt Willms, das sei existenzgefährdend für den Verein. Gegen die Forderung wurde Widerspruch eingelegt.

Die zuständige Berliner Senatsfinanzverwaltung sagte, sie dürfe zu Einzelfällen prinzipiell keine Angaben machen. Der aktuelle Fall steht im Kontext eines von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) forcierten Ansatzes, nachdem Vereinen immer dann die Steuervergünstigungen gestrichen werden soll, wenn sie sich allzusehr in Tagespolitik einmischen. Scholz hat diese Pläne mittlerweile zurückgezogen; es soll eine neue Abgabenordnung erarbeitet werden.

Zuletzt hatte das Berliner Finanzamt der Kampagnenplattform "Campact" die Gemeinnützigkeit entzogen. Auch die NGO "attac" ist seit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs im März nicht mehr gemeinnützig.

Der Berliner PDL-Fraktionschef Udo Wolf sagte auf dem Parteitag am 23.11.: "Die Entscheidung ist ein unglaublicher Skandal." Sie sei selbstverständlich keine Entscheidung der rot-rot-grünen Koalition. Wolf erinnerte daran, daß Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) die Fachaufsicht über die Finanzämter habe. Er sei sich sicher, daß niemand bei Rot-Rot-Grün das Vorgehen des Finanzamtes richtig findet. "Und wir werden auch versuchen, sie zu korrigieren." PDL-Landeschefin Katina Schubert äußerte sich ebenfalls kritisch über die finanzbehördliche Entscheidung und bezeichnete diese als "wahnsinnig". In ihrer Auftaktrede vor den 182 Delegierten des Parteitags in Berlin-Adlershof sagte sie: "Das Gegenteil ist nötig. Alle Teile der Zivilgesellschaft, die sich dem Neofaschismus entgegenstellen, müssen gestärkt und ermutigt werden."

Die Linkspartei will durch eine gesetzliche Regelung erreichen, daß die VVN-BdA den Status der Gemeinnützigkeit zurückbekommt. In einem Antrag für den Bundestag wird die Bundesregierung aufgefordert, eine entsprechende Neuregelung auf den Weg zu bringen. "Antifaschismus und zivilgesellschaftliches Engagement sind gemeinnützig und müssen es bleiben", sagte der PDL-Abgeordnete Jörg Cezanne. Dafür sei eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts dringend erforderlich, fügte Cezanne hinzu. Nach dem Willen der "Linken" soll der Katalog der steuerlich begünstigten Zwecke unter anderem um "die Förderung der Wahrnehmung und Verwirklichung von Grundrechten", des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und des Klimaschutzes erweitert werden. In dem Antrag der Linkspartei wird auch der Entzug der Gemeinnützigkeit des globalisierungskritischen Netzwerks "attac" oder der Kampagnenplattform Campact kritisiert, die auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes zurückgehen.

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Offener Brief an den Berliner Finanzsenator Dr. Matthias Kollatz

Sehr geehrter Herr Dr. Kollatz,

ich kann es nicht glauben. In einer Zeit, in der Rassismus, Antisemitismus, Haß gegen Minderheiten, rechtsextremistische Strömungen fröhliche Urständ feiern und unsere Demokratie bedrohen, ganz zu schweigen von den Gewalttaten und Morden der Faschisten, wollen Sie der VVN die Gemeinnützigkeit aberkennen, einer Organisation, die seit dem 8. Mai 1945 zuverlässig für das "Nie wieder Faschismus!" arbeitet. Ich habe in verschiedenen Bildungsstätten der IG Metall viele Jahre mit der VVN zusammengearbeitet, und antifaschistische Widerstandskämpfer haben als Zeitzeugen oft in meinen Seminaren von ihren Erfahrungen berichtet. Auch Frau Bejarano, der ehemalige Bezirksleiter der IG Metall Willi Bleicher und Prof. Eugen Kogon haben bei uns referiert. Die Gedenkfeiern in der Bittermark in Dortmund, wo die Nazis in den letzten Tagen des Krieges noch viele politische Häftlinge ermordeten, wurden gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister Samtlebe u. a. durchgeführt.

Ich hoffe und erwarte, daß Sie von der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN ablassen. Es wäre ein fatales politisches Signal und Wasser auf die Mühlen der AfD und ihres Anhangs, wenn Sie eine Organisation diskriminieren, die seit Jahrzehnten Aufklärung über den Faschismus und seine Folgen und demokratische Bildungsarbeit leistet.

Mit freundlichem Gruß
Walter Weller, Berlin

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Offener Brief von Esther Bejarano an den Bundesfinanzminister Olaf Scholz

Sehr geehrter Herr Minister Scholz,

seit 2008 bin ich die Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, der gemeinnützigen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Verfolgten. Die Arbeit der Antifa, die Arbeit antifaschistischer Vereinigungen ist heute - immer noch - bitter nötig. Für uns Überlebende ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.

Wohin steuert die Bundesrepublik?

Das Haus brennt - und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle.

"Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden", hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet. Aber hier habe ich verläßliche Freunde gefunden, Menschen, die im Widerstand gegen den NS gekämpft haben, die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Nur ihnen konnte ich vertrauen. Wir Überlebende der Shoah sind die unbequemen Mahner, aber wir haben unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt nicht verloren. Dafür brauchen wir und die vielen, die denken wie wir, Hilfe! Wir brauchen Organisationen, die diese Arbeit unterstützen und koordinieren.

Nie habe ich mir vorstellen können, daß die Gemeinnützigkeit unserer Arbeit angezweifelt oder uns abgesprochen werden könnte! Daß ich das heute erleben muß! Haben diejenigen schon gewonnen, die die Geschichte unseres Landes verfälschen wollen, die sie umschreiben und überschreiben wollen? Die von Gedenkstätten als 'Denkmal der Schande' sprechen und den NS-Staat und seine Mordmaschine als 'Vogelschiß in der deutschen Geschichte' bezeichnen?

In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, jetzt gerade wieder vom Hamburger Senat eine Ehrengedenkmünze in Gold. Mein zweites Bundesverdienstkreuz, das Große, haben Sie mir im Jahr 2012 persönlich feierlich überreicht, eine Ehrung für hervorragende Verdienste um das Gemeinwohl, hieß es da. 2008 schon hatte der Bundespräsident mir das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse angeheftet. Darüber freue ich mich, denn jede einzelne Ehrung steht für Anerkennung meiner - unserer - Arbeit gegen das Vergessen, für ein "Nie wieder Krieg - nie wieder Faschismus!", für unseren Kampf gegen alte und neue Nazis.

Wer aber Medaillen an Shoah-Überlebende vergibt, übernimmt auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung für das gemeinsame NIE WIEDER!, das unserer Arbeit zugrunde liegt. Und nun frage ich Sie:

Was kann gemeinnütziger sein, als diesen Kampf zu führen? Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?

Als zuständigen Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsägliche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN-BdA rückgängig zu machen und entsprechende Gesetzesänderungen vorzuschlagen.

Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde. Dabei helfen uns viele Freundinnen und Freunde, die Antifaschistinnen und Antifaschisten - aus Liebe zur Menschheit! Lassen Sie nicht zu, daß diese Arbeit durch zusätzliche Steuerbelastungen noch weiter erschwert wird.

Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano

Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e. V.

Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

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Traditionen und eine fast vergessene Pleite

In der Politik sind Traditionen wichtig. Als das Berliner Finanzamt beschloß, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit zu entziehen, wurde das glasklar. Die Entscheidung, die es ihr finanziell fast unmöglich macht, ein Büro oder feste Angestellte zu behalten, ihre Existenz also gefährdet, basiert offiziell auf deren Einstufung als "gefährlich für die Demokratie" - ausgerechnet vom bayrischen Verfassungsschutz. Doch baut sie eben auf einer viel älteren Tradition.

Spätestens 1959 beschloß die Bundesregierung, die VVN, wie vor ihr die FDJ, die KPD und alle "kommunistische Tarnorganisationen" als verfassungswidrig zu verbieten. Nach drei Jahren war sie soweit. Vor 57 Jahren also, am 29. November 1962, eröffneten Professor Fritz Werner und zwei Nebenrichter des Ersten Senats des Bundesverwaltungsgerichts den Prozeß. Doch kaum hatte Werner begonnen, mischte sich August Baumgarte ein, ein Überlebender der KZ Sachsenhausen und Mauthausen, und überreichte Dokumente, die bewiesen, daß gerade Werner schon vor 1933 Mitglied der NSDAP war, daß er stolz den Ehrentitel "Alter Parteigenosse" trug und nach 1933 zum höheren SA-Führer berufen wurde. Danach kam heraus, daß der beisitzende Richter Eugen Hering, seit 1933 NSDAP-Mitglied, sogar in der SS war und bis zuletzt Landrat einer Ortschaft im besetzten Polen. Der dritte Richter, Lullies, auch seit 1933 in der NSDAP, hatte zur Nazi-Zeit einen hohen Rang in Erfurt inne und wäre Oberbürgermeister von Regensburg geworden, wenn das Kriegsende diese Beförderung nicht verhindert hätte. Schließlich war der Staatsanwalt der Regierung, Hermann Reuß, ebenfalls NSDAP-Mitglied und früher Richter, der schon gleich nach Hitlers Machtantritt das Verbot aller anderen Parteien forderte.

Diese Enthüllungen wurden in den bundesdeutschen Medien fast völlig vertuscht und waren der Grund, warum schon am zweiten Tag das Ganze verschämt "verschoben" und kaum je wieder erwähnt wurde (nachdem Bonns Regierungssprecher kleinlaut zugab: "Der Prozeß ist gescheitert.").

Dazu kommentierte seinerzeit die britische Zeitung "New Statesman" bissig: "Die VVN vor Gericht zu stellen zeugt schon überhaupt von sehr schlechtem Geschmack, dann aber dafür einen Nazi-Richter und SA-Mitglied als Vorsitzenden zu ernennen, ist absolut unglaublich ... Nun, wenn Adenauer die Vertreter von Menschen, die in Konzentrationslagern litten, unbedingt bestrafen will, müßte sich, um ihre Schuld festzustellen, irgendwo in seinem Reich ein Richter finden lassen, der selbst kein Nazi war."

Die neuerliche Entscheidung in Berlin ist noch mit einer ähnlichen Tradition verknotet, die neulich auf sehr hoher Ebene erkennbar wurde - nämlich bei der Europäischen Union. Diese Tradition bezeichnet linke Ideen und linke Menschen, ob Bolschewiken, Kommunisten oder "linke Extremisten" genannt, nicht nur als schlecht und geradezu gefährlich, sondern stellt sie mit Faschisten gleich - und sogar verwandt, als wären die UdSSR, der "Ostblock" und erst recht die DDR mit dem Dritten Reich der Nazis verwandte böse Brüder, wobei deutlich wird, für etliche seien die "Roten" am Ende noch die gefährlicheren des Verwandtenpaars. Man spricht dabei von einem verwandten "Totalitarismus". Nur, die eigentliche Tradition sieht ganz anders aus.

Am 19. November 1937 traf sich Lord Halifax - bald wurde er britischer Außenminister - insgeheim mit Adolf Hitler. Nachdem er "die großen Verdienste, die sich der Führer um den Wiederaufbau Deutschlands erworben habe, voll und ganz" lobte, versicherte er, daß er "wie andere Mitglieder der englischen Regierung davon durchdrungen [wäre], daß der Führer nicht nur in Deutschland selbst Großes geleistet habe, sondern auch durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Lande diesem den Weg nach Westeuropa versperrt habe und daß daher mit Recht Deutschland als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden könne".

Dieses Treffen bestärkte England darin, Hitler und Mussolini bei deren entscheidender Hilfe für General Franco im Spanischen Bürgerkrieg gegen die dortige demokratische Regierung zu unterstützen - auf Kosten ungeheuren Elends nicht nur für das spanische Volk, sondern für alle Völker, denn diese Politik war es, die Hitler ermutigte und ihm ermöglichte, den Weltkrieg zu beginnen.

Die Tradition ist also längst offenbar geworden, daß Regierungen und Politiker, die auf Antikommunismus schwören, meistens bereit sind, sich mit Faschisten zu verbinden. Trotz aller sorgsam gepflegten Totalitarismus-Theorien, sobald es darauf ankam, waren solche "Demokraten" geneigt, einem Franco eher als einem Negrin zu helfen, einem Ngo Dinh Diem eher als einem Ho Chi Minh, einem Pinochet eher als einem Allende. Und vielleicht morgen einem Höcke?

Die tatsächliche Verwandtschaft besteht nämlich nicht zwischen Faschisten und den Linken, Sozialisten und Kommunisten, welche sie immer grundsätzlich als Hauptfeind haßten und bekämpften, sondern mit den Antikommunisten, und wenn sie noch so glatt über Demokratie, Verfassungstreue oder böse Extremisten reden konnten. Diese Verwandtschaft liegt nämlich daran, daß sie bei Linken um ihr Eigentum fürchten mußten, daß ihre Millionen oder gar Milliarden vermindert oder - ach Gott - gar enteignet werden. Solche Ängste brauchen sie bei den Faschisten nicht zu haben, die ja niemals die Reichen bedrohen, die sie zumeist - wenn auch zuerst geheim - immer wieder finanzieren und unterstützen.

Gerade die deutschen Traditionen - Linke betreffend - machen deutlich, wie verlogen Schritte gegen die VVN sind - und wie gefährlich. Sie harmonisieren allzuleicht mit den Forderungen mancher Minister - stark an eine gewisse Vergangenheit erinnernd - nach immer mehr Waffen und immer mehr Einsätzen. Dahinter, immer lauter, erkennt man schon die alt-neuen Sirenengesänge eines Höcke oder, kaum verdeckt, das Gebrüll eines blutlüsternen Mobs - wie einst!

Victor Grossman
Arbeitskreis Frieden der Berliner VVN-BdA

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Ossietzky und die Einheitsfront

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren, und er wird in Chile sterben

Zeit des Aufstands

Chile: eine Insel der Stabilität in Südamerika, so glaubte der US-Think-Tank Stratfor noch vor kurzem. Nun sind im südamerikanischen "Musterland" Hunderttausende, mehr als eine Million Menschen auf den Straßen. Zahlreiche Menschen sind umgekommen, Tausende wurden verletzt, mehr als 10.000 verhaftet. Präsident Sebastián Piñera hat sowohl den Apec-Gipfel als auch die Weltklimakonferenz absagen müssen. Die Regierung hat in weiten Teilen die Kontrolle verloren. "Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben", schrieben Demonstranten auf ihre Plakate. Und in der Tat, der Neoliberalismus ist unmittelbar mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 verknüpft. Augusto Pinochet war der Kettenhund der "Chicago-Boys", der eifrigen Jünger des marktradikalen Gurus Milton Friedman.

Ohne Pinochets Mörderbande und ihre Rückendeckung aus Washington wäre es nicht gelungen, dem südamerikanischen Land einen riesigen sozialökonomischen Feldversuch aufzuzwingen. Chile ertrank nach dem 11. September im Blut der Linken und Demokraten. Maschinengewehre sorgten für die notwendige Friedhofsruhe. Südamerika geriet unter das Kommando brutaler Militärdiktaturen.

Die Frage der neoliberalen Glaubenskrieger lautete: Wie weit kann die Bereicherung der Reichen, der Raub von gesellschaftlichem Eigentum und die asoziale Verarmung getrieben werden? Die Ergebnisse dienten als Blaupause für die neoliberale Offensive Ronald Reagans und Margaret Thatchers. Und danach für die gesamte "westliche Wertegemeinschaft". Neoliberalismus ist der Krieg der oberen 0,1 Promille gegen die breite Bevölkerung. Neoliberalismus, das heißt aber auch Armee und Bürgerkriegspolizei. Der Klassenkrieg der Superreichen ist nicht nur ein ökonomisch asoziales Programm.

Die neoliberale Gegenreformation und ihre glühenden Jünger in den Redaktionsstuben und Parteien wollten eine fundamentalistische Gegenreform. Es war die Aufkündigung des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit. Neoliberalismus, das ist der Umbau der gesamten Gesellschaft, des kapitalistischen Verwertungsmodus, der Eigentumsverhältnisse, der gesellschaftlichen Institutionen, des theoretischen Denkens und der zwischenmenschlichen Verhältnisse. Alles soll dem Diktat des Maximalprofits unterworfen sein.

Der Shareholder Value wurde zum Goldenen Kalb der neuen Zeit, der engherzig-egoistische Homo oeconomicus sein angehimmelter Superstar. Jede wurde mit jedem, alles mit allem in Konkurrenz gesetzt. Gewerkschaften wurden nur als Co-Manager geduldet. Gemeinschaft, Kollektivismus wurde zum Schimpfwort. Selbst Staaten müssen seither um die "Gunst der Investoren" konkurrieren.

Alles muß billiger werden. Auch die Ernährung, auch die Arbeitskraft, auch die Steuern und Staatsausgaben (mit Ausnahme der Rüstung). Turbo-Fleisch zum Spottpreis, die Arbeitskraft für einen Euro, die Steuern durch 1000 Steuertricks auf null optimiert. Dazu das gesellschaftliche Tafelsilber verramscht. Der neoliberal zugerichtete Staat wird zum Bittsteller bei jenen, denen er zuvor die Steuer geschenkt hatte. Die neoliberale Gegenreformation ist ein Prozeß. Die Zurichtung und Verarmung der Gesellschaft braucht ihre Zeit. Es ist eine Bewegung zu den niedrigsten Standards. Nun, nach fast einem halben Jahrhundert, wurde mit dem Ausbruch der großen Krise 2007 klar: Der Neoliberalismus ist am Ende. Er hängt am Tropf der Zentralbanken. Er kann nur noch durch eine fortwährende gigantische Geldproduktion am Leben erhalten werden.

Und etwas anderes ist klar. Die Allmacht des US-Imperiums ist Geschichte. Venezuela, Syrien, Iran, Afghanistan, der lange Arm des Pentagons und der CIA reicht nicht mehr an jeden Ort. Die neuen "Spieler" Rußland und China haben auch für andere und auch für die Beraubten und Entrechteten neue Chancen eröffnet. Und eine Welle des Protests schwappt über den Globus. Es rumort in so vielen Staaten, daß der Platz hier nicht reicht, alle aufzuzählen. Die neoliberale Verarmung hat die Grenze des Erträglichen erreicht. Menschen gehen zu Hunderttausenden auf die Straße - selbst bei Gefahr, dort erschossen zu werden. Der Neoliberalismus ist am Ende - und nicht nur in Chile. Es kündigen sich revolutionäre Zeiten an.

