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ROTFUCHS/218: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 266 - März 2020


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

23. Jahrgang, Nr. 266 - März 2020



Aus dem Inhalt

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Sie wollen Rache für die Niederlage von 1945

Das Jahr 2020 begann mit zwei Ereignissen, mit denen Historiker wahrscheinlich später historische Zäsuren bezeichnen werden. Am 3. Januar ließ US-Präsident Donald Trump einen iranischen General, der als Vermittler zwischen seinem Land und Saudi-Arabien nach Bagdad geflogen war, noch am Flughafen der irakischen Hauptstadt durch eine Kampfdrohne ermorden. Nur die maßvolle Reaktion des Irans verhinderte bis zum ersten Drittel des Monats Februar, da dieser Text geschrieben wurde, eine Eskalation. Die Lunte am Pulverfaß glimmt aber.

Am 5. Februar ließ sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich in Erfurt geplant und bewußt mit den Stimmen der von einem Faschisten geleiteten AfD Thüringens zum Ministerpräsidenten des Bundeslandes wählen.

Er mußte aus taktischen Gründen am 8. Februar seinen Rücktritt erklären: Am 23. Februar standen in Hamburg Bürgerschaftswahlen an, CDU und FDP befürchteten katastrophale Ergebnisse.

Krieg und Faschismus stehen seit diesen Daten als Bestandteile deutscher imperialistischer Politik erneut auf der Tagesordnung. Die deutsche Großbourgeoisie ist gespalten. Nationalistischer Größenwahn, Mobilisierung zum Krieg und autoritäre Machtausübung mit dem Personal des deutschen Faschismus bestimmten zwar die Herrschaftsverhältnisse in Westdeutschland spätestens seit 1949. Den Revanchegelüsten setzten Sowjetunion und DDR aber ein Bollwerk entgegen. Seit der Konterrevolution von 1989/1990 haben jedoch die Scharfmacher Oberwasser.

Gegenwärtig steht dafür das Manöver "Defender 2020", für das seit Anfang Januar US-Militärtransporte Richtung Osten rollen. Die BRD ist zentrale Drehscheibe für diese größte Übung zur Truppenverlegung seit einem Vierteljahrhundert. Unverhüllt proben 19 Staaten im Gefolge der US-Armee den Blitzkrieg gegen Rußland und marschieren bewußt zum 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus an dessen Grenzen auf. Es handelt sich um eine Aggression, eine Provokation, für die es in der jüngeren Geschichte nichts Vergleichbares gibt. Die BRD stellt sich als zentrale Drehscheibe, als "Sprungbrett", wie ein Bundeswehroffizier formulierte, zur Verfügung. Was Talleyrand 1814 nach der Beseitigung Napoleons und der Errungenschaften der Revolution von 1789 über die Gier der französischen Aristokraten gesagt haben soll, gilt auch 75 Jahre nach der Kapitulation des faschistischen Deutschland: "Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen."

Sie wollen Rache für die Niederlage von 1945. Für die faschistische Fraktion des deutschen Monopolkapitals, die es in der BRD stets gab, gilt das erst recht. Wer im Winter 1945 darauf hoffte, daß die Antihitlerkoalition auseinanderbrechen würde, um die Sowjetunion nicht zu stark werden zu lassen, legte diese Hoffnung nach dem 8. Mai nicht zu den Akten. Diese Idee lieferte die Gründungsurkunde der BRD. Weil die KPD an der Spitze derjenigen stand, die den Revanchekrieg verhindern wollten, wurde sie verboten. Wer heute den Aufmarsch Richtung Moskau und St. Petersburg mitträgt, nimmt auch gerne Stimmen von Faschisten. Die AfD, die in ostdeutschen Ländern "Kein Krieg gegen Rußland" proklamiert, zählt auf Bundesebene zu den festen Stützen von NATO, Bundeswehr und Kriegsbeteiligung.

Die Botschaft des 5. Februar lautet: In diesem Land sind ganz andere Herrschaftsformen geplant, um die Kosten von Krise und Hochrüstung auf Arbeiter, Angestellte, Bauern, Handwerker oder Rentner abzuwälzen. Erfurt war ein abgekarteter Probelauf.

Es ist Zeit zu sagen: Wer von Krieg und Großmanöver gegen Rußland redet, darf vom Neofaschismus nicht schweigen. Die Mobilisierung gegen "Defender 2020" und die Abwehr des Vorhabens, Faschisten salon- und regierungsfähig zu machen, sind zwei Seiten einer Medaille. Kommunisten, Sozialisten, alle Linken und Verbündete weit darüber hinaus sind aufgerufen, dabei zusammenzustehen.

Arnold Schölzel

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Eine Erklärung wider den Irrsinn

Den kalten Krieg stoppen, damit es kein heißer wird!

Ausgerechnet in diesem Land soll ein "Denkmal für die Opfer des Kommunismus" errichtet werden. Ein Denkmal für die Opfer des Kapitalismus fehlt. Anstelle dessen wird das Kaiserschloß wiedererrichtet, welches auch ein Symbol für die vielen Millionen Toten des maßgeblich von Deutschland mit zu verantwortenden Ersten Weltkrieges ist.

Ein Denkmal für alle Opfer des Faschismus fehlt. Gäbe es eines für die des Kapitalismus, so wären die Opfer von 1933 bis 1945 eingeschlossen. Denn vom durch Hitler-Deutschland entfachten Morden in beinahe ganz Europa profitierte das deutsche Kapital, selbst vom fabrikmäßigen Vergasen in den Todeslagern.

Wer über die im Interesse des deutschen Kapitals im 20. Jahrhundert begangenen monströsen Verbrechen fast gar nicht reden will, den Völkermord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden als Phänomen darstellt und die 27 Millionen im Zweiten Weltkrieg umgekommenen sowjetischen Bürgerinnen und Bürger für kaum der Rede wert hält, der sollte sich nicht als moralische Instanz aufspielen. Das wissen die Initiatoren dieses geplanten Denkmals auch. Doch sie fühlen sich stark, nicht zuletzt, weil das Europäische Parlament (EP) dementsprechende Richtlinien formulierte.

In der "Entschließung des EP vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewußtseins für die Zukunft Europas" heißt es, der Zweite Weltkrieg sei die unmittelbare Folge des zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion abgeschlossenen Nichtangriffsvertrages gewesen. Das ist zum einen geschichtsvergessen und zum anderen eine unerhörte Gleichsetzung der Sowjetunion mit dem Hitlerregime.

Dem entspricht in besagter Entschließung die unfaßbare Feststellung, "daß es im öffentlichen Raum einiger Mitgliedstaaten (z. B. in Parks, auf Plätzen oder in Straßen) noch immer Denkmäler und Gedenkstätten gibt, die totalitäre Regime verherrlichen, was der Verfälschung historischer Tatsachen über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Zweiten Weltkrieges Tür und Tor öffnet."

Also weg mit dem Denkmal für die im Kampf um Berlin gefallenen sowjetischen Soldaten im Treptower Park? Da würde gleich Platz geschaffen für ein "Denkmal für die Opfer des Kommunismus", zu denen ja wohl auch alle gezählt werden müssen, die Hitlerdeutschland vor den Truppen der "totalitären" Sowjetunion "verteidigten".

In der Entschließung des EP findet sich kein einziges Wort über den gewaltigen Anteil der Sowjetunion an der Zerschlagung der faschistischen Barbarei, kein Wort über die unerhörten Opfer, kein Wort über die von den deutschen Faschisten auf dem Rückzug verbrannte sowjetische Erde - 2000 km tief, kein Wort über die infolge der Blockade von Leningrad Verhungerten, kein Wort über die weit mehr als 600 niedergemachten und niedergebrannten belorussischen Dörfer, kein Wort über all die anderen ungezählten Verbrechen.

Die da über die Verfälschung historischer Tatsachen durch Rußland reden, verfälschen heuchelnd selbst. Doch wie anders sollten sie rechtfertigen, daß um Rußland erneut ein "Cordon sanitaire" gezogen wird, daß deutsche Panzer wieder vor Rußlands Grenzen stehen, und daß ausgerechnet im 75. Jahr der Befreiung der Völker Europas vom faschistischen Joch - auch über den 8. und 9. Mai 2020 - das NATO-Großmanöver "Defender Europe 2020" mit 37 000 Soldaten stattfindet. Ostern hingegen wird pausiert. Nicht pausieren wird die Friedensbewegung, der wir angehören und an deren Aktionen - gerade gegen "Defender Europe 2020" - wir aktiv teilnehmen. Denn NATO-Staaten proben den Aufmarsch in einem etwaigen gemeinsamen Krieg gegen Rußland.

Die Vorbereitungen von Kriegen beginnen immer mit der Lüge. All jenen, die für das Wiederaufleben des kalten Krieges die Hauptverantwortung tragen, sagen wir: Wir wollen Eure Lügen nicht, wir wollen Eure Kriege nicht, nicht Eure Sanktionen und auch nicht die Handelskriege. Die NATO, sie gehört aufgelöst. Und wir brauchen ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Rußlands. Stoppt den neuen kalten Krieg gegen Rußland, damit kein heißer Atomkrieg daraus wird, den keine und keiner von uns überleben würde.
Januar 2020

Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner u. a.:
Prof. Dr. Moritz Mebel, Wolfgang Gehrcke, Ellen Brombacher, Gina Pietsch, Hans-Henning Adler, Dr. Wolfram Adolphi, Dr. Diether Dehm (MdB), Rim Farha (Berlin), Prof. Dr. Edeltraut Felfe, Prof. Dr. Heinrich Fink, Ilsegret Fink, Lothar Geisler, Heike Hänsel (MdB), Thomas Hecker, Heidrun Hegewald, Andrej Hunko (MdB), Ulla Jelpke (MdB), Prof. Dr. Hermann Klenner, Torsten Koplin (MdL), Dr. Marianne Linke, Sabine Lösing (Göttingen), Dr. Alexander S. Neu (MdB), Christiane Reymann, Anita Tack (Potsdam), Dr. Reiner Zilkenat

Zustimmungserklärungen per Mail bis spätestens zum 8. Mai übermitteln an thomas.hecker@email.de

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Keine Kriegsspiele vor unserer Haustüre!

Anläßlich einer öffentlichen Veranstaltung für das Ulmer NATO-Kommando JSEC am 23. Januar erklärte Heike Hänsel, baden-württembergische Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke mit Regionalbüro in Ulm:

Ausgerechnet 75 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs wird die NATO ihr größtes Kriegsplanspiel seit Ende des kalten Krieges durchführen. Unter dem euphemistischen Namen "Defender Europe 2020" üben 37.000 NATO-Soldaten an den NATO-Ostgrenzen den Krieg gegen Rußland. Ulm spielt dabei, über das dort angesiedelte NATO-Kommando JSEC, eine zentrale Rolle. Doch damit nicht genug, noch ein weiteres NATO-Kommando soll nach Ulm kommen: sJLSG, das strategische Vorgaben macht und für militärische Logistik zuständig ist. Ulm ist damit faktisch einer der wichtigsten strategischen NATO-Standorte in Europa und Drehscheibe des größten Manövers seit Ende des kalten Krieges. Daß die NATO dieses Zeitfenster wählt, um in Osteuropa wieder Kriegsgerät auffahren zu lassen, das Richtung Rußland ausgerichtet ist, ist ein politischer Affront für den Frieden in Europa. Die Verlegung einer US-Divisionsstärke nach Osteuropa widerspricht auch der NATO-Rußland-Akte.

Schon jetzt steht auch fest, daß dieses Manöver den gigantischsten CO2-Fußabdruck hinterlassen dürfte, den das Militär je in Europa nach 1990 produziert hat. Dadurch ist schon jetzt eine wochenlange gravierende Behinderung des zivilen Verkehrs auf Straßen und Schienen entlang der Verlegewege abzusehen.

Die Linke lehnt dieses Säbelrasseln der NATO gegen Rußland ab und fordert einen Stop dieses Manövers. Die NATO-Politik ist eine Gefahr für den Frieden in Europa. Statt Kriegsspiele vor unserer Haustüre fordern wir eine Politik der Entspannung und Abrüstungsinitiativen. Statt panzerfeste Straßen und Brücken fordern wir eine gutausgestattete Bahninfrastruktur und kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Dies wäre auch in Ulm dringend erforderlich, mehr Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, für sozialen Wohnraum und mehr Pflegekräfte statt neue NATO-Stützpunkte.

Die Linke stellt sich aktiv gegen das US-Manöver "Defender 2020". Der Beschluß des Parteivorstandes vom 25. Januar 2020 ruft zu 333gewaltfreien, aber gewaltigen Demonstrationen auf.

Informationen der Friedensbewegung:
www.antidef20.de
www.kein-aufmarschgebiet.de
www.stoppt-defender-2020.de
www.friedenskooperative.de/aktion/defender-2020-proteste

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Der Ernst der Lage

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Militärbasen der USA im Ausland
Guantánamo auf Kuba

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Pressefreiheit in Brasilien in großer Gefahr

Das erste Amtsjahr von Präsident Jair Bolsonaro war für viele Medienschaffende in Brasilien kein gutes. Der Bericht des nationalen Journalistenverbandes FENAJ für 2019 sieht eine dramatische Zunahme von Angriffen auf Journalisten und die Pressefreiheit. Gezählt wurden 208 Fälle von öffentlicher Diskreditierung, Einschüchterung und Bedrohung von Medien und Pressevertretern.

Die größte Tätergruppe sind dabei im erfaßten Zeitraum die Politiker. Mehr als zwei Drittel der Attacken gegen Journalisten gehen auf ihr Konto. Der ultrarechte Staatschef macht es ihnen vor. 121 Mal griff Bolsonaro im vergangenen Jahr öffentlich ihm nicht genehme Medienhäuser und deren Berichterstatter an. Dabei bediente er sich gern seines offiziellen Kanals auf Twitter. Von wem er das wohl gelernt hat? Auf seinen Pressekonferenzen beantwortet Bolsonaro kritische Fragen entweder gar nicht oder mit wütenden Attacken. Immer wieder beschuldigte er Journalisten der Lüge, beschimpfte sie als "dämlich" und "dreckig".

So zog er am 19. Juli 2019 während eines Frühstücks mit ausländischen Pressevertretern über die Fernsehkommentatorin und Kolumnistin der Zeitung "O Globo" Miriam Leitão her. Diese kritisiert konsequent Bolsonaro und sein politisches Projekt. Der Präsident behauptete, Leitão habe in den 70er Jahren bewaffnet gegen die Militärdiktatur gekämpft. Dabei brachte er sie mit der Guerilla von Araguaia in Verbindung. Ihre Berichte über Mißhandlungen während der Haft seien eine Lüge. Tatsächlich gehörte Leitão damals der Kommunistischen Partei an und war in der Studentenbewegung aktiv. Im Alter von nur 19 Jahren wurde sie 1972 verhaftet und war während ihrer Gefangenschaft in einer Kaserne nahe der Stadt Vitória Erniedrigungen und brutaler Folter ausgesetzt. Leitão war zu dieser Zeit schwanger.

Bezeichnend auch ein Vorfall vom 20. Dezember des vergangenen Jahres. Gleich drei Journalisten traktierte Bolsonaro da mit homophoben Beschimpfungen. Diese hatten bei einem Termin vor dem Amtssitz des Präsidenten in Brasília Fragen zu den laufenden Ermittlungen gegen Bolsonaros ältesten Sohn Flávio gestellt. Es ging um einen Skandal, der Brasiliens Öffentlichkeit seit mehr als einem Jahr in Atem hält. Als Abgeordneter des Bundesstaats Rio de Janeiro soll Flávio Bolsonaro ein Jahrzehnt lang Teile der Gehälter seiner Angestellten wieder einkassiert haben. Weitere waren wohl nur auf dem Papier beschäftigt. Auch dem Verdacht der Geldwäsche gehen die Behörden nach. Dafür gedient haben soll ein vom Präsidentensohn betriebener Süßwarenladen in einem Einkaufszentrum in Rio de Janeiro. Ebenso fallen dessen ungewöhnlich profitable Immobiliengeschäfte ins Auge.

Bei all dem treten immer deutlicher die engen Verbindungen der Bolsonaro-Familie zu Rios sogenannten Milizen - kriminellen Organisationen, die sich vor allem aus Polizisten rekrutieren - zutage. Große Geldbeträge liefen über Jair Bolsonaros alten Freund Fabrício Queiroz. Flávios Leibwächter und Fahrer dürfte auch der Buchhalter des Clans gewesen sein. Wenig vertrauenerweckend ist auch die Tatsache, daß der Abgeordnete sowohl die Mutter als auch die Ehefrau des Chefs einer Bande von Killern bei sich beschäftigte. Der auf der Flucht befindliche Expolizist Adriano Magalhães da Nóbrega gilt als Kopf dieses "Büros des Verbrechens". Es soll auch den tödlichen Anschlag auf die Stadträtin Marielle Franco von der linken PSOL am 15. März 2018 ausgeführt haben. Zwei Verdächtige sitzen in Haft. Die Hintermänner der Tat sind weiter im dunkeln.

Der Jahresbericht von FENAJ dokumentiert neben verbalen auch körperliche Angriffe auf Pressevertreter. Zwei Morde sind hier verzeichnet: Am 25. Mai 2019 wurde der Zeitungseigner und Journalist Robson Giorno von Unbekannten vor seinem Haus erschossen. Die Behörden gehen dem Verdacht eines politisch motivierten Verbrechens nach. Drei Wochen später trafen tödliche Kugeln den Reporter eines Nachrichtenportals Romário da Silva Barros. Romário hatte vor allem über die Polizei berichtet. Auch dieser Fall ist noch nicht aufgeklärt. Beide Fälle ereigneten sich in der Stadt Maricá im Bundesstaat Rio de Janeiro. Leicht rückläufig gegenüber dem Vorjahr ist mit fünfzehn die Zahl der Journalisten, die 2019 in Ausübung ihres Jobs verletzt wurden.

Der Journalistenverband weist in seiner Bilanz darauf hin, daß diese nur einen Ausschnitt des tatsächlichen Geschehens abbilde. Man gehe von einer hohen Dunkelziffer aus. Viele Fälle würden nicht zur Anzeige gebracht oder nicht bekannt werden. Die Haltung des Präsidenten ist für FENAJ ein klarer Hinweis darauf, daß die Pressefreiheit in Brasilien bedroht ist. "Mittels seiner Erklärungen fördert der Regierungschef systematisch die Diskreditierung der Presse und der Journalisten."

Von der etablierten Presse hält Bolsonaro eher wenig. Besonders verhaßt ist ihm die führende Tageszeitung "Folha de São Paulo", die ihm mit investigativem Journalismus zusetzt. Produkte ihrer Anzeigenkunden will er boykottieren, die Bevölkerung forderte er auf, das Blatt nicht zu kaufen. Der Präsident hält sich ganz an die mit ihm verbündeten Medien. Das sind vor allem der auf seichte Unterhaltung spezialisierte zweitgrößte Fernsehsender des Landes SBT des Unternehmers Silvio Santos und das Radio- und TV-Imperium "Rede Record". Dieses ist ein irdischer Ableger der evangelikalen "Universalkirche des Königreichs Gottes" und gehört ihrem Begründer, dem echten Milliardär und selbsternannten Bischof Edir Macedo. Als Feindbild dient den Bolsonaristas hingegen der Konzern Globo. Dabei hatten dessen Kampagnen gegen die Linke den Aufstieg der extremen Rechten erst mit ermöglicht. Doch nach Bolsonaros Wahlsieg setzte in seinem Lager schnell ein großes Hauen und Stechen ein.

Die von Bolsonaro als Wahlvehikel genutzte Partei PSL hat sich mittlerweile gespalten. Der Präsidentenclan baut mit der "Allianz für Brasilien" nun einen eigenen Verein auf. Aus zuvor verbündeten konservativen Politikern wurden mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen 2022 scharfe Konkurrenten.

Diese Machtkämpfe spiegeln sich auch im Umgang mit den Medien wieder. Doch deren Divergenzen sind nicht nur ideologische. Das Bündnis der bolsonarotreuen Sender SBT und "Record" gegen Platzhirsch "TV Globo" zahlt sich für sie aus. Die Regierung änderte den Schlüssel zur Verteilung von Werbegeldern zu ihren Gunsten.

In erster Linie baut das Bolsonaro-Lager aber weiter auf die Manipulation der öffentlichen Meinung ohne Mittler durch die "sozialen" Netzwerke im Internet. Bolsonaros zweitgeborener Präsidentensohn Carlos, der im Stadtrat von Rio de Janeiro sitzt, ist der Organisator seiner Propagandamaschine. Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 lief diese mit Hilfe illegaler Spenden von Unternehmern auf Hochtouren. Per Whatsapp wurden millionenfach Falschnachrichten verbreitet. Eine Armee von Trollen - gefälschte Profile, die automatisiert Meldungen absetzen - war dabei im Einsatz. Die Methoden des politischen Marketings hat man sich beim Vorbild Donald Trump abgeschaut. Dessen ehemaliger Stratege Steve Bannon, der an einer ultrarechen Internationale baut, hat einen engen Draht zu den Bolsonaros. Der Fake-News-Skandal beschäftigt seit Monaten einen Untersuchungsausschuß des Kongresses - und wird dort zerredet.

Wer hingegen die Wahrheit schreibt, braucht schnelle Pferde: Einer Hexenjagd der Faschisten und ihrer Helfer in der Justiz sieht sich der in Brasilien lebende prominente US-Journalist Glenn Greenwald ausgesetzt. Ende Januar klagte ihn ein Staatsanwalt als Mittäter von Hackern an. Greenwalds Onlinemagazin "The Intercept" berichtet seit Juni 2019 über ihm zugespielte Chats. Enthüllt wird, wie der damalige Richter Sérgo Moro den Prozeß gegen den früheren Präsidenten Lula da Silva manipulierte. Ein Antritt als Kandidat bei der Wahl im Oktober 2018 wurde dem Politiker der Arbeiterpartei PT untersagt. Moros Maske fiel rasch: Bolsonaro machte ihn zu seinem Justizminister. Aus der Haft wegen angeblicher Korruption kam Lula erst nach 580 Tagen am 7. November 2019 nach einer Entscheidung des Obersten Gerichts vorläufig frei. Jetzt möchten Moro und Konsorten auch Greenwald hinter Gittern sehen.

Peter Steiniger

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Iran - ein neuer NATO-Kriegsschauplatz?

Der Atomwaffensperrvertrag (Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen) wurde von den fünf ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates (USA, Frankreich, Großbritannien, China, Sowjetunion) initiiert. Er wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der UdSSR und Großbritannien unterzeichnet und trat am 5. März 1970 in Kraft. Bis heute sind 191 Staaten dem Vertrag beigetreten.

Die UNO-Mitgliedsstaaten Indien, Pakistan und Israel haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind "illegale" Atomwaffenmächte, die dem Atomwaffensperrvertrag nie beigetreten sind. Der junge Staat Südsudan (Juli 2011) ist gleichfalls kein Mitglied dieses Vertrages.

So besitzt Pakistan heute ca. 130 bis 140 Sprengköpfe und will ihre Zahl bis 2050 auf 250 erweitern. Indien verfügt wahrscheinlich über etwa 130 Sprengköpfe.

Die beiden Staaten sind eine hochsensible Konfliktregion (z. B. Kaschmir-Problem), in der die Grenzen nicht geregelt sind. Sie erheben gegenseitig Gebietsansprüche, deren Ursache in der kolonialen Teilung des indischen Subkontinentes durch die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien liegt. Beide Staaten konnten ihre Kernwaffen nur mit Unterstützung des Westens entwickeln.

Die Koreanische Demokratische Volksrepublik trat dem Atomwaffensperrvertrag 1985 bei und verließ ihn 2003. Das Land besitzt heute bis zu 20 Kernwaffen und entsprechende Trägermittel. Die KDVR hat bisher sechs Atomteste durchgeführt. Ursache hierfür ist die Politik des Westens, insbesondere der USA, die Pjöngjang politisch, wirtschaftlich und militärisch bedroht. Wirtschaftliche Versprechen und Verträge, z. B. zum Bau zweier Leichtwasserreaktoren und die Bereitstellung von Erdöl durch die USA, wurden seitens des imperialistischen Lagers nicht eingehalten oder annulliert. Die militärische Bedrohung der KDVR ist mit ca. 30.000 US-Soldaten in Südkorea durchaus real. Diese hohe Truppenkonzentration behindert die Annäherung beider koreanischer Staaten und dient zudem der "Eindämmung" der VR China und Rußlands aus globalstrategischer Sicht.

Angesichts der gegenwärtigen Iran-Politik des Westens erscheint das Festhalten an Kernwaffen und entsprechender Trägermittel aus Sicht der KDVR als durchaus plausibel.

Wenn von Massenvernichtungswaffen geredet wird, dann wird dabei häufig verschwiegen, daß Israel gleichermaßen unrechtmäßig über Atomwaffen verfügt. Die Schätzungen der vorhandenen israelischen Atomwaffen liegen zwischen 75 bis 400 unterschiedlichen Sprengköpfen. Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß die USA und speziell auch Frankreich durch den Aufbau eines Atomreaktors und einer Plutoniumherstellungsanlage (Kernforschungszentrum Negev) Israel zu Kernwaffen verhalf. Frankreich lieferte in den 60er Jahren viele Daten für den Bau von Atomwaffen. Israel verfügt seit 1967 über einsatzfähige Kernwaffen (lt. "Der Spiegel" Nr. 4, 2004) und hat dafür unterschiedliche Trägermittel wie Raketen, Flugzeuge, Artillerie u. a. m. Die Bundesrepublik Deutschland war und ist am Atomwaffenprogramm beteiligt und liefert beispielsweise seit 1999 U-Boote der Dolphin-Klasse an Israel. "Die 1999 und 2000 von Deutschland gelieferten drei Dolphin-U-Boote sind vermutlich mit atomsprengkopfbestückten Marschflugkörpern (Bezeichnung Popeye Turbo II bzw. Deliah) ausgestattet, deren Reichweite nach Beobachtungen der U.S. Navy im Verlaufe von Flugkörpertests vor Sri Lanka im Mai 2000 mindestens 1500 Kilometer beträgt. Die ersten drei U-Boote hatten einen Gesamtwert von rund 655 Millionen Euro und wurden nahezu komplett vom deutschen Steuerzahler finanziert." Der Westen duldet den Besitz von Kernwaffen durch Israel entsprechend der Rolle, die dieser Staat im Nahen und Mittleren Osten spielt. Aus Sicht der Nachbarstaaten stellt Israel mit seinen Kernwaffen eine wesentliche Bedrohung der Sicherheit in der Region dar.

Gleichzeitig wird die perfide Doppelmoral der westlichen Welt sichtbar, die das vermeintliche Streben nach Besitz von Kernwaffen durch andere Staaten verurteilt und verfolgt. Wie tief die Ignoranz der Realität und die Verlogenheit gehen, zeigte eine Rede Angela Merkels vor der Knesset in Jerusalem am 18. März 2008: "Dabei muß eines klar sein - ich habe es bereits vor den Vereinten Nationen im vergangenen September gesagt, und ich wiederhole es heute: Nicht die Welt muß Iran beweisen, daß Iran die Atombombe baut; der Iran muß die Welt überzeugen, daß er die Atombombe nicht will."

Sie behauptete einfach, daß der Iran ein Atomwaffenprogramm hätte, und dreht die Beweislast um.

Im Gegensatz zu Israel hat der Iran jedoch den Atomwaffensperrvertrag bereits unter dem Schah-Regime Reza Pahlavis 1968 unterzeichnet und ratifizierte ihn 1970. Auch die Nachfolgeregierungen haben diese Unterschrift nie in Frage gestellt. (Die BRD unterzeichnete den Vertrag erst am 28. 11. 1969, die DDR sofort.)

Teheran hat immer seine Bereitschaft zur Einhaltung des Vertrages bekundet. Entsprechend beansprucht Iran das Recht, Kernenergie für friedliche Zwecke zu nutzen, wie es im Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich vorgesehen ist. Das schließt die Urananreicherung ein.

Als Irans Industrie die Fähigkeit erlangte, die Anreicherung auf ca. 20 Prozent zu steigern, drehte der Westen erst richtig durch und verhängte Sanktionen.

Theoretisch könnten aus zwanzigprozentig angereichertem Uran Kernwaffen hergestellt werden. Das erfordert jedoch eine riesige Menge des Rohstoffs und wäre höchst ineffizient. Fachleute sprechen erst bei einem fünfundachtzigprozentigen Anreicherungsgrad von waffenfähigem Uran. Davon ist Teheran noch immer meilenweit entfernt. Zum Vergleich: Die erste Atombombe der USA, die am 6. August 1945 über der japanischen Großstadt Hiroshima gezündet wurde, enthielt etwa 60 kg Uran. Hier betrug der Anreicherungsgrad 93 Prozent.

