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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1325: Widerstand aus Berliner Arbeiterschaft 1933-1945


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10 - Oktober 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Vom Wert positiver Traditionen
Der Widerstand aus der Berliner Arbeiterschaft 1933-1945

Von Hans-Rainer Sandvoß


Wenn vom Widerstand gegen das NS-Regime die Rede ist, dann wird fast ausschließlich der 20. Juli 1944 genannt, das missglückte Attentat auf Hitler. Der Arbeiterbewegung wird ein Anteil am Widerstand abgesprochen, sogar ihre Unterdrückung durch die NS-Diktatur geleugnet, indem behauptet wird, sie sei Teil einer "Volksgemeinschaft" gewesen, die Vorteile aus der Diktatur gezogen hätte. HANS-RAINER SANDVOSS belegt, dass die Nationalsozialisten in der Arbeiterschaft nicht nur die geringste Anhängerschaft hatten, sondern dass hier auch bis zum Ende des Krieges ein tätiger Widerstand geübt wurde.


Der so folgenschwere Sieg der NS-Bewegung im Frühjahr 1933 zählt gewiss zu den bittersten Phasen in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Über die Ursachen dieser Katastrophe wird noch heute gestritten. Doch sollte bei aller Kritik, von der weder KPD und RGO noch SPD und ADGB ausgenommen werden dürfen, nie vergessen werden, dass die Hauptschuld für den Untergang der Weimarer Republik und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler eindeutig auf Seiten rechtskonservativer bürgerlicher Kreise und nicht bei der Arbeiterbewegung lag. Das berüchtigte "Ermächtigungsgesetz" fand sogar die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien. Auch das sollte nicht vergessen werden.

Obwohl die Behauptung zutrifft, dass die NSDAP als Massen- und Volkspartei auch viele Arbeiter zu ihren Wählern zählte, so bleibt es doch eine Tatsache, dass dem NS-Regime aus der (vormals) politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft nicht nur der früheste, sondern auch der zahlenmäßig stärkste und opferreichste Widerstand entgegenschlug.

Dies kann gerade am Beispiel der deutschen Hauptstadt belegt werden.

Bekanntlich verzeichnete bei der Reichstagswahl im März 1933 der von den Arbeiterbezirken dominierte Wahlkreis Berlin (Innenstadt) mit 31,3% - nach dem stark katholisch geprägten Wahlkreis Köln/Aachen - den zweitniedrigsten NSDAP-Stimmanteil im Reich. Es waren vor allem die protestantisch und ländlich geprägten Wähler Ostpreußens mit 56,9% und Pommerns mit 56,3%, die für den Nationalsozialismus votierten, der NS-Reichsdurchschnitt lag bei 43,9%. In der Berliner Arbeiterhochburg Wedding stimmten bei dieser Wahl noch immer 39,2% für die KPD, 22,8% für die SPD und "nur" 25,9% für die NSDAP.

Über ein Jahr danach, bei der sog. Volksabstimmung vom 19. August 1934, stimmten immerhin 494.359 Berliner mit "Nein", und über 75.000 Voten waren ungültig. Von der offiziell behaupteten Gesamtzustimmung von 81,2% in der Reichshauptstadt wichen vor allem die alten Arbeiterbezirke Wedding, Prenzlauer Berg, Neukölln und Kreuzberg (SO 36) mit jeweils über 40.000 Negativvoten (knapp 2-3%) deutlich ab.


Unruheherde

Das Widerstandslexikon der Geschichtskommission des Berliner Verbands der VVN zählt über 10.000 Namen von aktiven politischen Gegnern auf - die meisten von ihnen litten in Konzentrationslagern und Haftanstalten. Durch die Veröffentlichung Die "andere" Reichshauptstadt, die sich ganz überwiegend auf die Auswertung von politischen Prozessen gegen Anhänger der unterdrückten Arbeiterbewegung stützt, konnte ich belegen, dass der Widerstand aus der Arbeiterschaft keineswegs - wie so oft behauptet - 1935/36 "restlos zerschlagen" wurde, sondern dass es in Berlin (mal mehr, mal weniger) immer Widerstand gab, und vor allem eine weit über die illegal arbeitenden Kreise hinausgehende - betrieblich und örtlich unterschiedlich ausgeprägte - NS-Gegner-Szene. So fanden sich, um ein Beispiel zu geben, im September 1942 1000-3000 Menschen zu einem "stummen Protest" im Krematorium Baumschulenweg ein, als der an den Folgen der KZ-Haft und faktischen Zwangsarbeit verstorbene ehemalige Berliner SPD-Vorsitzende Franz Künstler zu Grabe getragen wurde.

Der Reichsführer SS wusste, worüber er klagte, als er 1937 empört einige "ständige Unruheherde" in Deutschland hervorhob, und dabei neben Hamburg, dem Freistaat Sachsen, der Provinz Sachsen (Halle) und Düsseldorf - früheren Zentren der Arbeiterbewegung also - als fünften "Unruheherd" Berlin nannte.