Klaus Wagener
(Aus "unsere zeit", 8. November 2019)

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Die "Chicago Boys" in Chile

Mit der Philosophie, daß die Marktwirtschaft der menschlichen Natur entspreche, wurde das Chile aus der Zeit der Pinochet-Diktatur zum Labor, um das ökonomische Modell der Chicago Boys anzuwenden.

Die Chicago Boys sind eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die von 1956 bis 1970 größtenteils an der University of Chicago studiert haben und von den Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans inspiriert worden waren. Sie wurden in Chile unter der Herrschaft Augusto Pinochets wirtschafts- und sozialpolitisch sehr einflußreich. Diese Ökonomen waren von der Überlegenheit freier Märkte überzeugt, die sie durch Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen zu realisieren suchten.

Die Umsetzung eines rücksichtslosen Neoliberalismus, der als Stütze der Diktatur dient, und die Unterdrückung all jener, die gegen die Auswirkungen dieser Maßnahmen protestierten, war eine Konstante im chilenischen Entwicklungsmodell. Augusto Pinochet hinterließ das System so fest verankert, daß die chilenische Gesellschaft bis heute, 46 Jahre nach dem Putsch gegen Salvador Allende, noch immer denselben Gesetzen und weiteren Normen unterliegt, als wäre inzwischen nichts passiert.

Da sind die bewaffneten Polizisten, um zu "beschützen" was die Chicago Boys installiert haben. Orlando Letelier, der zur Zeit Salvador Allendes Botschafter und Minister war und am 21. September 1976 in Washington von der chilenischen DINA und der US-amerikanischen CIA ermordet wurde, hinterließ einen 25 Tage vor seinem Tod verfaßten Aufsatz über die Wirtschaftspolitik der Chicago Boys und darüber, wie diese Politik in Chile während der Militärdiktatur umgesetzt wurde.

In dem Aufsatz heißt es: "Das Wirtschaftsprogramm wurde von einer Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler umgesetzt, von denen die meisten an der Universität von Chicago von Milton Friedman und Arnold Harberger ausgebildet worden waren. Die tief in die Vorbereitung des Staatsstreichs verwickelten Chicago Boys stützten sich auf die putschenden Militärs."

Der Sonderausschuß des US-Senats für Nachrichtendienste gab bekannt, daß "Mitarbeiter der CIA bei der Planung der Wirtschaftsmaßnahmen mitwirkten, welche die chilenische Junta unmittelbar nach der Machtübernahme einführte. Zu diesem Zweck erhielten die Chicago Boys Gelder von der CIA, wie das "Wall Street Journal" am 2. November 1973 schrieb.

Mister Friedman und Professor Harberger besuchten Chile, um eine "Schockpolitik" für die Wirtschaft des Landes zu fördern, die laut einer Veröffentlichung der Zeitung "El Mercurio" vom 23. März 1975 in Santiago als "die einzige Medizin" galt.

Die dort umgesetzten Prinzipien des Wirtschaftsmodells sehen den privaten Sektor als einzig möglichen Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung an, weshalb dieser der vorherrschende in der Wirtschaft sein müsse.

Ebenso wurde die Auffassung vertreten, daß die Inflation nur durch die Reduzierung der Staatsausgaben und die Minimierung oder Aufhebung der Rolle des Staates in der Gesellschaft beseitigt werden könne. In diesem Sinne seien "Unterdrückung der Mehrheiten und wirtschaftliche Freiheit für privilegierte Gruppen in Chile zwei Seiten derselben Medaille".

Für Brenda Mendoza Baz von der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru waren "die Aktionen, welche die Chicago Boys im Rahmen ihrer beruflichen Positionen (Berater, Minister und Hochschullehrer) während der Militärregierung von Augusto Pinochet durchführten, ein entscheidender Faktor in der Umsetzung des Neoliberalismus, und die Hauptauswirkungen seiner Anwendung waren die Konzentration des Reichtums in einer Minderheits-Unternehmergruppe und die Verschlechterung der Lebensbedingungen der ärmsten Bevölkerung."

Seit Oktober 2019 haben die Chilenen nicht nur die Polizei herausgefordert, die unterdrückt und tötet, sondern auch eine Regierung, die daran festhält, eine Wirtschaftspolitik fortzusetzen, die nach dem Rezept der Chicago Boys auf der Grundlage neoliberaler Theorien umgesetzt wurde und durch militärische Gewalt aufrechterhalten wird.

Zur Verbesserung der unerträglich gewordenen Situation sind radikale Veränderungen unumgänglich.

Elson Concepción Pérez
(Red. bearbeitet aus "Granma internacional", Nov. 2019)

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Kuba ist nicht allein

Vom 20. bis 30. Oktober vergangenen Jahres unternahm der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel Bermúdez eine Reise, die ihn nach Irland, Belarus, Aserbaidschan und Rußland führte.

Am 27. Oktober traf er am Flughafen Pulkowo I in St. Petersburg ein, womit er seinen dreitägigen Arbeitsbesuch in Rußland in dieser historischen Stadt begann. Er wurde im ehemaligen Leningrad von Jewgeni Grigorjew, dem Präsidenten des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten der lokalen Regierung, empfangen. Im April 1963 war Comandante en Jefe Fidel Castro, als er fast einen Monat lang verschiedene Orte der Sowjetunion besuchte, ebenfalls in Leningrad. Díaz-Canel und seine Begleitung begaben sich zum Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, auf dem in 186 Gräbern die sterblichen Überreste von mehr als 70.000 Zivilpersonen und 490.000 Soldaten liegen, die Opfer der Belagerung von Leningrad, der heftigsten des Großen Vaterländischen Kriegs, wurden.

Dann besuchte der Präsident den legendären Panzerkreuzer Aurora. Von dort aus begab sich die Delegation in die Ermitage, die sich im Herzen von St. Petersburg befindet und als eine der beeindruckendsten Kunstsammlungen der Welt gilt.

In Moskau wurde Díaz-Canel am vorletzten Tag seines Arbeitsbesuchs in Rußland vom Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und dem Premierminister, Dmitri Medwedew, empfangen.

Díaz-Canel und Putin sprachen bei ihrem Treffen über die als historisch bezeichneten Beziehungen zwischen den beiden Nationen. Nach Angaben des kubanischen Außenministeriums bestand in den Hauptthemen der internationalen Agenda vollständige Übereinstimmung. Darüber hinaus wurde Rußlands bedingungslose Unterstützung für den Kampf gegen die Blockade und die Ablehnung der Maßnahmen der Trump-Regierung zur wirtschaftlichen Erdrosselung Kubas deutlich.

Díaz-Canel verurteilte die einseitigen und ungerechten Sanktionen der Vereinigten Staaten gegen Rußland sowie die Aktivitäten, die NATO immer näher an dessen Grenzen zu rücken. Ebenso besprachen sie den Fortschritt der wichtigsten gemeinsamen wirtschaftlich-kommerziellen Projekte. Díaz-Canel übermittelte die Grüße von Armeegeneral Raúl Castro Ruz, die der russische Präsident mit großer Zuneigung erwiderte.

Der kubanische Präsident dankte Putin für dessen Einladung zur Teilnahme an den Veranstaltungen zum 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus im Mai 2020. Er bestätigte, daß er zu diesem Zeitpunkt wieder in Rußland sein und daß dies auch ein Anlaß sein werde, die sechs Jahrzehnte seit der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Nationen zu feiern. Mehrere russische Medien berichteten außerdem, daß Putin die Einladung von Díaz-Canel, die Insel zu besuchen, angenommen habe: "Ich werde sie auf jeden Fall nutzen", sagte er. Der kubanische Präsident traf auch mit Ministerpräsident Dmitri Medwedew zusammen, der ihn zu seiner kürzlichen Wahl zum Präsidenten der Republik Kuba beglückwünschte und ihm Erfolg in seiner neuen Funktion wünschte. Medwedew erinnerte auch an seinen Besuch auf der Insel Anfang Oktober und sandte einen Gruß an Raúl, mit dem er ebenfalls ein ergebnisreiches Treffen gehabt hatte.

Díaz-Canel seinerseits äußerte sich mit Genugtuung über den Besuch des Premierministers in Kuba, dem er Grüße des Armeegenerals übermittelte. "Ihr Aufenthalt war von besonderer Bedeutung, da nicht nur die Ergebnisse der von uns durchgeführten gemeinsamen Programme bewertet, sondern auch eine Reihe neuer Ideen und Arbeitslinien vorgeschlagen wurden." All dies, sagte der Präsident, werde vollständig weiterverfolgt, und es werde zu jedem der Vorschläge mit den entsprechenden Ministerien zusammengearbeitet.

Gestützt auf "Granma internacional", Havanna, November 2019

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Ein Rückblick aus der Zeit, bevor Lula zum ersten Mal Präsident wurde Brasilien vor Richtungsentscheidungen

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Zu aktuellen US-Aktivitäten in Lateinamerika

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Präsidentschaftswahl-Farce am Hindukusch

Die sogenannte unabhängige Wahlkommission in Afghanistan hatte am 30. Dezember 2018 die für April 2019 geplante Präsidentschaftswahl um drei Monate verschoben. Sie setzte den Sonntag, 20. Juli 2019, als neuen Termin für die Abstimmung an, wie der Chef der Wahlkommission, Abdul Badi Sajjad, vor Journalisten in Kabul verkündete. Danach sollte erst am 28. September 2019 ein neuer Präsident gewählt werden. Da die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Ashraf Ghani längst abgelaufen ist, arbeitet er also ohne gültiges Mandat. Weil sich die Bevölkerung zu Recht von den Wahlen nichts erhofft, ist es ihr einerlei, ob sie stattfinden oder nicht und ob ein Warlord oder eine US-Marionette künftig im Präsidentenpalast sitzt. Zum einen werden die USA bestimmen, wer zum nächsten Präsidenten am Hindukusch ernannt wird, zum anderen hätte er ohnehin nichts zu sagen. So könnte man die allgemeine Stimmung beschreiben. Diese fatalistische Einstellung der Bürger ist u. a. der Nährboden für die landesweit erfolgreichen Operationen der Taliban. Sie werden von der Bevölkerung geduldet bzw. geschützt oder sind gar erwünscht. Die Menschen haben die Nase voll von den korrupten Apparatschiks in Staat, Verwaltung, Justiz, Militär und Polizei, die allesamt von Warlords und ihrer Entourage sowie von den Ameriko- und Euro-Afghanen buchstäblich annektiert worden sind.

Am 28. September 2019 ließ man dann endlich wählen. Insgesamt standen Namen von 18 Kandidaten auf dem Stimmzettel. Darunter waren Warlords und Kriegsverbrecher wie Gulbuddin Hekmatyar, Ahmad Zia Masud und der Ameriko-Afghane Ashraf Ghani aufgelistet. Vier Kandidaten hatten ihre Bewerbung zugunsten der erfolgreicheren zurückgezogen. Im Prinzip haben sie sich damit verkauft, weil ihnen von den aussichtsreichen Kandidaten Ghani und Abdullah Abdullah Posten versprochen wurden. So war es bei allen vorangegangenen Wahlen seit 2004. Im Jahr 2019 waren 13,5 Millionen Menschen wahlberechtigt, abgestimmt haben jedoch nur zwei Millionen. Das sind gerade 16,6 % der Wahlberechtigten. Durch die neuen Überprüfungen hat die Wahlkommission die Zahl der abgegebenen Stimmen auf 1,9 Millionen nach unten korrigiert. Der künftige Präsident am Hindukusch ist damit nicht legitimiert.

Ein vorläufiges Wahlergebnis sollte am 19. Oktober bekanntgegeben werden. Beobachter vor Ort sind der Meinung, daß man noch mehr Zeit gewinnen wollte, um - wie in der Vergangenheit - weiter zu fälschen. In der Nacht vom 20. zum 21. Oktober "hatten Mitglieder einer Spezialeinheit der Polizei Zutritt zum Gebäude des Datenzentrums der Wahlkommission erhalten". Hier soll es sich um eine versuchte Wahlmanipulation für Ashraf Ghani gehandelt haben. Zu dessen Gunsten sind Wahlfälschungen aus 16 Bezirken gemeldet worden. So zum Beispiel in Kabul 130.000, in Paltya und Paktika 150.000 und in Kandahar 50.000 Stimmen. In Afghanistan sei der Trend in den letzten Jahren negativ gewesen, wie der ehemalige afghanische Außenminister Rangin Dadfar Spanta im Deutschlandfunk diplomatisch formulierte. Auch bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen erwarte er "massenhaft organisierte Fälschungen" zugunsten von Ashraf Ghani. So überrascht es nicht, daß die Favoriten Ghani und Abdulla selbst schon vor den Wahlen von Wahlfälschung sprachen.

Der Chef des berüchtigten und gefürchteten Geheimdienstes unter Hamed Karzai, ein Folterknecht und derzeitiger Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten von Ashraf Ghani, Amrullah Saleh, hatte Mitte Oktober mit seinen engsten Mitarbeitern Asadullah Khaled und Hamdullah Muheb die amtierende Vorsitzende der Unabhängigen Wahlkommission Hawa Nuristani besucht. Sie wurde unter Druck gesetzt, damit sie die Wahlergebnisse im Sinne von Ashraf Ghani manipuliert. Dieser Vorgang hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Darüber hinaus wurde mehr als ein Drittel der Wahllokale nicht einmal geöffnet, weil der Staat angeblich nicht für die Sicherheit garantieren konnte, obwohl mehr als 100.000 Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter im Einsatz waren und weitere 20.000 bis 30.000 in Reserve standen. Es ist offensichtlich, daß in jenen Bezirken Wahllokale geschlossen blieben, wo Abdullah, also der Konkurrent des amtierenden Präsident Ghani, mehr Stimmen hätte bekommen können.

Die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan am 28. September sind, wie in Medien kommentiert wird, "krachend gescheitert". Dennoch erklärten sich Ghani und Abdullah unmittelbar nach den Wahlen als Sieger. Auch Amrullah Saleh tritt, obwohl die endgültigen Wahlergebnisse noch nicht feststehen, auf, als ob er bereits zum Vizepräsidenten gewählt worden sei.

Allein Ghanis Wahlkampf hat 180 Millionen US-Dollar gekostet. Wer hat das bezahlt, woher hat er so viel Geld, während Millionen Afghanen in Elend vegetieren, fragen sich viele in den "sozialen" Medien.

Ursprünglich war vorgesehen, am 27. Oktober die vorläufigen Wahlergebnisse zu veröffentlichen. Dies wurde jedoch auf den 14. November verschoben. Der Sprecher der Unabhängigen Wahlkommission verkündete dann, daß die Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse erst am 6. Dezember möglich sei. Der US-Diplomat Zalmai Khalilzad war Ende Oktober in Kabul eingetroffen und hatte mit Abdullah Abdullah, Ex-Präsident Hamed Karsai und weiteren Warlords und mit dem ehemaligen Sicherheitsberater von Ashraf Ghani, Mohammad Hanif Atmar, Gespräche geführt. Es wird vermutet, daß dabei über den künftigen Wahlsieger und die Postenverteilung verhandelt wurde.

Wie sieht eigentlich die Bilanz der Amtszeiten des ehemaligen Weltbankmanagers Ghani aus? Bekanntlich hat er außerhalb Kabuls fast nichts zu sagen, geschweige denn eine etwaige Kontrolle über das Land. Die Warlords schalten und walten nach eigenem Gutdünken. Bei der Analphabetenrate steht Afghanistan weltweit an zweiter Stelle. Das Land wird als am ungeeignetsten für ausländische Investitionen angesehen. Bei der Drogenproduktion sowie bei der mangelnden Sicherheit für Frauen und Journalisten ist Afghanistan weltweit die Nummer 1. Mehr als zwei Drittel der Frauen haben psychische Probleme. Circa drei Millionen Menschen sind drogenabhängig, darunter auch Kinder. Nach Syrien verlassen die meisten jungen Afghanen, überwiegend aus der Mittelschicht, ihre Heimat. Damit verliert das Land die Kräfte, die für den Wiederaufbau unverzichtbar wären. Circa 75 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Trotz Milliarden Dollar an Hilfsgeldern ist Afghanistan mit über einer Milliarde Dollar verschuldet.

Die Taliban bewegen sich am Hindukusch wie Fische im Wasser. Hier liegt ihre Stärke. Ob sie uns gefallen oder nicht, sie sind die einzige bewaffnete organisierte Kraft, die gegen die Besatzer gnadenlos kämpft und mit ihrem Leben bezahlt. Ohne sie angemessen am politischen Geschehen zu beteiligen, wird es keinen Frieden geben. Sie kontrollieren ca. 60 % des Landes und sind in der Lage, jederzeit beliebige militärische Operationen durchzuführen, sogar in der Sicherheitszone in Kabul, wo wichtige staatliche Organe, Diplomaten, internationale Organisationen, westliche Geheimdienste und die NATO ihren Sitz haben. In den Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, schufen sie längst staatsähnliche Strukturen, die besser funktionieren als die Kabuler Administration.

Nach Angaben der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) stieg in den ersten neun Monaten 2017 die Zahl der durch US-Luftangriffe getöteten Zivilisten im Vergleich zu 2016 um 52 %. Die Zahl der verletzten und getöteten Zivilisten erhöhte sich im dritten Quartal 2018 um 42 %. Mit fast 1200 Getöteten und mehr als 31.000 Verletzten wurde die höchste Zahl ziviler Opfer innerhalb eines Vierteljahres seit Beginn der Aufzeichnung durch die UNO im Jahre 2009 registriert.

Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ist völlig desillusioniert und hat keine Hoffnung mehr, daß der künftige Präsident an ihrer Lage etwas zum Positiven verändern könnte. Daher warten sie nicht so gespannt auf die endgültigen Wahlergebnisse wie die internationale Öffentlichkeit. Sie sagen offen, ihnen sei es völlig egal, wer sich nächster afghanischer Präsident nennen darf.

Dr. Matin Baraki

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Wenn es so weiterginge, wäre das die Katastrophe

Wir wollen keine Endzeitstimmung heraufbeschwören, die gewöhnlich nur lähmend wirkt und hierzulande je nach persönlichen Lebensumständen vielleicht sogar noch behaglich genossen werden kann. Wir erinnern dagegen an Walter Benjamins verzweifeltes Diktum: "Daß es so weitergeht, ist die Katastrophe."