Politische und wirtschaftliche Sanktionen zwangen den Iran zum Abschluß des Atomabkommens von 2015. In ihm verpflichtete sich Teheran, sein Nuklearprogramm zurückzuführen. Somit sollte der Bau von Atomwaffen unmöglich gemacht werden. Im Gegenzug stellten die Vertragspartner (USA, Frankreich, Großbritannien, VR China, Rußland und die BRD) eine Aufhebung der Sanktionen in Aussicht. Tatsächlich hielt sich der Iran an den Vertrag, was durch die Internationale Atomenergie-Organisation immer wieder bestätigt wurde. Sanktionen gegen den Iran wurden abgebaut. Im Mai 2018 kündigte der US-Präsident Trump das mühevoll ausgehandelte Atomabkommen einseitig und grundlos auf. Er verhängte erneut Wirtschaftssanktionen.

Die drei verbliebenen westlichen Vertragspartner Frankreich, Großbritannien und die BRD forderten Iran auf, sich an das Abkommen zu halten, und machten zahlreiche Versprechungen. Sie erwiesen sich jedoch bis heute als unfähig, den neuen US-Sanktionen entgegenzuwirken. Sie sind somit Komplizen der US-Politik, ob sie es wollen oder nicht. Das politische Versagen der drei westeuropäischen Staaten führte zu einer schweren Wirtschaftskrise im Iran, der auf den Ölexport angewiesen ist. Die West-Troika appelliert trotzdem ausschließlich an den Iran, den Vertrag einzuhalten.

Nach der Ermordung des iranischen Generals Kassem Soleimani im Irak mittels einer US-Drohne Anfang des Jahres kündigte die Regierung in Teheran an, sich nicht mehr an die Begrenzungen des Atomdeals halten zu wollen.

Nun fordern ausgerechnet die USA die Einhaltung des Vertrages und die Inkraftsetzung des Schlichtungsmechanismus, obwohl die USA einseitig aus dem Vertrag ausgetreten sind. Zugleich werden die drei westlichen Staaten aufgefordert, den Vertrag insgesamt aufzukündigen. Boris Johnson plädiert offen für ein neues Abkommen, wenn das bisherige nicht gerettet werden kann: "Wenn wir es abschaffen, dann laßt es uns ersetzen, und laßt es uns ersetzen mit dem Trump-Deal!" Trump stimmte diesem Vorschlag prompt zu. Gleichzeitig drohte die Trump-Regierung lt. "Washington Post", den drei westeuropäischen Vertragspartnern mit Strafzöllen in Höhe von 25 Prozent auf Autoimporte, wenn der Streitschlichtungsmechanismus des Atomabkommens mit Iran nicht ausgelöst würde.

Natürlich konnte Irans Präsident Rohani diesen Vorschlag für Neuverhandlungen nur ablehnen. Teheran forderte, daß die USA zum bisherigen Abkommen zurückkehren. Dann würde der Iran seine Verpflichtungen aus dem Abkommen wieder gewissenhaft einhalten.

Tatsächlich hatte der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) zusammen mit seinen beiden europäischen Amtskollegen aus Paris und London am 14. Januar 2020 verkündet, daß man diesen Mechanismus ausgelöst habe. Die zunehmenden iranischen Verletzungen des Nuklearabkommens könne man "nicht länger unbeantwortet lassen". Gleichzeitig wollen die drei Staaten sich bezüglich der Nichteinhaltung des Vertrages durch Teheran an den UNO-Sicherheitsrat wenden. Man muß schon ziemlich unbedarft sein, um dieses zynische doppelte politische Spiel nicht zu durchschauen!

Moskau bezeichnete den europäischen Vorstoß als einen gefährlichen Schritt, der einen unkontrollierbaren Verfall des Atomabkommens mit dem Iran zur Folge haben könnte. Es besteht die Gefahr, daß der Iran aus dem Atomabkommen von 2015 aussteigt.

Die bisherige Entwicklung wirft eine Menge Fragen auf: Hat der Vertrag dem Iran genutzt? Sind die Wirtschaftsbeziehungen dadurch verbessert worden? Ist Iran durch den Vertrag vor Aggressionen der USA sicher? Die Antwort ist ein eindeutiges Nein.

Warum also soll der Iran sich noch an dieses Abkommen halten? Oder wollen die drei westeuropäischen Staaten mit dem Schlichtungsverfahren und der Einschaltung des UN-Sicherheitsrates den Weg zu einem weiteren NATO-Krieg in der Region bahnen?

Alles erinnert an die Vorbereitungen des Irak-Krieges von 2003, die auf reinen US-Lügen über irakische Massenvernichtungswaffen aufgebaut waren. Der Irak-Krieg hat bis heute ein zerstörtes Land mit schwacher Souveränität und Staatlichkeit hinterlassen. Und die USA spielen dort die Besatzungsmacht.

Das gleiche Szenarium scheint für den Iran vorgesehen zu sein.

Dr. Ulrich Sommerfeld

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Sogenannte Flüchtlingskosten

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wladimir Putin zum Holocaust-Gedenktag
Gemeinsam aus der Geschichte lernen!

Heute, auf dem internationalen Forum zum Gedenken an die Opfer des Holocaust, verbindet uns eine gemeinsame Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft. Wir trauern um alle Opfer des Faschismus, darunter sechs Millionen Juden, die in Ghettos und Konzentrationslagern gefoltert und bei "Strafaktionen" brutal ermordet wurden. Davon waren 40 Prozent Bürger der ehemaligen Sowjetunion, so daß der Holocaust für uns eine tiefe Wunde und eine große Tragödie war und bleiben wird, an die wir uns immer erinnern werden.

Vor meiner Reise nach Jerusalem habe ich Originaldokumente studiert, darunter Berichte von Offizieren der Roten Armee nach der Befreiung von Auschwitz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist schwer, fast unerträglich, diese militärischen Berichte und Dokumente zu lesen, in denen ausführlich dargestellt wird, wie das Lager organisiert war, wie diese Maschinerie der kaltblütigen Vernichtung von Menschen funktionierte.

Viele dieser Berichte wurden von Soldaten und Offizieren der Roten Armee am zweiten oder dritten Tag nach der Befreiung der Gefangenen von Hand geschrieben und vermitteln den Schock über das Gesehene, den Schmerz, die Empörung und das Mitgefühl, welche die Soldaten und Offiziere der Roten Armee empfanden.

Der Marschall der Roten Armee Iwan Konew, der damals Kommandeur der Militäroperation zur Einnahme des dichtbesiedelten schlesischen Industriegebiets war, nutzte eine besondere Taktik zur möglichsten Schonung von Zivilisten und weigerte sich, nachdem er einen Bericht über die Greueltaten in Auschwitz erhalten hatte, dieses Lager auch nur zu sehen. Später schrieb er in seinen Memoiren: "Ich hatte nicht das Recht, zuzulassen, daß mich ein gerechtes Gefühl der Rache während militärischer Operationen blenden könnte, um kein zusätzliches Leid und zusätzliche Verluste von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung Deutschlands zu verursachen."

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 75. Mal. In dieser Hölle, in die Menschen aus verschiedenen Ländern zu Folter, unmenschlichen Experimenten und Massenvernichtung getrieben wurden, starben Hunderttausende verschiedener Nationalitäten. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Juden.

Die von den Nazis begangenen Verbrechen, ihre bewußt geplante "Endlösung der Judenfrage", gehören zu den schwärzesten und beschämendsten Seiten der modernen Geschichte. Aber vergessen wir nicht, daß diese Verbrecher Komplizen und Helfershelfer hatten. In ihrer Grausamkeit übertrafen sie oft ihre Herren und Befehlsgeber. Todesfabriken und Konzentrationslager wurden nicht nur von den Nazis bedient, sondern auch von ihren Handlangern in vielen europäischen Ländern. In den besetzten Gebieten der Sowjetunion, wo diese Banditen operierten, wurden die meisten Juden getötet. So starben etwa 1,4 Millionen Juden in der Ukraine. 220.000 Menschen wurden in Litauen getötet - das sind 95 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung dieses Landes. In Lettland waren es 77.000. Nur einige hundert lettische Juden überlebten den Holocaust.

Der Holocaust war die vorsätzliche Vernichtung von Menschen. Aber es sollte daran erinnert werden, daß die Nazis das gleiche Schicksal für viele andere Völker und Menschen geplant hatten: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Polen und Vertreter vieler anderer Nationalitäten wurden zu "Untermenschen" erklärt. Ihre Heimatländer sollten den Nazis als "Lebensraum" dienen, und slawische und andere Nationen sollten entweder vernichtet oder zu entrechteten Sklaven werden - ohne eigene Kultur, ohne historisches Gedächtnis, ohne eigene Sprache.

Damals, 1945, setzte vor allem das sowjetische Volk den barbarischen Plänen ein Ende. Es hat sein Vaterland verteidigt und Europa vom Nazismus befreit. Wir haben dafür einen so hohen Preis bezahlt, wie man ihn sich in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen konnte: 27 Millionen Tote.

Wir werden das nie vergessen. Die Erinnerung an den Holocaust wird nur dann eine Lehre und eine Warnung sein, wenn sie vollständig ist, ohne Ausnahmen und Verschweigen. Leider werden heute die Erinnerung an den Krieg und die Lehren daraus immer mehr Gegenstand der jeweiligen politischen Konjunktur. Das ist absolut indiskutabel!

Und es ist die Pflicht heutiger und künftiger Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, den guten Namen der gefallenen Helden und der Überlebenden, der Zivilisten und der Opfer der Nazis und ihrer Komplizen zu schützen. Um dies zu erreichen, müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden: die Medien, die Politik, die Kultur, die Autorität und der Einfluß unserer Länder müssen dazu ihren Beitrag leisten. Ich bin sicher, daß alle, die hier in diesem Saal, bei diesem Forum anwesend sind, diese Sorgen teilen und bereit sind, Wahrheit und Gerechtigkeit mit uns zu verteidigen.

Wir alle sind verantwortlich dafür, daß sich die schrecklichen Tragödien des vergangenen Krieges nie wiederholen und dafür, daß sich künftige Generationen an die Schrecken des Holocaust, der Todeslager und an die Belagerung Leningrads erinnern. Ministerpräsident Netanjahu hat gerade gesagt, daß wir heute eine Gedenkstätte eröffnet haben. Das Denkmal hier in Jerusalem, die Opfer der Belagerung von Leningrad, von Babi Jar, des verbrannten Chatyn mahnen uns, daß wir wachsam sein müssen und schon die ersten Keime des Hasses, des Chauvinismus, des Antisemitismus entschieden bekämpfen müssen, wenn sie sich als Völkerhaß, als Fremdenfeindlichkeit oder in anderen Erscheinungsformen zeigen. Das Vergessen der Vergangenheit, das Verschließen der Augen vor diesen Bedrohungen kann schreckliche Folgen haben. Wir müssen den Mut haben, das nicht nur direkt zu sagen, sondern auch alles zu tun, um die Welt davor zu schützen und zu verteidigen. Ein Beispiel könnten und sollten meiner Meinung nach die Gründerstaaten der Vereinten Nationen geben, die fünf Mächte, die eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Zivilisation haben.

Ich habe mit einigen Kollegen gesprochen, und soweit ich verstanden habe, haben sie die Idee positiv aufgenommen, ein Treffen der Staatsoberhäupter der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates abzuhalten: Rußland, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien - egal, in welchem Land man das tut. Rußland ist zu einem ernsthaften Gespräch bereit. Wir senden diese Botschaft an die Führer der "großen fünf". Vor uns stehen viele Herausforderungen. Aber wir müssen auch im Sicherheitsrat auf dieses Thema zurückkommen und eine Resolution dazu verabschieden. Wenn wir ein solches Treffen in diesem Jahr 2020 abhalten könnten, wäre das wichtig und von symbolischer Bedeutung. Schließlich begehen wir in diesem Jahr den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der Vereinten Nationen.

Ein Gipfeltreffen der Staaten, die einen wesentlichen Beitrag zur Niederlage des Aggressors und zur Schaffung der Weltordnung der Nachkriegszeit geleistet haben, würde eine große Rolle bei der Suche nach kollektiven Antworten auf die Herausforderungen und Bedrohungen der Gegenwart spielen und natürlich unsere gemeinsame Loyalität zum Geist der historischen Allianz demonstrieren - für jene hohen Ideale und Werte, für die unsere Vorfahren, unsere Großväter und unsere Väter gekämpft haben.


Leicht gekürzt aus der Rede Wladimir Putins beim internationalen Holocaust-Gedenken in Jerusalem am 23. Januar; übersetzt nach der stenographischen Mitschrift

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Rußland-Serbien: Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil

Westliche Politiker, Medien, NGOs und Denkfabriken betrachten Serbien und seine Politik vorwiegend unter dem Gesichtspunkt eines Beitritts oder Nichtbeitritts dieses Landes zur "Europäischen Union" (EU) und zur NATO. Rußland wird dabei stets als Störfaktor gesehen, wenn nicht gar als Bösewicht dargestellt. Die tatsächlichen Interessen und politischen Vorgänge spielen höchstens am Rande eine Rolle.

Mit der Zerschlagung Jugoslawiens wurde der letzte Staat in Europa beseitigt, der den Sozialismus als sein gesellschaftspolitisches Ziel deklariert hatte. Es wurde damit aber zugleich ein Staat zerschlagen, der als Rückgrat der Politik der Nichtpaktgebundenheit anzusehen war. Es war damit auch ein tödlicher Schlag gegen den erhofften Prozeß der Schaffung eines Systems der europäischen Sicherheit auf der Grundlage des Zusammenwirkens souveräner Staaten entsprechend den Prinzipien der UNO-Charta. Die Aggression zeigte, daß der "Westen" bereit ist, seine auf "gemeinsamen Werten" beruhenden Ziele nicht nur durch "friedlichen Regime-Change", sondern - wenn es anders nicht geht - auch mit den Mitteln brachialer Zerstörung jeglicher materieller und menschlicher Werte durchzusetzen, nämlich mit militärischer Gewalt und durch Krieg!

Sowohl Rußland als auch Serbien sahen sich mit dieser Art "Politik" der USA konfrontiert, welche die Weltherrschaft der USA als eine "neue Weltordnung" zum Ziel hatte. Und das nannte man damals allseits die angebliche "Beendigung des kalten Krieges", den ersehnten Anbruch eines Friedenszeitalters. Eine "Grand Strategy" zwar, aber eben ein "Frieden" ganz im Sinne des Kapitals!

Der damalige BRD-Außenminister Genscher bezeichnete die US-Strategie als "eine in mancher Hinsicht sehr amerikanische Antwort auf die Frage nach der künftigen Weltordnung" - eine sehr bundesdeutsche Sicht aus der Position eines gerade erst zum Konkurrenten gewordenen "Partners"! Wie im Falle von Kroatien und Slowenien deutlich wurde, ging es ihm nämlich wohl vor allem darum, die EU und speziell Deutschland stärker in den "eurasischen Balkan" einzubinden.

Übereinstimmung grundlegender Interessen

Das Interesse Serbiens an einer stabilen Zusammenarbeit mit Rußland beruht darauf, daß Rußland und seine Außenpolitik - verglichen mit den USA, der EU und Deutschland - eine reale Alternative in politischer, wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und auch in moralischer Hinsicht darstellt. In der Praxis - wie beispielsweise in Syrien - hat Rußland bewiesen, daß es die Verwirklichung der Grundprinzipien der UNO-Charta entsprechend den gegenwärtigen internationalen Beziehungen anstrebt.

Dies kommt den souveränen Interessen Serbiens entgegen, das - nach all den Erfahrungen mit der Aggression der USA, der EU und Deutschlands gegen Jugoslawien - an einem zuverlässigen Schutzschirm interessiert war und ist. Mit den Beziehungen zwischen Serbien und Rußland wird ein wirksames Gegengewicht zur Präsenz der USA und der NATO in Albanien und im Kosovo geschaffen. Serbien verfolgt eine Politik der sicherheitspolitischen Neutralität und hegt daher auch keine Bestrebungen, Mitglied der NATO zu werden. Alle diese Elemente wirken sich nicht nur bilateral, sondern auch in bezug auf die Situation in Europa positiv aus.

Beide Seiten knüpfen bewußt an historisch gewachsene Beziehungen an. Dazu gehören die historischen, kulturellen und politischen Verbindungen Rußlands mit den Staaten einer christlich-orthodoxen Tradition. Auch diese historischen Linien sind ein wichtiger Faktor in den bilateralen Beziehungen, da er die sich aus den aktuellen Interessen ergebenden Möglichkeiten beider Seiten erweitert. Laut Umfragen sind 94 Prozent der Serben der Meinung, daß Serbiens Interessen am besten geschützt sind, wenn man eine enge Partnerschaft mit Rußland pflegt.

Die Beziehungen zwischen beiden Ländern beruhen mittlerweile auf stabilen Grundlagen. Die Beziehungen sind auf die Überwindung der Probleme der ökonomischen Entwicklung, auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger und auf die Gewährleistung der äußeren Sicherheit ausgerichtet. Mit Rußland an der Seite ist Serbien weniger erpreßbar. Die Zusammenarbeit mit Rußland ist ein wichtiger Faktor bei den Bemühungen, aus der Rolle eines Billiglohnlandes und eines bloßen Absatzmarktes für die Produkte ausländischer Monopole auszubrechen.

Strategische Partnerschaft

Im Mai 2014 sind Rußland und Serbien auch formell eine strategische Partnerschaft eingegangen. Im Januar 2019 wurden in Verwirklichung dieser Partnerschaft während eines Staatsbesuches von Putin in Belgrad mehr als 20 Kooperationsabkommen zwischen beiden Ländern unterzeichnet. Sie zielen darauf ab, die bestehenden Beziehungen zu erweitern und neue Projekte in den Bereichen Energie, Infrastruktur, Innovationen und Digitalisierung zu initiieren. Die Transitinfrastruktur für eine neue Pipeline soll entwickelt werden.

Im serbischen Banatski Dvor soll die Kapazität des bestehenden Gasspeichers von 450 auf 759 Millionen Kubikmeter ausgebaut werden. Rußland unterstützt die serbische Absicht, eine eigene Infrastruktur für den Gastransport aufzubauen, die sich von Bulgarien bis Ungarn erstrecken soll. Das wiederum bietet die Möglichkeit, russisches Gas zu transportieren, welches über Turkstream nach Mitteleuropa geliefert wird. Wichtige Verträge mit einem Volumen von 230 Millionen Euro, das man in absehbarer Zeit auf rund 660 Millionen Euro erhöhen will, sind im Bereich des Schienenverkehrs unterzeichnet worden.

Freihandelsabkommen

Am 25. Oktober 2019 wurde von Serbien mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) ein Freihandelsabkommen abgeschlossen. Das Land ist somit das erste europäische, das mit der EAWU ein solches Abkommen besitzt. Für Serbien bedeutet dies, daß 95 Prozent seiner Produkte zollfrei in einen Markt mit 182 Millionen Käufern exportiert werden können. In diesem Rahmen entwickelt sich zugleich der Handel mit Rußland weiter, das gegenwärtig der fünftgrößte Handelspartner Serbiens ist.

Der positive Trend in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern führte 2018 zu einem Gesamtvolumen von zwei Milliarden US-Dollar. 2008 wurde zwischen beiden Ländern ein Energieabkommen abgeschlossen. Es hat eine Gültigkeit von dreißig Jahren und verlängert sich automatisch. Mit dem Abkommen eröffnen sich neue Möglichkeiten. Allerdings werden noch immer über 60 Prozent des Handels Serbiens mit den EU-Staaten abgewickelt.

Politische Fragen

Von großer Bedeutung für Serbien sind die Beziehungen zu Rußland bei der Wahrung seiner grundlegenden nationalen Interessen. Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern haben - sowohl unter dem Gesichtspunkt der bilateralen Beziehungen als auch dem der friedlichen Lösung der Fragen, die stets Gegenstand der internationalen Auseinandersetzung mit den USA, der NATO sowie mit der EU und Deutschland sind - ein beträchtliches und stabiles Niveau erreicht. Das bezieht sich sowohl auf die Sicherung einer stabilen nationalen Wirtschaft als auch auf die Außen- und Sicherheitspolitik Serbiens. Die Beziehungen mit Serbien helfen Rußland, seine Position auf dem Balkan zu festigen und dort einer Ausweitung des amerikanischen Einflusses entgegenzuwirken.

Rußland setzt sich für die territoriale Integrität und die Souveränität Serbiens ein. Sowohl in bezug auf die Kosovo-Frage als auch hinsichtlich der Erhaltung der Republika Srpska (in Bosnien-Herzegowina) ist die Unterstützung durch Rußland von entscheidender Bedeutung für Serbien. Rußland betrachtet die UNO-Resolution 1244 als die einzige wirkliche Grundlage in der Kosovo-Frage. Mit der Ausrufung der Unabhängigkeit des Kosovo im Jahre 2008, die Rußland nicht anerkennt, haben die NATO-Hauptmächte nicht nur Jugoslawien zerschlagen, sondern eine weitere Trennungslinie auf dem europäischen Kontinent geschaffen und auch das Prinzip der unteilbaren Sicherheit grob verletzt. Außenminister Lawrow versicherte, daß Rußland nicht tatenlos zusehen wird, wenn Serbien die Beteiligung Moskaus an einem Dialog zwischen Belgrad und Pristina wünscht, und zwar insbesondere dann nicht, wenn die Albaner die Beteiligung der USA am Friedensprozeß fordern sollten.

Die Haltung Serbiens gegenüber der NATO wird von der Position bestimmt, daß der Selbständigkeit und Souveränität des Landes absolute Priorität gebührt und Serbien so seine Politik des Friedens und der Stabilität auf dem Balkan verwirklichen kann. Serbien beharrt darauf, die Einhaltung der Position der militärischen Neutralität des Landes durchzusetzen. Im März 2019 erklärte Staatspräsident Aleksandar Vucic sogar, daß "Serbien niemals Mitglied der NATO wird".

Das im März 2015 vereinbarte Abkommen zwischen Serbien und der NATO über einen "Individual Partnership Plan" (IPP) bedeute nicht, daß zwangsläufig eine Mitgliedschaft folgt. Die Position gegenüber der NATO werde von dem Wunsch Serbiens bestimmt, "Stabilität in der Region" zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit mit der NATO basiert auf der Voraussetzung und der Achtung der serbischen Politik einer (militärischen) sicherheitspolitischen Neutralität.

Für die Haltung Serbiens zur EU stelle sich nicht die Entweder-oder-Frage. Serbien könne seine Absichten gegenüber der EU gut mit der Pflege der traditionellen Nähe und der guten Beziehungen zu Rußland vereinbaren. Serbien sieht Rußland als traditionellen Verbündeten und als wirtschaftlichen Partner.

Anläßlich des 180. Jahrestages der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten stellte der serbische Präsident Vucic gegenüber dem russischen Außenminister Lawrow fest, daß es einen Druck gibt, die Haltung Serbiens gegenüber Rußland zu ändern. Serbien werde aber seine traditionellen Beziehungen zu Rußland beibehalten und an ihrer Weiterentwicklung arbeiten. "Wir sind ein unabhängiges Land, und wir treffen unsere Entscheidungen selbständig", sagte Vucic. Serbien lehnt es auch ab, jegliche Sanktionen gegen Rußland zu verhängen. Darüber hinaus wird die Europäische Union von Serbien darauf hingewiesen, daß es seine Beziehungen nicht nur mit der EU, sondern gleichermaßen auch mit der Eurasischen Wirtschaftsunion entwickeln wolle.

Fazit

Das Verhältnis zwischen Rußland und Serbien beruht in jedem Sinne auf der Verwirklichung von Grundprinzipien und Normen des demokratischen Völkerrechts. Es ist durch Nähe und Ähnlichkeit in der Herangehensweise an die Beurteilung und Lösung der Hauptthemen einer bilateralen Zusammenarbeit und der internationalen Agenda charakterisiert. Es wird bewußt im Rahmen von historisch gewachsenen Traditionen gestaltet.

Die Zusammenarbeit zielt auf die Erweiterung und Vertiefung der Beziehungen im Geiste einer strategischen Partnerschaft. Frieden und Sicherheit für die Entwicklung beider Länder, für die Gestaltung der Zusammenarbeit auf dem Balkan sowie für Sicherheit, Frieden und gleichberechtigte Zusammenarbeit in Europa sind die Leitlinien ihrer gegenseitigen Beziehungen. Sie sind damit ein Faktor der Stabilität auf dem Balkan und darüber hinaus.

Prof. Dr. Anton Latzo

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BUCHTIPS

Peter Wahl (Hg.): Gilets Jaunes
Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung

Die französischen Gelbwesten sind anders als die herkömmlichen sozialen Bewegungen. Sie kamen überraschend für alle anderen politischen Kräfte, einschließlich der französischen Linken. Auch ihre Aktionsformen und internen Strukturen unterscheiden sich in vielerlei von klassischen Protestbewegungen.

Insgesamt sind sie Ausdruck der sozialen und politischen Krise des neoliberalen Kapitalismus. Dementsprechend wird die Bewegung auch massiv bekämpft, u. a. durch polizeiliche Repression und durch Diffamierung seitens staatstragender Politiker und Medien. Doch die Mehrheit der Bevölkerung sympathisiert trotz alldem mit ihren Zielen.

Der Band vereinigt Beiträge deutscher und französischer Autorinnen und Autoren. Analysiert werden die soziale Zusammensetzung der Bewegung, ihr politisches Selbstverständnis, ihre Programmatik und ihre Aktionsformen. Die Reaktionen der Regierung und der anderen Akteure werden ebenso beleuchtet wie der Vorwurf, von rechts unterwandert oder gar antisemitisch zu sein. Schließlich werden die strategischen Probleme der Bewegung und ihre Chancen thematisiert.

PapyRossa-Verlag, Köln 2019, 136 S., 12,90 €


Edda Lechner: Jesus, Marx und ich

Wege im Wandel - Eine Achtundsechzigerin in der Kirche

Die Hoch-Zeit der westdeutschen außerparlamentarischen Bewegung um die Jahre 1968 jährte sich 2018 zum fünfzigsten Mal und brachte eine ganze Reihe von wissenschaftlichen und literarischen Publikationen hervor. Dem möchte die Autorin Edda Lechner, wenn auch etwas verspätet, ihre eigene autobiographische Sicht der Dinge hinzufügen. "Als ehemaliger Pastorin, die den Vorstellungen dieser Bewegung folgte, gilt mein Interesse besonders denen, die mit mir an dieser Bewegung zur Veränderung von Kirche und Gesellschaft teilgenommen haben, aber vor allem auch unseren Kontrahenten in der Hierarchie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Schleswig-Holstein.

An meinem konkreten Fall in der Zeit der Revolte von 1967 bis 1974 kann man ablesen, in welcher Weise Kirchenvorstand und Kirchenleitung als Teil der etablierten bürgerlichen Gesellschaft mit denen umsprangen, die sie zu antikapitalistischen und sozialistischen Alternativen herausforderten. Wie verhielten wir uns unter diesem Druck? Ich habe durch meinen Austritt aus der Kirche einen endgültigen Bruch mit ihr vollzogen, weil 'uns kein höh'res Wesen rettet' und wir uns nur selber aus dem Elend erlösen können. In dem Kapitel 'Danach' versuche ich darzustellen, wie ich dies in verschiedenen linken politischen Parteien und Bewegungen zu verwirklichen suchte."

Die Pastorin Edda Groth/Lechner kam durch die 68er zu der Erkenntnis, daß auch Christen sich gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus einsetzen sollten. Das führte zu einem heftigen Konflikt mit der Kirchenleitung und schließlich zu ihrem Austritt.

LIT-Verlag, Münster 2019, 416 S., 34,90 €, ISBN 978-3-643-14197-2



Peter Franz: Der rote Pfarrer - Bd. 2

Die Thüringer evangelische Amtskirche, die 1997 durch kirchengerichtliches Urteil dem "roten Pfarrer" mit ihrem höchstmöglichen Strafmaß die Ordinationsrechte samt Alterspension entzog, hat ihn - freilich ohne das zu beabsichtigen - dafür freigestellt, durch jahrelange Forschung die Erinnerung an jüdischen Glauben und jüdisches Leben seiner Heimatstadt Apolda ins Bewußtsein der heutigen Generationen zu heben. Dieser Geistliche, der schon während seiner Zeit als Pfarrer von Kapellendorf die Nähe zur jüdischen Gemeinde suchte, konnte nun unbeschränkt durch amtliche Verpflichtungen die hundertjährige Geschichte jüdischer Familien erforschen, darstellen und die schrecklichen Auswirkungen ihrer Verfolgung durch den Nazistaat sichtbar machen.

Die plötzliche Gelegenheit, ein zum Abriß freigegebenes jüdisches Geschäftshaus einer neuen Bestimmung entgegenzuführen, wurde zu einer selbstgewählten Aufgabe. Zusammen mit Gleichgesinnten organisierte er in dem gemeinnützigen Prager-Haus-Verein ein unablässiges Suchen um Menschen, Ideen und Finanzen zur Gestaltung des Projekts "Prager-Haus". Als Kurator dieses Lern- und Gedenkortes will er dabei helfen, der Rechtsentwicklung seines Landes ein mahnendes Warnzeichen entgegenzusetzen. Indem hier Jugendliche und Erwachsene die ausgrenzende und terroristische Praxis des Naziregimes an den zu Unmenschen erklärten Bevölkerungsgruppen studieren können, werden sie darin bestärkt, sich in dem heutigen Kampf um die Bewahrung und Durchsetzung grundlegender Menschenrechte, für Toleranz und Solidarität zu engagieren.