Zu den nachweisbaren Erfolgen oppositioneller Arbeit im Betriebsbereich in Berlin zählt die wiederholte Niederlage von Vertretern der NS-Bewegung bei den sog. Vertrauensrätewahlen, die nach mehreren vergeblichen Anläufen schließlich 1936 resigniert eingestellt wurden. Der im Zeichen gemeinsamer Arbeiterpolitik wirkende (überparteiliche) "Aktionsausschuss Gruppe Metall" nannte in einem Flugblatt von 1935 u. a. folgende Beispiele, die die NS-Propagandameldung einer 83%igen Zustimmung als Lüge entlarvten:

DKW-Auto-Union, Spandau: ca. 2400 Beschäftigte, ca. 700 ungültige Stimmen, ca. 400 Nein-Stimmen;
Kreiselgeräte, Zehlendorf: ca. 500 Beschäftigte, ca. 160 ungültige Stimmen, ca. 60 Nein-Stimmen.


Die Mär von der Volksgemeinschaft

Diese Zahlen, aber auch zeitgenössische Berichte oppositioneller Linkskreise (KPD, SPD, Neu Beginnen) widerlegen die Mär von der totalen Faschisierung "der" Arbeiterschaft bzw. der restlosen Zerschlagung der illegalen Arbeiterbewegung zur Mitte der 30er Jahre. Doch wie sah das Bild zwischen 1939 und 1945 aus? Schufen militärische Anfangserfolge sowie der verschärfte politische Terror ("Wehrkraftzersetzung" konnte zur Todesstrafe führen) nun tatsächlich die "totale Volksgemeinschaft"?

Nicht allein eigene Recherchen zum Widerstand in Berlin (rund 500 Interviews), sondern auch die intensive Forschungsarbeit der Berliner Geschichtswerkstatt, die für das Zwangsarbeiter-Entschädigungsprojekt viele einst nach Berlin verschleppte Osteuropäer lebensgeschichtlich befragte, legen für die Kriegsjahre folgende signifikante Erfahrungen nahe:

Unter älteren Facharbeitern und Meistern, also jener Generation und Schicht, die noch den Ersten Weltkrieg erlitten und durch die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung geprägt worden war, schlug den Verfolgten noch die meiste Zuwendung entgegen. Bei ungelernten Kräften und bei jüngeren Arbeitern sah es dagegen ideologisch meistens anders aus.

An dieser differenzierten Sicht ist nicht nur bemerkenswert, dass sie von Verfolgten kommt, die aufgrund ihres schlimmen Schicksals (verständlicherweise) zu pauschalen Urteilen hätten neigen können. Es muss dabei auch die Minoritätenrolle der bis 1933 sozialistisch Organisierten bedacht werden.

So lag der Grad der Gewerkschaftsmitglieder bei den Buchdruckern zwar über 90%, bei den gerade in der Berliner Industrie äußerst wichtigen Metallarbeitern aber lediglich bei etwa 35%.

Dass die alte Arbeiterbewegung nicht nur eine Klassenbewegung war, sondern dass sie sich als Erbin der Aufklärung und deren revolutionärer Botschaft von den allgemeinen Menschenrechten begriff, hatte offenbar eine starke Minderheit der Lohnabhängigen geprägt und bewährte sich trotz aller Misserfolge und Fehler auch nach dem Ausbruch der Barbarei.

Dem vor allem von Apologeten des bürgerlich-militärischen Widerstands ins Feld geführten Argument des totalen "Scheiterns" des Arbeiterwiderstands kann u. a. Folgendes entgegengehalten werden:

Auch die mutige Selbstbehauptung der autonomen Persönlichkeit in einer diktatorisch "gleichgeschalteten", von Rassenhass und Nationalismus geprägten Gesellschaft nötigt als Beispiel für Zivilcourage Respekt ab und kann als vorbildlich gelten.

Ideologische Gegnerschaft, so sie den Kontakt (etwa durch Gespräche am Arbeitsplatz) zu anderen suchte, wirkte in der Tendenz als "Zersetzung der Wehrkraft", zumal wenn sie in der Konsequenz zur Sabotage der Rüstungswirtschaft fortschritt.

Humanitäre Hilfe für Zwangsarbeiter oder "Untergetauchte" (Juden, Soldaten) trug dazu bei, das Leben von Verfolgten zu erhalten bzw. zu retten.

Die Bewahrung von geeigneten Kadern der Gewerkschaftsbewegung - etwa durch gezielte u. k.-Stellung - diente (für die Zeit nach der Befreiung) dem Aufbau einer solidarischen und freiheitlichen Ordnung.

Gerade der früh einsetzende Widerstand aus der Arbeiterschaft widerlegt die Kollektivschuldthese, und er ist wie kein zweiter Zweig des Widerstands unbelastet von der anfänglichen Billigung und Mitwirkung bei der Errichtung des "Führerstaats" und der Unterstützung einer nationalistischen Außenpolitik - von der blutigen Verstrickung in die Verbrechen der Wehrmacht ganz zu schweigen!

Ohne die Frauen und Männer des Widerstands zu verklären, sollten wir ihre Opfer und ihr Wirken, das sich auf vielfältige Weise dem Terror entgegenstellte, die Kriegsmaschinerie behinderte und Menschenleben rettete, in Ehren halten. Denn gerade in Berlin wurde bewiesen:

Es gab nicht nur den 20. Juli 1944.


Der Autor Hans-Rainer Sandvoß ist stellvertretender Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand und Verfasser von Die andere" Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945, Berlin 2007.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 24.Jg., Oktober 2009, Seite 20
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009