Und danach sieht es wohl aus nach dem desaströsen Klimapaket der großkoalitionären Bundesregierung: die "Menschheitsaufgabe Klimaschutz" wurde kleingearbeitet zugunsten kapitalmächtiger Industrien und automobiler Wählerklientel. Darin, daß das kleinmütige Maßnahmenbündel des Klimakabinetts weit davon entfernt ist, die im Pariser Abkommen (2015) völkerrechtlich verbindlich vereinbarten Klimaziele zu erreichen, sind sich Klimawissenschaft und Klimagerechtigkeitsbewegung einig. Wie aber soll es nun weitergehen mit der anstehenden "sozialökologischen Transformation" dieser Gesellschaft? Weiter wie bisher?

Die Klimakrise hat eine globale Klassendimension
Bereits heute wirkt sich der menschengemachte Klimawandel verheerend auf die Überlebensbedingungen von Millionen von Menschen vor allem in den armen Ländern des globalen Südens aus. Bittere Armut und Ungleichheit, die dauernden Begleiterscheinungen kapitalistischer Weltvergesellschaftung, nehmen infolge der Klimakrise extreme Ausmaße an. Selbst Außenminister Heiko Maas warnte im September auf der UN-Generaldebatte in New York, die Kriege der Zukunft würden Klimakriege sein.

Es dürfte heute einsichtig sein, daß dabei, wie in den wohlhabenden Staaten Güter global hergestellt und verteilt werden, systematisch auf billige Arbeitskraft und Natur weltweit - vor allem aus dem globalen Süden - ausbeuterisch zurückgegriffen wird. Die immense Ressourcen verschlingende und umweltbelastende Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Gesellschaften trägt wesentlich zu den CO2-Emissionen bei. Ulrich Brand und Markus Wissen haben sie als "imperiale Lebensweise" bezeichnet, in die wir durch unsere konsumintensiven Alltagsroutinen tief verstrickt sind. Es spricht in diesem Kontext vielleicht für sich, daß die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Ressort mit dem Titel "Protecting our European way of Life" (Schutz unserer europäischen Lebensweise) einzurichten beabsichtigt, das u. a. für die Koordination der europäischen Migrations- und Asylpolitik zuständig sein wird, die sich bislang bekanntlich nicht durch einen menschenrechtsgemäßen Schutz der Menschen auf der Flucht vor den klimabedingten Verwüstungen und Kriegen auszeichnet.

Optimismus oppositioneller Praxis
Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hielt, emotional aufgewühlt, vor zahlreichen Staats- und Regierungschefs auf dem UN-Klimagipfel am 23. September eine bewegende Rede: "Menschen leiden. Menschen sterben. Wir befinden uns im Anfang eines Massenaussterbens, und alles, woran ihr denken könnt, sind Geld und Märchen von ewigem Wachstum. Wie könnt ihr es nur wagen!" Und sie fährt anklagend fort, wie man nur so tun könne, als ob man der Klimakrise mit ein paar technischen Lösungen beikommen und ansonsten so weitermachen könne wie bisher.

Tage zuvor (und danach) waren weltweit Millionen von Menschen auf den Straßen, um sich am globalen Klimastreik zu beteiligen, mit dem die jeweils politisch verantwortlichen Regierungen zu mehr klimapolitischen Anstrengungen bewegt werden sollten. Ihr Versagen ist jedoch eklatant. Weltweit sind im Jahr 2018 die CO2-Emissionen wieder angestiegen - um 2,7 %. Es hat nicht den Anschein, als ob die junge Klimabewegung so schnell von ihrem Protest abließe.

Mit vielfältigen Aktionen stört sie den eingefahrenen politischen Betrieb des Weiter wie bisher. Dieser reagiert noch irritiert, vereinnahmend lobend oder herablassend reaktionär. Man mag die hohe Emotionalität der jungen Menschen angesichts der absehbaren Klimakatastrophe altersweise belächeln, aber in Verbindung mit dem exzellenten Wissen der Akteure über Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels entsteht eine praktisch orientierte Bewegung, die bislang eine rasante politische Dynamik zu entfachen vermochte. Eine sozial gerechte und ökologische Wende wird wohl nur gegen die globale Kapitalherrschaft und ihre stützende Politik erkämpft werden können. Die Klimagerechtigkeitsbewegung, die ein auskömmliches Leben für alle Menschen auf diesem Planeten - ohne Ausbeutung von Mensch und Natur - anstrebt, macht Mut.

Dirk Vogelskamp
(Red. leicht bearbeitet aus "Informationen Grundrechtekomitee", 4/2019)

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Marxismus und Natur

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Okinawa - eine Insel wehrt sich!

Ende Juli/Anfang August 2019 hatte ich erstmals die Gelegenheit, die japanische Insel Okinawa, knappe zwei Flugstunden entfernt von der japanischen Hauptinsel, zu besuchen. Die "Vereinte Anti-US-Basen-Koalition von Okinawa" wurde vom International Peace Bureau (IPB) mit dem MacBride-Friedenspreis 2017 für den Widerstand gegen die US-Basen ausgezeichnet.

Was ich traf und sah, war eine ungeheuer beeindruckende Insel des friedlichen gewaltfreien Widerstandes: vom Gouverneur der Insel bis zum Taxifahrer, vom Hoteleigentümer bis zur Verkäuferin im Supermarkt - alle waren geeint im Widerstand gegen die existierenden US-Militärbasen und gegen die neue Luftlandebasis Henoko, welche die USA auf einem Korallenriff mitten im wunderschönen blauen Meer bauen. Eine einzigartige Naturlandschaft wird zerstört, das Korallenriff versinkt unter Schutt und Felsen, um neue Landebahnen für Kampfflugzeuge und Hubschrauber zu bauen. Die geostrategischen Interessen des Imperiums führen zur Zerstörung einer einzigartigen Naturlandschaft: blaues Meer, wunderbare Korallen, vielfältige Fische und grüner saftiger Dschungel fallen Krieg und Aggression zum Opfer.

Auf dem aus ca. 150 Inseln bestehenden Inselkomplex Okinawa befinden sich 20 Luftwaffen- und 28 Marinemilitärstützpunkte der USA. Diese machen die US-Armee zu einem ständig sichtbaren und hörbaren Störfaktor. Okinawa hat 0,6 % der gesamten Landfläche Japans, aber 74 % aller fremden Militärstützpunkte. Die Zerstörung der Umwelt, der Emissionsdreck ist mit den Händen zu greifen, NATO-Draht - fast überall - zerstört Biotope und das Leben der Tiere, Kriminalität ist alltäglich, 23 militärische Unfälle passieren im Monatsdurchschnitt. Der Wahnsinn der US-Basen, die diese Insel teilen und zerstören, wird am eindrucksvollsten von einem Aussichtspunkt über der Hauptstadt Nago City sichtbar. Diese Stadt, in der mehr als 300.000 Menschen leben, wird durch drei US-Basen, die in der Mitte der Stadt angesiedelt sind, "gedrittelt", d. h. faktisch wird die Hauptstadt in drei Teile geteilt. Von einem Teil in den anderen geht es nur mit großen Umwegen. Landebahnen prägen diese Basen. Die Schulkinder, die auf ihren Schulhöfen Fußball oder Baseball spielen, schießen den Ball entweder ins Tor oder auf die Base - Frieden und Krieg liegen nur Meter voneinander entfernt.

Mehr als 100.000, teilweise bis zu 300.000 der 1,6 Millionen Einwohnerinnen protestierten in vielfältigen Demonstrationen gegen die US Basen, besonders gegen den geplanten Neubau in Henoko. Dreimal täglich wird der Bau dieser Basis durch die Aktivistinnen der Insel blockiert. Ein permanentes Camp mit vielen Veranstaltungen begleitet diese Aktionen. Ziviler Ungehorsam täglich. Auch ich wurde von den Polizisten von dem Eingang der Basis weggeräumt.

In einer Volksbefragung stimmten 75 % der Bevölkerung gegen die US-Basen. Dieser Widerstand findet sich an jedem Ort und jedem Platz, an dem US-Basen existieren, sei es mitten im Urwald wie in Takae oder in den Dörfern und Städten.

Der Gouverneur der Insel Denny Tamaki, gewählt als Protestgouverneur gegen die US-Basen, der mich zu einem ausgesprochen angenehmen Gespräch empfing, betonte mit Gelassenheit, aber auch voller Optimismus: "Die US-Armee kann nicht gegen den Widerstand einer ganzen Insel gewinnen. Es kann lange dauern, aber wir werden sie loswerden."

Die Berichterstattung im Fernsehen und in allen Zeitungen am nächsten Tag bestätigte diese optimistische Einschätzung des Gouverneurs, der ich mich aus vollem Herzen nur anschließen konnte.

Die täglichen eindrucksvollen Aktionen, die Stimmung der Zuversichtlichkeit dieser freundlichen, aber so entschlossenen Menschen auf der Insel untermauerten diese Aussage. Auf einem Symposium zum Widerstand, an dem ich teilnahm, unterstrichen alle Redner - von der Politik über Gewerkschaften und Kirche bis hin zu den Friedensbewegten - ihre Bereitschaft, sich weiter intensiv zu wehren.

Wir dürfen diese unermüdlichen Streiter für den Frieden nicht alleine lassen. Okinawa muß viel bekannter werden, der Widerstand gegen diese US-Militärokkupation muß ein weltweites Symbol des Widerstandes gegen den Militarismus werden. Das Wort Vietnam wird mit Befreiungskampf verbunden, das Wort Okinawa sollte als Synonym für die Vertreibung von US-Basen stehen.

Internationale Solidarität ist erforderlich. Diese sollten wir ausbauen. Das IPB wird dazu einen aktiven Beitrag leisten, auch viele andere sind gefordert. Das internationale Anti-Militärbasen-Netzwerk sollte eigene Überlegungen zur Unterstützung von Okinawa entwickeln. Ein Erfolg in Okinawa wird unser aller Erfolg im Kampf gegen Krieg und Militarismus sein. Er ist möglich, wenn wir noch enger zusammenarbeiten.

Reiner Braun
R. Braun ist Co-Präsident des Internationalen Friedensbüros (IPB)

(Aus: "FriedensForum", 6/2019)

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Wissenschaftliche Weltanschauung
Wilhelm Pieck als Agitator und Propagandist

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Bärbel Schindler-Saefkow klagt an
Fatales Signal

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FDJ- und KPD-Prozesse am Landgericht Lüneburg

In ihrer dokumentarischen Schriftenreihe "Das Landgericht Lüneburg als Spitze der justizförmigen Kommunistenverfolgung der 50er- und 60er-Jahre" hat die VVN-BdA Lüneburg im November 2019 den Teil II c: "Verfahren - Prozesse - Angeklagte" veröffentlicht.

Das Thema soll in einem dritten Teil mit einem Resümee und einer Übersichtstabelle der Verfahren von 1951 bis 1968 abgeschlossen werden. In dem neuen Heft werden Verbotsverfahren gegen die FDJ sowie Massenprozesse gegen FDJ-Mitglieder ganzer Ortschaften festgehalten, darunter auch zwei Beispiele über Prozesse gegen KPD-Mitglieder. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit der vom Lüneburger Gericht exzessiv angewandten Verhängung sogenannter Nebenstrafen wie der Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte und den "Kollateralschäden" dieser Stigmatisierung (Verlust des Arbeitsplatzes u. a.). Eine Darstellung und Würdigung des politischen Lebens von Herta Dürrbeck ("Gefängnishaft unter Hitler und Adenauer") schließt die Schrift ab.

Der Darlegung der politischen Hintergründe dieser teilweise völlig absurden Gesetzgebung und Rechtsbeugungen unter der Adenauer-Regierung widmen die Verfasser viel Aufmerksamkeit: "In Lüneburg war eine derartige Justiz möglich, weil sich hier ein großer Teil ehemaliger Juristen des Dritten Reichs konzentrierte und auf Menschen traf, die schon damals und jetzt wieder als Staatsfeinde galten. Staatsanwalt Ottersbach, 1941/42 Mitarbeiter am Sondergericht Kattowitz, hielt dem Angeklagten Paul Butscheck vor: "Aus Ihren Zuchthausstrafen ... haben Sie offenbar nichts gelernt." Buschbeck gehörte im Dritten Reich zum Widerstand und war wegen "Wehrkraftzersetzung" verurteilt worden. Staatsanwalt von Lücken forderte: "Straferschwerend kommt hinzu, daß der Angeklagte bereits wegen solcher Tätigkeiten hart bestraft worden ist. Das hat aber nichts genützt. Ich beantrage daher gegen ihn eine Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten." Die Zuchthausstrafen, auf die von Lücken sich bezog, waren in den Jahren 1933 und 1940 ausgesprochen worden!

Mit Blick auf dieses skandalöse Vorgehen konstatierte Ossip K. Flechtheim sarkastisch: "Die Angeklagten ... hätten allerdings besser daran getan, im Dritten Reich Juden umzubringen, als nach 1945 in einer demokratischen und kommunistischen Organisation tätig zu sein - jedenfalls hätte die Justiz mehr Verständnis für sie."

Theodor W. Adorno bezeichnete die Anfangsjahre der Bundesrepublik als "Fortleben des Faschismus in der Demokratie". Freislers bewährtes Personal sorgte in seinem Geiste weiter dafür, daß Kommunisten, Widerstandskämpfer und Pazifisten wie vor 1945 erbarmungslos und brutal verfolgt wurden.

Rehabilitiert oder gar entschädigt wurden die Opfer bis heute nicht. Inzwischen verschafft man sich schon wieder neue Ermächtigungen durch immer neue Gesetze, die an die Weimarer Republik erinnern: fortgesetzter Abbau vieler Grundrechte, rigide Polizeigesetze mit Schutzhaft für polizeilich denunzierte "Gefährder", brutale Strafrechtsverschärfungen und perfektionierte Totalüberwachung. Die Nazis nutzten solche "Weimarer Dateien" ab 1933 "zum Schutze von Volk und Staat". Bei heutzutage leider denkbaren Regierungskoalitionen mit der AfD wäre dann solches - ergänzt durch Gesetzgebungen wie in Ungarn, Polen oder Italien - auch bei uns wieder möglich.

Jobst Heinrich Müller

Die Broschüre ist über das Büro der VVN im DGB-Haus, Heiligengeiststraße 28, 21335 Lüneburg, oder per E-Mail an vvn-bda-lueneburg@ vvn-bda-lg.de zum Preis von 7 Euro inkl. Porto zu beziehen.

Siehe auch RF 238, S. 6, und RF 250, S. 22.

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Spukt das Gespenst des Kommunismus noch immer?

Ein Gespenst, sagt man, ist ein mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattetes "Phänomen".

Davon mögen auch Marx und Engels ausgegangen sein, als sie das 1848 verfaßte "Manifest der Kommunistischen Partei" mit dem legendären Satz begannen: "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten."

Heute müßte man diesen Satz wohl wesentlich erweitern und formulieren: "Ein Gespenst geht um in Europa, in Süd- und Mittelamerika, in Afrika und in Asien - das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte der vom Imperialismus beherrschten Welt haben sich zu einer Vernichtungsjagd gegen dieses Gespenst verbündet, das Management der Banken und Konzerne, die Weltmachtstrategen der USA, die EU unter maßgebender Führung der BRD, die aggressive NATO und andere gleichgeartete Militärpakte."

Das Gespenst des Kommunismus "spukt" inzwischen nicht nur in Europa, sondern auf dem gesamten Erdball. Wer es vertreiben will, muß mächtige Angst vor ihm haben. Dazu gehören besonders jene, die in der kapitalistischen Ordnung das "Ende der Geschichte" sehen, die ihn befördern, politisch und ökonomisch akzeptieren und tolerieren, ja helfen, ihn zu verwalten.

Eigentlich haben die Herrschenden gegenwärtig gar keine allzugroße Veranlassung, unruhig zu werden. Die Partei Die Linke ist nicht die Kraft, die sich der Idee von Marx und Engels von der kommunistischen Alternative zum Kapitalismus verpflichtet fühlt.

Mit ihrem Drang nach Mitregieren wirkt sie keineswegs mehr "gespenstisch" hinsichtlich einer Systemveränderung. Es rüttelt sie nicht munter, daß sie mit ihrer Akzeptanz des kapitalistischen Gesellschaftssystems in der BRD zunehmend ihren politischen Einfluß verliert und sich immer mehr Wähler von ihr abwenden, wie die Ergebnisse der Wahlen in Sachsen und Brandenburg im Herbst vergangenen Jahres zeigen. In Thüringen triumphiert zwar die Die Linke ob ihres Wahlerfolgs, doch war dieser wohl eher nur ein Anhimmeln einer linken "optischen Täuschung".

An der Parteibasis sind Marx und Engels nicht ganz vergessen, doch die Parteispitze macht es nicht mobil, daß inzwischen bösartige Konkurrenz herangezüchtet wurde, das "Monster des Faschismus". Dabei hat dieses Monster seinen "braunen Schleier" in der AfD und diversen faschistischen Gruppen und Splitterparteien schon deutlich uniformiert. Deutschland heute gleicht in manchem dem Deutschland der Jahre vor 1933. Auch damals hat das "Gespenst des Kommunismus" nicht kräftig und einheitlich genug "gespukt", um den Hitler-Faschismus verhindern zu können.

Haben die antifaschistischen Kräfte der Gegenwart aus der Geschichte nichts gelernt, daß sie alles ideologisch Trennende, voneinander Abweichende und sich im Detail Unterscheidende nicht in den Hintergrund treten lassen, um mit geeinter Kraft und voller Konzentration dem wachsenden Einfluß faschistischer Kräfte entgegenwirken zu können?

Bemühungen sind erkennbar, doch das hemmende "Aber" ist immer noch ein Bremsklotz für einheitliches Handeln gegen den drohenden Faschismus. Es ist hohe Zeit zu einheitlichem Handeln, denn die faschistischen Strukturen sind bereits gut miteinander vernetzt, bieten alle Voraussetzungen für koordiniertes Handeln. Und es wächst als Westimport im Thüringer Wald schon ein Möchtegern-Hitler, den man laut richterlicher Entscheidung öffentlich "Faschist" nennen darf. Wir haben es mit einer äußerst gefährlichen Entwicklung zu tun, die von allen im Parlament sitzenden Fraktionen, gleich ob Regierungspartei oder Opposition, geduldet bzw. unterstützt wird.