Selbstverlag Udo Wohlfeld, Weimar-Taubach 2019, 188 S., zahlr. Abbildungen. ISBN 3-935275-80-3

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Damals in Hollywood

Im Sommer und Herbst 1947 wurde in den Vereinigten Staaten ein aufsehenerregender Prozeß durchgeführt, der allerdings nicht vor einem ordentlichen Gericht stattfand. Schauplatz des Verfahrens, das als Auftakt zu den bis Mitte der fünfziger Jahre anhaltenden und später vor allem mit dem Namen des Senators Joseph McCarthy verbundenen antikommunistischen Hexenjagden galt, war die amerikanische Filmstadt Hollywood bei Los Angeles.

Das schon 1938 geschaffene, aber nun in ein Instrument des kalten Krieges gegen die Sowjetunion verwandelte Kongreßkomitee zur Untersuchung Unamerikanischer Umtriebe (HUAC) verhandelte gegen eine Gruppe fortschrittlicher Schriftsteller, Drehbuchautoren und Regisseure, denen "subversive Betätigung" zur Last gelegt wurde. Man hatte die Künstler wie Angeklagte vorgeladen, nachdem vorausgegangene Versuche fehlgeschlagen waren, sie durch lukrative Vertragsangebote für den Fall "künftigen Wohlverhaltens" politisch und moralisch zu korrumpieren.

Von den 41 durch das HUAC zur Aussage aufgeforderten Filmleuten verweigerten 19 jede Mitwirkung an dem Spektakel, was mit strengen Strafen geahndet werden konnte. Unter jenen, die dem Gesinnungstribunal beherzt entgegentraten, befanden sich der Literat und Interbrigadist des spanischen Bürgerkrieges Alvah Bessie, der Schöpfer des Films "Salz der Erde", Herbert J. Biberman, die bekannten Szenaristen und Regisseure John Howard Lawson, Dalton Trumbo, Lester Cole und Ring Lardner jr. sowie der Schriftsteller Albert Maltz. Auch Howard Fast verteidigte damals die Positionen des anderen Amerika. "Ich lehne es ab, mich von Leuten überprüfen zu lassen, für die der Ku-Klux-Klan eine akzeptable amerikanische Institution ist", begründete Albert Maltz sein Nichterscheinen vor dem Untersuchungsausschuß des Repräsentantenhauses. Einer der schärfsten Vernehmer war übrigens der junge kalifornische Abgeordnete Richard Nixon.

Besonders spitzte sich die Lage für jene der modernen Inquisition unterworfenen Intellektuellen zu, die dem Amerikanischen Republikanischen Komitee angehört hatten und nicht bereit waren, dessen Karteien an die Spürhunde der politischen Polizei auszuliefern. Das Gremium hatte nach der Niederlage der Spanischen Republik die gesamte Hilfe für die vor dem Franco-Terror in die Vereinigten Staaten geflohenen Antifaschisten koordiniert. Wegen "Mißachtung der Tätigkeit des HUAC" wurden zehn Künstler zu jeweils einem Jahr Gefängnis sowie zu hohen Geldstrafen verurteilt. Gemeinsam mit vielen anderen gerieten sie, die mehrheitlich keine Kommunisten, sondern bürgerliche Demokraten waren, auf "schwarze Listen" der großen Studios und blieben mehr als ein Jahrzehnt von jeglicher Filmarbeit ausgeschlossen. Nur wenigen gelang es, unter Pseudonymen weiter zu schreiben. Erst sehr viel später konnten Martin Ritts mit Woody Allen gedrehter Streifen "Die Front" und vor allem der mutige Film "Jene Jahre in Hollywood" mit Barbra Streisand diese düstere Periode aufrichtig darstellen.

Gegen die Verurteilung der "Hollywood Ten", die 1950 auf richterliches Geheiß festgenommen wurden, erhob die internationale demokratische Öffentlichkeit leidenschaftlichen Protest. Auf einem Meeting im Berliner Friedrichstadtpalast sprachen der Präsident der Deutschen Akademie der Künste, Arnold Zweig, und Prof. Gerhart Eisler, der wie sein Bruder, der Komponist Hanns Eisler, und Bertolt Brecht als Emigrant in den USA ebenfalls zur Aussage vor dem HUAC gezwungen werden sollte.

Auch in den Vereinigten Staaten selbst wandten sich bedeutende Vertreter des demokratisch-liberalen Lagers gegen die Verurteilung der "Zehn von Hollywood". In der Filmstadt rief John Huston die Künstler dazu auf, sich gegen die Feinde der Meinungsfreiheit zu wehren. Bald formierte sich hier ein "Komitee der Ersten Verfassungsergänzung" (in ihr sind die staatsbürgerlichen Grundrechte verankert), dem sich über 500 Prominente anschlossen. Unter denen, die ihre Mitwirkung erklärten, befanden sich Judy Garland, Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Burt Lancaster, John Garfield, Gene Kelly, Kirk Douglas, John Ford, Billy Wilder, William Holden, Groucho Marx und Gregory Peck.

Natürlich fehlte es auch nicht an Leuten, die zu billiger Kollaboration und willfähriger Denunziation bereit waren. Bekannt ist die Äußerung des Schauspielers Adolphe Menjou, der dem Tribunal vorschlug, "alle amerikanischen Kommunisten in die Wüste von Texas zu deportieren". Robert Taylor diffamierte Charlie Chaplin als "gefährliches Individuum", und Walt Disney lieferte eine "Aussage nach Maß", indem er erklärte, er halte die KP "nicht für eine politische Partei, sondern für eine antiamerikanische Sache". Als ein Starzeuge der Anklage diente der Darsteller Ronald Reagan, der sich zunächst als Liberaler drapiert hatte und daraufhin Präsident der American Screen Actors Guild - des Filmschauspielerverbandes - geworden war.

Sicher gab es auch solche, die in jenen Jahren aus Furcht oder Schwäche aus den Reihen der Fortschrittskräfte desertierten.

Die Hysterie der Hexenjagden erreichte Anfang der fünfziger Jahre ihren Höhepunkt, als McCarthy zum Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses des Senats avancierte - einem mit dem HUAC vergleichbaren Organ. Überall in den Vereinigten Staaten liefen Loyalitätsüberprüfungen und Gesinnungsprozesse an, deren Gipfel das berüchtigte Verfahren gegen elf Führer der KP der USA darstellte. Allein das HUAC lud 380 Personen vor, von denen 146 die Aussage verweigerten und 159 überhaupt nicht erschienen.

Insgesamt legte die Politische Abteilung der Bundeskriminalpolizei FBI Akten über mehr als 500.000 "Radikale" an. Um erfaßt zu werden, genügte es, im zweiten Weltkrieg antifaschistische Organisationen bei Listensammlungen unterstützt oder eine Zeitung mit linker Tendenz gelesen zu haben. Auch Hunderttausende Unbeteiligte gerieten in die Mühlen der Überwachung.

Der antikommunistische Fanatismus McCarthys, der mit einer Außenpolitik des Balancierens am Rande des Abgrunds gepaart war, stieß in den Vereinigten Staaten jedoch auf immer stärkere Ablehnung. Millionen Amerikaner wandten sich gegen die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie. Auch offizielle Kreise begannen sich von dem Senator aus Wisconsin zu distanzieren, als dieser nicht davor zurückschreckte, selbst Inhaber höchster Ämter der "Zusammenarbeit mit Kommunisten" zu bezichtigen. Schließlich wurde sogar Expräsident Harry S. Truman vor den McCarthy-Ausschuß geladen, um zu dem Vorwurf der "Förderung russischer Spione" auszusagen. Truman erschien nicht und gab statt dessen eine Erklärung ab, in der er "das Abgehen von den üblichen Rechtsverfahren sowie die Benutzung faustdicker Lügen und unbegründeter Behauptungen im Namen des Amerikanertums und der Sicherheit" verurteilte. Er sprach vom "fürchterlichen Krebsschaden des McCarthyismus, der an den Eingeweiden Amerikas frißt".

Dr. Klaus Steiniger
(1987, RF-Archiv)

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The Sound of Fury - Hollywoods Schwarze Liste

Are you or have you ever been a member of the Communist Party? - Mit dieser Frage kam der kalte Krieg nach Hollywood: Reaktionäre Kräfte witterten ihre Chance und stellten die Filmindustrie als von Kommunisten unterwandert dar. Die im Oktober 1947 beginnenden Anhörungen des berüchtigten "House Un-American Activities Committee" waren ein medialer Schauprozeß, an dessen Ende sich zehn Filmschaffende, die sogenannten Hollywood Ten, im Gefängnis wiederfanden.

Die Hollywood-Studios hatten sich dem Druck der Kommunistenjäger gebeugt, und die "schwarze Liste" wurde institutionalisiert. In den darauffolgenden Jahren verloren Hunderte weitere Filmschaffende ihre Lebensgrundlage und konnten zum Teil bis in die 60er Jahre in der Unterhaltungsindustrie keine Arbeit mehr finden.

"The Sound of Fury" widmet sich diesem düsteren Kapitel der amerikanischen Filmgeschichte und geht der Frage nach, was dem US-amerikanischen Kino im Zuge dieser Hexenjagd verlorenging.

Die Autorinnen und Autoren blicken in ihren Essays unter anderem auf das Werk von Cy Endfield, Joseph Losey, Dorothy Parker und Abraham Polonsky. Hinzu kommen Texte zu rund 20 ausgewählten Filmen und Kurzbiographien zu den wichtigsten betroffenen Filmschaffenden. Dem Blacklist-Kino - das machen die hier versammelten Texte deutlich - gelang es, einen linken, kritischen Blick auf die US-Gesellschaft zu werfen, selten utopisch, dafür immer präzise. Mit zahlreichen seltenen Abbildungen.

Verlag Bertz+Fischer, Berlin 2020, 280 S., 250 Fotos, 25 €

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Als Kriminalist in Diensten des MfS

Wir leben in unruhigen Zeiten. Immer wieder lesen und hören wir von versuchten, verhinderten, aber auch von gelungenen Terroranschlägen und anderen Gewaltakten. Und die passieren nicht Tausende Kilometer von uns entfernt, sondern auch mitten unter uns. Ob die Terrorgefahr größer geworden ist, seitdem die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den weltweiten Kampf gegen den Terror ausgerufen haben und mit ihren Verbündeten die Welt mit "Feuer und Schwert" zu befrieden suchen, muß jeder für sich selbst entscheiden. Fakt ist, das Gefühl, nicht mehr sicher zu sein, hat unter den Menschen zugenommen.

Daraus resultiert auch eine Verstärkung der Sicherheitsbehörden der Staaten, um dem zu begegnen. Schon bei kleinsten Anlässen werden Staatsschützer, Spezialeinsatzkommandos und andere Sicherheitsexperten mit der Untersuchung und Aufklärung ungewöhnlicher Vorfälle betraut, und zwar in allen Ländern, unabhängig davon, ob es sich um "lupenreine" westliche Demokratien oder um Rußland, Polen, Rumänien oder Syrien handelt. Und daß auch in "lupenreinen" Ländern die Sicherheitsgesetze verschärft wurden (so hat Frankreich nach drei Jahren Ausnahmezustand den zwar beendet, nicht aber ohne vorher eine Reihe von Gesetzen zu verabschieden, die sonst nur im Notstand galten), scheint auch niemanden so richtig zu interessieren.

Begeben wir uns nun zurück in die Zeit des "kalten Krieges". Winston Churchill, der nach dem 2. Weltkrieg in bezug auf den Sieg über Hitlerdeutschland und den Verbündeten der Antihitlerkoalition, die Sowjetunion, gesagt haben soll: "Wir haben das falsche Schwein geschlachtet ...", legte dann 1947 auf einer Rede in Fulton (USA) nach und beschrieb die Befürchtung des Westens vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus. Dabei benutzte er erstmalig die Metapher vom "Eisernen Vorhang": "Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein 'Eiserner Vorhang' über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre, und alle sind in dieser und jener Form nicht nur sowjetrussischem Einfluß, sondern auch der Moskauer Kontrolle unterworfen." (RF 219, S. 11) Die Hoffnung der westlichen Staaten, daß die Sowjetunion durch den Krieg gegen Hitlerdeutschland ganz entscheidend geschwächt würde, hatte sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil, in vielen von der Sowjetarmee befreiten Ländern Osteuropas kam eine antikapitalistische Entwicklung in Gang, die im Osten als sozialistische, im Westen als kommunistische interpretiert wurde. Auch heute noch, nach dem Untergang aller Versuche hin zu einer sozialistischen Entwicklung in Europa, wird immer von der Niederlage des Kommunismus gesprochen.

Wie auch immer, vorsozialistisch, sozialistisch oder kommunistisch - auch der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands schloß sich dieser Entwicklung an. Die DDR wurde dann auch, nachdem die Bundesrepublik vorher konstituiert worden war, folgerichtig als ein Staat gegründet, der sich auf den Weg zum Sozialismus machen wollte.

Nun warfen sich aber beide Systeme gegenseitig vor, gewaltsam expandieren zu wollen. Für den Westen war klar, daß die kommunistische Theorie immer die Weltrevolution verlange und daraus geschlossen werden müsse, daß sich die Kommunisten mit Gewalt den Rest der Welt holen wollten.

Der Osten betrachtete mißtrauisch und argwöhnisch die Versuche des Westens, sein Militär immer dichter an die Sowjetunion und die anderen Volksdemokratien zu bringen. Hinzu kam, daß 1949 die NATO gegründet wurde, und in vielerlei Papieren und Reden war vom "Rollback", also dem Zurückdrängen des Ostens, zu lesen und zu hören. So fühlte sich auch der Osten bedroht, und sechs Jahre nach der NATO entstand mit dem "Warschauer Vertrag" das östliche Militärbündnis.

Ein Riß ging mitten durch die Welt, und an den Nahtstellen dieses Risses standen sich riesige Militärmassen gegenüber, bereit zum großen Finale. Unterstützt wurde das zuletzt von einem Kernwaffenarsenal, mit dem die Welt mehr als 40mal hätte vernichtet werden können - als wenn einmal nicht gereicht hätte! Und dieser Riß ging quer durch Deutschland: auf der einen Seite die BRD und die NATO - und auf der anderen Seite die DDR und der Warschauer Vertrag.

Dieser lange Vorspann ist nötig, um die Zeit zu charakterisieren, in der sich das Leben des Autors im wesentlichen abgespielt hat. Er war, qua seiner Tätigkeit, Teil dieser Geschichte. Und der lange Vorspann ist auch wichtig, um das, was unser Autor, Hans Becker, getan hat, einzuordnen in die Zusammenhänge.

Natürlich kann man es sich einfach machen, wie heute vielerorts üblich: Der Mann hat beim MfS, heute meist nur Stasi genannt, gearbeitet, und damit ist automatisch alles falsch und verdammenswert, was er getan hat. So einfach ist Geschichte dann wohl nur für "Bild"-Konsumenten.

Differenzierter betrachtet hat der Mann eine wichtige Aufgabe in einer nicht einfachen Zeit gehabt. Er hat, wie das heute so viele ebenfalls tun, für die Sicherheit seines Landes und die Sicherheit seiner Bevölkerung gearbeitet. Dazu war es notwendig, über die vorhandenen Polizeiorgane hinaus eine Dienststelle einzurichten, die sich mit der Schnittstelle von Verbrechensbekämpfung und Sicherung des Staates beschäftigte, mit der Staatssicherheit. Und der Mann ist ein Profi, hat sich seine Meriten in der kriminalpolizeilichen Praxis verdient, aber auch einen akademischen Abschluß an der Uni gemacht.

Hans Becker, Diplomkriminalist und Oberstleutnant a. D., nimmt den Leser mit auf eine Reise in seine beruf liche Vergangenheit von 1953 bis Ende 1989. Als ehemaliger VP-Kriminalist der Hallenser Morduntersuchungskommission und späterer Leiter des Referates 1 (unnatürliche Todesfälle) der Hauptabteilung IX/7 des Ministeriums für Staatssicherheit war er einer der erfahrensten Kriminalisten der DDR. Sein Report ist der eines Insiders, der bei spannenden Ereignissen, merkwürdigen Todesfällen, spektakulären Rauben und großen Katastrophen ermittelte.

So untersuchte der Autor Serien- und andere Morde, Suizide, operativ relevante Verkehrsunfälle, Havarien in Betrieben sowie Katastrophen in der Luftfahrt und im Bahnverkehr - in der DDR selbst in Zusammenarbeit mit den Kollegen und Spezialisten der Volkspolizei. Seine Arbeit führte ihn nicht nur durch die ganze DDR, sondern auch nach Ungarn und Angola. Becker berichtet über komplizierte Ermittlungen, damit verbundene Probleme, Erfolge, Niederlagen und auch über Gefühle, die selbst hartgesottene Kriminalisten nicht immer außen vor lassen konnten.

Hans Becker ist Dank dafür zu sagen, daß er seine Erinnerungen für die Nachwelt zu Papier gebracht hat. Wer seine Lebenserinnerungen gelesen hat, sieht vielleicht nun die Arbeit der Leute, die sich um die Sicherheit ihres Landes gekümmert haben, in einem anderen Licht.

R. K. / Uli Jeschke


Hans Becker: Der Sonderermittler. Als Kriminalist in Diensten des MfS.
Edition Berolina, Berlin 2019, 352 S., 19,99 €, ISBN 9783958411128 

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Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Der deutsche Imperialismus nach dem vorläufigen Ende des europäischen Sozialismus

Deutschland als verspätete Nation hat drei Anläufe unternommen, "erwachsen" zu werden. Als der deutsche Imperialismus aufwachte, war die Welt schon unter den anderen Kolonialmächten aufgeteilt. Der ersehnte Platz an der Sonne war besetzt. Aber abfinden wollte man sich auf keinen Fall. Am Vorabend des ersten Weltkriegs verkündete Kaiser Wilhelm II.: "Wenn wir Großmacht werden wollen, müssen wir Großbritannien zerschlagen." Das Herzstück des britischen Empire sei Britisch-Indien, und Britisch-Indien könne man auf dem Landweg nur durch Afghanistan erreichen. Afghanistan sei das Tor zu Indien, "und wir müssen dorthin".

Mit der Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg scheiterte auch der erste Versuch, zur Imperialmacht aufzusteigen. Die Monarchie war zwar weg, am alten Ziel aber hielt man fest.

Den zweiten Anlauf unternahmen dann die deutschen Faschisten. "Ich habe weiterhin den Eindruck, daß wir bei der Verteilung der Welt in den vorangegangenen Jahrhunderten als Deutsche zu kurz gekommen sind. Und ich habe drittens den Eindruck, daß wir das, was wir damals versäumten, jetzt nachholen müssen" - so Joseph Goebbels auf einer Kundgebung der NSDAP in Prag am 5. November 1940. Kurz darauf unterschrieb Adolf Hitler die geheime Weisung 21 "Fall Barbarossa", der Deckname für den Überfall auf die Sowjetunion. Unter dem Datum des 17. Februar 1941 ist im Kriegstagebuch des Oberkommandos der faschistischen Wehrmacht zu lesen: "Der Führer wünscht die studienmäßige Bearbeitung eines Aufmarsches in Afghanistan gegen Indien im Anschluß an die Operation Barbarossa." Acht Tage später war der Afghanistan-Plan vorrangiges Thema im Oberkommando der Wehrmacht.

Mit der totalen Niederlage des Hitler-Regimes unter den Schlägen der Roten Armee und der Kräfte der Antihitlerkoalition wurde auch der zweite Versuch zunichte gemacht.

Der Verrat Michail Gorbatschows, das vorläufige Ende des europäischen Sozialismus sowie die völkerrechts- und verfassungswidrige Annektierung der DDR durch die BRD ermunterten die westdeutschen Imperialisten, einen dritten Anlauf zu starten, um sich an vorderster Front im Wettlauf um die Neuordnung der Welt zu positionieren. "Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten", heißt es in der Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag im Januar 1991. Dieser Anspruch wird dann am 19. März 1993 von dem späteren Außenminister Klaus Kinkel nach Goebbelscher Wortwahl bekräftigt: "Nach außen gilt es, etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: [...] Eine Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht: Die Rückkehr zur Normalität. [...] Sie ist jetzt auch notwendig, wenn wir in der Völkergemeinschaft respektiert bleiben wollen. Unsere Bürger haben begriffen, daß die Zeit des Ausnahmezustandes vorbei ist." (FAZ, 19. März 1993) Diese robusten strategischen Orientierungen haben dann in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der BRD (2003) und im Weißbuch (2006) ihren Niederschlag gefunden.

Schon ab 1992 wurde die vom Grundgesetz der BRD festgelegte Begrenzung der Verteidigung Westdeutschlands aufgehoben und damit das Verlangen nach "Weltgeltung" untermauert. Dort heißt es u. a. sinngemäß: Wir werden in beliebigen Teilen der Welt auch militärisch agieren, wenn unsere wirtschaftlichen und Handelsinteressen tangiert sind.

Bekannt ist die vom damaligen Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) 1993 gemachte Äußerung: "Ab heute wird die Bundesrepublik auch am Hindukusch verteidigt." Da die Medien den eigentlichen Kern der Aussage erkannten, formulierten sie es so, wie es gemeint war: "Deutschland wird am Hindukusch verteidigt." Diese Interpretation hat Struck so gut gefallen, daß er sie später übernahm.

Der "Architekt" der Ostpolitik Egon Bahr (SPD) stellte zu dem Machtanspruch des neu erwachten deutschen Imperialismus lapidar fest: "An erster Stelle steht die Macht. [...] Machterhalt, Machterweiterung, Machtwiederherstellung. Die freundliche demokratische Schwester der Macht heißt Einfluß." (1989) Um besser zu verstehen, was damit gemeint ist, sollte man sich die bemerkenswerte "Berliner Rede" des seinerzeitigen Bundespräsidenten Roman Herzog am 26. April 1997, in der er mit Nachdruck auf die deutschen Großmachtambitionen hinwies, zu Gemüte führen: "Ein großes, globales Rennen hat begonnen: Die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten." Die "Süddeutsche Zeitung" zitierte am 1. Juni 2010 den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der auf dem Rückflug von einem Kurzbesuch bei den Bundeswehrsoldaten in Afghanistan zu Protokoll gegeben hatte: "Daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege." Daraufhin legte man ihm, obwohl seine Aussage in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2002 nachzulesen ist, seinen Rücktritt nahe. Seine "Plauderei aus dem Nähkästchen" war sowohl Grund als auch Vorwand, um Störenfriede im machtpolitischen Gerangel innerhalb der politischen Elite der BRD loszuwerden.

Am 10. November 2010 bekräftigte der seinerzeitige Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg unverblümt den Zusammenhang zwischen Sicherheit und Wirtschaftsinteressen Deutschlands. Einspruch jedoch hat man bis heute nicht vernommen. Die erste "Spielarena" war die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. Gegen alle Warnungen seitens des EU-Beauftragten für Jugoslawien, Lord Peter Carrington, des Außenministers der Niederlande, Hans van den Broek, und des UNO-Generalsekretärs Pérez de Cuéllar vor einer vorzeitigen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens, die eine Katastrophe zur Folge haben würde, hat die Regierung Kohl/Genscher beide Teil-Republiken Jugoslawiens anerkannt und damit die Zerstörung des Landes eingeleitet. Man wollte endlich Flagge zeigen und erstmals eigenständig handeln. Als die Regierung Jugoslawiens unter Slobodan Milosevic das Zusatzprotokoll von Rambouillet (siehe "Frankfurter Rundschau"-Dokumentation vom 13. Juni 1996), in dem eine uneingeschränkte Bewegungsfreiheit der NATO-Einheiten in Jugoslawien vorgesehen war, ablehnte, begann die NATO, das Land zu bombardieren. Die westdeutschen Tornado-Aufklärungs-Jets bestimmten die Ziele.

Das war die Geburtsstunde der neuen deutschen Imperialmacht nach dem vorläufigen Ende des europäischen Sozialismus.

Der zweite Schritt war, auch außerhalb Europas Flagge zu zeigen. Der 11. September 2001 kam da gerade wie gerufen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beeilte sich im Bundestag, die uneingeschränkte Solidarität mit den USA zu verkünden. Der Vertreter der BRD im NATO-Hauptquartier drängte darauf, unbedingt den "Bündnisfall" zu erklären. Dies bestätigte der Beigeordnete des NATO-Generalsekretärs, General Klaus Naumann. Damit wollte Schröder, daß die Bundeswehr im Rahmen einer NATO-Operation zum Hindukusch mitmarschiert. Als die Bush-Administration dieses Angebot dankend abwimmelte, flog Schröder nach Washington und bat um eine Beteiligung der deutschen Armee am Krieg gegen Afghanistan. Afghanistan war Türöffner für die Militarisierung der deutschen Außenpolitik und für künftige weltweite Einsätze der Bundeswehr.

Heute ist sie auf insgesamt 16 Kriegsschauplätzen der Welt im Einsatz. Anfang Januar sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bezüglich der nach Mali entsandten Bundeswehr: "Wir können uns militärisch nicht zurückhalten." Sie sprach sich für ein "robustes Mandat", d. h. Kriegseinsatz, aus.

Und auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) forderte nun ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands. AFP/dpa zitiert ihn am 31.1. mit den Worten: "Wir können nicht alles den Franzosen und den Amerikanern überlassen." Die Lehre aus Auschwitz könne "kein Argument dafür sein, dauerhaft kein Engagement zu übernehmen". Die Zeiten der lauwarmen Mandate sind vorbei. Kriegseinsätze sind untrennbarer Bestandteil der außenpolitischen Strategie der neuen deutschen Imperialmacht. Was das bedeutet, haben die Völker Europas zweimal bitter erleben müssen.

Dr. Matin Baraki

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Die Männer von Vernet (1)

In den Herbst- und Wintermonaten des Jahres 1939 - vor über 80 Jahren also - unmittelbar nach dem faschistischen Überfall auf Polen am 1. September 1939, der den mörderischen 2. Weltkrieg einläutete, internierte Frankreich alle deutschen Emigranten, die aus dem Nazi-Staat in dieses Land geflohen waren.

Bei Bruno Frei lesen wir: "In einer Septembernacht des Jahres 1939 verhafteten Pariser Polizisten einige Dutzend, einige hundert, einige tausend in der französischen Hauptstadt lebende Ausländer und isolierten sie von ihrer Umwelt ... In einer der folgenden Nächte führte man sie von Paris weg. Aus dem Eisenbahnzug, der sie transportierte, entladen, fanden sie sich auf freiem Felde, in Reih und Glied aufgestellt. Auf einer Toreinfahrt war zu lesen: CAMP DU VERNET."

"Frankreich", so kommentierte Hermann Kesten damals, "beginnt also einen Krieg gegen Hitler mit dem Krieg gegen die Feinde Hitlers."

Der französische Staat stellte im September 1939 alle deutschen Emigranten unter "akuten Spionageverdacht" und begründete damit ihre Internierung. Zahlreiche, zumeist verlassene, teilweise verfallene und nicht mehr genutzte Immobilien, weitab im Süden Frankreichs gelegen, wurden provisorisch hergerichtet und als Internierungslager genutzt.

Von den über 60 bekannten französischen Internierungslagern erlangte das am Fuße der Pyrenäen gelegene Lager Le Vernet den Ruf, eines der berüchtigtsten Lager zu sein. In ihm waren viele prominente deutsche Emigranten, unter ihnen viele Kämpfer aus den Internationalen Brigaden, interniert.

Zwei von ihnen, Bruno Frei und Rudolf Leonhard, sollen in dieser Serie vorgestellt werden.


Der Journalist, Schriftsteller und antifaschistische Publizist Bruno Frei wird am 1. Juni 1897 in Preßburg (dem heutigen Bratislava) geboren. Von seiner Jugend an war und blieb er Marxist. Ab 1929 wird er Mitarbeiter der "Weltbühne" und bis 1933 Chefredakteur des von Willi Münzenberg herausgegebenen kommunistischen Massenblattes "Berlin am Morgen". Frei flieht nach dem Reichstagsbrand zunächst in die Tschechoslowakei, tritt dort 1934 der KPD bei und wird bis 1936 Chefredakteur der einflußreichen Exilzeitschrift "Der Gegen-Angriff". Im gleichen Jahr emigriert er weiter nach Frankreich und engagiert sich als Redakteur im Volksfront-Pressedienst "Deutsche Informationen".