Die Partei Die Linke rüstet gegenwärtig zum "Strategie-Gipfel" zu Beginn dieses Jahres. Die Frage ist: Wird sie ihr "Gespenstergewand" wieder kräftig rot färben, oder wäscht sie den Rest an roter Farbe gar noch aus und macht sich zum "farblosen Geist in der kapitalen Nacht"? Das wird nicht nur für ihre Mitglieder, sondern auch für ihre Sympathisanten und Wähler die Gretchenfrage sein.

Manfred Wild, Berlin

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Gedanken, hundert Jahre nach Karl und Rosa

Je nach Anmarschweg zu meinem ehemaligen "Arbeitgeber" führten mich meine Schritte hin und wieder am Rosa-Luxemburg-Denkmal im Berliner Tiergarten vorbei. Manchmal verweilten Menschen an dem 1987 im VEB Lauchhammerwerk erschaffenen Kunstguß, welcher in das Wasser des Landwehrkanals ragt. Häufig waren Blumen an der Gedenkstätte niedergelegt, Gedichte oder Verse hingen in Kopie zum Mitnehmen für die Passanten bereit. Die Mehrzahl der Menschen eilte aber eher achtlos an dieser Stelle entlang, nahm die Bilder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht neben der Gedenktafel wohl gar nicht wahr. Vielleicht trieb sie aber auch die Angst davor, sich mit einer dunklen Stunde der deutschen Geschichte auseinandersetzen zu müssen, hier so zügig vorbei.

Soeben ist das Jahr 2019 in die Geschichte eingegangen, in dem der Ermordung der beiden Arbeiterführer und KPD-Mitbegründer zum 100. Mal gedacht wurde. Viel ist über Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den vergangenen Monaten geschrieben worden - gerade auch im RF. Mir geht aber eine Frage nicht aus dem Kopf: Wo steht die BRD hundert Jahre nach dem schändlichen Mord an Karl und Rosa durch Freikorpssoldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division samt Hintermännern?

Obdachlosigkeit ist ein bitteres, die kapitalistische Gesellschaftsordnung aber hinreichend kennzeichnendes Merkmal. Neuesten Schätzungen zufolge werden in der BRD demnächst 1,2 Millionen Frauen und Männer ohne ein Dach über dem Kopf leben müssen. Man kommt sich manchmal vor wie im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Was würden Karl und Rosa wohl heute dazu sagen? Und nicht nur dazu ...

Die BRD ist wie einst das deutsche Kaiserreich wieder aktiv an Kriegen beteiligt - und das übrigens bereits seit mehr als zwanzig Jahren. Aber im Unterschied zu damals nicht nur vor der eigenen Haustür, sondern gleich über den halben Erdball verteilt. Deutsche Soldaten bauen in der Ferne trotz aller Friedensbekundungen eben nicht nur Brunnen - unendliches Leid und Elend haben sie gleich mit im Marschgepäck.

Rosa Luxemburg hat einmal gesagt: "Entfremdet und entwürdigt ist nicht nur der, der kein Brot hat, sondern auch der, der keinen Anteil an den großen Gütern der Menschheit hat." Folglich muß die Frage aufgeworfen werden, wer sich heutzutage noch regelmäßige Besuche in Opernhäusern, Theatern, Galerien oder Museen leisten kann. Auf deutschem Boden gab es übrigens einmal ein Land, welches seinen Einwohnern durch moderate Eintrittspreise den steten Zugang zur kulturellen Sphäre gewährte. Dieses Land hieß DDR.

"Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. Und mit jedem sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab." Diese von Rosa Luxemburg mit Blick auf den Ersten Weltkrieg ausgesprochenen Worte können dieser Tage durchaus auch auf die Arbeitswelt bezogen werden. Unendlich hoher Arbeitsdruck und Dauerstreß machen immer mehr Menschen krank. Immer öfter erlebe ich Leute, die während ihres Arbeitsalltags im Akkord kaum noch ein Wort sagen. Der seelische Tod ist ein besonders widerlicher!

Aber eine Spezies ist geblieben und freut sich weiter ihres oft glanzvollen Lebens: die Kapitalisten. Zugegeben, ihr Typus hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Da ist nicht mehr der etwas dickliche Mann, der sich in Frack und Zylinder am reichlich gedeckten Tisch gebratenes Federvieh, Wein und die dicke Zigarre schmecken läßt. Nein, der hochmoderne Kapitalist präsentiert sich smart im Designeranzug und ernährt sich gegebenenfalls vegan. Aber in seinen kalten Augen blitzen die Dollar-Zeichen. Und immer wieder frage ich mich: An welchem Punkt seines Lebens wird der Mensch derart raffgierig und entwickelt den Drang, über andere Menschen herrschen zu müssen?

Es gibt also mehr als einen Grund, sich an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auch im 101. Jahr nach ihrer Ermordung zu erinnern. Die Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde bietet dazu nicht nur alljährlich im Januar die Möglichkeit.

Rico Jalowietzki

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Die Wannsee-Konferenz und ein nahezu unausrottbarer Irrtum
"Mit der Bitte um Unterstützung ..."

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30 Jahre ohne DDR
Einige Folgen der Konterrevolution von 1989/90

Was die Auswirkungen auf Deutschland angeht, habe ich eine schon benannt, nämlich die neue Normalität von Angriffskriegen, von Bundeswehreinsätzen im Ausland. Das war für den deutschen Imperialismus wichtig, denn bei aller politischen und ökonomischen Stärke - ohne militärische Komponente läßt sich nicht an die Spitze der imperialistischen Länder treten. Das ist aber nicht nur eine juristische Frage, sondern diese Kriegsführung, vor allem auch in anderen klimatischen, infrastrukturellen Bedingungen, in anderen Regionen, die muß auch trainiert sein, das ist auch ein Aspekt, warum "unsere Freiheit am Hindukusch" verteidigt werden muß.

Ein zweiter tiefer Einschnitt, den es aus meiner Sicht mit einer existierenden, sozialistischen DDR nicht gegeben hätte, waren die Agenda-Gesetze (sog. Hartz-Gesetze, die Niedriglohn und Sozialhilfe regeln), die aus meiner Sicht den schärfsten Angriff auf die soziale Lage und das Bewußtsein der deutschen Arbeiterklasse darstellen.

Dieser Angriff war möglich, weil sich der deutsche Imperialismus mit der Zerschlagung der industriellen Basis der DDR, mit dem dramatischen Abbau von Betrieben und Arbeitsplätzen eine Art "Hinterhof" im eigenen Land geschaffen hatte. Dies eignete sich und eignet sich bis heute als Mechanismus zum Ausspielen verschiedener Teile der Arbeiterklasse gegeneinander.

De-Industrialisierung
Um die Dramatik und das Ausmaß dieser Zerschlagung zu verstehen, muß ich ein paar Zahlen nennen: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die hergestellt wurden, schrumpfte allein in den Jahren 1990 und 1991 um sage und schreibe 40 % - ich glaube, daß solche Einbrüche sonst nur im Zusammenhang der Zerstörung durch Kriege zu verzeichnen waren. Bei der industriellen Produktion war dieser Prozeß noch stärker, sie sank bis Ende 1991 um ca. 60 %.

Bis Ende 1994 wurden von 12.354 durch die Treuhand verwalteteten Betrieben 66 % privatisiert, über 30 % stillgelegt und lediglich 2,5 % kommunalisiert. Von 1994 bis 1998 wurden weitere 4370 Betriebe privatisiert. In der DDR waren 9,7 Millionen Menschen erwerbstätig, das entsprach einer fast vollständigen Vollbeschäftigung (alleine 92 % aller Frauen waren erwerbstätig und spielten somit nicht mehr die Rolle einer industriellen Reservearmee). Bis Ende 1991 sank diese Zahl der Beschäftigten von 9,7 Millionen auf 6,8 Millionen. Die Frauenerwerbstätigkeit sank bis 1992 auf 73 %.

Diese Entwicklung war 1991 nicht beendet, die Zahl der Erwerbstätigen sank bis zum April 1995 noch mal auf 5,31 Millionen. Wieder besonders betroffen: die Industriebeschäftigten, deren Zahl um sage und schreibe 80 % zurückging.

Arm trotz Arbeit
Was an Arbeitsplätzen übrigblieb, war oftmals Teilzeit, oftmals prekär. Der Anteil der Niedriglöhne stieg in Ostdeutschland von 12 % im Jahre 1991 auf 21 % in 2012. Besonders betroffen: junge Menschen. In der Altersgruppe der 15- bis 20jährigen betrug der Niedriglohnanteil im Jahr 2010 54,6 %, in der Altersgruppe der 20- bis 25jährigen 34 %.

Der Rückgang der Arbeitsplätze und die schlechten Bedingungen führten zu einer riesigen Abwanderung. Zwischen 1989 und 2011 betrug die Abwanderung von Ost- nach Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen - als Wanderungsverlust, also die Zuwanderung gegengerechnet, blieb ein Minus von 1,8 Millionen Menschen. Dazu kamen noch die dauerhaften Ost-West-Pendler, deren Zahl bis Mitte der 2000er Jahre auf 500.000 anstieg. Da es sich dabei vorwiegend um jüngere Menschen handelte, führte dies auch zu einer Erhöhung des Durchschnittsalters der Menschen in Ostdeutschland.

Blühende Landschaften?
Diese Abwanderung führte dann auch zu großen Wohnungsleerständen, vor allem in der "Platte". In Kombination mit dem radikalen Bruch in der Städtebaupolitik und der Privatisierung von Wohnungsbeständen führte das vielfach zu Tendenzen der Ghettobildung.

Was meine ich mit dem radikalen Bruch in der Städtebaupolitik? Ende der 80er Jahre befand sich die DDR in der Endphase eines gigantischen Programms zur Schaffung von Wohnraum. Um die Bedürfnisse nach Wohnraum zu befriedigen, wurde vor allem mit industriell zu fertigenden Bauteilen für Wohnblöcke, also der sogenannten Platte, gearbeitet. Zentral dabei war aber immer, daß es in relativ kleinen Plattenbaubezirken ebenfalls Sozialeinrichtungen wie Kindergärten, Jugendclubs, die HO-Gaststätte und Einkaufsmöglichkeiten gab. Dieser Ansatz wurde dann unter Profitbedingungen sehr schnell zerschlagen, erkennbar heute oft als Ruinen inmitten der Platte.

Überhaupt war die Zerschlagung des Zugangs zu Kultur und die Abwicklung der Kultur selbst ein weiteres Wesensmerkmal der Veränderungen im Gebiet der DDR. Bücher, Theater- und Opernbesuche etc. waren vielfach subventioniert bzw. bei Theater und Oper etc. gab es Kontingente, die Betrieben und Belegschaften zu günstigen Konditionen zur Verfügung standen.

Privatisierung überall
Genauso radikal war der Kahlschlag im Bildungswesen. Einem einheitlichen Bildungswesen von der Kinderkrippe bis zur Berufsausbildung zum Studium wurde die Mehrgliedrigkeit übergestülpt. Der polytechnische Ansatz, welcher der Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit diente und "Achtung vor der Arbeit" als Lernziel ganz praktisch in die Schulbildung integrierte, wurde beseitigt. Selbst "Wikipedia" kommt hier nicht um eine positive Würdigung herum. Wir lesen dort: "Durch den hohen Anteil der Naturwissenschaften, durch Verwissenschaftlichung und Praxisbezug erreicht der Unterricht der DDR-Schule der 70er Jahre allerdings ein von den westlichen Industrienationen unerreicht hohes Niveau."

Ein radikaler Bruch wurde auch im Gesundheitswesen vollzogen. Die DDR hatte ein einheitliches Gesundheitswesen ohne Mehr-Klassen-Medizin, mit einem System von Polikliniken, in denen in der Regel die unterschiedlichen Ärzte und Fachärzte gebündelt waren. Das waren staatliche Einrichtungen, vor allem zur ambulanten Behandlung mit angestellten Ärzten. Diese wurden mit der Konterrevolution gesetzlich zugunsten von Einzelärzten stillgelegt und das Gesundheitssystem dem kapitalistischen Markt vorgeworfen - ein gefundenes Fressen für die Privatisierung.

Patrik Köbele

Auszüge aus einem Referat auf der Bundesvorstandssitzung der SDAJ im September 2019.

Köbele ist 57 Jahre alt und seit 2013 Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), für die er neben seinem Job als IT-Berater auch hauptamtlich arbeitet. Als Jugendlicher war Patrik Schülersprecher und später Jugendvertreter bei Mercedes-Benz. Später arbeitete er für die SDAJ, deren Vorsitzender er von 1989 bis 1994 war.

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Prof. Stephan Tanneberger - ein Leben im Dienste des Menschen

Er war einer der prominentesten Ärzte der DDR, Direktor des Zentralinstituts für Krebsforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, in dem er seit 1972 tätig war. "Arzt wird man aus Überzeugung, Chefarzt aus Überzeugungskraft" war sein Credo. Am 5. März 2018 ist Prof. Stephan Tanneberger gestorben. Nur die lokalen Medien und der "Nordkurier" meldeten seinen Tod nach schwerer Tumorerkrankung. Das "Deutsche Ärzteblatt" und das "Ärzteblatt M/V" ignorierten den Tod des Mediziners, als hätte es ihn nie gegeben.

Tanneberger lebte in Liepen auf Usedom, nachdem er seine Aktivitäten im Auftrag der WHO beim Kampf gegen den Krebs beendet hatte. Der Arzt behandelte unter anderem Lara Allende-Gossens, die Schwester Salvador Allendes. Seine Patientinnen waren auch Brigitte Reimann, die darüber in ihrem Buch "Es wird einen schönen Frühling geben" schreibt, und Maxi Wander, nachzulesen in "Leben wär' eine prima Alternative".

2006 wurde er in einem Interview gefragt, warum im "wiedervereinigten" Deutschland kein Platz mehr für ihn war: "Das ist eine Frage, die sie denen stellen müssen, die die Wiedervereinigung politisch gestaltet haben. Die Krebsforschung und -bekämpfung der DDR war 1990 im Vergleich mit der BRD nicht schlechter, in einigen Bereichen sogar besser. Dennoch wurde die Arbeit der DDR-Wissenschaftler bis heute systematisch verschwiegen. Über das Vergessen bin ich traurig, denn das war die Lebensleistung vieler hervorragender Wissenschaftler, Ärzte und Schwestern, und es war Hilfe für mehr als 100.000 Krebskranker in der DDR." Leider war das kein Einzelfall, wie der Umgang mit solch hochverdienten Wissenschaftlern wie Prof. Klinkmann aus Rostock oder Prof. Bibergeil aus Karlsburg, um nur zwei Persönlichkeiten aus meiner Region zu nennen, beweist.

Nach 1990 hat Tanneberger seine Karriere im Dienst der WHO fortgesetzt (Professur in Bologna und Novi Sad). Er versuchte in mehreren Entwicklungs- und europäischen Ländern wie Italien ein Palliativsystem für Krebspatienten zu realisieren. Es war ein Abtauchen in eine Welt der Armut und Tristesse.

Sein ganzes Engagement galt dem Ziel, den Menschen ein Leben in Würde zu Hause bis zum Tode zu ermöglichen. Dabei wollte er nie Verdiener, sondern Diener am Patienten sein. Bereits vor 50 Jahren versuchten die Onkologen, die Krebs-Chemotherapie zu individualisieren. Schwierigkeiten bestanden in der extremen Heterogenität von Tumoren in Raum und Zeit. Die Annahme eines einzigen "neoplasma-spezifischen Zelldefektes" erwies sich als wissenschaftliche Illusion.

Heute stehen wir bei der Inflation neuer Krebsmittel vor einer Ausgabenexplosion unerhörten Ausmaßes. Mit der neuen Generation von Krebstherapeutika konnte mit fast drei Milliarden Euro pro Jahr Gewinn für die Pharmaindustrie die Überlebensrate von Krebspatienten um drei Monate erhöht werden.

Damals bereits forderte Tanneberger eine personalisierte Medizin in einem anderen Sinne - ein neuer Blick auf den Patienten war notwendig. Seine Bedürfnisse und Gefühle sollten das zentrale Thema der Personalisierung sein. Vor allem der alte Patient hat andere Erwartungen als nur den Zugang zu teuren und hochspezialisierten Pharmaka. Der Mensch gehört in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses. Sicherung eines guten Lebens bis zum Tod, die "Eubiosie" als Menschenrecht gilt es durchzusetzen. Es geht also nicht um "Leben zu jedem Preis", sondern um die Wahrnehmung des Patienten in seinem Menschsein. Aus seinen jahrzehntelangen Erfahrungen beim Umgang mit der Krebserkrankung leitete sich das ethische Credo Tannebergers ab: "Nicht das Leben schlechthin, sondern das sinnvolle und akzeptable menschliche Leben ist normierend für die konkrete Verwirklichung der Ehrfurcht vor dem Leben." Unter Sterbehilfe verstand er gute Pflege, Bekämpfung von Schmerzen, Psychopharmaka und Sterbebeistand.

Seine Tätigkeit als Krebsforscher ließ ihn zum Pazifisten und bekennenden Friedensaktivisten werden. Er wurde Mitbegründer des Zentrums für Friedensarbeit "Otto Lilienthal" im ehemaligen Militärgefängnis in Anklam. An seinem politischen Engagement scheiden sich die Geister. Vor allem seine herausgehobene Position in der DDR belastete ihn in den Augen von CDU-Kreisen auch in Anklam. Mit gehässigen Anschuldigungen versuchten die heute politisch vorherrschenden Kreise, ihn zu diskreditieren. So soll er "Stalinismus in der Forschung" betrieben haben. Seine "Nachwende"aktivitäten wurden als "Umtriebigkeit" diffamiert, sein Friedensengagement als Verschleierung des Umstands, für den "DDR-Unrechtsstaat" gearbeitet zu haben, diskreditiert.

Ich bin dem Krebsforscher leider nur einmal persönlich begegnet. Anläßlich einer Beratung zur Krebstherapie Mitte der 70er Jahre meines akademischen Lehrers Prof. Gestewitz an der militärmedizinischen Akademie in Bad Saarow mußte ich als Leiter des klinisch-chemischen und hämatologischen Instituts Angaben zu meinen Untersuchungsergebnissen zur Immuntherapie machen.

2017 wollte ich ihn zu einem Gedankenaustausch zu ethischen Fragen in seinem Wohnort auf Usedom aufsuchen. Leider kam das Treffen wohl wegen seines fortgeschrittenen Krebsleidens nicht mehr zustande.

Die wissenschaftlichen Arbeiten Professor Tannebergers und seine ethischen Überlegungen sollten nicht in Vergessenheit geraten.

Dr. med. Gerhard Machalett
Siedenbollentin

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Wie die NVA liquidiert wurde

Vor über 30 Jahren hatte Strausberg den Beinamen "Hauptstadt der Nationalen Volksarmee". Und nicht zu Unrecht, denn der Ort fungierte als einzige Kleinstadt der DDR als Sitz eines Ministeriums, das für Nationale Verteidigung bestimmt worden war. Bis 1990 gab es weitere 20 Stäbe und Truppenteile in der Stadt, so daß die Einwohnerzahl auf 28.550 stieg. Das änderte sich im Oktober 1990. Hunderte Offiziere, Fähnriche, Unteroffiziere und Zivilbeschäftigte hatten sich vor dem Haus 20 des Verteidigungsministeriums in Strausberg versammelt, um einen wichtigen Abschnitt in ihrem Berufsleben - unfreiwillig - zu beenden.

Gegründet am 1. März 1956, war die Nationale Volksarmee (NVA) die erste Armee auf deutschem Boden, die nicht kapitalistischen Interessen diente und wohl deshalb gerade vom zeitweiligen Sieger der Geschichte und seinen Handlangern diffamiert und verleumdet wird. Gemäß dem Auftrag des früheren Justizministers Kinkel war die DDR zu delegitimieren und ihre Nationale Volksarmee als Macht- und Funktionsorgan der "SED-Diktatur" zu diskreditieren.

Andererseits hat der Abrüstungs- und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann die Angehörigen dieses "stalinistischen Machtinstruments" am 20. Juli 1990 den Eid für den Schutz der Deutschen Demokratischen Republik schwören lassen. Der Schlußsatz lautete: "Ich schwöre, meine ganze Kraft zur Erhaltung des Friedens und zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik einzusetzen." Das hieß doch, die DDR zu bewahren, sie zu erhalten und zu sichern, sie zu behüten. Welch eine Perversion von Eppelmann, die Soldaten schwören zu lassen, obwohl die Führungsleute wußten, daß es in Kürze weder die DDR noch die NVA mehr geben würde. Dieser eppelmannsche Treppenwitz zeigt aber auch, was diesen Leuten ein öffentliches Gelöbnis oder ein Diensteid überhaupt wert ist.

Nachweislich wirtschaftlichen Schaden hat Eppelmann zudem bei der Vereidigungsfarce insofern zu verantworten, als bei dieser zwar unter der DDR-Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, aber mit neuen bundesrepublikanischen Kokarden an den Mützen, angetreten werden mußte. Für diese totale Unsinnigkeit, die Beschaffung von neuen Metall- und Stoffkokarden sowie Uniformknöpfen ohne DDR-Emblem (die Volkskammer hatte lediglich beschlossen, das Staatsemblem der DDR von allen öffentlichen Gebäuden zu entfernen), wurden - von Eppelmann abgesegnet - mehrere hunderttausend D-Mark ausgegeben. Als Angehöriger des Bekleidungs- und Ausrüstungsdienstes im Ministerium für Nationale Verteidigung war ich mit zuständig, diese dubiosen Anweisungen zu realisieren.

Dem Sparsamkeitsprinzip der NVA entsprach das nicht. Denn während für das "stalinistische Machtinstrument des Unrechtsregimes der SED" 1989 (einschließlich Finanzierungsbeitrag für die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte) 7,048 Milliarden Mark ausgegeben wurden, lagen die Militärausgaben in der BRD im gleichen Jahr nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts von 1990 bei 35 Milliarden. Für welches "Machtinstrument" hier nahezu fünfmal so viel ausgegeben wurde, liegt wohl klar auf der Hand. Trotzdem blieben differenzierte Einschätzungen auf der Strecke, insbesondere, wenn Akten der berüchtigten Gauck-Birthler-Behörde als Quelle für historisch fragwürdige Urteile herangezogen wurden. Geradezu grotesk erscheinen dann auf diesem Hintergrund die Formulierungen auf den Entlassungsurkunden vom 30. September 1990, in denen uns, den "Angehörigen eines Unrechtsregimes", bescheinigt wurde: "Für 40 Jahre treue Dienste. In Würdigung langjähriger gewissenhafter Pflichterfüllung spreche ich (hier stand der Name des jeweiligen Offiziers) meinen Dank aus. Rainer Eppelmann, Minister für Nationale Verteidigung."

Nur wenige Wochen zuvor hatte Staatssekretär Werner Ernst Ablaß das Hoheitsrecht für die NVA und ihre Führung durch einen Ost- Länderbeauftragten proklamiert, und Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek erklärte: "Darum darf es zwischen Elbe und Oder weder NATO-Truppen noch Bundeswehrsoldaten geben." Das wurde jedoch von der Hardthöhe nicht gewürdigt, geschweige aufgenommen. Die NVA wurde etappenweise aufgelöst. Alle höheren Offiziere erhielten mit der Einigung die blauen (Entlassungs-)Briefe. Von den 2110 Obersten bzw. Kapitänen, die es zum Zeitpunkt der Vereinigung gab, waren Mitte 1991 gerade noch 28 angestellt. Von den 8180 Oberstleutnanten hatten im Juni 1991 noch 612 einen Vertrag. Etwa drei Viertel aller NVA-Offiziere quittierten bis Ende 1991 ihren Dienst nicht freiwillig. Zur Vorgeschichte dieser Maßnahmen gehört auch der Austritt der DDR aus dem Warschauer Vertrag am 28. September 1990 durch die Regierung de Maizière, die noch am 19. April 1990 in einer Regierungserklärung feierlich versprochen hatte: "Loyalität gegenüber der Warschauer-Vertragsunion ... werden wir in den Verhandlungen stets berücksichtigen."

Mit dem Übergang der Befehlsgewalt an den westdeutschen Bundesminister für Verteidigung wurden mit einem Schlag auch die antifaschistisch- demokratischen Traditionen der NVA ausgelöscht. 299 Einrichtungen und Kasernen, Schulen und andere militärische Objekte wurden solcher ehrenvoller Namen aus der Geschichte des antifaschistischen Widerstands beraubt wie zum Beispiel Rudolf Breitscheid, Bruno Leuschner, Ernst Thälmann, Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack. Nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht fielen den Siegern zum Opfer, sogar Clausewitz, Blücher, Arndt und Schill fanden keine Gnade. Erst recht durfte es kein Objekt mehr mit dem Namen des Spanienkämpfers Hans Beimler oder der revolutionären Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch geben.

Es wurden aber nicht nur Namen, sondern auch eine Vielzahl von NVA-Einrichtungen liquidiert. In Strausberg u. a. das Verpflegungslager in der Elisabethstraße, die Gästehäuser jenseits des Sees und in Wilkendorf die Militärhandelsorganisation, der Militärforstwirtschaftsbetrieb, das Organisations- und Rechenzentrum, die Druckerei, das Kultur- und Sportzentrum, die Poliklinik, das Wehrkreiskommando, die Unterkunftsabteilungen, das Wachregiment, die Wohnungsverwaltung und diverse kleine Instandsetzungs- und Versorgungsbasen im Standort Strausberg.

Der letzte Chef des Hauptstabes, Generalleutnant Manfred Grätz, begründete schon vor längerer Zeit, warum er die Bundeswehr nicht für eine Armee der Einheit halte: "Der Führungsbestand der NVA wurde entlassen. In höheren Führungsebenen der Bundeswehr ist die NVA nicht vertreten. Der Anteil der Berufssoldaten mit Dienstzeiten in der NVA ist auf ein überschaubares Minimum zurückgegangen. Der Status der ehemaligen Soldaten ist ungeklärt, die Führung der Dienstgrade mit dem Zusatz a. D. wird offiziell verwehrt, es gibt soziale Benachteiligungen in der Besoldung und eine verbliebene Strafrente. Und es gibt die Strafverfolgung gegen führende Militärs und Grenzsoldaten der DDR."

Die Nationale Volksarmee darf es sich zur Ehre anrechnen, daß sie zu den größten Errungenschaften der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung zählt. Aus den Jungarbeitern der fünfziger Jahre wurden Kommandeure von Kompanien, Bataillonen, Regimentern und Divisionen. Die sozialistische Gesellschaft bildete politisch denkende, hoch gebildete Militärs heran, von denen in den 80er Jahren mehr als 90 Prozent der Offiziere Hoch- und Fachschulausbildung und jeder vierte Offizier eine Akademie oder Universität absolviert hatten. Im Strausberger Ministerium für Nationale Verteidigung arbeiteten besonders qualifizierte Armeeangehörige und Zivilbeschäftigte. Dieses geistige Potential wurde faktisch mit dem Anschluß der DDR an die BRD ausgelöscht, denn die Parole von der Armee der Einheit ist nicht minder demagogisch wie das Gerede von der "Wiedervereinigung".

Es muß deshalb in Erinnerung bleiben, was der letzte Chef der NVA, Admiral Theodor Hoffmann, gesagt hat: "Wir haben keine Kriegshetze betrieben, keinen Aggressionskrieg geplant, sondern unseren Dienst unter großen Belastungen zum Schutze des Friedens auf dem Boden der Verfassung und Gesetze der DDR geleistet."

Heinz Pocher
Strausberg

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DDR: 40 Jahre Friedensstaat

Militärische Gegenmacht

Am 9. November 2014 waren die deutschen Großmedien und die etablierten Parteien der alten Bundesrepublik vollauf damit beschäftigt, das, was sie "Mauerfall" nennen, was aber eine Grenzöffnung war, zu feiern. An diesem 25. Jahrestag stellten junge Leute auf dem Berliner Alexanderplatz ein Transparent auf, das fast über den halben Platz reichte. Auf ihm war zu lesen: "Diese Grenze wurde aufgehoben, damit wir gemeinsam wieder in den Krieg ziehen." Die Initiatoren fanden Vergnügen an der Aktion, gründeten den Verein "Unentdecktes Land" und stellten das Transparent am 3. Oktober 2015 und am 13. August 2016 erneut in Berlin auf.

Knapper als in diesem Satz läßt sich kaum zusammenfassen, was die DDR in der deutschen Geschichte bedeutete. Ich halte seine Propagierung für eine der besten Aktionen für Frieden in den vergangenen Jahren. Er gibt eine konkrete Erfahrung wieder: Ein sozialistischer Staat benötigt keinen Krieg, ist aber vom ersten Tag seiner Existenz an dazu gezwungen, sich bewaffnet zu verteidigen, Grenzen zu ziehen. Eine kapitalistische Umgebung bedeutet Konterrevolution und Krieg.

Das war die Erfahrung der Sowjetunion. Armeegeneral Heinz Keßler (1920-2017), von 1985 bis 1989 DDR-Verteidigungsminister, erinnerte 2016 daran, daß diese Lehre schon vor dem Sieg über den Faschismus für ein künftiges Deutschland gezogen wurde: "In meiner Diskussionsrede auf der Gründungskonferenz des Nationalkomitees 'Freies Deutschland' (NKFD) in Krasnogorsk am 12./13. Juli 1943 habe ich leidenschaftlich vor allem im Interesse der deutschen Jugend appelliert: 'Wir wollen ein Deutschland, wo die Voraussetzung geschaffen ist, daß es nie wieder einen solchen Krieg gibt.'"

Dieses Zitat stammt aus einer Broschüre mit dem Titel "Soldaten für den Frieden", die mich ähnlich wie "Unentdecktes Land" beeindruckt hat. Das Heft wurde 2017 von der "Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V." (ISOR) und dem "Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR" herausgegeben. Es enthält den titelgebenden Appell führender DDR-Militärs und lesenswerte Beiträge, in denen sie begründen, was sie zu dessen Unterzeichnung bewogen hat. In dem 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zuerst veröffentlichten Appell heißt es, daß "das Kriegsgeschehen wiederum Europa erreicht hat".

Die Strategie der USA ziele offensichtlich darauf ab, "Rußland als Konkurrenten auszuschalten und die Europäische Union zu schwächen". Die NATO sei immer näher an die Grenzen Russlands herangerückt und mit dem "Versuch, die Ukraine in die EU und in die NATO aufzunehmen, sollte der Cordon sanitaire von den baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer geschlossen werden, um Rußland vom restlichen Europa zu isolieren". Zusammenfassend heißt es: "Die forcierte Militarisierung Osteuropas ist kein Spiel mit dem Feuer - es ist ein Spiel mit dem Krieg!" Gewarnt wird, hier beginne bereits "ein Verbrechen an der Menschheit". Es ist kein Zufall, daß dies von DDR-Militärs ausgeht. Das Wissen um die Folgen eines Krieges im dichtbesiedelten Europa hat mit zur Gründung der DDR beigetragen und ihre Militärpolitik geprägt.

Es war das Wissen nicht nur von Kommunisten, sondern auch von bürgerlichen Politikern und von ehemaligen Wehrmachtsmilitärs, die über das NKFD an die Seite der KPD und der SED gelangten. Keßler beschrieb die Lage nach 1945 in Europa so: "Der Pulverdampf war noch nicht verzogen, da begann man im Westen des Landes im engen Zusammenwirken mit den USA mit der Wiederaufrüstung der BRD. Das konnten und durften wir nicht ohne entsprechende Gegenmaßnahmen zulassen."

Vor allem aber: Immer wieder drängten politische und militärische Führung der BRD darauf, den kalten Krieg in einen heißen umschlagen zu lassen. Hier sei ein Beispiel aus dem August 1960 angeführt. Damals war ein Papier bekanntgeworden, in dem Generale der Bundeswehr deren Atombewaffnung forderten. Inhalt und Ton führten zu heftigen Reaktionen auch im westlichen Ausland. Im Text hieß es: "Der Bolschewismus respektiert nur die Macht, sonst nichts (...).

Die Bundeswehr kann weder auf die allgemeine Wehrpflicht noch auf die Zugehörigkeit zur NATO, noch auf eine atomare Bewaffnung verzichten. Wenn die Bundeswehr diese militärischen Forderungen stellt, greift sie nicht in die Parteipolitik ein (...). Es ist aber Aufgabe der Bundeswehr, der politischen Führung rechtzeitig und klar zu sagen, welche Mittel sie zur Erfüllung ihres Auftrages braucht und was sie mit den ihr bewilligten Mitteln leisten kann."

Diese Strategen waren unbelehrbar, wie ich 1967 als Angehöriger der Bundeswehr selbst erfahren konnte, und ihre heutigen Nachfolger, die zum Beispiel öffentlich von einem neuen Krieg wie im Kosovo träumen, sind es auch.

Sie respektieren nur militärische Gegenmacht. Die fehlt in der Mitte Europas seit 1990. Wenn heute die Aktivisten von "Unentdecktes Land" oder erfahrene Militärs ihre Stimme gegen Krieg und Kriegsvorbereitung erheben, dann hat das zwingend mit dem DDR-Erbe zu tun. Seine Pflege und Verbreitung ist aus meiner Sicht für die deutsche Friedensbewegung insgesamt enorm wichtig.

Arnold Schölzel

Arnold Schölzel (Jahrgang 1947) desertierte 1967 aus der Bundeswehr, um dem Wehrdienst zu entgehen, und siedelte in die DDR über. Er arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter, studierte Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 1982. Schölzel war von 2000 bis Ende Juli 2016 Chefredakteur und bis Ende März 2019 stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung "junge Welt". Er ist seit Juni 2016 Mitglied der "RotFuchs"-Redaktion und seit dem 1. April 2019 verantwortlicher Redakteur des RF.

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Genauso hat es damals angefangen!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Das Gedicht wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Schmuddelwetter in St. Ansgar

Es war außerhalb der Saison. Kein Pilgerzug, keine Pilger, keine Fahnen, keine Chöre - nur der alltägliche Nahschnellverkehr mit Pendlern aus Freising und Umgebung und im Nebenabteil ein Transistorgerät: das "Naabtal-Duo" mit - Zufall oder sinnreiche Fügung - "Patrona Bavariae". Der Gnadenort in der frühen Dunkelheit eines verregneten Samstags im Oktober.

Vor dem Bahnhof fegte böiger Wind um die Ecken, knickte Schirme und wollte mit meinem Hut davon. Beim Fahrradstand, im Licht einer Laterne, wartete ein Taxi. "Zum Kloster", sagte ich.

Ungereut, der Leiter des örtlichen Kulturvereins, hatte es, wie er sagte, gut mit mir gemeint und mich unter Ausnutzung persönlicher Beziehungen im Kloster untergebracht. Dort würde ich in der Bischofssuite nächtigen. Kleine Schwierigkeit: Die Auffahrt zum Kloster war gesperrt. "Wasserrohrbruch", sagte der Taxifahrer. "Ich kann Sie nur bis zur Treppe fahren." Gemeint war die Treppe, die hinaufführt zur Gnadenkapelle. "Fahren wir!" sagte ich.

Am Fuß der Treppe wieder eine Laterne. Eine weitere oben am Berg im Regennebel. Moosglatte Stufen, Sandstein, gehöhlt, zu beiden Seiten ein Geländer mit eisernem Handlauf, kalte Nässe, einmal ein glibbriges Geschmier wie von einer Schnecke.

Seitlich der Kapelle auf dem Plateau das Kloster, nach dem der Ort seinen Namen hat. Als ich ins Haus trat, hob gerade eine Glocke an. Viertel vor sechs. Hinter einem Schalterfenster saß ein junger Mann in Kutte, mit bleichem Gesicht und bierdeckelgroßer Tonsur. Er gab mir den Zimmerschlüssel, auch den Hausschlüssel - falls ich noch einmal ausgehen wolle -, und zeigte in eine Richtung. "Die erste Tür links, gleich vor der Hauskapelle", sagte er. "Um sechs beginnt die Vesper."

Die Suite war komfortabel. Ein Wohn- und Arbeitsraum, ein kleinerer Schlafraum, dahinter das Bad. Im Wohnraum Teppiche, Couch, Schreibtisch und Fernsehgerät, dazu eine große Reproduktion des Isenheimer Altars über einer Vitrine mit Büchern. Am Fußende der Couch wie in besseren Hotels ein Kühlschrank mit Getränken. Diverse Weine, ich nahm eine Flasche heraus, auf dem Etikett stand: "Lacrimae Christi" (Tränen Christi). Vermutlich ganz nach des Bischofs Geschmack. Ich legte die Flasche zurück, dachte an das Wort "Vesper" und überlegte, ob ich zum Essen hinunter in den Ort gehen sollte.