Im September 1939 wird er nach seiner Registrierung in Paris verhaftet und am 12. Oktober im Lager Le Vernet interniert. Im Januar 1941 erfolgt seine Entlassung. Er hat ein Visum für Mexiko und eine Ausreisegenehmigung der französischen Behörden erhalten. Eine Beamtin der französischen Fremdenpolizei in Marseille ermöglicht Bruno Frei im Mai 1941 die Ausreise unter seinem tatsächlichen Familiennamen Freistadt, obwohl sie wußte, daß er unter seinem Schriftstellenamen Frei auf der deutschen Auslieferungsliste stand. Nach einer langen gefahrvollen Reise mit längeren Zwischenaufenthalten und Internierungen erreicht er im Herbst 1941 schließlich Mexiko. Dort schließt er sich der mit vielen Prominenten bestückten deutschen Emigrantengruppe an und wird Mitbegründer und erster Chefredakteur der Zeitschrift "Freies Deutschland". Dort beginnt er auch mit der Niederschrift seiner Erlebnisse in dem Lager Le Vernet. 1947 kehrt er nach Österreich zurück und wendet sich der Erforschung von Problemen und Gestalten des Judentums zu, so in seiner 1978 erschienenen Abhandlung "Sozialismus und Antisemitismus". Literarischen Erfolg hatte Frei jedoch vor allem mit einer Biographie Carl von Ossietzkys und dem Memoirenband "Der Papiersäbel". Seinem stürmisch bewegten Leben war kein gnädiges rasches Ende beschieden, sondern langsames, durch Erblindung verschärftes Verlöschen. Wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag und völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit ist Bruno Frei am 21. Mai 1988 gestorben. Das ND und die FAZ erinnerten mit kleinen Artikeln nach seinem Tod an ihn.

Ihm verdanken wir das authentische Zeitdokument, den ergreifenden romanhaften Bericht "Die Männer von Vernet". Er bekam von der illegalen Lagerleitung den "Auftrag", in verschlüsselter Weise alles schriftlich festzuhalten, was im Lager vor sich ging, um es später in Freiheit vor der Weltöffentlichkeit enthüllen zu können, was dann 1944 mit der Veröffentlichung des Buches "Die Männer von Vernet" zunächst in den USA auch geschehen ist. Das Buch wurde dann 1950 im Dietz-Verlag Berlin in der DDR erstveröffentlicht und nach weiteren Ausgaben (u. a. im Militärverlag der DDR) 1980 als Nachdruck im Gerstenberg-Verlag, Hildesheim, erneut herausgegeben.

Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der im Lager Les Milles interniert war, bemerkt in seinem Vorwort u. a.: "Aber es ist nicht nur die nachprüfbare äußere Zuverlässigkeit des Berichts, die Freis Buch überzeugend macht, es ist seine innere Wahrheit ... Dieses Buch ist ein Buch der Anklage, und das mit Recht ... Es erzählt von Dingen, wie ich sie ähnlich selber erlebt habe."

Frei selbst bemerkt 1980 in einem Rückblick zur Neuausgabe seines Berichts: "Von einem Stacheldraht auf kleinem Raum eingeschlossen, wurden sie zu einem Körper: die Männer von Vernet. Hatten sie eine gemeinsame Ideologie? Hatten sie überhaupt eine Ideologie? Sie waren aus 30 Nationen - und ebenso vielen Parteien - zusammengetrieben worden; wie kann man von einer gemeinsamen Ideologie sprechen?", fragt Frei, um zu antworten: "Und doch! Wiewohl sie keine gemeinsame Sprache verband, hatten sie eine gemeinsame Ideologie. Diese hieß: WIDERSTAND. Widerstand gegen die Kälte, Widerstand gegen den Hunger, Widerstand gegen die Ratten, Widerstand gegen ihre Bewacher - die Garde Mobile. Die Männer von Vernet hatten keine Waffen, wehrlos aber waren sie nicht, ihre Waffe war der geschlossene Widerstand. Ein unwiederholbarer Vorgang. Seine Geschichte erzählt dieses Buch."

Bruno Frei notiert an einer anderen Stelle: "Diese Aufzeichnungen eines Berichterstatters sind im Lager von Vernet in der Zeit vom Oktober 1939 bis Januar 1941 entstanden. Diese Blätter erzählen von Männern, die in der größten Verwirrung der Geister die Klarheit des Denkens, in der tiefsten Erniedrigung des Menschen den Glauben an den Menschen, vor den Karabinern der Garde Mobile den Mut zum Widerstand nicht verloren haben. Ein kleiner Frontabschnitt des großen Kampfes soll der Vergessenheit entrissen werden. Auch die Männer von Vernet waren Partisanen der Freiheit ... Vernet war Kriegsschauplatz. Es war ein ungleicher Kampf."

Strukturiert hat er den Bericht durch ganz bewußt gewählte Zeitabschnitte, in denen er eindrucksvoll seine persönliche Situation mit der Situation im Lager, der innenpolitischen Situation Frankreichs und der internationalen Situation verbindet. Er beginnt mit dem Zeitabschnitt "1. September - 11. Oktober" (1939).

Danach erließen die französischen Behörden bereits am 20. Juli 1939 eine Verordnung, die schon eine erste Orientierung auf die Umsetzung der von der Regierung geplanten Maßnahmen gegen die Masse der Flüchtlinge darstellte. Sie verordnete auf dieser Grundlage am 2. September 1939 - einen Tag nach dem faschistischen Überfall auf Polen - zunächst die stufenweise Registrierung aller deutschen Emigranten. Dabei kam es bereits zu massiven Repressalien, und es begannen die ersten großen Verhaftungsaktionen der französischen Behörden. Im Zuge der ersten Aktionen wurden etwa 800 Emigranten und 60 Emigrantinnen aus Deutschland und Österreich verhaftet. Die in Paris verhafteten Männer kamen zunächst ins Gefängnis "Santé" und die Frauen ins Gefängnis "La Petite Roquette". Danach, am 3. September 1939, mußten sich alle deutschen Männer im Alter von 17 bis 65 Jahren - also auch Bruno Frei und Rudolf Leonhard - an angegebenen Sammelorten einfinden. In Paris war der Sammelort das "Stade de Colombes" und kurz darauf Roland Garos. Tausende vom Emigranten aus vielen Ländern, aus verschiedenen sozialen Kreisen, Antifaschisten und Hitlergegner unterschiedlicher politischer Richtungen, ehemalige Interbrigadisten, aber auch einfach Ausländer ohne Paß oder vom Krieg überraschte Touristen sowie auch Nazis waren hier unter kurzfristig improvisierten unzumutbaren Bedingungen tagelang eingesperrt und warteten auf die weiteren Entscheidungen. Nach nochmaligen Durchsuchungen ihrer Habe brachten Gendarmen etwa 680 von in Roland Garos festgehaltenen "Unerwünschten" - "indésirables" - in den frühen Morgenstunden des 12. Oktober 1939 mit Autobussen zum Bahnhof und verfrachteten sie in einen Zug.

Frei notiert: "Dies war mein Abschied von Paris. Wann war dies geschehen? Vor wenigen Stunden war es, daß wir im strömenden Regen, bepackt mit Koffern und Decken und Rucksäcken, in Autobusse verladen wurden, die uns durch die verdunkelte Stadt zum Bahnhof brachten."

In den frühen Nachmittagsstunden des 12. Oktober kam der Zug auf der Station Le Vernet an.

Frei schreibt: "Aus dem Eisenbahnzug, der sie transportierte, entladen, fanden sie sich auf freiem Felde, in Reih und Glied aufgestellt. Auf einer Toreinfahrt war zu lesen: CAMP DU VERNET." Man merkt dem Bericht an, daß sein Autor kein wissenschaftlich ausgebildeter Historiker war, sondern ein begabter Journalist. Er ist folgerichtig geprägt von einer Schreibweise, die ohne langatmige Anmerkungen auskommt und zum Lesen ermuntert. Besonders beeindruckend ist, daß es Frei gelungen ist, exakte, wissenschaftlich belegte historische Fakten mit emotionaler Anteilnahme zu verbinden. Er will damit, nach seinen eigenen Worten, "Klassenbewußtsein" befördern und "Klassenstandpunkte" festigen helfen, zu aktivem Handeln, zum Mitgestalten einer humanen Gesellschaft ermuntern.

Frei selbst erhebt auch nicht den Anspruch, eine wissenschaftlich beglaubigte Arbeit vorzulegen, sondern einen subjektiv geprägten Bericht, der gesicherte historische Fakten mit persönlich gemachten Erlebnissen zusammenfügt. Persönliches, Privates und Gesellschaftliches, Erkenntnisgewinn und emotionale Ergriffenheit verschmelzen zu einer packenden Einheit.

Darin liegen der Charme und die nachhaltige Bedeutung des Buches. Die Lektüre vermittelt historisches Wissen zu einem Zeitabschnitt und zu Ereignissen, die vergessen zu werden drohen. Sie befördert darüber hinaus Anteilnahme, aber auch Bewunderung für den Mut, die Standhaftigkeit, die Menschlichkeit, die Solidarität unter den Internierten. So werden Pakete mit Lebensmitteln und warmer Kleidung, die viele von ihnen erreichen, solidarisch unter ihnen aufgeteilt. Ihr Leben eingezwängt zwischen einer lebensbedrohenden politischen Situation und unmenschlichen unmittelbaren Lebensbedingungen wird zu einem nachahmenswerten humanistisches Beispiel.

Nach meiner Meinung kann und sollte der Bericht als wichtige Ergänzung zum Geschichtsbuch im Geschichtsunterricht begriffen und genutzt werden. Aus dieser Zeit gibt es keine Zeitzeugen mehr. Deswegen erlangen authentische literarische Berichte wie der von Bruno Frei außerordentliche Bedeutung. Sie können nicht den mündlichen Bericht von Zeitzeugen, ihr Auftreten vor Schulklassen ersetzen, aber sie erlangen als authentische literarische Hinterlassenschaften von Zeitzeugen ihre besondere Bedeutung. Sie werden in der näheren und weiteren Zukunft die einzigen Quellen sein, denen wir authentische Informationen über die Zeit des Faschismus aus der Sicht seiner Opfer und vor allem seiner Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer entnehmen können.

Eine bezeichnende Äußerung Bruno Freis aus dem Jahre 1944 soll diese Erinnerung beschließen. "Es war die beste Zeit meines Lebens. In Vernet traf ich die besten Menschen der Welt. Ich habe nie in solcher Harmonie mit anderen gelebt. Es war wie eine Belohnung für alle Kämpfe."

Dr. Dirk Krüger
Wuppertal


Bruno Frei: Die Männer von Vernet. Ein Tatsachenbericht. Vorwort: Lion Feuchtwanger. Dietz-Verlag, Berlin 1950 (Nachauflagen u. a. Deutscher Militärverlag, Berlin 1961; Gerstenberg-Verlag, Hildesheim 1980)

Sibylle Hinze: Antifaschisten im Camp Le Vernet. Abriß der Geschichte des Konzentrationslagers Le Vernet 1939 bis 1944. Militärverlag der DDR, Berlin 1988

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Neue Gedenkstätte für NS-verfolgte Eisenbahner mitten in Berlin

Die Unsichtbaren sichtbar machen

Die deutsche Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) erinnert mit einem beeindruckend und überzeugend gestalteten Informations- und Gedenkort an Eisenbahnerinnen und Eisenbahner, die von den Faschisten verfolgt wurden. Der Gedenkort ist am 2. Mai vergangenen Jahres, dem 86. Jahrestag der Zerschlagung der freien Gewerkschaften durch die Nazis, eröffnet worden.

123 Namen von politisch oder rassisch verfolgten Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern zeigt die Wandtafel im Eingangsbereich der Berliner EVG-Zentrale in der Reinhardtstraße 23 (gelegen im Bezirk Mitte zwischen dem Deutschen Theater und dem Berliner Ensemble). In silbrigen Buchstaben treten die Namen aus einer dunkelgrauen Wand heraus. Die Schöpferin dieser Installation, die Künstlerin Petra Müller, hat damit den Grundgedanken "die Unsichtbaren sichtbar machen" visuell umgesetzt. Auf einem Touchscreen können zu jedem der Namen Informationen und ggf. Dokumente aufgerufen werden. In diesem Rahmen werden neben bekannten erstmals auch Schicksale von bisher weitgehend unbekannten Nazi-Opfern öffentlich gemacht.

Die Initiative zu dem Informations- und Gedenkort ging vom Arbeitskreis "EVG Geschichte" aus, der auch die Informationen zusammengestellt hat. Dabei haben die Mitwirkenden auf aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen, verschiedene Archive, Materialien der Berliner Stolperstein-Initiative sowie auf eigene Recherchen zurückgegriffen. Das Material soll schrittweise erweitert, die Namensliste soweit möglich ergänzt werden. "Wir können stolz darauf sein, nicht nur in der Gegenwart zu wirken, sondern auch unsere Geschichte aufzuarbeiten", sagte der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner zur Eröffnung des Gedenkortes. "Wenn ich an unserer Arbeit zweifle, gucke ich in ein Geschichtsbuch. Zu lesen, unter welchen Bedingungen unsere Vorgänger gearbeitet und Gewerkschaftsarbeit gemacht haben, gibt mir stets neue Kraft."

Wer seine Geschichte nicht kenne, könne auch die Zukunft nicht gestalten, so der EVG-Vorsitzende, der in diesem Zusammenhang auch einen Blick auf die aktuellen Herausforderungen mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien warf. Auch in der EVG habe die Auseinandersetzung gerade erst begonnen. "Die Schicksale, an die hier erinnert wird, sind Verpflichtung für uns, dafür zu sorgen, daß es in Deutschland nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg gibt."

(RF, gestützt auf EVG-Material)

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Marionetten der USA?

Als die USA 1996 das Helms-Burton-Gesetz einführten, erließ die Europäische Union die Verordnung 2271/96. Darin ist klar definiert, daß die exterritoriale Wirkung der mit dem Helms-Burton-Gesetz verbundenen Sanktionen von der EU nicht anerkannt wird. Gemäß Artikel 1 der Verordnung gilt dieses Dekret in allen EU-Mitgliedsstaaten, ohne daß die einzelnen Länder noch nationale Gesetze zur Ausführung erlassen müssen.

Mit der Verordnung will die EU Firmen und Einzelpersonen, deren Interessen von den USA beeinträchtigt werden, in die Lage versetzen, sich durch Entschädigung schadlos zu halten. Laut Artikel 2 sind alle Betroffenen verpflichtet, innerhalb von 30 Tage nach Bekanntwerden einer Beeinträchtigung ihrer Geschäftsbeziehungen die EU-Kommission darüber zu informieren.

Artikel 4 legt fest, daß Entscheidungen von außergemeinschaftlichen Gerichten oder Verwaltungsbehörden - d. h. auch solchen aus den USA - nicht anerkannt werden und nicht vollstreckbar sind. Der Artikel 5 verbietet es in der EU ansässigen Personen und Unternehmen, Anweisungen oder Forderungen von US-Stellen, die auf den illegalen Blockadegesetzen beruhen, nachzukommen. Geschieht das trotzdem, können die Geschädigten es der EU melden, da sie eventuell Anspruch auf Entschädigung haben. Der Schadensersatz kann nach Artikel 6 auch "durch Beschlagnahme und den Verkauf von Vermögenswerten ... einschließlich der Aktien" des Schädigers durchgesetzt werden. Artikel 9 verpflichtet jeden Mitgliedsstaat der EU, für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen Vorschriften der Verordnung Sanktionen festzulegen. Diese Sanktionen "müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein". Die Rechtslage ist also klar.

Doch welche Konsequenzen hat das? Diese Verordnung hilft in der Praxis wenig, denn in den internationalen Handelsbeziehungen geht Macht vor Recht. Die US-Gesetze gelten zwar bei uns nicht, aber sie wirken. Es ist die Angst vor dem Zerstörungspotential der militärischen, industriellen, finanziellen, technologischen, medialen und geheimdienstlichen Supermacht USA und deren arroganter Politik, die unter Trump einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Die aggressive völkerrechtswidrige USA-Politik und die Unterordnung der EU unter diese führt zu unglaublichen Konsequenzen, die in den marktbeherrschenden und kapitalabhängigen Medien nicht oder kaum erwähnt werden. Deshalb ist es angebracht, einige Beispiele anzuführen.

Wegen Verletzung der Finanzblockade Kubas durch die USA, die darauf abzielt, Kuba den Zugang zu konvertierbaren Währungen zu verwehren, um das Land wirtschaftlich zu erdrosseln, wurden von US-Behörden Strafzahlungen verhängt und einkassiert, obwohl laut EU-Verordnung diese Beschlüsse in der EU nicht anerkannt werden und nicht vollstreckbar sind: 2014 PNB Paris - 8,9 Milliarden Dollar; 2015 Credit Agricole - 787 Millionen Dollar; 2015 Commerzbank - 1,71 Milliarden Dollar, wobei pikant ist, daß die BRD zu 15 % Eigentümer der Commerzbank ist; 2018 Societé Generale - 1,34 Milliarden Dollar; 2019 Uni Credit Group - 1,3 Milliarden Dollar.

Erst kürzlich stellte die Schweizer Bank Postfinance den Zahlungsverkehr mit Kuba aus Angst vor USA-Repressalien ein, so daß die Schweizer Solidaritätsgruppe "mediCuba-Suisse" kein Geld mehr für ihre Entwicklungsprojekte in Kuba überweisen kann. Auch die Postbank weigerte sich, das Abo-Geld für die "Granma internacional" nach Kuba zu überweisen. Darüber hinaus gibt es weitere Beispiele, ganz zu schweigen von den Unternehmen und Personen, die es aus Angst vor solchen Sanktionen unterlassen, Beziehungen zu Kuba, egal welcher Art, aufzunehmen oder auszubauen. Ob nun Banken, Amazon oder die Bundesregierung, sie alle kuschen vor der Macht der USA, statt das Recht durchzusetzen. Und es ist durchaus möglich zu widerstehen.

Als die österreichische Bank Bawag nach Übernahme durch einen US-Fonds die Konten und Depots von rund 200 kubanischen Kunden kündigte, bezeichnete die österreichische Regierung das als ungesetzlich und leitete ein Verfahren gegen die Bawag ein. Daraufhin nahm die Bank ihre Entscheidung zurück.

Die EU-Verordnung läßt sich also durchsetzen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Dieser fehlt offensichtlich bei der gegenwärtigen Bundesregierung und hat auch bei allen vorangegangenen Bundesregierungen (unabhängig von den sie jeweils stellenden Parteien) gefehlt.

Es ist höchste Zeit, diese Unterwürfigkeit gegenüber völkerrechtswidrigen USA-Sanktionen anzuprangern. Es ist höchste Zeit, daß die Bundesregierung gegenüber den USA als unabhängiger und souveräner Staat auftritt, indem sie die in ihrem Lande geltenden Bestimmungen nicht mißachtet, sondern diese durchsetzt.

Die Bundesregierung ist aufgerufen, ihrer Stimme gegen die US-Blockade in der UNO konkrete Taten in Ausführung der EU-Verordnung folgen zu lassen. Wenn der normale Bürger gegen Verordnungen und Gesetze verstößt, wird er zur Verantwortung und Rechenschaft gezogen und bestraft. Darf geduldet werden, daß die Bundesregierung ungestraft gegen ihre eigenen Gesetze verstößt?

Dringend notwendig ist außerparlamentarischer und parlamentarischer Druck auf die Bundesregierung, endlich die eigenen gesetzlichen Bestimmungen durchzusetzen, wenn es um Kuba und die völkerrechtswidrige Handels-, Wirtschafts- und Finanzblockade der USA gegen dieses Land geht, das als unabhängiges und souveränes Land einen eigenen, von den USA unabhängigen Entwicklungsweg beschreiten will.

Gerhard Mertschenk
Berlin

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Oskar Lafontaine: Ami go home!

In einer Stellungnahme zu den US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 kritisiert Oskar Lafontaine (Partei Die Linke), daß man "nie souverän war".


Die USA führen Wirtschaftskriege mit vielen Todesopfern gegen die ganze Welt, jetzt auch gegen uns. Die Bundesregierung spricht von einem Eingriff in die Souveränität.

Welch ein Irrtum! Souverän waren wir nie. Seit dem Zweiten Weltkrieg bestimmen die Amis bei uns über Krieg und Frieden. Charles de Gaulle sagte 1963: "Verbündete zu haben ... ist für uns, in der geschichtlichen Ära, in der wir uns befinden, eine Selbstverständlichkeit. Aber seine eigene freie Entscheidungsmöglichkeit zu besitzen ... ist ebenfalls ein kategorischer Imperativ, denn Allianzen haben keine absolute Tugend, gleichgültig auf welchen Gefühlen sie beruhen. Und wenn man einmal die Verfügungsgewalt über sich selbst aufgibt, läuft man große Gefahr, sie nie wieder zu erlangen." Und François Mitterrand ergänzte später: "Man überläßt anderen nicht die Entscheidung, wenn Leben und Tod auf dem Spiel stehen."

Die Militärbasen der USA in Deutschland schützen uns nicht, sondern sie gefährden uns. Da sie ihre aggressive Einkreisungspolitik gegenüber Rußland und China mit einem gigantischen Kriegshaushalt von 738 Milliarden Dollar immer weiter forcieren, und durch die Kündigung des INF-Vertrages und die Stationierung von Raketen mit kurzen Warnzeiten an der russischen Grenze die Kriegsgefahr immer weiter erhöhen, ist es in unserem Sicherheitsinteresse, die US-Militärbasen auf deutschem Boden aufzulösen.

"Ami go home!", riefen die Studenten 1968, als die USA unter der Nutzung ihrer deutschen Militärbasen Millionen Menschen in Vietnam ermordeten. "Ami go home!", riefen die Menschen bei uns wieder, als die Amis mit der Lüge, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, den Irak-Krieg führten, der Hunderttausende das Leben kostete - wieder unter Nutzung ihrer deutschen Militäreinrichtungen.

"Ami go home!" müßte das Motto der deutschen Politik sein, nachdem immer klarer wird, daß die mächtigste Militärmacht der Welt in zunehmendem Maße das Völkerrecht mißachtet und die ganze Welt terrorisiert.

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Über Freiheit und Verantwortung (2)
Beitrag des Deutschlandsenders vom 13. Mai 1976

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Zur Verleihung des Menschenrechtspreises 2019 der GBM

Am 10. Dezember wurden zwei dem "RotFuchs" eng Verbundene - der "rote Pfarrer" Peter Franz aus Apolda und der Friedensaktivist und Publizist Horst Jäkel aus Potsdam - mit dem Menschenrechtspreis der "Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde" ausgezeichnet. Wir gratulieren den Geehrten und dokumentieren die Laudatio für Peter Franz sowie dessen Dankwort.


In dem Dörfchen Kirch Rosin bei Güstrow lebt und arbeitet Rolf Kuhrt, ein Maler, Graphiker und Bildhauer, der eng mit der GBM verbunden ist. Für den kleinen Friedhof vor seiner Haustür schuf dieser Atheist und Humanist aus Reinhardtsdorfer Sandstein einen Engel. Der kann nicht fliegen; schwer steht er vor dem Betrachter, einen Fuß vorgestreckt, als wollte er den Sockel, auf dem er steht, verlassen. In jeder Hand weist er ein Buch vor: Das Alte und das Neue Testament? Ein christliches Brevier und den Koran? Ein evangelisches Gesangbuch und den Talmud? Der Künstler läßt uns im unklaren und weist darauf hin: Es könnten auch die Bibel und das Kommunistische Manifest sein; du mußt dir das selbst ausdenken.

Urkommunismus und Urchristentum gehören auch in unserer Vorstellung zusammen. Wo ehrliche christliche Selbstvergewisserung und sozialistische Visionen eine Einheit bilden, sind Elemente eines kämpferischen Humanismus im Spiel. Für drei Theologen, die den Menschenrechtspreis der GBM bisher erhielten - für den Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus, für die Pastorin Bé Ruys und Professor Heinrich Fink - war und ist das selbstverständlich.

Und wenn wir heute unseren Freund Peter Franz mit dem gleichen Preis auszeichnen, einer kleinen Terrakotta-Figur des Bildhauers Gerhard Rommel, so stellen wir ihn in diese ehrenwerte Reihe. Er gehört zu den wenigen Theologen, die von der evangelischen Kirche unter Verlust sämtlicher Pensionsansprüche aus dem Dienst entfernt wurden. Diese Kirche, die sich selbst so gern als Hort der Bürgerrechtler feiert und das Gebot der Bergpredigt - die aktive Nächstenliebe - oft sträflich vernachlässigt, hat hier ein Menschenrecht verletzt. Der "rote Pfarrer von Kapellendorf" darf sich nicht mehr Pfarrer nennen.

1941 wurde er in Apolda geboren, wuchs in einem nicht religiösen Arbeiterhaushalt auf, ließ sich im 21. Lebensjahr taufen, absolvierte in Jena ein Theologiestudium und war Mitbegründer der Gruppe Religiöser Sozialisten in Thüringen.

Zu seinen großen Anregern und Vorbildern gehören Thomas Müntzer und Dietrich Bonhoeffer. Thomas Müntzer - Bruder Thomas, wie Peter Franz formuliert - distanzierte sich von Luther, dessen Theologie ihm zu obrigkeitshörig war. Viele von uns werden sich daran erinnern, welche Verehrung Thomas Müntzer in der DDR erfuhr. In seiner "Hochverursachten Schutzrede" von 1524 sagte er: "Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun.

Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muß ich aufrührerisch sein." Wir wissen auch von seiner Mahnrede vor den Fürsten in Allstedt und seiner letzten Predigt vor dem blutigen Gemetzel bei Frankenhausen. Werner Tübkes monumentales Rundbild auf dem Schlachtberg erinnert uns daran. Für Peter Franz war es selbstverständlich, daß er 1975 dem eben gegründeten Gemeindezentrum den Namen "Thomas Müntzer" gab. Auf seine Initiative hin wurde 1989 vor der Kapellendorfer Kirche ein keramisches Standbild dieses konsequenten Reformators eingeweiht, geschaffen vom Weimarer Künstler Eberhard Heiland, der u. a. 1983 die Wandnischen in der Bartholomäus-Kirche Kapellendorf bemalte und 1997 ein Buch von Peter Franz illustrierte. "Hinter der Mauer und doch frei. Ein Nachlesebuch von DDR-Christen" hieß dieses Buch, das im GNN-Verlag Schkeuditz erschien.

Von Dietrich Bonhoeffer, einer Leitfigur der Bekennenden Kirche, der noch am 9. April 1945 als Widerstandskämpfer im KZ Flossenbürg erhängt wurde, stammt der Satz: "Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung für den anderen Menschen auferlegt." Ich denke, lieber Peter, diese Verantwortung hat alle Deine Gedanken und Handlungen bestimmt. Du hast dafür gesorgt, daß in Deiner Gemeinde Seminarräume, ein Übernachtungshaus und ein Keller der Jungen Gemeinde entstanden. Du wurdest Mitglied der Christlichen Friedenskonferenz. Du organisiertest grenzüberschreitende Seminare und Begegnungen mit kirchlichen und Friedensgruppen aus anderen europäischen Ländern. Du warst Mitinitiator eines "Kreuzweges für den Frieden", den diese Friedenskonferenz in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald durchführte. Seit den Siebzigerjahren besuchtest Du mit Kindern und Jugendlichen die jüdische Synagoge in Erfurt und bautest eine vertrauensvolle Verbindung mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens auf. 1987 leitetest Du einen Teilabschnitt des kirchlichen Olof-Palme-Friedensmarsches, der von der Gedenkstätte Buchenwald bis nach Kapellendorf führte. Schon seit der Mitte der Achtzigerjahre warst Du mit der Erforschung des Schicksals jüdischer Familien in Deiner Heimatstadt Apolda befaßt.

Erst vor etwa vier Monaten sahen wir uns im ehemaligen Wohn- und Geschäftshaus der Familie des jüdischen Fellhändlers Bernhard Prager. Dort entstand unter Deiner Leitung eine würdige Gedenkstätte für Menschen, die im Ghetto Theresienstadt und im KZ Auschwitz ermordet wurden. Wir, meine Frau Maria und ich, haben im Prager-Haus anläßlich unseres Vortrages über jüdische Künstler gesehen, wieviel Mühe, wie viele Monate und Jahre ehrenamtlicher Arbeit Du, Deine Frau Sigrid und Deine Mitstreiter dort investiert haben. Du hast den Mut gehabt, Dich 1990 über Deine freiwillige Mitarbeit beim MfS zu offenbaren. Weil Du Dich weigertest, vom Pfarramt zurückzutreten, zogen sich die inquisitorischen Maßnahmen der evangelischen Kirche bis 1997 hin. Nachdem ich Dein Buch "Der rote Pfarrer von Kapellendorf. Als Christ und Sozialist im Diesseits" gelesen hatte, schrieb ich Dir: "Es ist ein Dokument entstanden, das durch Haltung, Wahrheitstreue und Authentizität besticht. Man kann nur den Hut davor ziehen. Die Schilderung der unsäglichen Vorgänge um die Stasi-Hysterie hat mich sehr bewegt. Manchmal sind es ja nur kurze Bemerkungen, die sowohl Deine Bescheidenheit illustrieren als auch den Stellenwert, den Du dieser 'Inquisition' beimißt. Du gehst die Dinge mit großem Selbstbewußtsein an. Andere sind daran zerbrochen."

1995 gab die GBM ein Weißbuch mit dem Titel "Unfriede in Deutschland. Kirche im Sündenfall" heraus. Darin wird anhand zahlreicher Dokumente deutlich, wie langwierig und quälend die Jahre dieser Hexenjagd für Dich und die Deinen waren. Eine unwahrhaftige Kirche führte ein - heute noch immer so genanntes - Amtszuchtverfahren gegen Dich, einen aufrechten Menschen. Angesichts der großen Solidarität, die du in dieser schweren Zeit erfahren hast, wird sehr klar, daß es - wie Dieter Frielinghaus damals schrieb - nicht um das Dilemma eines Pfarrers, sondern um ein Dilemma der Kirche ging.