Als ich durch die Eingangshalle ging, öffnete sich das Schalterfenster, und der Bruder Pförtner rief mir nach: "Gleich beginnt die Vesper!"

Draußen pfiff der Wind. Der Regen fiel schräg, und mehrmals streikte mein Schirm. Mir fiel ein, daß ich noch Butterbrote in meiner Aktentasche hatte. Das würde mir den Weg in die Stadt ersparen. Aber ein Weg ums Haus zur Erkundung der Örtlichkeit konnte nicht schaden. Im Westen war noch Licht hinter schwarzem Gewölk, ein Makadamweg mit spiegelnden Pfützen und glitschigem Laub führte im Schein von Laternen rings ums Karree der Klostergebäude, ein Seitenweg zweigte ab, dahin blies der Wind, und ich stand vor der Gnadenkapelle. Alle Gebäude in neugotischem Stil, roter und gelber Klinker, wie das Aloisiuskolleg in Bad Godesberg, wo ich in den sechziger Jahren meinen Vetter Albert besucht hatte, der später depressiv wurde. Die Gnadenkapelle war geschlossen. Vielleicht fürchtete man, daß jemand die Krücken stehlen könne. Gnadenkapellen sind stets voller Krücken: Krücken aller Art und allen Formats, vom hölzernen Oldtimer Marke Clochard bis zur modernen Gehhilfe aus Leichtmetall. Sie hängen von Decken und Wänden, stammen von wunderbar geheilten großen und kleinen Gläubigen beiderlei Geschlechts und bezeugen, daß Maria geholfen hat. In Kevelaer und Knechtsteden, Altötting und Lourdes, Fatima und Vierzehnheiligen hat Maria überaus segensreich gewirkt. In Auschwitz weniger. Eigentlich gar nicht. Mich fror.

An der Nordseite der Kapelle, in Höhe des Chors, war ein kleiner Anbau. Wahrscheinlich die Sakristei. In der Mauerecke, überdacht von einer mit Teerpappe gedeckten Schräge, spiegelte eine Art Schaufenster oder Schaukasten das Licht der nächststehenden Laterne. Ich trat hinzu und blickte in eine finstere Höhle.

Auf dem hölzernen Sims über der Scheibe im Superbreitwandformat stand, weiß auf schwarz: "Christi Leichnam im Grabe" und darunter, in kleinerer Schrift: "Grabbeleuchtung 50 Pfennige". Und ein weißer Pfeil zeigte auf einen Blechkasten, der wie ein Kondomautomat aussah und neben dem Grab Christi im Mauerwerk verankert war.

Da ich nicht genug Pfennige in meinem Portemonnaie hatte (ich neige dazu, Sprache beim Wort zu nehmen), versuchte ich's mit einem 50-Pfennig-Stück und hatte Erfolg. Im Innern des Automaten machte es klick, und allsogleich - o Wunder! - ward Licht, wie auf Gottes eigenes Geheiß, denn im Innern der Grabeshöhle flammten Glühbirnchen auf: ein rotes, ein grünes, ein blaues - ein viertes, vermutlich gelbes, blieb dunkel und war leider kaputt -, und, wahrlich, der Einblick in Christi Grab war "50 Pfennige" wert, denn wenn auch keine Musik ertönte, etwa ein Choral aus der Matthäuspassion, so bot es dem gierigen Blick des Betrachters doch Grauens genug: Christi Leichnam, aus Wachs oder Gips, lag hingestreckt da in anatomisch bedenklicher Haltung mit verdrehten, womöglich verrenkten Gliedern, grünlich-weißen, bleichen Gesichts, blutige Tropfen in klassischer Form: unten rund, oben spitz, sprenkelten gleichmäßig seine Stirn, seine Brust, sein Gebein, die Seitenwunde klaffte purpurn, und wo der geschundene Leib auf dem Fels auflag, dämmerte bläulicher Schatten, schien die Haut verfärbt, mochte man Spuren von Verwesung ahnen - oder nagte dort gar schon Gewürm? Gleichviel - mir kam bei, wie in meiner Kindheit, daß jede meiner läßlichen Sünden ein Stachel der Dornenkrone auf dem Haupt des lieben Heilands war und daß ich mit jeder schweren Sünde wie mit Hammerschlägen die Nägel, die seine Hände und Füße durchbohrten, tiefer und immer tiefer in die Balken seines Kreuzes trieb - da klickte es im Automatenkasten, die Lichter erloschen, und der Spuk war vorbei.

Auf dem Rückweg benutzte ich den Hausschlüssel, die Pforte war verwaist, aus der Hauskapelle tönte gregorianischer Gesang, und ich gelangte ungesehen in die Bischofssuite. Dort verzehrte ich, was übriggeblieben war von meinen Butterbroten, und trank den restlichen Tee aus meiner Thermoskanne. Der Wein im Kühlschrank mochte vom feinsten sein - hätte er nur nicht "Lacrimae Christi" geheißen! Der Geschmack an Christi Tränen war mir nicht gegeben. Der Gedanke, daß auf einer weiteren Flasche, einer Flasche Rotwein, womöglich "Sanguis Christi" (Blut Christi) und auf einer dritten gar "Sudor Christi" (Schweiß Christi) hätte stehen können (von weiteren Körperflüssigkeiten ganz zu schweigen), dieser Gedanke weckte Assoziationen an kannibalische Rituale - ich empfand Ekel und Ärger.

Um mich abzulenken, dachte ich an meinen morgigen Vortrag, die sonntägliche Matinee des städtischen Kulturvereins, die unter dem von mir vorgeschlagenen Titel stand: "Vom Glaubensgehorsam zur Glaubensfreiheit", und ich erinnerte mich daran, wie Ungereut am Telefon gesagt hatte: "Wir müssen uns öffnen!" In der Vitrine standen sämtliche gebundenen Jahrgänge der Zeitschrift "Praedica verbum" (aus dem Cassianeum, Donauwörth), von der Erstausgabe im Jahr 1896 bis zur Gegenwart, nicht gerade eine Rarität, wegen der hohen Auflage, aber von historischem Interesse. Ich schlug den Jahrgang von 1969 auf - das Jahr, in dem mein Vetter im Rhein ertrunken war - und las, der Zölibat der Priester diene deren "besserer Verfügbarkeit". Ich stieß auf Beiträge der Jesuitenpatres Alfonso und Clemente Pereira, die mein Vetter als seine geistlichen Lehrer bezeichnet hatte. In einem Artikel war von der Tugend des Gehorsams die Rede. Der Autor zitierte seinerseits "eine Autorität" (ich tippte auf Alfons von Liguori), und das Zitat schien mir so bemerkenswert, daß ich es mir aufschrieb: "Du bist sicher, daß du keinen Fehler begehst, solange du gehorchst. Denn Gott wird dich nur danach fragen, ob du pflichtgemäß die erhaltenen Befehle ausgeführt hast. Und wenn du in dieser Hinsicht klare Rechenschaft abgeben kannst, bist du völlig sündenlos. Ob die Dinge, die du tatest, rechtmäßig waren, oder ob es etwas gab, das besser nicht getan worden wäre, das sind Fragen, die dir nicht gestellt werden, sondern eher deinen Vorgesetzten. In dem Augenblick, wo du etwas gehorsam getan hast, streicht Gott es von deiner Rechnung und setzt es auf die des Vorgesetzten, so daß der heilige Hieronymus beim Preisen der Vorzüge des Gehorsams mit Recht ausruft: 'O unumstrittene Freiheit! O heilige und gesegnete Sicherheit, durch die man der Sünde nahezu unfähig wird!'"

Kein Zweifel, Hieronymus, als er dies schrieb, war vom Geist Adolf Eichmanns beseelt.

Jetzt, da ich dies erneut lese und abschreibe, fällt mir ein: In der Schweiz ist die Delegierung personaler Verantwortung gesetzlich verboten. Dort hat man's begriffen. - Aber wer lehrt die Kirche? Und was lehrt sie selbst? Ist ihre Ideologie, anders als ein harmloses Märchen, ein systematisierter kollektiver Wahn? Welcher scheinheilige Geist hat die Vordenker der Päpste mit Blindheit geschlagen? Ist diese oder jene ihrer verheerenden Äußerungen wirklich nicht mehr als ein Lapsus linguae oder, wie es oft heißt, "ein zeitbedingter bedauerlicher Irrtum"?

Ach, nein! Ach, nein! Noch klingt's mir im Ohr, daß der verstorbene Papst gesagt haben soll: "Ich schenke euch mein Leiden" - welch köstliche Gabe für Sadisten! Da höre ich den neuen, Benedikt den Unbelehrbaren, sagen, die Inquisition habe allererst für "eine klare Prozeßordnung" gesorgt. Carlo Caffara - in Bekräftigung des päpstlichen Verbots des Kondomgebrauchs zum Schutz vor Aids - erklärte, das Sakrament der Ehe sei dem Gut des Lebens vorzuziehen, und ein anderer Kirchenmann, diesmal ein Protestant, nämlich Landesbischof Martin Kruse, sagte wörtlich: "Es geschieht nichts auf Erden, das Gott nicht will!"

Woher all diese psychischen, moralischen und intellektuellen Verdrehtheiten! Immer sagt Theologie, was sie nicht meint, und meint sie, was sie nicht sagt, immer ist das, was die Vernunft beleidigt, entweder ein "Mißverständnis" oder ein "Mysterium" - so türmen die Erleuchteten Narrheit auf Narrheit und werden bejubelt wie der nackte Kaiser in Andersens Märchen. (Man möchte lachen und muß doch schreien vor Schmerz.)

Ich saß in der Bischofssuite in St. Ansgar, las vom Kirchenlehrer Hieronymus und dachte: O heilige Einfalt!

Dann klingelte mein Handy. Ungereut vom Kulturverein. Die Veranstaltung sei gefährdet. Frau Huber-Conrady, die Leiterin der Stadtbücherei, habe Anstoß genommen und sich hinter den Pfarrer geklemmt. In Glaubensfragen könne es keine Emanzipation geben. Herr Hornung, der Redakteur der Lokalausgabe vom "Tag-Blatt", habe bei ihm angerufen und gesagt, die Ankündigung im Veranstaltungskalender sei versehentlich unterblieben, da könne man jetzt nichts mehr machen. Und, so Ungereut, bei weniger als sieben Besuchern müsse die Veranstaltung ausfallen. Ich möge auf jeden Fall am Vormittag um zehn Uhr am Fuß der Treppe - ja, ja, unter der Gnadenkapelle - auf ihn warten. Er werde kurz nach zehn da sein und mich dann entweder zum Veranstaltungsort oder gleich zum Bahnhof fahren. St. Ansgar sei halt nicht München. Mit Carl Amery habe er vor Jahren Ähnliches erlebt. Bis morgen dann, und übers Ausfallhonorar lasse sich reden.

Ich saß in der Bischofssuite und sah die "Tagesthemen".

Einmal hörte ich Schritte auf dem Flur. Jemand blieb vor der Bischofssuite stehen und schob unter der Tür ein Blatt Papier ins Zimmer. Ich hob es auf und las: "8 Uhr Frühmesse. Wenn Sie kommunizieren wollen, können Sie auch nach 9 noch frühstücken. Frühstück im Vorraum des Refektoriums. Südflügel."

Die Nacht verging, das Frühstück wurde mir auf einem Tablett durch ein Schiebefenster aus dem Refektorium in den Vorraum gereicht, pünktlich um zehn stand ich am Fuß der Treppe. Ungereut klingelte mich an und sagte, er fahre jetzt los. Kein einziger Besucher. Er werde mich gleich zum Bahnhof bringen.

Ich hatte meine Aktentasche auf der untersten Treppenstufe abgestellt, ging am Fuß der Treppe auf und ab und suchte mich gegen den Regen zu schirmen. An der rechten Treppenwange, unter Efeuranken, an denen der Wind zerrte, glaubte ich ein weißes Emailschild mit einer Aufschrift zu erkennen. Ich bog die Ranken beiseite und las, was da stand:

Die Stufen dürfen
nur kniend
hinaufgerutscht werden!

Theodor Weißenborn

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BUCHTIPS

Theodor Weißenborn: Querschüsse
Gedanken und Memoiren eines Ketzers

Dieses Buch verdankt sein Entstehen der lebenslangen kritischen Auseinandersetzung des Autors mit wissenschaftlichen, politischen und kirchlichen Autoritäten.

Weißenborn macht mobil gegen Bevormundung, Machtanmaßung und Unterdrückung, räumt auf mit religiösen Mythen, Dogmatismus und Denkfaulheit, weckt kritische Rationalität und sucht im Geist humanistischer Aufklärung an der Änderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse mitzuwirken. Seine Texte enthalten keine Heilslehre und sind keine "Ratgeber für alle Lebenslagen". Aber sie markieren Schritte auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben, motivieren zum Kirchenaustritt und tragen bei zur Solidarisierung aller Freundinnen und Freunde des freien Denkens und humanistischen Wirkens.

Diese "Querschüsse" sind Lehr- und Lernmittel für Gruppenarbeit und emanzipatorischen Schulunterricht. Sie sind - im Sinne Günter Eichs - "Sand im Getriebe der Welt" und dringend geboten gerade da, wo sie unerwünscht sind.

Theodor Weißenborn wurde 1933 in Düsseldorf geboren. Freier Autor, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Studium der Kunstpädagogik, Philosophie, Germanistik und Romanistik sowie der medizinischen Psychologie in Düsseldorf, Köln, Bonn, Würzburg und Lausanne. 1956 Examen du Degré Supérieur de Français Moderne.

Publikationen von Romanen, Erzählungen, Hörspielen, Essays und Lyrik im In- und Ausland. Übersetzungen in 26 Sprachen. "RotFuchs"-Autor seit 2016.

dgvt-Verlag, Tübingen 2019, 256 S., 19,80 €



Wolfgang Benz: Alltagsrassismus
Feindschaft gegen "Fremde" und "Andere"

Der Zeithistoriker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz erklärt Phänomene des Alltagsrassismus. Dank des lexikalischen Aufbaus des Bandes ist ein kurzer Überblick zu einem konkreten Stichwort leicht gefunden und ein Themengebiet schnell erschlossen. Der Autor liefert fundiertes Überblickswissen in gut verständlicher Sprache. Neben der fachlichen und historischen Einordnung finden sich Kapitel zu Rassismus als Ideologie, Theorie und Praxis des Rassismus, Parolen und Propaganda, Aktionsfeldern, Akteuren, Orten und Ereignissen sowie zu Gruppen und deren Abwertung. Im Schlußkapitel "Strukturen und Formen rassistischer Gewalt" beschreibt der Autor konkrete Ereignisse der vergangenen Jahre, darunter "Applaus für Fremdenfeinde: Hoyerswerda 1991", "Brandstiftung und Mord: Mölln 1992", "Mord aus Rassenhaß: Solingen 1993", "Angriff auf den Rechtsstaat: Heidenau 2015" und "Fremdenfeinde im Schulterschluß: Chemnitz 2018".

In seiner Einleitung schreibt Benz: "Notwendig ist vor allem die Vermittlung der Einsicht, daß es sich beim Antisemitismus wie bei anderen Vorurteilen nicht um den Reflex der Mehrheit auf Charaktereigenschaften, Bestrebungen, Handlungen der jeweiligen Minderheit handelt, sondern um die Konstruktion eines Feindbildes, das mit der Realität wenig oder nichts zu tun hat."

Wochenschau-Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 224 S., 14,90 €


Alexander Häusler (Hg.): Völkisch-autoritärer Populismus
Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD

Die AfD erreicht mit sozialpopulistischen und rassistischen Parolen zunehmend prekarisierte Milieus und bindet auch enttäuschte Nichtwähler und ehemalige Wähler der Linkspartei und der SPD an sich. Sie betreibt einen rechten Kulturkampf, der einhergeht mit einer Normalisierung von völkisch-nationalistischem Gedankengut. Sie ist dabei in erster Linie bloßer Profiteur der Krise politischer Repräsentation. Das rechte Vergemeinschaftungsangebot ist deshalb wirkungsvoll, weil es Halt, Zugehörigkeit und emotionale Auffangbecken für angestaute Wut über unverstandene abstrakte Herrschafts- und Konkurrenzverhältnisse vermittelt.

Deshalb reicht es auch nicht aus, sich mit moralischen Gegenargumenten an den AfD-Provokationen abzuarbeiten. Vielmehr muß die rechtspopulistische Diskursstrategie durchkreuzt und es müssen politische Alternativen zur rechten Politik des Ressentiments entwickelt werden.

Die Autorinnen und Autoren nehmen die ideologischen Grundlagen des Rechtspopulismus in den Blick, analysieren Wählerpotentiale und gehen Vorbildern und Kooperationspartnern der AfD sowie deren rechtspopulistischem Mediennetzwerk nach.

VSA-Verlag, Hamburg 2018, 160 S., 14,80 €


Hajo Funke / Christiane Mudra: Gäriger Haufen
Die AfD: Ressentiments, Regimewechsel und völkische Radikale.
Handreichung zum demokratischen Widerstand

Die Bundestagswahl 2017 war ein Einschnitt. Die rechtsradikal geführte AfD zog mit einem Stimmenanteil von 12,6 % in den Bundestag ein. Funke und Mudra analysieren den Rechtsruck der Partei, in welcher der Flügel um Björn Höcke mehr und mehr völkisch-nationale und rassistische Botschaften starkmachen kann. Sie stellen ihre wichtigsten Kennzeichen vor: Die modernen Rechten wollen eine andere Republik, greifen zentrale Positionen des Grundgesetzes an und verfolgen eine Politik ethnischer "Reinheit" sowie der Abwertung von Flüchtlingen, Migranten, Muslimen und Deutsch-Türken.

Die Verbindung tiefer sozialer und kultureller Unzufriedenheit mit der Entfesselung von Aggressionen gegen Minderheiten hat der AfD mehr Wähler gebracht, als viele gedacht hatten. Diese sind auf dem Weg von Enttäuschung zu fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Überzeugung.

Die Ideologen der modernen Rechten - vom Parteiphilosophen über Zeitschriftenmacher bis hin zu den extremen Vertretern mit Kaderanspruch - arbeiten auch an einer alltagsästhetischen Modernisierung, ohne am Ziel der nationalen Revolution Abstriche zu machen. Die größte Gefahr sehen die Autorinnen und Autoren darin, daß die Ideologen selbst sich als gewaltfrei beschreiben, aber im Unterbau der Ideologie wie der organisierten Bewegungskräfte sich die Ausrichtung auf Gewalt massiv beschleunigt hat.

VSA-Verlag, Hamburg 2018, 132 S., 10,80 €


Hannes Heer / Christian Streit: Vernichtungskrieg im Osten
Judenmord, Kriegsgefangene und Hungerpolitik

Die deutsche Erinnerungskultur verläuft immer noch asymmetrisch: Sie konzentriert sich ganz auf den Holocaust und blendet dabei die Opfer des zweiten deutschen Völkermordes - den an den "slawischen Untermenschen", wie Adolf Hitler sie nannte, fast vollständig aus. Diesem Genozid fielen ca. 30 Millionen Menschen in der Sowjetunion, sechs Millionen Polen, zwei Millionen Jugoslawen und 350.000 Tschechoslowaken zum Opfer. Davon waren ca. 5 Millionen Juden. Rechnet man die in allen diesen Ländern ermordeten 500.000 Sinti und Roma hinzu, kommt man auf ca. 40 Millionen schuldlos Getöteter.

Während der Großteil der Juden von einer halben Million Angehöriger von SS, Polizei und lokaler Kollaborateure ermordet wurde, war für den Tod der übrigen Opfer die Wehrmacht mit ihren 19 Millionen Soldaten verantwortlich.

10 Millionen davon versahen ihren Dienst in der Sowjetunion. Die Opfer dieses Einsatzes: Mehr als 11 Millionen tote Rotarmisten, darunter 3,3 Millionen Kriegsgefangene und mindestens 17 Millionen Zivilisten. Davon wurden 2 bis 3 Millionen ermordet, weil sie Juden waren, die übrigen starben bei Vergeltungsaktionen oder im Rahmen des Partisanenkrieges, durch Zwangsarbeit in der Heimat oder in Deutschland und vor allem durch die erbarmungslose Hungerpolitik der Besatzer, wie die Beispiele Minsk, Charkow und besonders Leningrad mit mindestens einer Million Toten zeigen.

VSA-Verlag, Hamburg 2019, 208 S., 19,80 €

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Mit einem "Friedensbuch" auf Rußlandreise

Alles richtig gemacht, dachten wir, als in der Wochenzeitung "Neue Umgebung" der Stadt Obninsk (rd. 100 km südlich von Moskau) am 3. Juli ein Artikel unter der Überschrift "Ein Buch dient dem Frieden" erschien. Da waren wir schon wieder zu Hause in Greifswald und begannen, unsere Reiseerlebnisse aufs Papier zu bringen.

Der Atomingenieur Peter Kroll (81) hatte ein Buch mit dem Titel "Kunst und Kernenergie. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Kernenergie" verfaßt (siehe RF 261, S. 25). 16 Jahre hatte er daran gearbeitet. Fast ein Lebenswerk! Als ich es in die Hand bekam, war mir schnell klar: Mit dem Buch müssen wir nach Rußland.

Im Juni startete unsere Reise nach Moskau und Obninsk. Im Moskauer Energetischen Institut, wo ich von 1971 bis 1977 studiert hatte, fanden wir bei der Vorstellung des Buches aufmerksame Zuhörer. Unsere Absicht, damit auch an die wissenschaftliche und technische Unterstützung der DDR-Atomwirtschaft durch die Sowjetunion zu erinnern und dafür unseren Dank auszusprechen, wurde erkannt und honoriert. Der Rundgang durch die Räume und Laboratorien des Lehrstuhls für Kernkraftwerke, Gespräche mit Dozenten, der Empfang durch den Lehrstuhlleiter sowie ein Kontakt zum Lehrstuhl für Philosophie waren der Lohn für unsere Mühe.

Auf den Spuren von Kultur, Wissenschaft und Geschichte besuchten wir viele Orte in und um Moskau, z. B. den kultur- und geschichtsträchtigen Arbat und die Gedenkstätte Gorki Leninskije, aber auch die zu neuem, glanzvollem Leben erweckte 80jährige WDNCh (ehemals Allunionsausstellung), wo wir im Pavillon des Polytechnischen Museums auf das Thema Nukleartechnologie stießen.

In Obninsk - die Stadt mit rund 100.000 Einwohnern - trägt den Titel "Erster Wissenschaftsstandort Rußlands" konnten wir an den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Inbetriebnahme des ersten "friedlichen" Atomreaktors der Welt teilnehmen. Wir erlebten einen Festakt im Haus der Wissenschaftler, wo Vertreter von Weltorganisationen (z.B. der IAEO mit Sitz in Wien), russischen Regierungsorganisationen (z.B. ROSATOM, Russische Nukleare Gesellschaft), Konzernen (z.B. Rosenergoatom) und Universitäten aufeinandertrafen. Wir nahmen an wissenschaftlichen Veranstaltungen und einem unvergeßlichen Kulturabend teil. Stets waren wir gut betreut von Mitarbeitern der Stadtverwaltung und des Städtischen Museums. Ein weiterer Höhepunkt war ein Besuch im historischen Kernkraftwerk (in Betrieb von 1954 bis 2002) und im Wohnhaus des Kernphysikers Igor Wassiljewitsch Kurtschatow.

Zwei Exemplare des o.g. Buches befinden sich nun in Rußland - eins am Moskauer Energetischen Institut und eins im Obninsker Stadtmuseum. Peter wurde um weitere Exemplare gebeten. Eins davon soll an das Museum des Moskauer Kurtschatow-Instituts gehen.

Man rechnete es uns hoch an, daß wir bei der Buchübergabe auf zwei Gedanken Präsident Putins in seiner Rede an die Förderationsversammlung vom Februar zu sprechen kamen. Er sagte sinngemäß, daß die Kraft Rußlands auf jahrhundertealten kulturellen Traditionen basiert. Und er führte aus, daß die Festigung des gegenseitigen Vertrauens ebenso zu den Prioritäten der russischen Außenpolitik gehört wie der Ausbau der Zusammenarbeit in der Wirtschaft, dem Handel, der Bildung, der Wissenschaft und der Technologie. Es gelte, Barrieren abzubauen, die den Umgang der Menschen miteinander behindern.

Zum Ende unserer Reise kamen wir auf das Thema Städtepartnerschaft zu sprechen. Da in Obninsk ein Weltmuseum der Atomenergetik im Entstehen ist, bietet sich da nicht eine Partnerschaft mit der Wissenschaftsstadt Greifswald oder mit Rheinsberg (hier wurden im vergangenen Jahr Ideen zu einem Kernenergie-Museum vorgestellt) an? Das wäre ein Beitrag zur deutsch-russischen Verständigung und Zusammenarbeit und damit für den Frieden!

Uwe Durak
Greifswald

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Kein Netz, nirgends ...

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Das Gedicht wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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LESERBRIEFE

Herzlichen Dank für den Beitrag von Arnold Schölzel "Der schwarze Kanal" im November-"RotFuchs".
Ich bin in der BRD aufgewachsen, dennoch auch mit dem "Schwarzen Kanal" und dem DDR-Sandmännchen. Mein Vater war ein Freund der DDR und der Sowjetunion.
Ich sah mir mit ihm die Schnitzler-Kommentare und er sich mit mir den täglichen Abendgruß an. Das schuf ein Gefühl der Vertrautheit zwischen uns, an das ich mich noch heute erinnere.
Selbstverständlich verstand ich nicht so ganz, um was es bei Karl-Eduard ging. Aber mein Vater konnte mir klarmachen, daß der Kapitalismus nicht zu reformieren ist, sondern überwunden werden muß. Für mich sind deutsche Enge und deutscher Mief unter der Diktatur des Kapitals fast nicht mehr auszuhalten. Zum Glück gibt es Gleichgesinnte mit festem Klassenstandpunkt. Für den Kontakt unter uns sei auch dem "RotFuchs" gedankt!

Norbert Kornau, Hannover


Landauf, landab schien es im Herbst 2019 nur noch ein Thema zu geben: der Fall der Mauer. Dieses Ereignis wird "friedliche Revolution" genannt. Daß es sich dabei um eine klassische Konterrevolution handelte, wird natürlich nicht erwähnt.
Mein Fazit nach dreißig Jahren sogenannter Wiedervereinigung: Vom ersten Tag an wurde die DDR (heute "die neuen Bundesländer") von den westdeutschen Akteuren als eine Art Kolonie angesehen. Man holte raus, was rauszuholen war. Anschließend wurde erklärt, die Wirtschaft der DDR sei marode und somit nicht wettbewerbsfähig gewesen. Diese unwahre Aussage wurde inzwischen mehrfach widerlegt, ist aber heute noch gängiger Slogan, denn renommierte DDR-Betriebe durften keine Chance haben. Eigentlich sollte es ja die sogenannte Treuhand richten. Deren unrühmliche Rolle ist allseits bekannt. Es wird schon seinen Grund haben, warum die Akten der Treuhand noch über Jahrzehnte unter Verschluß bleiben sollen.
Mit Hilfe der Treuhand und politischer Unterstützung, damals noch aus Bonn, hat sich die westdeutsche Industrielobby ernsthafte Konkurrenten aus der DDR vom Hals geschafft. Nur zwei Beispiele: VEB Elektroprojekt- und Anlagenbau aus Berlin, ein international agierender Betrieb, wurde plattgemacht. Am bekanntesten ist wohl die Beseitigung des Kalibergbaus in Bischofferode zugunsten von K+S aus dem Westen. Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden.
Nun stellt man fest, daß die "neuen Bundesländer" den Bevölkerungsstand von 1905 erreicht haben. Ursachenforschung wird nicht betrieben. Dabei ist die Erklärung doch simpel. Junge, gut ausgebildete Fachleute verließen ihre Heimat, weil sie in den Industriebrachen keine Perspektive sahen. Der Osten wird bewußt und gewollt vom Rest der BRD abgehängt. Davon zeugen niedrigere Löhne bei höherer Arbeitszeit, geringere Renten und vieles andere mehr.
Trotz vollmundiger Versprechungen vor jeder Wahl hat sich in den vergangenen 30 Jahren nichts geändert. Wie namhafte westliche Politiker die Entwicklung im Osten sehen, erklärte kürzlich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Auf seiner Landkarte der innovativen Bedeutungslosigkeit verortete er Mecklenburg-Vorpommern. Er hätte auch Uckermark oder Sachsen-Anhalt sagen können. Er meinte: "Wir konkurrieren ja nicht mit Mecklenburg-Vorpommern, sondern mit Silicon Valley."
Wie die letzten Landtagswahlen in den neuen Bundesländern zeigen, wählen die undankbaren Ostdeutschen auch noch falsch. Die einen Die Linke und viele andere die AfD. Die sogenannten Volksparteien CDU und SPD kommen immerhin noch vor. Die westdeutschen Parteien CDU/CSU, SPD und zum Teil auch FDP haben hier schnell eine Erklärung für die Erfolge der AfD parat. Die Altlasten, sprich die Bürger der ehemaligen DDR, können Demokratie nicht. Das ist richtig, denn eine vom Kapital gesteuerte "Demokratie" gab es in der DDR nicht. Hier konnte der Bürger zum Beispiel durch eine Volksbefragung über die Verfassung der DDR mitbestimmen. Über das heute geltende antiquierte Grundgesetz - eine Verfassung gibt es nicht - durften weder die Bürger der BRD noch die Bürger der "neuen Bundesländer" abstimmen. Wo ist da Demokratie?

Wilfried Steinfath, Berlin


Über Wochen Mauerfall-Jubel in Endlosschleife im Herbst vergangenen Jahres. Neben allem Leiden, Verzicht, Eingesperrt-Sein, verfolgt und überwacht gewesen zu sein, dazu das marode, pleite gegangene und rückständige Land - wie konnten die Bürger im Osten das nur ertragen? Diese Frage muß doch unweigerlich auftauchen.
Herzzerreißend war, wie eine Ehemalige sich vor der Kamera an das Erlebnis erinnerte, als sie drei Bananen auf einmal essen durfte. Inzwischen sind die Probleme ganz andere geworden, die so herzzerreißend für die Medien wohl nicht mehr sind. Dabei gäbe es höchst interessante, alles andere als marode und rückständige Dinge an dieser DDR zu finden. Sogar Nachhaltiges, Ökologisches, Klima- und Naturschützendes mit besten Gebrauchseigenschaften und ressourcenschonend noch dazu.
Heute heißt ein Zauberwort "geplante Obsoleszenz". Das bedeutet, technische Konsumgüter haben einem "planmäßigen" Verschleiß zu unterliegen. Sie müssen die Nachfrage sichern und damit die Profitrentabilität, Wachstum ohne Ende. Kundenzufriedenheit, sparsamer, sinnvoller Umgang mit Gebrauchsgegenständen ist kein vordergründiges Ziel einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Wegwerfgesellschaft, den Begriff hören wir oft. Diese Gesellschaft sorgt eben u. a. dafür, daß alles überfüllt, in allen Farben und Ausführungen, in der unsinnigsten Vielfalt in den Regalen gesucht werden darf und zu bewundern ist.
Meine heute noch funktionsfähige DDR-Kaffeemühle von AKA-Elektrik will einfach ihren Geist nicht aufgeben. Technisch ist sie auf nicht schlechterem Niveau als heutige zeitlich begrenzt gebrauchsfähige Mühlen. DDR-Produkte waren Erzeugnisse einer Wirtschaft mit dem Anspruch zu ökologischem, umwelt- und naturschonendem Produzieren.

Roland Winkler, Aue


Frustriert blättere ich in meinen Aufzeichnungen und finde, was sich am 9. November 2011 im Volkslied aus dem 19. Jahrhundert, das der Ernst-Busch-Chor sang, veränderte:

"Wir sind durch Deutschland gefahren,
vom Meer bis zum Alpenschnee,
wir haben noch Wind in den Haaren,
den Wind von Bergen und Seen."

Wir sind von Osten gekommen,
Ei und Appel für unser Land,
Fell samt Ohren wurde genommen,
Hoffnung gesetzt in den Sand.

"Blühende Landschaften" - Phrase,
gelogen war das vor der Welt.
Schillernde Seifenblase
Freiheit? Ach, Begrüßungsgeld!

Wir kriegten viel Brüder und Schwestern
und sie eine Kolonie,
erklärten uns für von gestern
und längst nicht so schlau wie sie.

Wir haben schon Zukunft erfahren,
hat noch nicht so ganz funktioniert.
Wir haben noch Wind in den Haaren,
Kapital wird demnächst antiquiert.

Edda Winkel, Hönow


Am 1.12.2019 jährt sich zum dreißigsten Mal jener Tag, an dem die Volkskammer der DDR beschloß, die Worte "unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" ersatzlos aus der Verfassung zu streichen.
Der damalige Ministerpräsident, Hans Modrow, schreibt in seinem Buch "Aufbruch und Ende" (Konkret-Verlag, Hamburg 1991) folgendes: "Bald nach der Bildung der Regierung der Großen Koalition war mir klar, daß die führende Rolle der SED mit unserem Wirken aus nationaler Verantwortung nicht mehr vereinbar war. In der damaligen Fraktion der SED stellte ich daher am 1.12.1989 den Antrag, aus Artikel 1 der Verfassung (diesen) Passus ... zu streichen. Das war für mich kein formaler Akt, er sollte vielmehr ein Zeichen setzen für den durchgreifenden Prozeß der Demokratisierung im Land und die neue Form gleichberechtigter Zusammenarbeit in der Großen Koalition unterstreichen."

Dr. jur. Klaus Emmerich, Edertal

Zu Werner Ruf: Das Ende des INF-Vertrags - die Welt in Gefahr, RF 262, S. 4
Der Beitrag von Werner Ruf macht erneut deutlich, daß eine unmittelbare Gefahr für die Vernichtung der Menschheit durch die Wahnsinnspläne der USA zur Atomrüstung auf den verschiedensten Ebenen ausgeht. Auch wenn Rußland nur einen Bruchteil der Rüstungsausgaben der NATO erreicht, kann m. E. davon ausgegangen werden, daß in angemessener Weise trotz der wirtschaftlichen Schwäche auf die Drohungen der NATO reagiert wird. Es gibt Auffassungen, daß die Sowjetunion sich nicht hätte totrüsten lassen müssen, sondern daß auch mit geringeren Mitteln ein atomares Gleichgewicht herzustellen gewesen wäre. Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß der INF-Vertrag durch die USA gekündigt wurde. In der Berichterstattung wird häufig eine Gleichzeitigkeit behauptet, Rußland mitunter auch an erster Stelle genannt. Rußland sollte allerdings den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreiben, unter der Voraussetzung, daß die USA und die anderen NATO-Staaten dies auch tun. Politiker der Linkspartei sollten bei ihren Träumen von einer rot-rot-grünen Regierung auf Bundesebene stets auch ein "Nein zur NATO" als Voraussetzung ansehen.

Dr. Kurt Laser, Berlin


"Die vulgär-marxistische These, daß der Faschismus die logische Folge des Kapitalismus sei, ist natürlich überholt", meinte der Kovorsitzende der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag Dietmar Bartsch in einem Gastkommentar für die "Wirtschaftswoche" vom 2. November 2019.
Zuerst war ich sprachlos, dann sehr zornig. Der Fraktionsvorsitzende der Linken leugnet öffentlich den seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesenen engen Zusammenhang von Kapitalismus sowie der Entstehung sowie Förderung von Faschismus. Faschisten kommen zumeist aus der Mitte der Gesellschaft und repräsentieren als Führungskräfte Bundeswehr, Polizei, Richter, Staatsanwälte, Lehrer und als Geldgeber Industrie sowie Banken. Faschistische Staaten entstanden und entstehen auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft. Ein Blick ins Buch und zwei ins Leben, und die Unhaltbarkeit der Zitat-Aussage wird überdeutlich. Prof. Dr. Kurt Pätzold, u. a. Historiker, würde sich ob der obskuren Behauptung im Grabe umdrehen.
Das Zitat ist auch ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich engagiert und konsequent tagtäglich gegen das Erstarken eines neuen Faschismus in vielen Ländern Europas einsetzen. Der Kampf gegen NPD, AfD, Pegida u. a. sowie die zum Teil offensichtliche Untätigkeit und Wirkungslosigkeit von Verfassungsschutz, Polizei, Justiz wird ad absurdum geführt, wenn die gesellschaftlichen Wurzeln für Faschismus und Rassismus nicht benannt und ausgerottet werden.
Man fragt sich, leidet der Politiker unter gesellschaftswissenschaftlicher Amnesie, oder will er geschichtsrelevante Erkenntnisse auf den Kopf stellen, um sich dem kapitalistischen Herrschaftssystem wirkungsvoll anzudienen? Wird jetzt eine der letzten politischen linken Bastionen, die des Antifaschismus, kampflos aufgegeben, und Genosse Bartsch übernimmt dabei den Part des Emissärs mit der weißen Fahne?
Es wäre ein weiterer gesellschaftspolitischer Sargnagel für die Partei Die Linke!