Du lehnst Militäreinsätze konsequent ab und kritisiertest schon vor Jahren entsprechende Auslassungen des damaligen Bundespräsidenten Gauck. Am heutigen Tag der Menschenrechte erhält der Schriftsteller Peter Handke, der sich mit großer Klarheit gegen das Verbrechen des Jugoslawienkrieges aussprach, den Literaturnobelpreis. Dagegen empört man sich im Namen von "Freiheit" und "Demokratie". Bis in die Gegenwart geht auch die Hetze gegen Dich und Deine Haltung, lieber Peter, weiter. Als Dir vor drei Jahren der amerikanische Obermayer German Jewish History Award verliehen wurde, meldete sich Hildigund Neubert, die frühere Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Thüringen, mit dem Verdammungsurteil zu Wort, diese Entscheidung der Obermayer-Foundation sei falsch, denn Peter Franz habe der kommunistischen Diktatur gedient.

Wir sehen das anders. Gerade heute ist angesichts der wachsenden Gefahr, die vom Rechtsextremismus für die jüdische Gemeinschaft ausgeht, ein solcher Preis das richtige Zeichen - besser als bloße Betroffenheitsbekundungen ohne Konsequenzen. Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Prof. Dr. Reinhard Schramm, schrieb erst vor wenigen Tagen an dich: "Die berührende Aufarbeitung des jüdischen Erbes in Apolda hat mich ganz besonders beeindruckt und mit Dank erfüllt. Und nicht nur mich, wie Ihre Auszeichnung durch die USA bewies. Eigentlich müßte es eine deutsche Auszeichnung sein. ... Ich danke Ihnen für Ihren Protest gegen den unsensiblen Versuch, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Das Auschwitz-Komitee, die Jüdische Gemeinde von Berlin, Holocaust-Überlebende wie Horst Selbiger, Esther Bejarano und viele andere haben kopfschüttelnd bis entsetzt reagiert. ... Ich frage mich manchmal, was gibt es heute für Beamte und Richter? Der eine verbietet unseren Familien die Beschneidung ihrer Söhne, der andere nimmt die Beseitigung eines Opferverbandes in Kauf, andere sehen keinen Grund, eine bewußt organisierte Reihe von Rechtsextremistenaufmärschen zu Gedenktagen verhindern. Ich bin noch nicht müde, aber fühle mich zunehmend ohnmächtig."

Es sind nicht nur Anfänge, gegen die wir uns zu wehren haben. Faschistisches Denken und Handeln rücken zunehmend in die Mitte der Gesellschaft. Der Schoß, der noch fruchtbar ist, bringt immer neue, gefährliche Brut hervor. Das Gedächtnis der Menschen für erlittene Leiden ist - so nochmals Brecht - erstaunlich kurz. Geschichtsverdrängung und -verfälschung sind allgegenwärtig. Dagegen etwas zu tun, ist jeder von uns aufgerufen.

Heute ist ein wichtiger Tag für uns. Wir sind stolz darauf, einem Gleichgesinnten, der auch in der DDR aneckte und mit Kritik nicht zurückhielt, die höchste Auszeichnung der GBM zu überreichen. Dietrich Bonhoeffer formulierte: "Unrecht leiden schadet keinem Christen. Aber Unrecht tun schadet." Das sei der offiziellen, staatstreuen Kirche von heute ins Stammbuch geschrieben. Und die beiden Bücher, die der Engel auf dem Kirch Rosiner Friedhof in den Händen hält, bleiben für uns Zeichen der Toleranz, die Unrecht nicht duldet.

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Aus dem Dankwort von Peter Franz

Daß ich ein Träger des Menschenrechtspreises 2019 sein soll, versetzt mich in den Zustand der Verwunderung. Was soll ich getan haben, daß die Menschenrechte nun besser geachtet werden? Ich habe nichts anderes getan, als was ein Theologe zu tun hat: Menschen in den Grenzsituationen des Lebens zu beraten und ihnen Hoffnung zu geben. Und Menschen, die in der Mitte des Lebens stehen, dafür zu gewinnen, sich der Vergangenheit zu stellen, in der von Deutschen so viel Unglück über Menschen und Völker gebracht wurde. Ich habe dabei mitgeholfen, daß das Handelshaus eines jüdischen Fellhändlers als Zeugnis für jüdisches Leben bewahrt und saniert wurde. Habe ich damit etwas für die Geltung der Menschenrechte heute getan? Ich hoffe, daß die, die diesen Lern- und Gedenkort heute besuchen, sich ihrer Verantwortung für ein Leben für Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität stärker bewußt werden.

In einem Internet-Lexikon-Artikel über die GBM muß man lesen: Der Berliner Verfassungsschutz sieht in den GBM-Menschenrechts-Preisträgern Personen, die dieser Gesellschaft GBM ideologisch nahestehen. In diesem Punkt gebe ich diesem bundesdeutschen Sicherheitsorgan sogar recht: Ich stehe den Mitgliedern dieser Gesellschaft nahe, die sich für Frieden, Abrüstung und die Geltung der Menschenrechte einsetzen, aber nicht den Parteien, welche den Befehl zur Bombardierung Belgrads gaben, welche die strategische Umzingelung Rußlands betreiben und welche die Rüstungsausgaben der BRD gehorsamst auf zwei Prozent des Bundeshaushalts hochtreiben wollen. Ich bin dankbar, daß es eine Gesellschaft wie die GBM gibt, die sich für die Geltung der sozialen und individuellen Menschenrechte in ihrer Gesamtheit stark macht. Für das erste Menschenrecht, das Recht auf Frieden und die daraus folgenden Pflichten, werde ich mich einsetzen, solange mir die Kraft dafür gegeben ist. Ich danke Ihnen!

10. Dezember 2019
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Dr. Peter Michel
Berlin

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Lotte und Lisa

Sie wollte immer nach Paris. Seit ewigen Zeiten schon. Wenn ich mal Rentnerin bin ...! schwärmte sie oft. Wie die Mascha in Tschechows "Drei Schwestern" stetig jammerte: "Nach Moskau, nach Moskau ...!" Ich wußte gar nicht, was sie da will, in Paris.

Für das Promenieren auf dem Place Pigalle ist sie nicht mehr jung genug. Für Sacre Coeur und Notre Dame nicht genug gläubig, und im Künstlerviertel Montmartre könnte sie nicht heimisch werden, da sie für ein Leben als Bohemienne zu nüchtern und zu realistisch ist. Also was bleibt? Eiffelturm vielleicht, die Metro, der Fischmarkt eventuell noch. Na und?! Sie wunderte sich, daß sie mich mit ihrer Schwärmerei nicht anstecken konnte. Und der Louvre, flüsterte sie mit glänzenden Augen. Na ja, der Louvre. Der stand, gebündelt in Alben, in unserem Bücherschrank. Meist unbenutzt.

"Aber Original!", sagte sie. Sozusagen life!

Also gut, Mona Lisa life. Das ist schon was. Für Frauen vielleicht. Sie sehen sich sozusagen selbst, im Original. Was ist also von solch flüchtigen Stippvisiten, wie sie jetzt überall angeboten werden, Tiefgründiges zu erwarten? Egal. Auf nach Paris! Holiday macht's möglich.

Um 6 in der herbstlichen Früh im Jahre 2 der neuen Zeit, Abfahrt Alexanderplatz mit dem Bus. Sechzehn Stunden Fahrt mit Pinkelpausen und Wiener Würstchen aus dem Container. Während ich noch nach einem sicheren Parkplatz im Gewirr um den Alex umherirrte, verstaute meine Frau das Handgepäck und belegte die Plätze. Es war noch dunkel, als ich abgehetzt und in letzter Minute in den Bus stürzte und mich neben ihr auf den Sitz fallen ließ.

Sie legte den Finger auf die Lippen, machte psssst! und bedeutete mir, mehr durch Gesten als durch Flüstern, daß hinter uns vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, eine wichtige Person säße. Eine sogenannte - wie man heute sagen würde - feminine VIP. Der Sitz hinter uns eine VIP-Lounge?

Ich lachte und machte zu ihr eine stumme Geste, die bedeuten sollte, du spinnst wohl! Sie schüttelte heftig den Kopf und flüsterte, nahe bei meinem Ohr: "Hinter uns sitzt eine alte Dame", sie verbesserte sich: "Eine alte Frau. Vorhin, als ich einstieg, glaubte sie mich allein, zupfte mich am Jackenärmel und bot mir den Platz neben sich an. Ich erklärte ihr aber, daß ich meinen Mann erwarte, der nach einem Parkplatz sucht."

Ich flüsterte verständnislos, was daran so wichtig sei. Meine Frau drang mit ihren Augen fast in mich hinein: "Ich glaub, das ist Lotte!" "Welche Lotte?" Ich ließ mich fast anstecken von ihrem wichtigtuerischem Gehabe. "Na, Lotte! Lotte Ulbricht!"

Ich mußte beinahe auflachen. Lotte Ulbricht, die Frau des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden, fast ein Vierteljahrhundert die First Lady des ersten und allem Anschein nach vorläufig letzten Arbeiter-und-Bauern-Staates. Die Frau des Mannes, von dem einer der wichtigsten westlichen Publizisten, Sebastian Haffner behauptete, daß er der begabteste deutsche Politiker seit Bismarck gewesen sei. Hier im Bus? In der Billigschleuder von Holiday? Mit fast 90 Jahren und 16 Stunden mit Pinkelpause?!

Jetzt wiederholte ich sehr deutlich die Geste von vorhin. Ich stand auf, zog meine Jacke aus, um sie im Gepäcknetz zu verstauen, sah mich unauffällig im Halbdunkel um, da fuhr der Bus los. Mit einem solchen Ruck warf der Fahrer den Gang rein, daß ich wankte, fast den Halt verlor und beinahe auf die Frau hinter meiner Frau, also die Dame unserer Neugier, fiel. Auf eine kleine, zierliche und man konnte schon sagen, ziemlich ältere Person.

Stotternd entschuldigte ich mich und rutschte bei der nächsten Gangschaltung in meinen eigenen Sitz. "Nun", fragte die Meine, "du kennst doch Lotte?" Ich nickte ergeben. "Ich glaub, du hast recht. Das könnte sie sein."

Ich begegnete Lotte Ulbricht zum ersten Mal anläßlich eines Künstlerempfangs im Staatsratsgebäude. Leutselig wandte sie sich damals mir zu und befragte mich ganz kurz über meine Zusammenarbeit mit einem ihrer Favoriten, dem ehemaligen Rennfahrer Manfred von Brauchitsch. Sie bekannte ganz offen, daß sie ein Fan von ihm sei, von dem großen, blonden, imposanten Pistenhelden mit den strahlend blauen Augen, dem Urbild des deutschen Adels. Der im politischen Leben so tapfer und mutig sei wie auf der Rennstrecke hinterm Lenkrad. Und - fuhr Lotte fort - sich so deutlich zu unserem Staat bekenne. Sie sprach sich lobend aus über Jürgen Frohriep, der den Brauchitsch spielte.

Bei dem ersten Autobahnpäuschen - es war inzwischen hell geworden - wurde es zur Gewißheit. Die alte Dame war tatsächlich Lotte die Erste. In schlichtem grauem Kostüm, gepflegt und wohlonduliert. Sie wurde begleitet und ein wenig abgeschirmt von einem jüngeren Ehepaar aus Pankow, das im Bus hinter ihr saß. Als alle ausgestiegen waren, fragte ich den Busfahrer, ob er eine Lotte Ulbricht auf seiner Liste hätte. Er schaute nach und bestätigte es. Als ich ihm sagte, wer die besagte Mitfahrerin sei, winkte er lachend ab, so hießen wohl viele. Und außerdem sei die von mir vermutete längst in der Schweiz in einer Luxusvilla. "Bild" hätte ausführlich darüber berichtet. Und wenn die wirklich mal nach Paris will, zum Friseur oder so, dann fliegt sie, oder fährt I. Klasse mit Schlafwagen. Beim Einsteigen fragte er launisch und spaßhaft: Lotte, wo ist denn der Walter? Geistesgegenwärtig und gar nicht ärgerlich antwortete sie freundlich, Walter sei tot. Das wisse man doch. Inzwischen sprach sich das in der Reisegruppe herum und man hielt allgemein mit neugieriger Distanz geziemenden Abstand.

Und dann kam unser Traumziel. Wir wurden in einem Arbeiterviertel der Pariser Vorstadt in zwei verschiedenen kleinen Pensionen untergebracht. Nichts unterschied sich hier vom ähnlichen sozialen Umfeld unserer eigenen Herkunft. Wäsche auf Balkonen, Hinterhöfe mit abgeblättertem Putz, glitzekleine Zimmerchen, kaum Durchgang zwischen Betten und simplem Spind. Zum Frühstück Kaffee und Croissants. Das war's. Holiday, Holiday!

Aber Paris! Zwar im Eiltempo, doch zur vollen Zufriedenheit meiner Frau ging es durch Notre Dame, Moulin Rouge, La Defense, Sacre Coeur, Place Pigalle, dann im Galopp über Montmartre und den Friedhof. Kaum Zeit, die obligaten Steinchen auf einige Gräber, darunter Heinrich Heines, zu legen.

Vor Bonapartes Grab trat ich in die Fußstapfen Mitterrands, und dann standen wir auf dem Eiffelturm und sahen auf die Riesenstadt hinab. In der Dämmerung gingen Haus für Haus, Stadtteil für Stadtteil die Lichter an.

Alle berühmten Fixpunkte der Metropole wurden, in strahlendes Scheinwerferlicht getaucht, sichtbar.

Die berühmteste, geheimnisvollste und interessanteste Großstadt Europas bereitete sich vor auf die Turbulenzen des Abends und der Nacht. Ein unvergeßlicher, unvergleichlicher Anblick. Paris wie im Traum. Man sah und hörte mit allen Sinnen: die Piaf, Charles Aznavour, die kleine Mireille Mathieu, den großen Maurice Chevalier, Schauspieler und Kinder des Olymp von Jean Cocteau.

Ich wollte gerade meine Begeisterung und Ergriffenheit mit dem jungen Mann neben mir teilen, einem Apotheker, wie sich später herausstellte, da bemerkte ich, daß dieser nicht nur finster schaute, sondern leise und verbittert etwas vor sich hinmurmelte. Ich fragte besorgt, ob ihm etwas fehle.

Böse stieß er hervor, daß er keinen Genuß hätte, weil er diesen Blutsaugern aus Pankow in unserer Reisegruppe dies alles nicht gönne. Das Wort Blutsauger ist mir noch in deutlicher Erinnerung.

Vorsichtig versuchte ich gegenzusteuern. Der Mann war aber im Augenblick keinem Argument zugänglich.

Ich sagte ihm, was ich inzwischen von Lottes Begleitung erfahren hatte, daß sie hierher fuhr, um die Stätten aus ihrer Emigrationszeit wiederzusehen. Die Verstecke, in denen sie nach ihrer Flucht aus Deutschland mit ihrem späteren Mann und anderen Genossen Zuflucht gefunden hatten. Von denen aus sie die Nazis mit ihren wenigen Mitteln bekämpften, bevor sie auch hier vertrieben wurden, ins Moskauer Exil. Emigrantennostalgie, wenn man so will.

Egal, zürnte der Apotheker. Die gehören nicht auf den Eiffelturm, sondern hinter Gitter. Die Franzosen hätten damals 1789 mit ihren Peinigern kurzen Prozeß gemacht und sie aufs Schafott geschleppt. Also die rumänische Lösung? fragte ich.

Er zögerte, dann meinte er, er sei Apotheker. Da gebe es andere Mittel. Humanere. Behutsam riet ich dem maßlos erregten Mann, er wohne doch in der gleichen Pension wie die Geschmähte. Er solle doch - und das sagte ich spaßhaft lachend - bevor er ihr etwas in den Morgenkaffee gäbe, erst mal nach den humanen Gründen ihrer Weltanschauung und ihrem politischen Verhalten fragen. Er wandte sich mit einem fast angeekelten Gesichtsausdruck von mir ab und meinte, eher würde er sich die Zunge abbeißen. Und dann der LOUVRE! Ich will all die unermeßlichen Schätze übergehen, die wir im Schnelldurchlauf einverleibt und eingetrichtert bekamen, und zum Höhepunkt kommen. Eine kleine Absperrung trennte uns von dem Bild der Bilder, der Frau der Frauen, die uns mit dem berühmtesten Lächeln der Welt anblickte.

Und nun die beiden gegenüber: Die junge, schöne, geheimnisvolle Frau auf dem Bild, La Gioconda, wie sie auch genannt wird, um die sich Legenden bildeten, und die alte Frau, schon Greisin, gezeichnet von Flucht, Emigration, Sorgen, um die sich auch Legenden bildeten.

Lange schaute Lotte auf die Mona Lisa. Meine Frau stand seitlich und beobachtete beide, die weltberühmte märchenhaft schöne junge Frau auf dem Bild und die nicht erst nach der Wende vielgeschmähte alte Dame vor dem Bild.

Ich hatte alle drei Frauen im Blick. Leonardos Schöpfung, die jahrelange First Lady unseres vergangenen Staates und meine, wie ich rühmen darf, bescheidene Liebste. Lottes Blick war gedankenvoll, ganz versunken in die romantische Poesie des künstlerischen Ausdrucks, den Leonardo gefunden hatte. Oder war es einfacher, schlichter?

Frauen vergleichen. Ob sie wollen oder nicht. Sich mit anderen. Instinktiv. Das liegt in ihren Genen. Und sie vergleichen unerbittlich. Figur, Gesicht, Haar, Augen, Mund, alles. Auch das Alter! Logisch, brauche ich auch nicht weiter auszuführen. Kennen wir doch.

Was denkt sie also so versonnen, die Lotte? Denkt sie nach über die ewige Jugend, die der Künstler herzustellen in der Lage ist, über die Vergänglichkeit des Lebens? Ihr Alter? Was ihr noch bleiben wird nach dieser Reise? Bewundert sie die Haut, die faltenfreie, die Reinheit des Ausdrucks, das verborgen Geheimnisvolle an dem Bild?

Was sieht meine Frau? Vergleicht sie sich auch unbewußt mit den beiden? Der Jungen und der Alten? Sie steht im Lebenszenit, auf dem Scheitelpunkt des Daseins.

Die im Bild noch in der Jugendkraft, im vollen Saft der Fraulichkeit. Die andere, die Greisin, schon an der letzten Schwelle.

Hinter uns kam und ging man. Wir blieben. Lotte konnte sich nur schwer trennen, das merkte man. Dann standen wir vor der gläsernen Eingangspyramide und warteten auf den Bus. Einige, darunter auch ich, zückten verstohlen die Kamera und fotografierten, harmlos tuend, die Umgebung und versuchten, Lotte wenigstens auf den Bildrand zu kriegen. Da wurde sie mit einem Male fuchtig und maulte: "... könnt ihr ja an die Bildzeitung schicken!" Mir schien, als ob ihr Blick zufällig auch mich streifen würde.

Liebe Lotte, war ich versucht zu sagen, da sei unbesorgt. Ich lebe auch, wie du, und kann mir auch kein anderes Beförderungsmittel als HOLIDAY leisten, um das Land der Großen Französischen Revolution zu besuchen.

Abends in dem kleinen Obst- und Gemüsegeschäft gegenüber unserer Pension. Der Besitzer, ein älterer Algerier, fegte schon den Laden aus, als ich als einziger und wohl letzter Kunde ein paar Äpfel und eine Tüte Resées, Weintrauben, kaufen wollte. Neugierig und freundlich fragte er, woher, wohin. Als ich sagte, daß ich aus Ostdeutschland, der DDR komme, umfaßte er mich, tanzte mit mir zwischen den Obstkisten durch seinen kleinen Laden und sang dabei: Algerique und DDR - das ist das gleiche. Er könne sich genau noch an die Solidarität meines Landes in der Zeit des algerischen Freiheitskampfes erinnern. Und jetzt sei die DDR von den Deutschen okkupiert.

Mein französischer Wortschatz reichte nicht aus, um ihm die Differenziertheit des Vereinigungsprozesses zu erklären. Es gelang mir ja schon in meiner Muttersprache nicht, ihn leicht verständlich zu machen.

Als offenbar wurde, daß ich aus Berlin komme, wo sein Sohn 1973 zu Gast war bei den Weltfestpielen der Jugend und Studenten, wurde aus Solidaritée sofort Amitée, Freundschaft. Die Tüte Äpfel, die Weintrauben und einige Kilo Pfirsiche wurden mir mit vielen Grüßen - auch an Madame! - geschenkt.

Dann die Abreise. Wir fuhren mit unserem Bus das zweite, kleinere Hotel an, um die anderen Reisegäste mitzunehmen. Da vollzog sich vor unseren Augen ein kleines Wunder. Aus dem Entrée kam ein Pärchen, wie es trotz aller Unterschiedlichkeit im Alter trauter nicht sein könnte: der Apotheker mit Lotte Ulbricht. Beiden folgte Lottes Pankower Leibgarde wie die Trauzeugen bei einer Hochzeit. Der junge Mann hatte seine Reisetasche umgehängt, trug rechts Lottes Koffer und links ihre Tasche.

Lachend und im vertraulichen Gespräch führte er sie zum Bus, verstaute ihr Gepäck, half ihr beim Einstieg und setzte sich - wie selbstverständlich - neben sie. Mehr als die Hälfte der langen Reise sah und hörte man sie lebhaft miteinander schnattern und lachen. Bei der ersten Erholungspause stand ich neben ihm.

Na, junger Mann, fragte ich freundlich, wie steht es mit ihrer abgebissenen Zunge? Er lächelte und wiegte verlegen den Kopf. "Na ja, wenn man sich das alles anhört, was die erlebt haben. Und was sie wollten, aber nicht geschafft haben. Die Gründe und alles. Ist ja ne intelligente Frau." Er meinte auf dem Weg zum Bus: "In vielem erinnert sie mich an meine Oma. Ganz passabel, ganz patent. Nur - damals hab' ich nicht so richtig zugehört, als die erzählte."

In den Erinnerungen von Lotte Ulbricht steht, daß sie damals in Paris einen Verehrer gefunden hätte, der ihr Fan blieb. Einen jungen Apotheker.

Niemals hat sie erfahren, daß ich es war, der ihn ihr auf den Hals gehetzt hatte.

Rudi Kurz

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Ulbricht und der liebe Gott

Tag des Lehrers 1952. Ich bin zu der Festveranstaltung im Hause des Zentralkomitees eingeladen. Während einer Programmpause gehe ich gedankenverloren einen der schier endlosen Korridore entlang, um für Minuten dem Stimmengewirr im Saal zu entfliehen. Da kommt plötzlich jemand eilenden Fußes vorbei und fragt: "Hast du irgendwo die Margot gesehen?" Verärgert über die Störung in meiner Meditation antwortete ich flapsig: "Bin ich etwa Jesus?" Dann schaue ich hoch, und es entfährt mir: "Großer Gott - Genosse Ulbricht!" Der - sichtlich amüsiert - sagt: "Die Heilige Dreifaltigkeit scheinst du ja zu kennen, hoffentlich weißt du auch im Marxismus Bescheid!" Sprach's und eilte auf der Suche nach Margot weiter ...

Und das ausgerechnet mir - dem Dozenten für Marxismus-Leninismus am Institut für Lehrerbildung in Meiningen ...

Hellmuth Hellge

(Erstveröffentlichung im RF 146, März 2010)

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Was die BRD von Beginn an plante ...

Am 6. Juli 1950 wurde das Abkommen zwischen der Provisorischen(1) Regierung der am 7. Oktober 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Republik Polen über die Markierung der Oder-Neiße-Friedensgrenze von den Ministerpräsidenten beider Staaten Otto Grotewohl und Józef Cyrankiewicz in Zgorzelec (östlich der Neiße gelegener Teil der Stadt Görlitz) unterzeichnet.

Schulausgaben des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland dagegen hat man eine Landkarte "Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg (in den Grenzen von 1937)" beigefügt, in der die ehemaligen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie als "Unter polnischer Verwaltung" und (das nördliche Ostpreußen) "Unter sowjetischer Verwaltung" stehend bezeichnet wurden. Auch zeigten täglich die Wetterkarten im westdeutschen Fernsehen Deutschland in den Grenzen von 1937.

Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hatte bereits in einer Regierungserklärung am 7. April 1954 zum Ausdruck gebracht, "daß es nur einen deutschen Staat gibt, gegeben hat und geben wird, und daß es einzig und allein die Organe der Bundesrepublik sind, die heute diesen niemals untergegangenen deutschen Staat vertreten".(2)

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges 1945 befand sich Berlin als Hauptstadt des ehemaligen Deutschen Reiches inmitten der sowjetischen Besatzungszone. Dort hatte auch der Alliierte Kontrollrat der vier Siegermächte seinen Sitz. Die Stadt wurde daher bis zum Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland in vier Sektoren aufgeteilt: den US-amerikanischen, britischen, französischen und demokratischen. Zum Schutz der westlichen Stadtkommandanten waren in den entsprechenden Sektoren Truppen stationiert.

Zwischen den Sektoren gab es keine befestigten Grenzen. Es gab lediglich Hinweisschilder an den betreffenden Straßen, wie z. B.: "Achtung, in 300 Metern verlassen Sie den amerikanischen Sektor". Die Versorgung mit Wasser (einschließlich die Entsorgung der Abwässer), Strom, Gas, Eisen- und S-Bahn sowie Verpflegung erfolgte vorwiegend aus Berlins Umland, das zur sowjetischen Besatzungszone gehörte.

Am 13. August 1961 wurde auf Beschluß des Warschauer Vertrages (also nicht auf Anordnung Walter Ulbrichts, wie gern erzählt wird) die anormale Situation der offenen Grenze zwischen Westberlin und dem demokratischen Sektor von Berlin (seit Oktober 1949 zugleich Hauptstadt der DDR) und den europäischen sozialistischen Ländern beendet und die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin gesichert.

Wie es die Hauptfunktion von Brücken ist, zu verbinden, ist es seit alters her - auch bei jedem Hausbau - die Hauptfunktion von Mauern, zu schützen. So wurde auch die Staatsgrenze der sozialistischen DDR zum kapitalistischen Westberlin im Laufe der Zeit als Mauer gestaltet, die dann nach Verhandlungen mit dem Westberliner Senat an Übergangsstellen mit offiziellen Papieren passiert werden konnte. In Westberlin hatten der DDR feindlich orientierte Funk- und Fernsehstationen sowie Geheimdienste ihre Dienststellen. Es handelte sich um ein weltgeschichtlich sensibles Gebiet, um eine Art Schnittstelle zwischen Kapitalismus und Sozialismus in Gestalt von Nordatlantik-Pakt (North Atlantic Treaty Organization, gegründet am 4. April 1949 in Washington von den USA, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Island, Kanada, Griechenland, Türkei, Portugal und der BRD) und Warschauer Vertrag (gegründet am 14. Mai 1955 in Warschau von der UdSSR, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien und der DDR).(3)

Regierung und Parlament (Bundestag) der BRD hatten ihre Sitze in Bonn am Rhein und maßten sich an, für alle Deutschen zu sprechen. So erklärte der Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) am 10. November 1965: "Die Bundesregierung hält an ihrem Alleinvertretungsrecht für alle Deutschen fest." Sein Nachfolger Kurt Georg Kiesinger sagte am 13. Dezember 1966 in seiner Regierungserklärung: "Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen!" Zwei Tage später erklärte der CDU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel, "... es werde nichts geschehen, was völkerrechtlich oder faktisch in der Weltmeinung als ein Abrücken von unseren Grundsätzen der Nichtanerkennung der S[owjetischen] B[esatzungs-] Z[one], [d. h. der DDR - E. K.] als eines zweiten deutschen Staates gedeutet werden müßte".

Es wurde die fiktive und völkerrechtswidrige These vertreten, daß die BRD als einzig völkerrechtlich existierender Staat juristisch mit dem ehemaligen Deutschen Reich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 identisch sei. Im Februar 1966 ließ Bundesminister Johann Baptist Gradl verlautbaren, daß er einen Anschluß der DDR für möglich hielt, weil die Bundesrepublik nicht mehr "der verlorene Haufen des Zusammenbruchs der Nachkriegsjahre" sei, sondern ein Staat, der "militärisch wieder zählt".(4)

Fünf Monate später wurde in diesem Sinn der 4. Tätigkeitsbericht 1961/65 des Forschungsbeirates beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zu Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands vorgelegt. Es sei die Aufgabe, "die Wirtschaft und Gesellschaft Mitteldeutschlands (gemeint war die DDR - E. K.) freiheitlich zu formen, um sie so mit

Westdeutschland zu einem einheitlichen deutschen Wirtschafts- und Sozialkörper zu integrieren, (...) vorbereitende wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen der Wiedervereinigung entsprechend den Grundsätzen der Markt- und Wettbewerbswirtschaft zu ordnen".