Raimon Brete, Vorstandsmitglied der VVN-BdA, Stadtverband Chemnitz


Zu Gerhard Oberkofler: Die "Amazonien-Synode" und die "Theologie der Erde", RF 262, S. 17
Um es gleich vorwegzunehmen, der Beitrag von Prof. Oberkofler ist ein ausgezeichneter Artikel und das aus vielen Gründen. Daß dieses Thema gerade wegen der aktuellen Ereignisse in Bolivien eine wohl kaum vorhergesehene Aktualität erfahren hat, sei nur am Rande erwähnt.
Genosse Oberkofler betont besonders die Rolle der dortigen katholischen Kirche, die historisch betrachtet schon immer eine große Rolle spielte. Das wird nicht nur am Agieren des Papstes in Rom deutlich, sondern ganz besonders im praktischen Handeln der Kirche auf diesem Kontinent, die nicht nur Partner bei zahlreichen Protestaktionen ist, sondern auch als Initiator des Widerstandes gegen Armut und Ungerechtigkeit auftritt.
Damit wird deutlich, daß der Kampf für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit viele, sehr unterschiedliche Partner braucht, was in Lateinamerika offenbar besser verstanden wird als hierzulande. Dort ist es vielfach möglich, vor Ort gemeinsam mit der Kirche zu gemeinsamem Handeln zu kommen, was natürlich nicht bedeutet, daß die katholische Kirche in Rom eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung aufbauen will. Trotzdem gilt es, auf übereinstimmende Grundsätze im Kampf für Frieden, gegen Rechtsextremismus, gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit aufzubauen. So verstehe ich auch die Leitsätze des "RotFuchs"-Fördervereins. Darüber sollten wir uns in unseren Bildungsveranstaltungen regelmäßig austauschen.

Carsten Hanke, Rostock


Seit dreißig Jahren wird gebetsmühlenartig immer wiederholt: Wir haben das beste politische System, die beste Demokratie und das beste wirtschaftliche System. Aber warum geht dann die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander?
Im Jahr 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent zum Teil deutlich niedriger als 1995. Ihr Arbeitsentgelt besitzt heute weniger Kaufkraft als vor 20 Jahren.
Die Schuldigen an der Misere sind immer die anderen, entweder die Hartz-IV-Empfänger oder jetzt die Flüchtlinge. So kann man gut ablenken von den eigenen Machenschaften und dem Versagen.
Das World Food Programm (WFP) der Vereinten Nationen hatte 2014 angekündigt, die Ausgabe von Lebensmittel-Marken an 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge vor allem im Libanon, aber auch in Jordanien, der Türkei und Ägypten einzustellen, weil 64 Millionen US-Dollar für den Monat Dezember fehlten (4.12.2014)! Also war abzusehen, was dann passierte. Die Flüchtlinge setzten sich in Bewegung.
Der Vize-Bundessprecher der AfD Alexander Gauland sagte am 12. Dezember 2015 dem "Spiegel": "Natürlich verdanken wir unseren Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise."

Stanislav Sedlacik, Weimar


Die Gesellschaftstheorie der herrschenden Klasse steht auf dem Kopf: Die Herrschaft des Kapitals nennt man "Demokratie", und die sozial orientierten Staaten werden als "Diktaturen" bezeichnet. Kaum ein Begriff vermag soviel Hoffnungen und Erwartungen, aber auch soviel Irritationen und Falschvorstellungen zu erwecken wie das Wort "Demokratie". Seine Funktion ist es, dem kapitalistischen System einen sozial wirkenden Anschein zu geben und das Vertrauen der Menschen in den bürgerlichen Staat zu fördern. Zu dem Zweck verleitet man sie dazu, sich nicht an Realitäten zu orientieren, sondern eher an Prophezeiungen und Versprechungen. Wer im Lande tatsächlich das Sagen hat, wird verschwiegen oder verschleiert. Entsprechend einseitig heißt es dann im "Duden": Demokratie sei ... "die Staatsform, in der die vom Volk gewählten Vertreter die Herrschaft ausüben".
Eine solch simple Vereinfachung verschleiert, wer über wen und vor allem, wer auf welcher Grundlage tatsächlich herrscht. Mit Begriffen wie Demokratie, Freiheit oder Gerechtigkeit verzichtet man auf den eigentlich zu klärenden Inhalt und bietet sie dem gutgläubigen Volk als wohlklingende Phrasen an.
Es liegt auf der Hand, daß "die Wirtschaft" der eigentliche ökonomische Machtfaktor im Staate ist und daß letztlich mit ihr und durch sie das Geld regiert. Auf Strukturen und Funktionsmechanismen der Wirtschaft haben weder der Staat noch andere Einrichtungen entscheidenden Zugriff, so daß auch die heiliggesprochene "Demokratie" vor den Toren der privaten Wirtschaft Halt macht. Unbestritten ist, daß die Anreize der privaten Wirtschaft primär auf eine Profitmaximierung und einen optimalen persönlichen Gewinn gerichtet sind, nicht aber auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes, die in diesem Rahmen bestenfalls einen Marktfaktor darstellt. Im Gegensatz dazu ist das Grundinteresse der großen Mehrheit der Gesellschaft auf das Gemeinwohl, die soziale und Existenzsicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gerichtet.
Daß sich in diesen beiden Gegensätzen stetig wachsende Widersprüche auftun, die man bemüht ist, zu verschleiern, wird immer deutlicher. Entgegen den horrenden Gewinnen der Kapitaleigner geraten immer größere Teile der Bevölkerung in Armut, Existenzunsicherheit, öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Wenn es so ist, daß die reichsten 10 % der Deutschen über mehr als 90 % des gesamten Volksvermögens verfügen, während sich 90 % der Bevölkerung weniger als das restliche Drittel des Vermögens teilen müssen, um ihren dringenden Lebensbedarf zu decken, ist das ein ernstes Warnsignal. Es weist auf eine sehr bedenkliche gesellschaftliche Schieflage hin, welche die Menschen aus der früheren DDR besonders hart trifft. Als Hohn empfinden es viele, wenn gesagt wird, daß sie den "Befreiern" allein schon für die erlangte "Demokratie" ewig dankbar zu sein hätten. Doch zur Wahrheit gehört, daß Ostdeutsche selbst noch nach 30 Jahren "Wiedervereinigung" 20 Prozent weniger verdienen bei gleichen Leistungen und Preisen, was eher einer Katastrophe als den versprochenen "blühenden Landschaften" entspricht. Bei den Renten sieht es nicht besser aus. Die Entgeltpunkte für "Ossi"-Renten werden nämlich an den höheren Verdiensten in den alten Bundesländern gemessen, so daß sie, in den Ruhestand versetzt, erneut nur "zweite Wahl" sind.
Alle diese Verhältnisse haben letztlich ihren Ursprung in dem bestehenden Grundwiderspruch: der gesellschaftlichen Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung der Produktionsergebnisse durch die Eigentümer. Solche tiefgreifenden Gegensätze lassen sich nicht durch Einzelkorrekturen überwinden, sondern nur durch die Überwindung des Systems selbst.

Dr. jur. Heinz Günther, Berlin


BRD-Außenminister Maas hatte Ende Oktober 2019 seinen türkischen Amtskollegen besucht. NDR-Info berichtete über diesen Besuch. Was ich hörte, war überaus verwirrend. Vorausgegangen war, daß BRD-Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer den militärischen Einmarsch türkischer Truppen in das Staatsgebiet Syriens als völkerrechtswidrige Annexion bezeichnete. Maas reagierte darauf mit juristischer Spitzfindigkeit und stellte fest, daß der Begriff Annexion den Tatbestand der Endgültigkeit voraussetze. Doch in einem Radiobericht wurde betont, daß er wußte, daß der türkische Einmarsch in das Staatsgebiet von Syrien nur temporären Charakters sei. Unabhängig von unterschiedlichen Sichtweisen ist und bleibt der militärische Einmarsch in ein fremdes Staatsgebiet ein völkerrechtswidriger Gewaltakt.

Jürgen Barz, Wismar


Auch ich gehöre zu den 95 % der Deutschen, die AKK nicht als nachfolgende Bundeskanzlerin haben wollen. Warum?
Als Verteidigungsministerin treibt sie deutsche Aufrüstung und Militarisierung voran, steht für die von US-Präsident Trump geforderte Erhöhung der Militärausgaben auf 2 % des Bruttoinlandsprodukts. Jetzt will AKK auch noch mehr Militär- und Kriegseinsätze organisieren. In ihrer Lesart heißt das, mehr Verantwortung zu übernehmen, um eigene strategische Ziele durchzusetzen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Ich bin dafür, jährlich 2 % weniger für militärische Zwecke auszugeben. Das so gesparte Geld wäre sinnvoller für Bildung, Umweltschutz und Armutsbekämpfung zu verwenden. Die BRD könnte sich hoher internationaler Wertschätzung sicher sein, wenn es gelänge, Deutschland zu einem Friedensstaat in Mitteleuropa zu machen.

Frieder Rosada, Wismar


Zu Antoinette Mächtlinger: Die große Heuchelei, RF 263, S. 5
"Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit", meinte Albert Einstein. Trotz dieser unendlichen Dummheit glaube ich an den Verstand von Menschen. Was mir dennoch schwerfällt zu glauben, ist, daß sich Dr. Jürgen Todenhöfer vom Saulus zum Paulus gewandelt hat. So aber liest sich für mich die im Dezember-RF veröffentlichte Rezension des Todenhöfer-Buches "Die große Heuchelei".
Als Verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag war Todenhöfer ein militanter Verfechter für die Ausbildung und Ausrüstung der afghanisch-islamistischen Mujaheddin. Der zu diesem Zeitpunkt dem rechten Spektrum der CDU zuzurechnende Politiker begleitete islamische Terroristen von Pakistan aus mit Fotografen bzw. Kameramann nach Afghanistan. Die Fotos bzw. Filme dienten geschickt der Selbstdarstellung, aber auch als in der BRD verbreitetes Propagandamaterial, um für die islamistischen Terrorgruppen Unterstützer zu gewinnen.
Ende 1984 nahm er an einem Angriff afghanischer Mujaheddin auf eine sowjetische Garnison teil. In dieser Zeit erreichte er mit seiner illegalen Afghanistanreise und den positiven Erlebnisberichten über die dortigen, von den USA unterstützten Islamisten eine erhebliche Präsenz in westdeutschen Medien. Da er als geschickter Propagandist aufgefallen war, wurde Todenhöfer ab 1978 bei der Medienunternehmen Hubert Burda Media Holding engagiert, wo er bis zum Vorstandsvorsitzenden für die Ressorts Verlage, Finanzen und Verwaltung aufstieg. Seit seiner Pensionierung bereist er die Konfliktregionen der Welt, läßt Filme machen, in denen vor allem er, spazierend durch zerstörte Straßen, zu sehen ist. Er schreibt fleißig Bücher, die er sehr gut zu vermarkten versteht. Todenhöfer kritisiert zu Recht die Zustände, die er auf seinen Reisen vorfindet. Nicht zu übersehen ist aber, daß seine Anti-US-Akzente aus deutschnationalistischer Sicht gesetzt werden. Die Bundeswehr ist weltweit auf 16 Kriegsschauplätzen im Einsatz, in Afghanistan ist sie tief in den Kampf verwickelt. Kritik an der imperialen deutschen Militärpolitik ist jedoch kaum von ihm zu vernehmen.
Als die Mujaheddin in Afghanistan Politiker und Lehrkräfte terrorisierten, bevorzugt Mädchenschulen zerstörten, die Gesichter von unverschleierten Frauen mit Säure attackierten, hat man von Todenhöfer dazu nichts gehört. Bis Ende 1983 wurden am Hindukusch 1814 Schulen, also die Hälfte aller Schulen, und 130 Krankenhäuser zerstört. Der Gesamtschaden belief sich auf 35 Milliarden Afghani. Das entsprach damals etwa 50 % der gesamten Investitionen des Landes in den 20 Jahren zuvor.
Als die mit Todenhöfer befreundeten Mujaheddin 1992 in Kabul die Macht übernahmen, was von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, ließen die furchtbaren Nachrichten aus der afghanischen Hauptstadt Kabul selbst den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina fast als harmlosen Konflikt erscheinen: 3000 bis 4000 Tote, 200.000 Flüchtlinge, eine Stadt ohne Wasser, Strom und Lebensmittel. Die großen Städte, darunter Kabul, wurden in Schutt und Asche gelegt. Man sprach gar von der Einäscherung Kabuls. Jürgen Todenhöfer hat sich nicht einmal zu einer leisen Kritik entschließen können.
Erst als der Bundeswehroberst Georg Klein am 4. September 2009 in der Nähe der Stadt Kunduz im Norden Afghanistans zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen bombardieren ließ und dabei nach ersten Meldungen über 174 Zivilisten, darunter auch Kinder, zerfetzt oder verkohlt wurden, ist Todenhöfer auf einmal wach geworden.
Er ließ dort für die betroffenen Dorfbewohner bzw. hinterbliebenen Opfer - finanziert durch seine Stiftung - ein Haus bzw. eine Schule bauen. Durch seine medienwirksame Propaganda hat er sich sogar in der Friedensbewegung Bewunderer geschaffen. Doch es wäre angebracht, etwas genauer hinzuschauen und seine Publikationen an vielen Stellen kritisch zu hinterfragen.

Dr. Matin Baraki, Marburg


Der namhafte Jurist Gustav Radbruch war für wenige Jahre Reichsjustizminister in der Weimarer Republik. Er wollte nach 1945 den Begriff "Unrechtsstaat" in die Sprache der Justiz einführen, diesen allerdings nur einem Staat zuweisen, der das "Recht gar nicht erst anstrebt und ganzen Bevölkerungsgruppen die Existenzberechtigung abspricht". Das, so sein Befund, träfe einzig und allein auf Nazi-Deutschland zu. Doch die braune Wand der bundesdeutschen Juristenschaft unter dem Schutz Adenauers und seiner grauen Eminenz Globke hielt stand. Radbruch konnte sich mit dieser Bewertung nicht durchsetzen. Die Juristen empfanden das mehrheitlich als Nestbeschmutzung und weigerten sich kategorisch, das "Dritte Reich" so zu klassifizieren.
Einer der radikalsten Nazi-Professoren, Günther Küchenhoff, durfte es sich im Adenauer-Staat (1953) erlauben, Gustav Radbruch wegen seiner Bewertung in die unmittelbare Nähe zum "Blutrichter" Roland Freisler zu rücken. Die Kategorie "Unrechtsstaat" oder "Unrechtsregime" wurde erst nach 1990 von politischen Akteuren "entdeckt". Die Verurteilung der DDR soll festgeschrieben werden, für alle Zeit ein Bestandteil der Staatsräson der Bundesrepublik sein und der Bekämpfung alles Nachdenkens über grundlegende Alternativen zur heutigen Gesellschaft dienen.

Hans Schoenefeldt, Berlin

Zum Amtsantritt der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 1. November 2019

"Bin überwältigt!", sprach Frau von der Leyen.
"Es ist eine Ehre für mich, eine große!"
Straßburg verlieh ihr mit Schmerzen die Weihen.
Kritiker meinten: Nur Quatsch mit viel Soße!

Ihr Päckchen der Zusagen: schwierig und teuer.
Allein schon das faule Klimaversprechen.
Böser als das der Maut von Herrn Scheuer,
Wird das der finsteren Rüstungsverbrechen.

In sterbendem Lila zeigt sich das Meer.
Der NATO-Keim tut Europa nicht gut.
Gerechtigkeit hin, Profitdenken her.
Versprochen wird leicht, Erfüllen bleibt schwer.
Da bedarf es des Umschwungs, der leider noch ruht.

Das vereinte Europa gilt es zu retten.
Frei von Weltfinanzdruck und von Ketten.

Lutz Jahoda, Heidesee/Wolzig


Soeben habe ich das Gespräch mit Genossen Egon Krenz über den 9. November 1989 (gesendet von TV.Berlin) gehört und gesehen. Ich halte dieses Gespräch für wertvoll sowohl für die gegenwärtigen als auch für zukünftige Generationen.
Was Egon zur Zeitgeschichte sagte und erklärte, ist wissenschaftlich-historisch wichtig und bedeutungsvoll für die Weltgeschichte und für Deutschland.

Hagen Herbst, Greifswald


Mit großer Bestürzung und mit Unverständnis haben wir von der Maßnahme des Berliner Finanzamtes, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit zu entziehen, gelesen. Ein völlig unverständlicher Akt der moralischen Barbarei gegenüber den Opfern des Faschismus!
Wieso kann eine solche Maßnahme unter einem rot-rot-grünen Bündnis in Berlin und ohne erkennbare öffentliche Reaktion der politisch Verantwortlichen getroffen werden? Das Finanzamt diffamiert damit nachhaltig eine antifaschistische Organisation auf der Grundlage einer Einschätzung des bayrischen Verfassungsschutzes und entzieht der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit!
Wo bleibt die Empörung, wo bleibt der Aufschrei, und wo bleiben Aktionen der Linkspartei gegen diesen Akt der Verunglimpfung und der Verdächtigung der überwiegend ehrenamtlichen Arbeit von Antifaschistinnen und Antifaschisten?
Angesichts des unübersehbaren Rechtsrucks in Deutschland und Europa erwarten wir als Mitglieder der Partei Die Linke und auch Mitglied bzw. Sympathisant der VVN-BdA rasche und eindeutige öffentliche Positionierungen sowohl seitens des Bundesvorstandes der PDL als auch des Koalitionsbündnisses in Berlin. Sollte Letzteres nicht möglich sein, muß dieses Bündnis umgehend beendet werden. Antifaschismus ist nicht verhandelbar!

R. Brete / M. Schwander, Chemnitz


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-264-01-20.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 264, 22. Jahrgang, Januar 2020
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2020

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