Punkte des vorgeschlagenen Sofortprogramms waren z. B. die Beseitigung der volkseigenen Betriebe, die Überführung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in privatwirtschaftliche Betriebsformen, die Errichtung privater neben öffentlichen Banken, die Beseitigung der politischen Positionen der Arbeiterklasse in Wirtschaft und Politik, Bildung von "Arbeitgeber" verbänden und die Vereinbarung von Arbeitsbedingungen durch Tarifparteien, Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung, Beseitigung des (der BRD überlegenen) Bildungswesens und der Lehrlingsausbildung der DDR, die Herauslösung der Wirtschaft der DDR aus dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und ihre Einbindung in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Schließlich hieß es: "Natürlich muß die Entwicklung weiter systematisch verfolgt (...) werden. (...) Im Ganzen aber läßt sich jetzt schon feststellen, daß im Bereich des Wirtschaftlichen und Sozialen für den reibungslosen Gesamtablauf der Wiedervereinigung gedanklich und planend vorgesorgt ist."(5)

Am 13. August 1961 war in Berlin zum amerikanischen, britischen und französischen Sektor der Stadt die Westgrenze der DDR geordnet worden. Damit war die Staatlichkeit des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates vollendet, denn neben der öffentlichen Gewalt (d. h. dem Regierungs- oder Machtapparat) und der Steuererhebung ist das funktionierende Grenzregime ein weiteres wichtiges Kennzeichen für das Vorhandensein eines Staates.(6)

US-Präsident Kennedy sah nach diesem Vorgang keinen Grund zum Eingreifen, denn das Recht der Westmächte auf Anwesenheit in Westberlin war nicht verletzt, der Zugang der US-Truppen nach Westberlin durch das Gebiet der DDR war gewährleistet, und die Bevölkerung Westberlins behielt das Recht, die Zukunft und Lebensform zu wählen und zu gewährleisten.(7)

Nachdem 1964 die Sowjetunion der DDR eine 20jährige Bestandsgarantie gegeben hatte, begannen der westdeutsche Außenminister Willy Brandt und Egon Bahr (beide SPD) in der großen Koalition unter Kiesinger (CDU), die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland (BRD) nach der Losung "Wandel (der DDR) durch Annäherung" neu zu konzipieren.

Am 7. November 1972 erklärte Bundeskanzler Brandt zum Abschluß der Verhandlungen über den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen der BRD und der DDR in Bonn: "Wir stehen am Vorabend eines bedeutsamen Ereignisses, dem Beginn der Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Der Vertrag liegt zur Paraphierung vor. Mit diesem Vertrag brechen wir das Eis auf, in dem das Verhältnis zwischen uns und der DDR für viele Jahre eingefroren war. Auf der Basis der Gleichberechtigung werden wir umfassend die Zusammenarbeit beginnen."(8)

Beide deutsche Staaten richteten in Bonn und Berlin Ständige (diplomatische) Vertretungen ein. Daraufhin konnten beide im Herbst 1973 Mitglieder der UNO werden; die DDR stellte turnusmäßig ein halbes Jahr lang den Vorsitzenden des UN-Sicherheitsrates.

Die internationale Situation in Europa änderte sich nach dem Tod des sowjetischen Präsidenten Leonid Breshnew 1983 und nach den kurzfristigen Amtszeiten seiner zwei Nachfolger Andropow (gest. Febr. 1984) und Tschernenko (gest. März 1985). In Europa begann die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen. Michail Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU, kam 1987 mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan zum Abkommen über die Beseitigung nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa und wurde 1990 zum Staatspräsidenten der UdSSR gewählt.

Im Juli 1989 war ich für den Band IV/25 der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) zum Quellenstudium im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam tätig. Der Aufenthalt fiel mit dem 200. Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution von 1789 bis 1794 zusammen. Man machte mich im Institut darauf aufmerksam, daß in Zeitungen nach kurzer Bezugnahme auf die Französische Revolution auf die Gorbatschowsche Perestroika und die Lage in Europa umgeschwenkt wurde. Im Fernsehen machte sich der Chefredakteur vom Westdeutschen Rundfunk zu Köln Sorgen um - ich dachte, ich höre nicht richtig - "unsere" Perestroika, die Gefahr laufe, zu kippen angesichts der wachsenden Unzufriedenheit unter der sowjetischen Bevölkerung, wenn der Westen nicht mehr tut! Es kam mir überhaupt vor, als würde die DDR von West und Ost in die Zange genommen.

Prof. Dr. Eike Kopf
Beijing


Anmerkungen

(1) D. h. vorbehaltlich des Friedensvertrages der Siegerstaaten mit dem am 8. Mai 1945 besiegten Deutschland

(2) SBZ-Archiv, Köln, vom 20. April 1954, S. 112

(3) Jüngst zum 70. Jahrestag am 4. Dezember 2019 wurde in London vom Generalsekretär der NATO das Märchen erzählt, letztere sei als Reaktion auf die Gründung des Warschauer Vertrages geschaffen worden.

(4) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, Nr. 30, vom 13.2.1966, S. 258

(5) 4. Tätigkeitsbericht des Forschungsbeirates 1961/65, S. 16-18, 265-273, 22, 238, 294, 459, 261-265, 19, 20

(6) Siehe Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Dietz-Verlag, Berlin 1956 ff. (nachfolgend: MEW), Bd. 21, S. 165/166

(7) Siehe das faktenreiche Buch von Gunter Görner: Völkerrecht im Kontext seiner Zeit. Aufzeichnungen eines deutschen Diplomaten. Rockstuhl-Verlag, Bad Langensalza 2014

(8) Ebenda, S. 188

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Gedanken eines Geflüchteten zu einem irritierenden Film

Vor was sind DDR-Bürger eigentlich geflohen?

Als 17jähriger Asylbewerber aus Afghanistan kam ich nach Deutschland - mit großen Hoffnungen. Was ich in meinem Leben bisher schon alles durchgemacht habe, "geht auf keine Kuhhaut", wie man in Deutschland sagt. Aber ich hatte auch Glück. Ich traf im "Eine-Welt-Verein Vogtland" nette Menschen, erhielt Hilfe, wenn ich sie brauchte, und konnte vor anderthalb Jahren eine Lehre als Landschaftsgärtner beginnen. Während mir die praktische Ausbildung keine Schwierigkeiten bereitet, sieht das in den theoretischen Ausbildungsfächern mitunter nicht ganz so gut aus. Zum Glück fand ich im Verein einen früheren Deutschlehrer, und ich bin sehr froh, daß er mir hilft, die theoretischen Anforderungen zu bewältigen. In der Berufsschule wurde im Deutschunterricht der Film "Der Ballon" gezeigt, und wir sollten unsere Meinung dazu aufschreiben. Das war für mich nicht ganz einfach. Mit Hilfe des Lehrers habe ich es geschafft, und ich möchte meine Gedanken nun auch den Lesern des "RotFuchs" mitteilen.

Öfter nehmen wir die Zeitschrift zur Hand, um "verstehendes" Lesen zu üben und uns über Inhalte auszutauschen. Für mich ist das sehr interessant. Die Dokumentation, die wir sahen, handelte von einer Flucht mit einem Heißluftballon über eine Grenze. Er erinnerte mich an meine eigene Flucht aus Afghanistan nach Europa. Aber er hat bei mir mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Eine Flucht über eine Staatsgrenze ist doch kein Abenteuer! Bei unserer Flucht mußten wir mehrere Staatsgrenzen überqueren, und immer wieder wurden wir gejagt und verfolgt. Wir kannten unser Risiko. Wir mußten aus einem Land fliehen, das zwar unser Heimatland war, aber in dem jeden Tag unzählige Menschen umgebracht werden, weil sie die Auffassung der Taliban nicht teilen. Sehr viele wünschen sich Frieden, Freiheit und ein besseres Leben. Nur wenige können in Länder gehen, die ihnen ein sicheres und würdiges Leben bieten. Und die, welche gehen können, möchten durch ihre Arbeit Geld verdienen und ihre alten Eltern oder ihre jüngeren Geschwister unterstützen. Viele zu Hause sind krank, haben nicht genug zu essen und leiden unter dem Krieg. Diese Leiden konnte ich bei den Leuten im Film nicht bemerken. Sie wollten in die "Freiheit", riskierten ihr Leben. Ich verstehe in diesem Zusammenhang das Wort Freiheit nicht. Was für eine Freiheit sollte das sein?

Konnten die Menschen in der DDR nicht leben? Hatten sie zuwenig zu essen? Hatten sie keine Arbeit? Hatten sie keine medizinische Versorgung, wenn sie krank waren? Durften sie nicht oder nur wenige Jahre in die Schule gehen, oder durften Mädchen das überhaupt nicht, wie in vielen afghanischen Provinzen? Ich glaube, die Menschen im Film riskierten ihr Leben für viel weniger. Manchmal nennt man uns Wirtschaftsflüchtlinge - wie sollte man die Flüchtlinge im Film nennen?

Da der Film einen realen Hintergrund hat und die Flucht wahrscheinlich wirklich so oder so ähnlich stattfand, verstehe ich nicht, wie man ein solches Risiko eingehen und auch das Leben von eigenen Kindern so gefährden kann. Von einer großen Freiheit in Deutschland haben meine Freunde und ich auch geträumt, aber wenn man, wie im Vogtlandkreis schon passiert, von der Arbeit abgeholt und (ohne daß man etwas verbrochen hat) nach Afghanistan abgeschoben wird, kann ich keine Freiheit erkennen.

Wovor ist man geflohen? Meine Flucht war zwar kein Zuckerschlecken, ich wurde unterwegs auch geschlagen und wurde mehrere Monate wegen illegalem Grenzübertritt ins Gefängnis gesteckt, aber ich bin um mein Leben geflüchtet, deshalb kann ich den Film nicht richtig einordnen. Das liegt vielleicht auch daran, daß ich aus Afghanistan bin und die deutsche Geschichte nicht genügend kenne. Als ich den Text abgab, lächelte mich mein Lehrer, nachdem er ihn gelesen hatte, wortlos an. ...

Mohamad Ali Mirzai
Plauen

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Vom Mißbrauch des Sports für politische Zwecke

Die skandalöse Entscheidung der "WADA" (World Anti-Doping Agency) vom 9. Dezember 2019, die russischen Sportler bis 2024 von den Olympischen Spielen und von Weltmeisterschaften zu suspendieren, hat geschichtliche "Vorbilder". Erinnern möchte ich an die Olympischen Sommerspiele 1952 in Helsinki. Sportler aus der DDR wurden auf Betreiben Adenauers und der amerikanischen Besatzungsmacht aus politischen Gründen zu den Wettkämpfen nicht zugelassen. Der "Neuen Zeit" (Zeitung der CDU der DDR) vom 17. Juli 1952 kann man folgendes entnehmen: "Wenn am 19. Juli 1952 (...) die Mannschaften der Nationen zur Eröffnung der 15. Olympischen Sommerspiele in das olympische Stadion in Helsinki einmarschieren, dann wird auf dem Platz, der einer gesamtdeutschen nationalen olympischen Mannschaft zukommt, nur eine Mannschaft des Saargebietes und daneben eine westdeutsche Mannschaft aufmarschieren. Die annähernd zwei Millionen Sportler der Deutschen Demokratischen Republik werden überhaupt nicht vertreten sein. Das ist das Ergebnis des unsportlichen und unerhörten Ränkespiels, das die Feinde des einheitlichen deutschen Sports, die reaktionären westdeutschen Sportführer gemeinsam mit ihren US-hörigen Komplizen im Internationalen Olympischen Komitee gegen die Sportler der DDR und damit gegen den gesamtdeutschen Sport betrieben haben.

Wer einen Blick hinter die Kulissen des westdeutschen Sportes getan hat und dort die Drahtzieher näher betrachtet, der versteht, warum sie von den reaktionären Kreisen, die noch im internationalen Sport ihr Unwesen treiben, unterstützt werden, weshalb die Nationalen Olympischen Komitees des Saargebietes und der Bundesrepublik vom Olympischen Komitee anerkannt wurden und eine olympische Mannschaft entsenden dürfen, während dem NOK der DDR die Anerkennung versagt blieb. Nur wer getreu den Überlieferungen sich im west-östlichen Spannungsfeld zur Demokratie und Freiheit westlicher Prägung bekennt, kann vor dem Rat der internationalen Sportgangster bestehen (...)

So wie die Bonner Sportführer für die Durchführung des gesamtdeutschen Sportverkehrs lächerliche Bedingungen stellen, die den Gepflogenheiten des internationalen Sports hohnsprechen, indem sie Begrüßungsansprachen, das Übergeben von Freundschaftsgeschenken, ja sogar von Blumen verbieten wollen, so begannen sie ihr gemeines Spiel auf internationalem Gebiet und fanden dabei selbstverständlich die Unterstützung der reaktionären Kräfte innerhalb des Internationalen Olympischen Komitees, an ihrer Spitze des Vizepräsidenten des IOC, Mr. Brundage, der schwerreiche Besitzer eines Hotels im Gangster-Zentrum der USA, Chicago, und Verbindungsmann im Weißen Haus und zum Pentagon in Washington ist.

Nachdem man im Jahre 1949 dem deutschen Saargebiet ein eigenes NOK zubilligte und durch das IOC anerkannte, war man gern bereit, das NOK der Bundesrepublik international anzuerkennen. Selbstverständlich forderten auch die Sportler der Deutschen Demokratischen Republik eine olympische Interessenvertretung, und so kam es am 22. April 1951 zur Gründung des Nationalen Olympischen Komitees für die DDR. Dieses Komitee unterbreitete auf seinem Gründungskongreß dem westdeutschen NOK einen Vorschlag zur Bildung eines gesamtdeutschen Nationalen Olympischen Komitees auf paritätischer, gleichberechtigter Grundlage. Zugleich beantragte das NOK der DDR seine Anerkennung durch das Internationale Olympische Komitee.

Nun erkannten Ritter von Halt (ehem. Mitglied der NSDAP und Präsident des westdeutschen Olympischen Komitees) und Mr. Brundage, daß die Zeit zum Handeln gekommen war. Obwohl auf der Tagung des IOC in Wien vom 6. und 7. Mai 1951 die Anträge beider NOKs vorlagen, wurde nur dem westdeutschen NOK die Anerkennung ausgesprochen. Obwohl gemäß den Statuten und des gestellten Antrages sein Einfluß an der Zonengrenze aufhört, ließ man den Antrag des NOK der DDR unter den Tisch fallen und damit die Belange und berechtigten Forderungen der Sportler der DDR unberücksichtigt. Darauf folgte die Tagung des IOC im Lausanne am 17. Mai 1951, die von Präsident Edstroem geleitet werden sollte. Plötzlich war an dessen Stelle Mr. Brundage erschienen. Der Beauftragte der amerikanischen Kriegspartei setzte seinen Kurs rücksichtslos durch. Die Frage der Bildung des gesamtdeutschen NOK wurde gleich zu Beginn von der Tagesordnung gestrichen und statt dessen die Aufstellung einer deutschen Mannschaft für Helsinki behandelt und festgelegt, daß die Sportler der DDR nur unter Führung und Botmäßigkeit des westdeutschen NOK an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. Die Stärke der Mannschaft und der Begleitung, ja selbst Aussehen und Form der Bekleidung der Olympia- Mannschaft wurden fixiert, ohne ein einziges Mal Verbindung mit dem NOK der DDR aufzunehmen. (...)

Da das schändliche Spiel, das gegen die Sportler der DDR betrieben wurde, immer ruchbarer wurde und das Interesse der internationalen Sportwelt immer mehr auf sich lenkte, inszenierte man eine neue Konferenz im Februar 1952 in Kopenhagen. Die westdeutschen Vertreter, die zeitig ihre Einreiseerlaubnis erhielten, verhandelten bereits tagelang mit den Vertretern des IOC, während den Vertretern der DDR einen Tag vor Beginn der Konferenz von der dänischen Militärmission noch nicht einmal die Einreisegenehmigungen ausgehändigt wurden. Als unsere Vertreter nach großen Reiseschwierigkeiten in Kopenhagen mit Verspätung ankamen und noch für den gleichen Nachmittag den Beginn der Besprechung festlegten, waren bei ihrem Erscheinen am Tagungsort, kurz vor dem zugesagten Zeitpunkt, die westdeutschen und internationalen Vertreter bereits abgereist. Auch hier war Mr. Brundage anwesend und hatte seine Hand im Spiel.

Wenn nun der Präsident des Organisationskomitees der 15. Olympischen Sommerspiele, Herr Baron Erik von Frenkell, kürzlich in einem Gespräch mit den Herren des NOK der DDR zusagte, daß er auf dem bevorstehenden IOC-Kongreß in Helsinki die berechtigten Forderungen der Sportler der Deutschen Demokratischen Republik auf Anerkennung des NOK der DDR durch das IOC durchsetzen will, so ist es eine große Frage, ob er sich gegen die terroristischen Maßnahmen des USA-Vertreters und dessen Komplizen durchsetzen kann. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte eine Teilnahme der DDR-Sportler an der Olympiade auch beim besten Willen nicht mehr erfolgen, da die Tagung des IOC bereits in die Zeit der Olympischen Spiels fällt.

Die anständigen, ehrlichen Vertreter des internationalen Sportes werden nicht zulassen, daß auf die Dauer einige reaktionäre Elemente ihre dunklen politischen Machenschaften auf das olympische Gebiet ausdehnen und damit die Idee Baron de Coubertins, des Begründers der neuzeitlichen Olympischen Spiele, in den Schmutz gezerrt wird."

Festzustellen bleibt, daß die BRD-Schikanen gegen die DDR-Sportler bereits in den Anfangsjahren der DDR auf Hochtouren liefen. Sie endeten erst nach den Adenauer-, Erhard- und Kiesinger/Brandt-Regierungen. Viele Sportler aus der DDR, aber auch Sportler aus der alten BRD, die Sportwettkämpfe mit DDR-Sportlern austrugen, wurden von Sicherheitsorganen der Bundesrepublik verfolgt und vor Gericht gezerrt, nicht wenige gingen in Gefängnisse.

Johann Weber

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Wo sind die Pflugschar-Schmiede geblieben?

Vor ca. 40 Jahren erschienen in der DDR Aufnäher, Plaketten, Plakate, Abzeichen und Briefkopfbogen einer sogenannten unabhängigen Friedensbewegung mit der Abbildung einer Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch und der Aufschrift "Schwerter zu Pflugscharen". Diese Skulptur befindet sich seit 1959 als Geschenk der Sowjetunion an die UNO im Garten ihres Hauptquartiers in New York und kündet weltweit von der einstigen wirkungsvollen internationalen Friedenspolitik des ersten sozialistischen Staates auf Erden. Seit dessen Untergang vor 30 Jahren steht der vom Künstler in Metall geformte Mensch, der ein Schwert mit kräftigen Hammerschlägen in einen Pflug verwandelt, wie Don Quijote als "Ritter der traurigen Gestalt" vor der UNO. Seit die UdSSR nicht mehr existiert, gibt es auch keinen Frieden mehr in der Welt.

Die Bundesrepublik Deutschland ist führend dabei, die Kriegsspirale in der Welt anzutreiben. Aufrüstung in unermeßlichem Ausmaß, Erweiterung der Bundeswehreinsätze bei regionalen Kriegen in Asien und Afrika, Festhalten an der US-Besatzung durch deren Militär- und Atomwaffenstützpunkte auf deutschem Boden, Rekrutenwerbung unter Jugendlichen, Äußerungen aus Regierungskreisen zum Militäreinsatz im Innern gegen die außerparlamentarische Opposition lassen diverse Friedensbewegungen in der BRD aufhorchen und vielseitig aktiv werden. Ihre antimilitaristischen Aktionen sind oft mit antifaschistischer Zielstellung verbunden.

Doch wo bleiben die Aufnäher, Plaketten und Plakate der seinerzeit "Schwerter zu Pflugscharen" Fordernden? Bei Demonstrationen und Blockaden gegen BRD-Aufrüstung, US-Militärstützpunkte und Bundeswehrkriegseinsätze sind sie nicht dabei. Haben deren Initiatoren damals nur Mißbrauch mit dem Friedenssymbol Wutschetitschs gegen die Friedenspolitik der DDR, gegen den Verteidigungscharakter ihrer bewaffneten Organe und gegen deren Nichtteilnahme an regionalen militärischen Auseinandersetzungen getrieben?

Ihr Schweigen heute macht sie rückwirkend unglaubwürdig und verdächtig, damals nicht den Frieden im Sinn gehabt zu haben, sondern einzig und allein das Ziel, den Friedensstaat DDR zu untergraben.

Das Umschmieden von Rüstung in friedliches Werkzeug zu fordern, stünde ihnen doch in der ost-erweiterten BRD gerade heute gut zu Gesicht.

Und noch eins: Jewgeni Wutschetitschs künstlerisches Friedenssymbol "Schwerter zu Pflugscharen" hat einen "großen Bruder" im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Hier steht unübersehbar die ebenfalls von dem Bildhauer geschaffene Skulptur eines Rotarmisten mit gesenktem Schwert und einem deutschen Kind auf dem Arm als eine Anregung für neue Aufnäher, Plaketten, Plakate und Briefkopfbogen.

Manfred Wild
Berlin

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Ein 91jähriger Landwirt blickt zurück

Wer so wie ich beruflich mit Bauern zu tun hatte, wird mir zustimmen, daß diese gesellschaftliche Klasse sich durch eine ganz besondere Mentalität auszeichnet. Das hängt wohl vor allem damit zusammen, daß sie Eigentum an Boden, Vieh und Immobilien hat.

Ich kam als Stadtmensch zur Landwirtschaft und kann heute sagen, daß ich mich in diesem Metier ganz gut auskenne. Ich lernte zunächst auf einem Großbauernhof. Das war gegen Ende des 2. Weltkrieges. Danach arbeitete ich mehrere Jahre in drei mittelbäuerlichen Einzelbauernwirtschaften. Die gab es damals in der DDR. Sie alle zeichneten sich, wie ich an einem typischen Beispiel verdeutlichen will, durch eine starke Beziehung zu ihrem Eigentum, vor allem dem Boden, aus.

Mein Lehrchef - Eigentümer des Großbauernhofes - hieß mich einmal, eine Fuhre Mist zu befördern. Dazu muß man wissen, daß diese Fuhren ordentlich gepackt und mit einer breiten Holzpatsche festgeklopft sein mußten, damit bei der Fahrt nichts herunterfiel. Da der Feldweg anstieg, war ich vom Wagen abgestiegen und ging nebenher, hatte aber die Zügel in den Händen. Zufällig drehte ich mich um und bemerkte, daß der Chef etwa 50 Meter hinter mir herging - natürlich um zu kontrollieren, ob ich es auch richtig mache. Ich sah, wie er einen großen Mistbatzen, der doch vom Wagen gefallen war, mit den Händen aufhob und weiter mit sich mittrug. Ich war gespannt, was nun passieren würde. Der Chef trug den Batzen so lange, bis er an ein Feldstück kam, das ihm gehörte. Darauf warf er dann den Mist. Damals mußte ich darüber lächeln, aber später kam mir in den Sinn, daß das wohl mit dem sprichwörtlichen Eigentümerbewußtsein zusammenhängen mußte. Er hat die Veränderung der Arbeitsverhältnisse bei der genossenschaftlichen Umgestaltung der Landwirtschaft nie wirklich begriffen, wie sein Sohn mir erzählte.

Ich als Nichtbodenbesitzer hatte eine ganz andere Beziehung zu Funktion und Arbeit einer sozialistischen Produktionsgenossenschaft. Als geschulter Marxist war das auch gar nicht anders möglich. Ich habe aber immer versucht, mich in die Denkweise und das Verhalten von Bauern hineinzuversetzen. Als Parteisekretär einer Spitzen-LPG hatte ich im Dorf genug zu tun, denn ich habe regelmäßig die Bauernfamilien besucht und Gespräche geführt. Dadurch erfuhr ich vieles, was mir sonst verborgen geblieben wäre.

Vielen Einzelbauern fiel es schwer, in die Genossenschaft einzutreten. Es waren vor allem Groß- und Mittelbauern, die da ihre Probleme hatten. Dennoch war der genossenschaftliche Gedanke verbreitet, vor allem auch durch die Gründung der Raiffeisen- und Molkereigenossenschaften. Das waren aber Finanz-, Handels- und Verarbeitungsgenossenschaften, also keine ausgesprochenen Produktionsgenossenschaften. Diese entstanden erstmalig in der Sowjetunion in Form von Kolchosen und ab 1951 in der DDR als LPGs, die mit politischen Veränderungen der gesamten sozialistischen Gesellschaft verbunden waren. Derartiges mögen Kapitalisten natürlich nicht. Allerdings besitzt auch die BRD ein Genossenschaftsgesetz. Danach können Bauern, wenn sie Eigentümer von Boden, Vieh und Immobilien sind und über die nötigen Finanzen verfügen, Formen von produktiven Erzeugergenossenschaften gründen.

Das machten sich nach 1989/90 große Teile der Genossenschaftsbauern der DDR zunutze und gründeten zum zweiten Mal Produktionsgenossenschaften in Form von Erzeugergenossenschaften. Der damalige Minister für Landwirtschaft Herr Kienzle - beruflich war er ein bayrischer Großbauer von der CSU - nahm nun an, daß die ehemaligen Genossenschaftsmitglieder ihren "Dreck", so nannte man auch mal den Acker, wieder zurücknehmen würden, um in klein, klein und selbstverständlich in "Freiheit" zu arbeiten. Das aber machten nur ganz wenige. Die meisten gaben ihren "Dreck" der neuen Genossenschaft zur Bewirtschaftung.

Für mich ist die Produktionsgenossenschaft die günstigste und vernünftigste Form des Wirtschaftens. Sie gehört zu den besten Erfahrungen, die ich in meinen fast 70 Jahren Berufsleben als Landwirt gemacht habe.

Eberhard Herr

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Henry Nitschke: Die Spionageabwehr der DDR

Spionage ist immer und überall ... könnte man in Anlehnung an ein Lied der österreichischen Band EAV (Erste Allgemeine Verunsicherung) behaupten. Ist das so? "Unter Spionage (lateinisch 'spicari'; althochdeutsch 'spheon' in der Bedeutung von 'ausspähen', 'erspähen')", heißt es in einem Internet-Lexikon, "wird ursprünglich das Beschaffen und Erlangen unbekannter Informationen oder geschützten Wissens verstanden."

Man sagt, Spionage wäre das zweitälteste Gewerbe der Welt, auch wenn die angeblich so allwissende Internet-Enzyklopädie den Beginn von Spionage im frühen 20. Jahrhundert ansiedelt. Dabei gibt es Berichte über das Ausspähen von Nachbarreichen und Konkurrenten schon seit mehr als 5000 Jahren. Assyrer, Chinesen, Japaner und später dann das napoleonische Frankreich sollen es dabei zu hoher Meisterschaft und Effektivität gebracht haben. Ausspähung war immer Teil der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen.

Wer viel über den anderen wußte, konnte ihn besser niederringen, besiegen oder beherrschen - das gilt bis heute. Im Namen des Kampfes gegen den Terror werden seit 20 Jahren weltweit Kriege geführt, und Tausende Sicherheitsbehörden befassen sich mit Spionage- und Terrorabwehr. In den USA sind es laut einem Artikel der "Märkischen Oder-Zeitung" vom 14. August 2019 rund 1300 staatliche und mehr als 2000 private Organisationen. In der BRD sind es gegenwärtig mehr als 20 staatliche Institutionen und einige Dutzend private.

Das galt nach 1917 um so mehr, als ein Staat entstand, der die bisherigen Verhältnisse völlig umwälzte und versuchte, der imperialistischen Gewaltherrschaft über Menschen und Strukturen ein neues Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen, in dem die Grundlagen für die freie Entfaltung aller Menschen geschaffen werden sollten. Dagegen, da waren sich alle bisherigen Herrscher einig, mußte natürlich mit allen Mitteln vorgegangen werden. Spionage, Subversion und Sabotage waren die heimlichen Gewaltmittel der großen imperialistischen Hauptmächte, mit denen von Anfang an versucht wurde, den Aufbau des Sozialismus zu verhindern. Dem mußte von Beginn an mit allen Mitteln entschlossen entgegnet werden. So wurde am 20. Dezember 1917 die ВЧК (Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, auch verkürzt als ЧК (Tscheka) bekannt, gegründet.

Natürlich wurden die jungen Volksdemokratien, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden, mit gleicher Wucht durch Spionage, Subversion und Sabotage angegriffen, fühlten sich doch die imperialistischen Hauptmächte in der Defensive und wollten die Ausbreitung sozialistischer Staaten mit allen Mitteln verhindern und zurückdrängen. Die junge DDR, gegründet im Oktober 1949, bekam das besonders zu spüren. Ein paar Monate vorher hatten sich die westdeutschen Besatzungszonen durch die Gründung der BRD vom gemeinsamen Deutschland abgespalten, um (für das Kapital) zu retten, was zu retten war. Der ostdeutsche Staat hatte eine Westgrenze, die mitten durch ein vormals gemeinsames Land ging, und lag plötzlich an der vordersten Front im kalten Krieg, im Kampf gegen den Imperialismus. Folgerichtig schuf er sich staatliche Organe zur Sicherung des Landes und zur Abwehr von Angriffen. Der offizielle Gründungstag des MfS, das in der DDR u. a. für die Spionageabwehr zuständig war, ist der 8. Februar 1950.

Wie auch über alle anderen Bereiche des MfS ist in den letzten 30 Jahren viel geschrieben worden. Es gibt viel Interessantes und Lesenswertes von Ehemaligen, die aus ihren Arbeitsbereichen berichten, und unheimlich viel Unsinniges, Bösartiges, manchmal nur Dummes und viel Geschwätziges von heutigen staatlichen oder staatlich geförderten Stellen, gelehrten oder weniger gelehrten Menschen mit Mitteilungsdrang. Nun sind 2018 bzw. 2019 zwei neue Bände auf den Markt gekommen, die sich angenehm von den letztgenannten Werken unterscheiden. Harry Nitschke hat bei der edition berolina zwei Bände zum Thema "Die Spionageabwehr der DDR" vorgelegt, die es im doppelten Sinne des Wortes in sich haben. Zum einen sind es zusammengenommen mehr als 1800 Buchseiten, und zum anderen handelt es sich um das Ausführlichste zu diesem Thema auf dem deutschsprachigen Markt. Und noch eins ist bemerkenswert an Nitschkes Arbeit. Er ist kein "Ehemaliger", der auf der Basis eigener Erfahrungen schreibt. Er entgeht damit dem Vorwurf, nicht kritisch genug zu sein.

Und noch ein zweiter Kunstgriff macht die vorliegende Arbeit bemerkenswert. Nitschke benutzt zur Beschreibung der Tätigkeit der DDR-Spionageabwehr konsequent die damals verwendeten Begriffe. Das scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich und ist - gerade für jüngere Leser - gelegentlich nur schwer lesbar. Jedoch entgeht er damit auch der Gefahr, daß die heute üblichen Begriffe, die für die Arbeit der DDR-Sicherheitsorgane verwendet werden, emotional, ideologisch und politisch aufgeladen sind und mehr verkleistern als erklären. Außerdem liest man sich schnell ein, und dank eines umfassenden Fußnotenapparates sind alle Sachverhalte gut nachvollziehbar.

Der erste Band widmet sich vollständig den Hauptgegnern der DDR-Spionageabwehr. Vorher werden in zwei Kapiteln die verwendeten Begriffe erläutert und die Strukturen erklärt. Dabei beginnt Nitschke nicht zu Unrecht mit den Diensten und Einrichtungen der USA, die Spionage in der DDR in großem Umfang betrieben haben. Auch hier zeigt sich die besondere Lage der DDR an der Schnittstelle der beiden Systeme in einem Krieg, der zwar als "kalter" bezeichnet wurde, der aber auch seine Todesopfer forderte. Erst danach werden die bundesdeutschen Einrichtungen betrachtet, die sowohl selbständig als auch in Zusammenarbeit oder als Handlanger US-amerikanischer, aber auch britischer oder französischer Dienste gearbeitet haben. Ausführlich werden Mittel und Methoden der Anwerbung, Nachrichtenübermittlung u. a. beschrieben. Ein besonderes Kapitel befaßt sich dann mit dem Versuch, Spione direkt im MfS oder seinem direkten Umfeld zu werben.

Der zweite, noch ausführlichere Band, Mitte 2019 erschienen, befaßt sich mit der Abwehrarbeit an und in den Dienstobjekten von MfS, NVA sowie der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), in der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen. Denn Industriespionage wurde immer und zu allen Zeiten auch von staatlichen Stellen oder in deren Auftrag betrieben, in den staatlichen Organen und gegenüber den diplomatischen Vertretungen. In einem besonderen Abschnitt legt Nitschke die Abwehrarbeit gegenüber ausländischen Korrespondenten und Journalisten dar. Der ist zur spannenden Lektüre auch deswegen empfohlen, weil in ihm aufgezeigt wird, wie sich zu allen Zeiten die angeblich so unabhängigen bürgerlichen Journalisten bewußt in die Hände der Dienste begeben haben und damit auch das Märchen von der Presse als Korrektiv ad absurdum führten.

Wer nun fürchtet, viele trockene Fakten lesen zu müssen, dem sei gesagt, daß Nitschke allen grundsätzlichen Erläuterungen immer konkrete Beispiele an die Seite gestellt hat, unter anderem, warum eine Abteilungsleiterin im Obst- und Gemüsegroßhandel der DDR entscheidende Erkenntnisse über die sowjetischen Streitkräfte in der DDR vermitteln konnte - nicht gerade wie James Bond, aber eben geheimdienstliche Wirklichkeit.

Uli Jeschke

Henry Nitschke: Die Spionageabwehr der DDR Band I -
Mittel und Methoden gegen Angriffe westlicher Geheimdienste.
edition berolina, Berlin 2018. 832 S., 19,99 €

Band II - Von der Armee bis in die zentralen Staatsorgane.
edition berolina, Berlin 2019. 1024 S., 19,99 €

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Demontage der DDR-Literatur?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Sag mir, wo du stehst ...

Wer von jenen, die in der DDR aufgewachsen sind, kennt diese stets wiederkehrende Frage und zugleich Forderung von Hartmut König nicht! Sie hat uns seit der Schulzeit über die Ausbildung bis ins Berufsleben begleitet und bezog sich stets auf die persönliche Haltung zu den Grundwerten, die den Versuch des Sozialismus auf deutschem Boden, in der Deutschen Demokratischen Republik, ausmachten: Antifaschismus und Antiimperialismus, Frieden, soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Fortschritt, internationale Solidarität mit den unterdrückten und ausgebeuteten Völkern. Sie kann getrost als der rote Faden der vor kurzem erschienen Autobiographie von Hartmut gelten, die er übrigens inzwischen durch eine CD mit alten und neuen fortschrittlichen Liedern vervollständigte.

Diese Fragestellung war es wohl auch, die am Anfang des künstlerischen Wirkens des "Schul-, Kirch- und Grenzgängers in Ostberlin" als Liedermacher und Texter seine Identifikation mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat als seiner politischen und persönlichen Heimat bestimmte. Diese Frage war es auch, die er zunehmend in seinem Umfeld stellte, welche die motivierende und nachhaltige Kraft des politischen Engagements von Oktoberklub und Singebewegung der FDJ für eine von Ausbeutung, Krieg und Faschismus freien Gesellschaftsordnung auf deutschem Boden ausmachte. Und sie war es wohl letztlich auch, die den talentierten Künstler zu dem Entschluß brachte, Kultur und Kunst mit der Politik zu verbinden. Viele Jahre wirkte er als Jugendfunktionär in der FDJ und im Zentralkomitee der SED sowie als stellvertretender Kulturminister der DDR.

Hartmut lebte die Ideale in Wort und Tat. Die ihm gegebenen Mittel nutzte er engagiert zur Verbreitung sozialistischen Bewußtseins unter der jungen Generation, war dies doch die Voraussetzung für die Fortsetzung des eingeschlagenen Weges.

Aus den in der Autobiographie erzählten Geschichten entsteht eine Geschichte der geistigen Entwicklung der Gesellschaft in der DDR, nicht nur der kulturpolitischen, auch der Auseinandersetzung über den "richtigen" Weg der gesellschaftlichen Entwicklung. Findet doch der zitierte Ausgangssatz seine Fortsetzung: "... und welchen Weg du gehst". Bis zur "Wende" waren es ja weniger die Werte, die zur Disposition standen, es war stets der Weg, ob bei der Diskussion um das Neue Ökonomische System, die Bitterfelder Konferenz oder beim Umgang mit den Forderungen eines Gerhard Gundermann in der alltäglichen Produktion oder den Gorbatschowschen Ideen von Perestroika und Glasnost. Mehr als ein Nebenprodukt von Hartmuts Geschichtsschreibung ist dann auch ein "Who is who?" der handelnden Personen in Politik, Kultur und Wirtschaft der DDR entstanden.

Es war also der eingeschlagene Weg, der zunehmend die Diskussionen bestimmte. Aber es gab bis dato keinen anderen. Die Bolschewiki wußten zwar, wie die größte, tiefgreifendste Revolution seit Menschengedenken in Rußlands Oktober siegreich verwirklicht werden konnte. Doch für den "Aufbau" einer neuen gesellschaftlichen Ordnung/Produktionsweise gab es keine Blaupause. Für die Kommunisten in Deutschland/der DDR hieß es dann: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!" Es blieb also auch bei uns beim "Learning by doing". Das ist ein Vorteil des Neuen. Es kann aber auch zum Problem werden, vor allem, wenn das revolutionäre Bewußtsein nachläßt und die führende Kraft nicht mehr weiter weiß. Und als dann unsere Partei aufhörte zu führen, ging gar nichts mehr. Hartmut König gelingt die Herausforderung für uns und unsere Nachfolger, sich mit der Niederlage des Sozialismus nicht abzufinden, sondern sich jenseits ideologischer Schmähungen mit deren Ursachen zu beschäftigen. Überzeugend und wohltuend ist, daß dies durchaus auch durch selbstkritisches Hinterfragen eigenen Denkens und Tuns geschieht.

Die Autobiographie ist in diesem Sinne eine starke Anregung, das lange, schmerzvolle Ringen um den sozialistischen Weg nachzuvollziehen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Lenin meinte seinerzeit in Auseinandersetzung mit seinem anarchistischen Bruder, Alexander, die Bolschewiki würden einen anderen Weg gehen. Uns nachfolgende Generationen werden dies mit Sicherheit auch tun. Doch sie werden es tun, denn die wiederkehrenden verheerenden Krisen der kapitalistischen Produktionsweise werden neue Revolutionäre hervorbringen, die mehr über die objektiven Gesetzmäßigkeiten der sozialen Entwicklung der Menschheit wissen und neue Wege zur Überwindung des Kapitalismus beschreiten werden. Wie nah das Gespenst des Kommunismus ist, wissen wir nicht, aber es ist allgegenwärtig, um der Verhinderung der Selbstzerstörung der Menschheit durch Krieg oder Zerstörung der Lebensumwelt willen. "Warten wir die Zukunft ab!"

Jochen Willerding
Berlin


Hartmut König: Warten wir die Zukunft ab. Autobiographie.
Verlag Neues Leben, Berlin 2019, 560 Seiten, 24,99 €

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Ein Überblick aus der DDR auf internationale Hörspiele
Die Frau in den 70er Jahren

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Taxi nach Helgoland

Ich kann irren. Das Ganze ist dreißig Jahre her. Aber ich meine, der Flugplatz von Bremerhaven sei damals nicht größer als zwei Fußballfelder gewesen. Zwei sich kreuzende Start- und Landebahnen, am östlichen Ende der einen ein Hangar, daneben, nicht höher als ein Sprungturm, der Tower und, in einer Baracke, ein Abfertigungs- und Warteraum für die Reisenden. Das alles in strömendem Regen, nachmittags gegen vier, an einem Tag im Oktober.

Er saß, die Schiffermütze auf dem Kopf, auf einem der Hocker am Tresen, hatte einen Grog vor sich und unterhielt die Fluggäste, ein halbes Dutzend an der Zahl, mit ziemlich haarsträubenden Geschichten: Er hatte alle fünf Weltmeere befahren, einen Orang-Utan dressiert, den Untergang der Pamir überlebt und in Florida, in den Everglades, mit einem Krokodil gekämpft. Jetzt war er selbständiger Taxipilot und flog täglich die Route Bremerhaven-Helgoland, bei Bedarf mit Zwischenstop auf Langeoog. Ich wußte, daß er Hansen hieß. Der Mann am Abfertigungsschalter hatte gesagt: "Da drüben sitzt Herr Hansen. Das ist Ihr Pilot." Seitdem beobachtete ich ihn.

Die Gäste standen im Raum herum, an drei oder vier Stehtischen, die gut drei Meter voneinander entfernt waren. Am Tisch gegenüber stand eine Stewardeß mit einer Regenhaut über der Uniform. Man wartete auf die Ankunft des Flugzeugs aus Lübeck, das sich verspätete wegen schlechter Sicht. Die Stewardeß verrührte Zucker in einem Plastikbecher mit Kaffee und lächelte mir zu. Ich biß in ein Butterbrot, überlegte, ob ich zurücklächeln sollte, und hörte Hansen sagen: "Bei jedem Wetter! Ich fliege die Insel bei jedem Wetter an! Seit dreizehn Jahren! Bei jedem Wetter!" Der Mann hinterm Tresen - er hatte ein Tattoo am Oberarm - stellte einen neuen Grog vor ihn hin und sagte: "Prost, Käpt'n!"

Übers Rollfeld kam eine schwere Bö und schlug gegen die Scheiben. Die Tür flog auf, und einer der Gäste machte sie wieder zu. Es war erst vier. Im Raum brannten Neonleuchten.

"Stormy weather!" sagte ich. Die Stewardeß sah mich dankbar an. - Vielleicht mochte sie Satchmo.

"It's raining cats and dogs", sagte der Mann mit dem Tattoo, der mich vielleicht für einen Engländer hielt, und die Stewardeß sah auch ihn dankbar an. - Vielleicht war sie Engländerin.

Der Käpt'n nahm das Thema zum Anlaß, über einen Flug von Calais nach Dover zu berichten, der zu seiner Ausbildung gehört habe und dessen Umstände bemerkenswert waren. Er hatte bei strömendem Regen in einem offenen Doppeldecker fliegen müssen. Wie in einer Badewanne. Schließlich habe er unter seinen Füßen den Stöpsel rausgezogen. So ging's.

Man lachte, und mir fiel auf, daß der Erzähler bei allem, was er sagte, todernst blieb.

Die Stewardeß trank Kaffee und lächelte, ich knüllte die Alufolie zusammen, in der mein Butterbrot gewesen war, der Käpt'n sorgte für weitere Unterhaltung.

Der Schauplatz hatte inzwischen gewechselt, und er schipperte jetzt mit einem Flußdampfer den Orinoco hinauf. In der Regenzeit, versteht sich. Die Regenzeit ist am Orinoco ziemlich lang, und so orderte er unterwegs einen weiteren Grog und dann, etwa in der Höhe von San Fernando, abermals einen. Bei Tamatama, als sie am Ufer vor Anker lagen, war nachts ein Stinktier an Bord gekommen, und es hatte eine fürchterliche Panik gegeben. - Ein Stinktier am Orinoco? Mir kamen gewisse Bedenken, aber ich wollte die Panik nicht stören, zumal jetzt zwei Leute der Mannschaft in den Fluß sprangen, und da wimmelte es von Piranhas.

Der Erzähler ließ die Sache auf die Anwesenden wirken und verzog keine Miene. Einer der Fluggäste schaltete sich ein und teilte mit, sein Schwager in Texas habe ihm erzählt, dort habe sich mal ein Skunk im Ferienhaus von Governor Morgan versteckt. Da habe man eine Negerin in das Haus geschickt und einfach abgewartet. Es habe ziemlich lange gedauert, aber nach drei Stunden sei das Stinktier abgehauen. Ne, nicht die Negerin - der Skunk!

Niemand außer dem Witzbold lachte. Die Stewardeß blickte gequält, und ich sagte: "Aua!" Dann sagte der Käpt'n, plötzlich ganz weiß im Gesicht: "Nicht solche Töne, Mann! Auf so was s-tehen wir hier nicht! Wir sind Hanseaten! Und hier ist internationales Publikum!"

Der Mann mit dem Tattoo assistierte: "In-ter-natio-nal!" sagte er, jede Silbe einzeln betonend. Er stützte sich mit beiden Armen auf den Tresen und sah sehr muskulös aus. "Ich glaub, hier ist auch ein Stinktier!" sagte ein Gast, und der mit dem Kleppermantel nahm seinen Koffer und ging hinaus.

"Kommt immer wieder mal vor", sagte der Käpt'n. "Das ist deprimierend." Er hatte die Schultern gekrümmt und die Arme verschränkt. "Jetzt brauch ich einen Grog, Jan", sagte er. "Mach mal 'n richtig s-teifen Grog!"

Er bekam seinen Grog, und ich sah nach draußen, wo im Nebel des Regens Positionslichter zu sehen waren. Dann wurde, durch einen quäkenden Lautsprecher an der Wand, die Ankunft der Maschine aus Lübeck durchgegeben, man hörte Motorenlärm und sah eine kleine Focker auf den Tower zurollen und wenig später ein paar Leute, die über das Flugfeld zu den Taxis hinübergingen. Die Maschine flog nach Lübeck zurück, und die Fluggäste im Warteraum, auch die Stewardeß, gingen hinaus, und ich blieb als einziger Fluggast zurück.

"Dann sind Sie wohl der, der auf die Insel will", sagte der Käpt'n. "Bin ich." "Na, dann woll'n wir mal!"

Ich hatte fünf Grog gezählt, von dem Augenblick an, als der Mann am Schalter gesagt hatte: "Da sitzt Ihr Pilot."

Er leerte das Glas im Stehen, legte Geld auf den Tresen und ging mit wiegendem Schritt vor mir her nach draußen. Der Regenwind quirlte das Wasser auf dem Rollfeld, und vor uns im Dunst verschwand gerade die Focker. Im Hangar, dessen Tor offenstand, wartete eine blauweiße einmotorige Piper, die mir erstaunlich klein vorkam. Die Kabine war kaum größer als die eines Porsche. Auf dem Notsitz lag ein Karton, auf dem eine Nähmaschine abgebildet war. Ich saß neben dem Piloten. Wir rollten hinaus, erhielten die Starterlaubnis, starteten gegen den Wind, der aus Nordwest kam, beschleunigten, und die Piper hob ab. Wir stiegen auf, blieben unter den Wolken, einmal, gegen den Motorlärm rufend, fragte ich, ob das Grüngraue da unten Neuwerk sei. Es war Scharhörn. Scharhörn verschwand in eintönigem Grau.

Ob ich länger auf der Insel bleiben wolle, fragte der Pilot. "Nur eine Nacht!" rief ich. "Nur einen Vortrag halten!" "Wie bitte?"

"Vortrag halten! Heute abend!" rief ich. Der Lärm des Motors war so laut, daß wir beide rufen mußten.

"Kein guter Ort!" rief der Käpt'n. "Hohe Selbstmordrate! Inselkoller! Die stürzen sich über die Klippen!"

"Scheußlich!" rief ich.

"Wetten, daß ich ohne Motor fliege?"

"Lieber nicht!"

Schon hatte er den Motor ausgeschaltet. Der Lärm war plötzlich weg, und wir segelten dahin. Die Piper verlor an Höhe: 20, 40, 60 Meter - dann startete er erneut den Motor, und ich atmete auf.

"Was sagt denn Ihre Frau", rief ich, "wenn Sie solche Eskapaden machen?"

Er sah mich kurz an - wäßrige blaue Augen -, und ich dachte sekundenlang an Hans Albers.

"Lebt nicht mehr!" brüllte er.

"Tut mir leid!" rief ich.

"Hat das Klima nicht vertragen!"

"Welches Klima?"

"Hier im Norden!"

"Sie war aus dem Süden?"

"Senegal!"

Ich zögerte, traute mich dann aber doch: "Eine Farbige?"

"Pottschwarz!"

Ich schwieg. Ich wollte nicht fragen, woran sie gestorben sei.

Er schlug mit dem Handballen auf den Steuerknüppel und brüllte: "Die können nix ab! Keine Abwehrkräfte! Vertragen das Klima nicht! Nicht mal einen Schnupfen!"

Mir war nicht ganz geheuer, und ich dachte: Hoffentlich übt er keinen Sturzflug!

Er schlug wieder auf den Steuerknüppel. "An einem Schnupfen, Mann! An einem ganz gewöhnlichen, hundsgemeinen Schnupfen!"

Helgoland kam in Sicht. Wir landeten auf der Düne, ich entlohnte ihn, und er gab mir die Quittung über 80 Mark. "Bleiben Sie nicht zu lang!" sagte er.

Zwei Männer, die am Ende der Landebahn gewartet hatten, nahmen mich mitsamt der Nähmaschine in Empfang und fuhren mich in einem Motorboot hinüber zur Insel.

Im Sommer darauf mußte ich wieder nach Helgoland und fragte im Reisebüro in Bremerhaven nach Kapitän Hansen.

"Tut mir leid", sagte der Mann im Büro. "Der lebt ja nun nicht mehr."

"Nanu!"

"Ne, der ist ins Hafenbecken gefallen."

"Mit der Piper?"

"Ne, zu Fuß. Auf'm Nachhauseweg. Der war dun."

"Aber im Hafenbecken ertrinkt man doch nicht!"

"Wenn man nicht schwimmen kann, schon. Der war doch bei der christlichen Seefahrt. Und Matrosen können nicht schwimmen. Wieso, wieso - weil, wenn da mal einer über Bord geht, da ist der Todeskampf nicht so lang."

Theodor Weißenborn

*

Die Grenzgänger: Hölderlin

Wortgewaltig und mit feiner Feder die Höhen und Tiefen des Lebens auskostend, schrieb Hölderlin in einer bis heute modernen Sprache vom Leiden an der "bleiernen Zeit", die alles Lebendige erstarren läßt, von der Sehnsucht nach Liebe und Schönheit und der Gewißheit, daß der Mensch von Natur aus gut ist. Hölderlins Gedichte feiern in den Jahren nach der Französischen Revolution die Freiheit als Bedingung allen Lebens.

Kongenial verwandeln die Grenzgänger auf ihrem elften Album Hölderlins Verse in Lieder, welche die Jahrhunderte seit ihrer Entstehung überbrücken. Zwischen "Zorniger Sehnsucht", "Blödigkeit" und "So kam ich unter die Deutschen" sind die vierzehn ausgewählten Hölderlin-Texte von teilweise erstaunlicher Aktualität, mit einer Musik zwischen Blues und Folkrock, Pop und E-Musik, mit Anklängen an Kurt Weills Dreigroschenoper, Tom Waits, Eisler und Motown.

Für die Studioproduktion um Schlagzeug und Baß, Saxophon und E-Gitarren, Geige und Mundharmonika erweitert, präsentiert das Bremer Quartett um Michael Zachcial erneut ein außergewöhnliches Album (lieferbar ab 13. März).

Die Titel: Hymne an die Freiheit / Schicksalslied /
So kam ich unter die Deutschen / Zornige Sehnsucht /
Blödigkeit / Die Ehrsucht / Lebenslauf / Hälfte des
Lebens / Rousseau / Abendphantasie / Der Wanderer /
An die klugen Ratgeber / Schwabens Mädchen / Aussicht /

Warum Hölderlin?

Wie abgeschnitten scheinen uns heute die Jahre vor dem Aufstieg Hitlers, als wäre mit der Schuld am Furchtbarsten aller Verbrechen gleichsam ein Urteil über alle gefällt, die jemals von einem anderen Deutschland zu träumen wagten. Vielen Flüchtlingen und Opfern des NS-Staates aber galt der 1770 geborene Friedrich Hölderlin als die Stimme eines besseren Deutschlands, an dem sie auch unter widrigsten Bedingungen festhielten: Paul Hindemith vertont Gedichte Hölderlins gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, Hanns Eisler schrieb die Musik zu "Die Heimat" und "An die Hoffnung" und weiteren Texten im Hollywooder Exil 1942/43, und der jüdische Komponist Viktor Ullmann komponierte noch 1943 in Theresienstadt Hölderlin-Lieder. Die Menschenrechte wurden damals fast überall mit Füßen getreten. Erstmals Gesetz wurden sie im August 1789 im Anschluß an die Französische Revolution als die "natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen". Was aber wissen wir über die, welche diese Rechte auch in unserem Land durchsetzen wollten?

Und denen, die sich als die Hüter des Abendlandes aufspielen und dabei ihren Fremdenhaß nur schlecht verbergen können, sei Hölderlins "So kam ich unter die Deutschen" zu Gehör gebracht:

Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß ... bei ihnen eigentlich das Leben schaal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Thun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb' und Brüderschaft den Städten und den Häußern bringt.

Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt.

O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie die Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimath aller Menschen ist bei solchem Volk' und gerne mag der Fremde sich verweilen.

Hölderlin:

Friedrich Hölderlin (1770-1843) war gerade 19 Jahre, als im Nachbarland Frankreich die Bastille gestürmt und die Menschenrechte zum Gesetz wurden. Mit gleichgesinnten Schulfreunden, darunter dem später weltberühmten Philosophen Friedrich Hegel, begeisterte er sich für die Revolution und sah ein neues goldenes Zeitalter der Menschheit kommen.

Beeindruckt von dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau und dessen Thesen "Der Mensch ist von Natur aus gut, die Gesellschaft macht ihn zum Verbrecher" und "Die Früchte gehören allen, die Erde aber niemandem", begann Hölderlin zu schreiben. Auch den griechischen Dichter Pindar nahm er sich zum Vorbild und dessen "Werde, der du bist!"

Zeit seines Lebens kämpfte Hölderlin gegen widrige Verhältnisse im Obrigkeitsstaat Württemberg an. Er ist Mitte 30, als man ihn verhaftet und wegen "Hochverrats" verurteilen will; dem Prozeß kann er entgehen, weil man ihn als "geisteskrank" abstempelt. So verbringt er die zweite Hälfte seines Lebens in "geistiger Umnachtung" in dem Tübinger Turm, der heute seinen Namen trägt.

Die Grenzgänger:

Die Grenzgänger aus Bremen gaben mit ihrer mitreißenden Mischung aus Chanson, Volkslied, Jazz, Blues und Musikkabarett Gastspiele im ganzen Bundesgebiet. Einladungen in die Tschechische Republik, Irland und Nordirland, Polen, Österreich und Schweden, die mittlerweile fünffache Auszeichnung mit dem deutschen Schallplattenpreis, die wiederholte Benennung zur "CD des Monats" in der Liederbestenliste sind Ausdruck für das anhaltend hohe Niveau ihrer künstlerischen Arbeit.

"RotFuchs"-Leserinnen und -Leser konnten sich davon bei einem begeisternden Konzert ("Die wilden Lieder des jungen Marx") im Berliner Münzenbergsaal am 18. Mai 2018 selbst überzeugen.

Das Deutschlandradio entsandte die Grenzgänger als deutschen Beitrag zum Festival der Europäischen Rundfunkanstalten in Norwegen. 1989 gegründet, klingen die Grenzgänger heute so überzeugend und virtuos wie selten. Frederic Drobnjak an der Gitarre spielt im Stile eines Django Reinhardt groß auf, Felix Kroll zaubert am Akkordeon ein ganzes Orchester auf die Bühne, Annette Rettich berührt am Cello und verschmilzt mit der Stimme von Michael Zachcial, der auf unverwechselbare Art unsere Geschichte und die alten Lieder mit dem Hier und Jetzt verbindet.

Referenzen:

Live-Mitschnitte DeutschlandRadio, WDR, Bayrischer Rundfunk, MDR, Radio Bremen, Forde-Festival Norwegen (für Deutschland-Radio und EBU), TFF Festival Rudolstadt, Bardentreffen Nürnberg, Festival Musik und Politik, Berlin, Folk Baltica, Waldeck-Festival, Open-Ohr-Festival Mainz, Goethe-Institute Irland, Schottland, Dänemark u. a. - 5 x Preis der Deutschen Schallplattenkritik, mehrfach Platz 1 der Liederbestenliste

RF, gestützt auf Pressematerial der "Grenzgänger"

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LESERBRIEFE

Bar jedweder fachlichen Kenntnisse und frei von Skrupeln geben Minister Steuergelder mit vollen Händen aus. Millionenschwere Beraterverträge im "Verteidigungs"ministerium, dreistellige Millionenforderungen von Scheuer aus den in selbstsüchtiger Art und Weise abgeschlossenen Mautverträgen - und keine(r) wird dafür zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil: Frau von der Leyen wird gleich noch nach Brüssel befördert, und die Nachfolgerin verspricht die Bereitstellung von vielen Millionen Euro für die Aufrüstung. Geld in Hülle und Fülle, nur nicht für Kinder, Kranke, Rentner, Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner und Bedürftige, also für die Ärmsten der Armen. Welch ein erbärmliches Schauspiel bietet Scheuer in Vorbereitung auf die Einsetzung des Untersuchungsausschusses - und aus München keine Reaktion.
Diese äußerst friedensgefährdende und unsoziale Politik sowie die Freunde der Landwirtschaft auf Regierungsebene hält die neue SPD-Führung weiterhin für unterstützenswert. Von wegen Aufbruch in eine neue Zeit! Die neuen Parteivorsitzenden haben ihre Versprechungen aus den Regionalkonferenzen längst vergessen - man will eben auch an den Futtertrögen des Kapitals sitzen und muß dazu dessen Geschäfte mit besorgen. Die PDL und die Gewerkschaften haben reichlich Stoff, um endlich wieder das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und öffentlich Akzente zu setzen, die Hoffnung auf eine friedensfördernde, soziale, ökologische sowie solidarische Zukunft machen. Da empfehle ich auch sehr einen Blick nach Frankreich, wo die Botschaft lautet: "Laßt es Euch nicht gefallen!"

Raimon Brete, Chemnitz


Ich mußte mich einige Zeit "erholen" nach dem 9. November 2019. In den Medien nur ein Thema - 30 Jahre "Mauerfall". Die DDR ist und bleibt meine Heimat. Für mich ist die Inbesitznahme der DDR einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Als Lehrerin arbeitend, frage ich mich bis heute: Was haben wir falsch gemacht? Das Bildungssystem der DDR gehörte zu den besten der Welt. Kein Bildungsprivileg, zehn Jahre gemeinsames Lernen, Einheit von Bildung und Erziehung, Unterricht in der Produktion, im Schulgarten, Betreuung im Hort, Erziehung zu Solidarität, Sorge um den Mitmenschen, Frieden als höchstes Gut der Menschheit. (Skandinavische Länder übernahmen große Teile des Systems.) Aber: Im Herbst 1989 gingen vor allem junge Menschen auf die Straße. Warum?
Auf der Grundlage sozialer Sicherheit und klarer Zukunftsperspektiven wollten sie so konsumieren wie in der BRD (natürlich "tolle" Autos) und in die gesamte Welt reisen. Eine Schülerin sagte mir in den 80er Jahren: "Sie haben völlig recht, die DDR ist ein Sozialstaat, ein Friedensstaat, ich habe eine Zukunft, aber ich möchte in einem großen Netz in die BRD heruntergelassen werden, um einzukaufen. Dann möchte ich in dem Netz wieder zurück." Diese Einkaufs- und Reisemöglichkeiten konnten wir nicht bieten, denn die Wirtschaftskraft der DDR gab es nicht her. Die Subventionen in allen Lebensbereichen führten zu Mangelerscheinungen in der Versorgung, zum Stop notwendiger Investitionen.
Doch wir sollten die Ausgangsbedingungen nicht vergessen: Reparationen an die UdSSR zahlten nur wir, es gab nur wenig Industrie im Osten Deutschlands, zerstörte Anlagen nach 1945, Sanktionen des Westens, wenig Rohstoffe, Aderlaß von Fachkräften vor dem "Mauerbau", schwindelerregende Wechselkurse von West nach Ost ...

Ingrid Glow, Demmin


Ende 2019 war der Liedermacher und Mitbegründer des Oktoberklubs Hartmut König Gast unserer "RotFuchs"-Gruppe. Er las aus seiner Autobiographie "Warten wir die Zukunft ab". Da er seine Gitarre dabei hatte, las er nicht nur, sondern verschönte den Abend mit solchen Liedern wie "Sag mir, wo Du stehst".
Bei dem, was er über sich selbst sagen konnte, wurde man unweigerlich an den eigenen Lebensweg erinnert mit all seinen Höhen und Tiefen. Das Wirken Hartmut Königs war zutiefst verbunden mit der Geschichte der DDR. Dieses Land war unsere Heimat, die wir geachtet und verteidigt haben. Wer von uns konnte sich schon vorstellen, daß wir je eine Niederlage erleiden würden?
Hartmut König gab einen umfangreichen Einblick in die Singebewegung bis zu den Konzerten in Berlin-Weißensee, erzählte über sein Journalistikstudium in Leipzig, seine Tätigkeit im FDJ-Zentralrat, die ihn mit vielen interessanten Politikern und Künstlern zusammenführte sowie über seine Tätigkeit als Kulturfunktionär. Als Funktionär des Zentralrates war er in vielen Teilen der Welt unterwegs. Auf diesem Weg traf er bekannte Künstler und Politiker. Sehr interessant sind seine Eindrücke aus den Jahren 1989/90. Seine Autobiographie ist ein politisches Buch. Er berichtet über das Erlebte, analysiert Vorgänge und stellt auch Fragen an eigene Lebensentscheidungen. Für die Zukunft gibt er uns den Rat: "Wer nach vorn schauen will, muß sich aufrichten. All das braucht Orientierung und verlangt einen aufrechten Gang. Fehler müssen Fehler genannt werden."

Günter Grunewald, Luckenwalde


Am 8. Mai 2013 wurde in Potsdam im Jugendkulturzentrum "Freiland" auf Initiative der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) eine Kopie des Befreiungsdenkmals von Jürgen Raue (1939 bis 2004) in Gegenwart von zirka zweihundert Menschen wieder eingeweiht. Die etwa zwei Meter hohe Bronze-Plastik stellt symbolisch die 1945 erfolgte Befreiung sowjetischer Zwangsarbeiter vom deutschen Faschismus durch die alliierten Armeen der Anti-Hitler-Koalition dar. Das vier Meter hohe Original erhielt 1971 im Stadtzentrum von Greiz in Thüringen seinen Platz. In der Umgebung von Greiz hatten die Faschisten mehrere Zwangsarbeiterlager eingerichtet, in denen vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene ausgebeutet und viele zu Tode gequält wurden. Jürgen Raue, der u. a. Plastiken zu Thomas Müntzer oder Angela Davis schuf, hat die Befreiung dieser Menschen in seinem Denkmal ausdrucksvoll gestaltet. 2006 faßte der Greizer SPD-CDU-Stadtrat den Beschluß, dieses als "störend" empfundene Kunstwerk auf einen stillgelegten Friedhof der Evangelischen Kirchengemeinde Greiz zu verbannen. Der Bürgermeister begründete das damit, daß in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz im Jahre 1989 die kleinere Kopie des Befreiungsdenkmals - ein Geschenk der DDR an das Auschwitz-Museum - in sechs Teile zerlegt und in ein Depot verbracht worden war. In einer Broschüre von 2014, die gemeinsam von der GBM und dem Jugendkulturzentrum "Freiland" (Arbeitsgemeinschaft Befreiung) erarbeitet wurde, ist detailliert nachzulesen, wie und mit wessen Unterstützung die Bronze-Plastik des DDR-Künstlers den Weg von Auschwitz nach Potsdam fand und von jungen Menschen bewußt aufgenommen wurde - zur Erinnerung an die Befreier vom deutschen Faschismus und als Protest gegen Geschichtsklitterer.
Am 8. Mai werden sich Potsdamer Friedensfreunde und deren Bündnispartner zum 75. Jahrestag der Befreiung im "Freiland" am Befreiungsdenkmal zu einer Gedenkstunde treffen, auch um gegen NATO-Manöver an den Grenzen Rußlands zu protestieren und friedliche Beziehungen zu diesem Land einzufordern.

Horst Jäkel, Potsdam


Zu Uli Jeschke: Krieg der Türkei in Nordsyrien. RF 263, S. 6

Aufgrund der Buch-Empfehlung in der Dezember-Ausgabe "Die Militarisierung der EU" habe ich dieses gelesen und einem Zeitungs- und Buchvertrieb in Erfurt zur Aufnahme in die Angebotsliste empfohlen. Der Wunsch der Autoren, das Bewußtsein breiter Bevölkerungsteile für Ereignisse zu wecken, die außerhalb des üblichen Denkens und des politischen Meinungsbildes vorherrschen, erscheint mir sehr unterstützenswert. Er wird angesichts der arroganten und aggressiven Geschichtsrevidierung zum Zwecke der Rechtfertigung historischen Unrechts und der Vertuschung der Verbrechen des deutschen Imperialismus und Militarismus und der Umdeutung seiner Kriege durch die Herrschenden immer dringlicher.
Vielen Dank für die Krenz-Rede zum 70. Jahrestag der Gründung der DDR!

Manfred Wozniak, Erfurt


Wer von elementaren linken Positionen abrückt, der ist nicht weit davon entfernt, auch die Friedenspolitik über Bord zu werfen. Einer linken Partei, die vor 30 Jahren entschuldigend, reumütig und vor der neuen Macht kriechend abschwor, scheint ihr Grundverständnis in der Frage Krieg - Frieden abhanden gekommen zu sein. Die Führungsspitze der PDL verzichtet auf alles, was sie bei den Herrschenden verdächtig machen könnte. Wer sich in diesem Sinne gefallsüchtig auf die Seite der schlimmsten Kriegstreiber stellt, nicht erkennt, wer die Welt in immer weiter eskalierende und ausgedehnte Kriege stürzt, der verliert den Anspruch, sich konsequente Friedenskraft zu nennen. Wer nach allen angezettelten Kriegen und Dauerkonflikten, nach allen Aggressionen und angeblichen Befreiungsmissionen nicht sehen und erkennen will, wer und welche Interessen dahinter stehen, der ist in machtpolitischer Beliebigkeit aufgegangen. Mehr noch, die Feindbilder, die ihnen vorgegeben werden, übernehmen sie bedingungslos, wissen und wollen nicht unterscheiden zwischen gerechtem Freiheitskampf gegen Besatzer, Unterdrücker und neue Kolonialherrschaft und dem Aggressions- und Expansionstrieb des Kapitalismus.

Roland Winkler, Aue


Am 11. Dezember 1899 sagte Bernhard Heinrich Martin Karl von Bülow in seiner Reichstagsrede: "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein."
Wie wir wissen, bezeichnet ein Schurke seinen Gegner gerne als noch größeren Schurken, um von seinen eigenen Schurkereien abzulenken. Wie verhält es sich aber nun mit dem "Ausschalten" des iranischen Generals Soleimani?
Hier erfolgte laut Berichterstattung ein Angriff auf eine Person mit vorsätzlicher Tötungsabsicht. Der Einsatz einer bewaffneten Drohne weist zudem noch auf Heimtücke, Grausamkeit und gemeingefährliche Mittel hin. Es ist technisch nicht möglich, ohne Hilfe von Europa eine Drohne aus den USA in den Nahen Osten zu steuern. Damit nicht genug wird dieser tödliche Angriff auch noch als Akt der Selbstverteidigung präsentiert.
In Deutschland hätte das wohl nicht passieren dürfen, denn genau diese Handlungen werden im BRD-Strafgesetzbuch, § 211 StGB, als Mord klassifiziert. Bezüglich der Drohne bleibt noch die Frage, wer hat hier Beihilfe zum Mord geleistet? Daß zusätzlich auch völkerrechtliche Normen empfindlich verletzt wurden, erübrigt sich zu erwähnen.
Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit fiel der deutsche und auch der internationale Protest sehr devot aus.

Jürgen Barz, Wismar


Der ehemalige CDU-Politiker und Nahost-Experte Jürgen Todenhöfer kritisiert die Iran-Politik des US-Präsidenten. "Iran hat in den letzten 200 Jahren kein einziges Land überfallen", schreibt Todenhöfer, "die USA Dutzende. Wenn es jetzt zum Krieg kommt, ist das kein Angriffskrieg des Iran, sondern ein Angriffskrieg der USA. Angezettelt vom führenden Staatsterroristen unserer Tage: US-Präsident Donald Trump."
Für Todenhöfer ist klar: "Die USA bekämpfen den Iran nur aus einem einzigen Grund: Weil er sich ihnen nicht bedingungslos unterwirft. Ungehorsam ist in den Augen der US-Regierungen das größte aller Verbrechen."
Der Jurist zählte in den Siebzigern zum rechten Flügel der CDU und hat seitdem eine beachtliche Entwicklung hinter sich. Von 1972 bis 1990 saß er für die CDU im Bundestag. Damals galt Todenhöfer noch als einer der bekanntesten deutschen Befürworter der von den USA unterstützten Mudschahedin und des Guerillakriegs gegen das sowjetische Engagement in Afghanistan. Ab etwa 2001 agierte er zunehmend als Kritiker der US-amerikanisch angeführten Intervention in Afghanistan und dem Irak. Diese Kriegsgebiete bereiste er ebenso wie die des Arabischen Frühlings und des "Islamischen Staates" (IS). Zwischen Januar 2017 und 2018 war er Herausgeber der linksliberalen Wochenzeitung "Der Freitag". Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten" (siehe RF 263, S. 7).
Mittlerweile ist für Todenhöfer die gesamte USPolitik im Mittleren Osten "ein einziger völkerrechtswidriger Angriffskrieg". Dazu zählt er auch die Sanktionen gegen den Iran. An Deutschland kritisiert er: "Es gab Lösungen, den Irankonflikt zu entspannen und faire Lösungen für alle Seiten zu finden. Aber dazu hätte man in Europa und auch in Deutschland mutige Politiker gebraucht, für die Frieden wirklich ein hohes Gut ist. Doch in Berlin sitzen überwiegend stromlinienförmig angepaßte Vasallen. 'Mut vor Fürstenthronen' gehört nicht zu ihren Tugenden."

Alfred Künzel, E-Mail


Zu Arnold Schölzel: Krieg oder nicht Krieg? RF 263, S. 1

Im Leitartikel ist die Rede von der "sozialistischen Regierung" Venezuelas. Diese Charakterisierung halte ich für unzutreffend.
Aus der Tatsache, daß die NSDAP sowohl die Worte national, sozialistisch und Arbeiter im Namen führte, schließen nur noch ganz wenige, daß es sich bei dieser um eine sozialistische oder eine im nationalen Interesse oder im Interesse der Arbeiter agierende Partei handelte.
Und so haben wir es in Venezuela eben nicht mit einer sozialistischen, sondern mit einer sozialdemokratischen Regierung zu tun. Und das trotz der Tatsache, daß die Sozialistische Internationale von der PSUV nichts wissen will. Daß die bürgerliche Presse sie als sozialistisch darstellt, darf nicht verwundern. Denn so ist es ein Leichtes, alle Mängel, die aus inkonsequenter Staatsführung erwachsen, den für die Interessen des Volkes wirkenden Kräften in die Schuhe zu schieben. Das funktionierte schon mal mit den europäischen sozialistischen Ländern. Die wurden als kommunistisch verschrien, was sie ja (auch nach eigenem Verständnis) nicht waren.

Arnold Zahn, München


Im Dezember 2019 berichtete die "Freie Presse" über die Verabschiedung von 380 Soldaten und Panzergrenadieren aus Marienberg zum NATO-Einsatz nach Litauen. Der Anlaß sei, "kein Grund zur Freude", sagte der Bataillonskommandeur. Wir meinen das auch, wohl aber aus anderen Gründen. Wie hinreichend bekannt ist, waren deutsche Soldaten schon einmal in Litauen, im zweiten Weltkrieg von 1941 bis 1944. Unweit des heutigen Stationierungsortes Rukla vernichteten sie in der Stadt Kaunas die ins Ghetto Slobodka/KZ Kauen getriebene jüdische Bevölkerung!
Allein das wäre Grund genug, daß Deutsche in Tarnfleckuniform und mit militärischem Gerät dort nie wieder erscheinen sollten. Es gehe um "Abschreckung potentieller Aggressoren", verkündete der Kommandeur. Jeder weiß, daß damit Rußland gemeint ist!
Im Frühjahr nun findet an der Westgrenze der russischen Föderation das NATO-Aufmarschmanöver "Defender 2020" mit 37.000 NATO-Soldaten statt - eine bewußte Provokation im 75. Jahr der Befreiung Europas vom Faschismus!

Norbert Staffa, Hohndorf

Seit 70 Jahren versucht man den Deutschen, vor allem den Westdeutschen, einzureden, der Russe wolle bis zum Rhein. Vor 30 Jahren dann eine kurze Erkenntnispause, als der "Russe" aus ganz Mitteleuropa seine Truppen abzog. Dieses Mitteleuropa hatte er mit dem Opfer von 27 Millionen Sowjetbürgern von den Nazis befreit. Die Amerikaner, die sich im Westen auch an dieser Befreiung beteiligt hatten, blieben bis heute. Sie blieben nicht nur, sie rückten vor, bis an die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion. Sie bauten Stützpunkte in Polen, Rumänien und im früheren Jugoslawien, im Kosovo.
Fast jährlich begannen sie, zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer den Krieg zu proben. Die Deutschen sind dabei. Auch 2020 soll es wieder so sein. Und das, obwohl 66 Prozent der BRD-Bürger meinen, man sollte eigentlich mit den Russen reden, mit ihnen mehr zusammenarbeiten. In manchen Kommentaren der Medien heißt es, das sei blauäugig. Stimmen von einflußreichen Politikern und Militärs wie dem französischen Präsidenten Macron und dem ehemaligen NATO-General Kujat, die sich auch für Gespräche und Verhandlungen einsetzen, werden negiert.

Franz Tallowitz, Saterland


Zu Ulla Jelpke: Europaparlament entlastet Nazideutschland. RF 263, S. 16

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewußtseins für die Zukunft Europas steht, daß die Sowjetunion am 30. November 1939 einen Angriffskrieg gegen Finnland begonnen habe.
Ich verweise auf zwei Quellen, aus denen hervorgeht, daß die Finnen als erste kriegerische Handlungen gegen die Sowjetunion starteten und daß diese erst nach dem vierten finnischen Angriff zur Gegenwehr überging.
Das "Schwedter Tagblatt" berichtete am 28. November 1939, daß das sowjetische Nachrichtenbüro TASS in einer amtlichen Meldung über einen ernsten Grenzzwischenfall an der finnisch-sowjetischen Grenze informierte. Danach sei von finnischer Seite am Sonntagnachmittag um 13.45 Uhr Moskauer Zeit plötzlich Artilleriefeuer auf das sowjetische Territorium eröffnet worden, sieben Kanonenschüsse seien abgefeuert worden, wodurch auf sowjetischer Seite drei Rotarmisten und ein Unteroffizier getötet und sieben Rotarmisten, ein Unteroffizier und ein Leutnant verwundet worden seien.
Die österreichische Zeitung "Vorarlberger Tagblatt" vom 1. Dezember 1939 berichtete über drei weitere Angriffe der finnischen Armee gegen die Sowjetunion: Um 2 Uhr nachts, so heißt es in der amtlichen Mitteilung, hätte beim Dorf Kowalno (nördlich des Ladoga-Sees) eine Gruppe finnischer Soldaten die Grenze überschritten und die sowjetische Grenzwache angegriffen. Die finnischen Abteilungen seien mit starken Verlusten zurückgeschlagen worden. Um 3.15 Uhr habe eine weitere starke Abteilung finnischer Truppen beim Dorfe Raasult auf der Karelischen Landenge Maschinengewehrfeuer auf die Sowjet-Truppen gerichtet. Die Angreifer seien gleichfalls zurückgeschlagen worden.
In Anbetracht dieser neuen Provokationen seitens der finnischen Truppen habe das Oberkommando der Roten Armee den Truppen den Befehl erteilt, am 30. November um 8 Uhr morgens die sowjetisch-finnische Grenze zu überschreiten. Diese Tatsachen werden fast ausnahmslose von der BRD-Geschichtsschreibung ignoriert.

Johann Weber, Niederbayern


Roland Jahns Hirn entsprang im Dezember vergangenen Jahres die Idee, die Doktortitel von Angehörigen des MfS als "Stasi-Doktortitel" zu kennzeichnen. Das mit Roland Jahn ist eine ebenso traurige Geschichte, wie er selbst eine traurige Figur der Geschichte ist. Das bundesdeutsche Großprojekt, "Massen-Denunziation der DDR-Bürger", das man versucht, als "Behörde" zu tarnen, dient leider sehr erfolgreich der menschlichen Verdummung.
Pastor Gauck war übrigens der erste und sehr willfährige Besorger dieser Behörde. Voraussetzung hierfür war nicht größtmöglicher Verstand oder Verantwortungsbewußtsein, sondern ausgeprägter Haß. Als Sohn eines hohen Offiziers der faschistischen Marine und erzogen durch einen Onkel der gleichen Gesinnung erfüllte er dieses Persönlichkeitsprofil ausgezeichnet. Ein haßerfülltes Gehirn blockiert bekanntlich sachbezogene Denkprozesse.
Sowohl die Exekutive als auch die Judikative der Bundesrepublik kennen den international anerkannten Rechtsgrundsatz des Rückwirkungsverbots. Vereinfacht gesagt bedeutet das, daß kein Mensch nach einem Gesetz verurteilen werden darf, das zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht rechtwirksam war. Nach der Zerschlagung des Dritten Reiches wurde dieser Grundsatz konsequent verwirklicht, und viele Richter, Politiker, Beamte und Verwaltungsangestellte wurden Bestandteil der Verwaltung der neuen BRD. Grundlage ist das Gebot des Vertrauens in den Rechtsstaat. Dagegen zu verstoßen ist in der BRD grundgesetzwidrig.
Völlig anders verhält es sich dennoch mit dem Vertrauen in den Rechtsstaat und dem Rückwirkungsverbot, wenn es sich um Politiker und Mitarbeiter des Staatsapparates der DDR handelt, inklusive aller Mitarbeiter der Schutz- und Sicherheitsorgane. So verurteilte man beispielsweise DDR-Politiker nach bundesdeutschem Recht und war sich auch nicht zu schade, Rechtskonstruktionen zu basteln, die bereits ein Jurastudent im ersten Semester als Rechtsbeugung erkennen würde, wenn man ihn gelassen hätte. Das zur sogenannten Rechtsstaatlichkeit.

Jürgen Barz, Wismar


"Dr. Stasi"-Jahn will Transparenz! Oder doch eher das Gegenteil? Mit seinem diffamierenden Vorstoß geht es doch um nichts anderes, als immer weiter die Realität zu verdrehen. Dabei lehnte er klärende Gespräche mit den Betroffenen ab bzw. versuchte, sie zu erpressen. Wenn, dann sollte der korrekte Begriff wie üblich "Dr. der juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit" heißen. Um eine Doktorarbeit an der juristischen Hochschule schreiben zu dürfen, mußte man sicher erst einige Jahre in diesem Organ tätig gewesen sein. Ich denke, dann sind die letzten Doktoren dieser Zunft entweder im Rentenalter oder kurz davor. Die meisten dürften schon gar nicht mehr unter uns weilen! Wem will der Buhmann Jahn da Angst machen?

Hans-Rainer Bergmann, E-Mail


Wir sollten nicht vergessen, es war die CDU - die CSU hat sich besonders hervorgetan -, die mit all ihrer Macht versuchte zu verhindern, daß das tausendjährige Reich der Nazis als Unrechtsstaat bezeichnet wird. Da gab es sogar einen "furchtbaren Marinerichter", der es - nun mit CDU-Parteibuch - bis zum Ministerpräsidenten gebracht hatte. Seine Auffassung war es, daß heute nicht Unrecht sein könne, was damals Recht gewesen sei. Wenige Jahre später galt das nicht mehr. Gerade CDU und CSU konnte es nicht schnell genug gehen, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Mit all den Nachteilen u. a. bei der Altersversorgung für Mitarbeiter bei Polizei und Justiz, die es bei ehemaligen Nazis natürlich nicht gegeben hat. Auch Frau Freisler bezog die sehr üppige Pension ihres Mannes bis zu ihrem Lebensende, inklusive der regelmäßigen Erhöhungen. CDU und CSU hatten aber damals im Bundestag einen still genießenden Verbündeten, die FDP. Bei ihr waren, im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl, die meisten Nazis untergekommen. Dort gab es sogar einen Vorsitzenden, der stolz sein Ritterkreuz trug.

Wolfgang Seibt, Wettenberg


Zu Theodor Weißenborn: Schmuddelwetter in St. Ansgar (RF 264, S. 23)

Im Januar-"RotFuchs" wird der Leser gleich zweimal mit dem Gekreuzigten konfrontiert. Diese Konfrontierung könnte nicht drastischer ausfallen. Im Heftinnern liest man einen schwermütig machenden Aufsatz über ein Nachterlebnis des Dichters Theodor Weißenborn in einer katholischen Klosterherberge. Dort bekommt der nächtliche Gast einen schaurigen Einblick in die Grablegung des Gekreuzigten. Es war wie ein kurzer Blick in ein unterirdisches Kabinett der Madame Tussaud ...
Als ich nach diesem Artikel auf der letzten, der Umschlagseite, angelangt war, sah ich wieder den Gekreuzigten. Aber diesmal trug er eine Brille, hatte einen Anzug an und wurde von einem Reichswehrsoldaten mit dem Bajonett in die Seite gestochen. Und zu seinen Füßen liegend eine Frau, der einer von den Bluthunden Noskes mit dem Gewehrkolben den Schädel einschlagen wird. Ich täusche mich nicht: Ihr Antlitz trägt die Gesichtszüge von Rosa. Und der Mann am Kreuz ist Karl. Der Karikaturist Karl Holtz hat die Leidensgeschichte der Evangelien um das Jahre 33 u. Z. in die furchtbare Gegenwart des Jahres 1919 geholt. Damit hat er den damaligen Lesern, die noch in biblischen Kenntnissen bewandert waren, den Gemeuchelten in ihre Gegenwart geholt: als die bekanntesten Geschundenen dieses Jahres, in dem die Revolution gemeuchelt wurde.
Es gibt ein berührendes Bild von Käthe Kollwitz (siehe RF 252, S. 40), wie die Anhänger Liebknechts sich an seiner Bahre versammeln, den Toten beweinen und sich ihrer Tränen nicht schämen. Auch hier flossen die Tränen dessen, der selber nicht mehr weinen konnte, aber dessen Schicksal der Tränen seiner Anhänger wert ist. Und wenn wir nach dem Weinen über unsere heutigen Niederlagen uns die Tränen abwischen, werden wir den gleichen Kampf dieser beiden aufnehmen. Ein Jahrhundert später ist es nicht mehr der Kampf gegen die Militärs mit den wilhelminischen Epauletten, sondern gegen die Machtgelüste der NATO, von "Atlantic Resolve" und der auf dem Flughafen Büchel eingelagerten 20 US-Atombomben vom Typ B61-4, die nur auf ihren Einsatz warten. Drängen wir auch die eigene Regierung dazu, den Atomtod aus dem Land zu schaffen!

Peter Franz, Weimar


Lieber, verehrter Egon Krenz,
ich habe Ihre Rede "Die Erfahrungen der DDR für die Zukunft nutzen" (Beilage des Dezember-"Rot-Fuchs") gelesen und mich anschließend gefragt, warum ich mir so eine Mühe gegeben habe. Das werden Sie auf Anhieb nicht verstehen können. Deshalb will ich es erklären.
Ich bin Mitglied der PDL im Bezirk Steglitz/Zehlendorf und wurde gebeten, zu eben diesem Thema zu referieren. Ich habe mich gründlich vorbereitet und mich u. a. auf die jüngst erschienenen "Erinnerungen aus drei deutschen Staaten" (Untertitel) von Ludwig Elm gestützt (Haupttitel: Geschichte eines Historikers). Das war nicht falsch, aber dennoch, als ich dann Ihre Rede gelesen habe, war mein erster Gedanke: Warum hast du dir für die Vorbereitung des Abends soviel Zeit genommen? Du hättest doch die Krenz-Rede im Vorfeld allen Teilnehmern zur Verfügung stellen sollen und dich auf neue Aufgaben konzentrieren können. Aber die Rede kannte ich ja zu dem Zeitpunkt noch gar nicht
­...
Ich will mit diesem Schreiben ja nicht Ihre Rede rekapitulieren. Aber daß Sie noch einmal darauf hingewiesen haben, daß Sie - wir - es nicht mit einem Scheitern, sondern eben nur mit einer bitteren Niederlage zu tun haben, ist für mich eine Mut machende Form der Genugtuung.
Ihren Hinweis auf Baring hatte ich in meinem Referat auch benutzt. Daß aber in der Talkrunde keiner der Beteiligten den Mut gefunden hat, ihm zu widersprechen, ist, ja, was ist das? Das ist die Denkweise der Konterrevolution!
Ganz nett fand ich Ihren Hinweis auf das "Wunder von Bern". Ich habe als 12jähriger zusammen mit meinem Zwillingsbruder vor einem Fernseher gesessen, und wir hatten nur gehofft, daß Ungarn nicht zweistellig gegen die Deutschen gewinnen sollten. Aber wir waren uns einig, daß nur Ungarn mit Puskas gewinnen darf. Wir waren traurig, daß es anders gekommen war.
Was wir erst sehr viel später erfahren haben, war, daß die ungarische Mannschaft - nicht nur unter Beihilfe der Deutschen - systematisch zusammengetreten wurde und quasi invalidisiert ins Endspiel gelangen konnte.
Aber das eigentlich nur nebenbei: Wichtig für mich ist festzuhalten, daß ein Wunder stattgefunden hat, nämlich das in der DDR. Und darauf können Sie auch ganz persönlich stolz sein. Und das bleibt - trotz allem Geschwätz.
Viele Grüße von

Hans Schoenefeldt, Berlin


Es ist an der Zeit, vielleicht auch höchste Zeit (von meinem Alter her), mich bei Euch sehr, sehr herzlich für die allmonatliche Post zu bedanken.
Ohne Eure Arbeit (von der Redaktion bis zum Versand) würde ich als ausgebildeter "Fachidiot" (Straßenbau) in meinem frei gewählten Exil wohl versauern bzw. "im eigenen Saft schmoren". Wohltuend, allzeit anregend, wissensbereichernd und oftmals auch fordernd alle Eure Beiträge.
In der Regel beantworten sie immer auch die Fragen nach dem Warum. Werden tiefste Ursachen weniger deutlich, hilft dann oftmals die Sekundärfrage, wem etwas nützt. Dank Euch bin ich tatsächlich reicher geworden wie auch erheblich sicherer mit meinem Zukunftsdenken. Unersetzlich bleibt mir unsere Vergangenheit mit allen Wehs und Achs. Ohne diese wäre ich ein armer Schlucker. Bin ich aber nicht. Denn es gibt Euch und damit einen nicht unerheblichen, durchaus mich und viele andere formenden "RotFuchs"-Dauerbeitrag.

Ekke Abicht, Brno

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-266-03-20.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 266, 23. Jahrgang, März 2020
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2020

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