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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1559: Am unteren Rand der Gesellschaft etabliert sich eine Armutswirtschaft


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7 - Juli 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Abfälle und Almosen
Am unteren Rand der Gesellschaft etabliert sich eine Armutswirtschaft.
Das Beispiel Dortmund

Von Irina Vellay


Hartz IV hat nichts gebracht, nur die Armut vergrößert, das bestätigt nun auch die Wissenschaft. Trotz Sanktionen und dem ständigen Damoklesschwert der Leistungskürzung oder gar -streichung sind Bezieher von ALG II heute nicht weniger lang ohne Stelle als vorher die Bezieherinnen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) nach Auswertung des Sozioökonomischen Panels herausfand, betrug die Dauer der Arbeitslosigkeit vor der Hartzreform (2005) im Durchschnitt 12 Monate, jeder zweite fand innerhalb eines Jahres einen neuen Job. Unter Hartz IV beträgt die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 13 Monate, weiterhin schafft es die Hälfte aller Bezieher des Arbeitslosengelds II innerhalb eines Jahres in eine neue Stelle.

Dafür ist die Zahl der Armen dramatisch gestiegen. Im 4. Quartal 2010 lebten von 576.704 Einwohnern in Dortmund 82.295 in Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften betrug 42.958. Die Armutsquote ist jedoch deutlich höher, weil Bezieherinnen von Transferleistungen durchschnittlich über Einkommen verfügen, die ca. 20% unterhalb der Armutsschwelle liegen - aktuell sind das 796 Euro für Alleinstehende und 1796 Euro für einen Vierpersonenhaushalt, Stand 2009.

Der starke Anstieg der Armutsbevölkerung (bundesweit um 14,6%, 2009) erzeugt eine erhebliche Nachfrage nach kostenlosen oder für einen symbolischen Beitrag erhältlichen Lebensmitteln, Mittagstisch in Suppenküchen, Kleidung, Hausrat und Spielzeug, Medikamenten und medizinischen Dienstleistungen bis hin zu entwerteten Wohnungen, die zunehmend verrotten, weil sie nur noch zum Preis der Nebenkosten vermietet werden (können). Gleichzeitig setzt die Sozial- und Steuerpolitik starke Anreize, der Armut mit Wohltätigkeit und ehrenamtlichem Engagement zu begegnen.

So entsteht eine Armutsindustrie, die recycelt, was die begüterten Mittel- und Oberschichten wegwerfen, und das überschüssige Arbeitskräftepotenzial für Gottes Lohn dienstverpflichtet. Es bleibt dauerhaft in diesem Sektor gefangen, ohne Perspektive, noch einmal den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen zu können.

Hier verfestigt sich eine Parallelgesellschaft, die von den Strukturen und Rechten der Erwerbsgesellschaft entkoppelt, ausgegrenzt, abgehängt ist und zunehmend in Armutszonen der Stadt eingeschlossen wird. An die Stelle der doppelt freien Lohnarbeit (frei vom Dienstherrn und frei von Produktionsmitteln) treten wieder persönliche Abhängigkeit und (Behörden-)Willkür. Die Mehrheitsgesellschaft will mit diesen Armen nichts zu tun haben, spendet allenfalls und am liebsten das, was sie selbst nicht mehr braucht. Und wo sie sich von der Wirtschaftskrise bedroht fühlt, konkurriert sie mit ihnen um die knapper werdenden staatlichen Mittel und erklärt die aussortierten Menschen offen zum Ausschuss: "nicht integrationsfähig".

Irina Vellay hat im Jahr 2009 diesen Kreislauf für die Stadt Dortmund erforscht.[*] Eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Studie findet sich im Artikel "Abfälle und Almosen - das Beispiel Dortmund".

[*] I. Vellay: Die Parallelgesellschaft der Armut.
Niedrigschwellige existenzunterstützende Angebote in Dortmund.
Schriftenreihe "Workfare-Dienstpflicht-Hausarbeit"
(Hrsg. Forschungsgruppe "Der 'workfare state' - Hausarbeit im öffentlichen Raum?"), Nr. 4, 2010.


*


Die Nothilfeangebote kommen in Dortmund Ende der 80er Jahre auf. Die Armut war sichtbarer geworden. Galten die 80er Jahre als Jahrzehnt der Arbeitslosigkeit, so waren die 90er Jahre das Jahrzehnt der Obdachlosigkeit. Wohnungsnot und steigende Mieten fallen zusammen mit einer verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit und lassen immer mehr Menschen zu Verlierern werden. Gerade Menschen mit Brüchen im Leben werden zunehmend ausgeschlossen und landen am Ende der Abstiegsspirale auf der Straße.


Im Verlauf der 90er Jahre entsteht ein ganzes Netz zur Unterstützung der Menschen, die wohnungslos oder gefährdet sind, ihre Wohnung zu verlieren. Sie gelten verwaltungstechnisch eigentlich als nicht mehr existent, gehören aber zunehmend zum Stadtbild, weil sie entgegen jeder bürgerlichen Wohlanständigkeit draußen leben (müssen) und sich des öfteren dem Alkohol oder anderen Drogen hingeben. Die belebten Orte der Stadt sind ihre bevorzugten Treffpunkte.

Eines der ersten Nothilfeangebote war der "Brückentreff" der Diakonie. 1991 folgte die "Kana-Suppenküche", zunächst als "fliegendes Angebot" auf Initiative junger Menschen aus der evangelischen Kirche, inspiriert von Projekten der Catholic Workers in den USA. Nach zwei Jahren mobiler Suppenausgabe auf öffentlichen Plätzen wurde 1993 ein Ladenlokal in der Nordstadt gemietet und eine feste Einrichtung geschaffen. Mitte der 90er Jahre richteten die Franziskaner in der östlichen Innenstadt ein Obdachlosenfrühstück an der Klosterpforte ein. 1995 wurde das "Gast-Haus" an der Rheinischen Straße in der westlichen Innenstadt gegründet. Die Bekämpfung des Hungers und das Angebot sozialer Begegnung bilden den Ausgangspunkt der heutigen institutionalisierten Infrastruktur.


Suppenküche und Kleiderkammer - Die Nothilfe

Das Segment Nothilfe enthält Angebote zur Erstversorgung, um eine akute Notlage bei existenziellen Grundbedürfnissen aufzufangen und das Überleben zu sichern; es geht vor allem darum, dass Menschen nicht hungern müssen. Mit dem Essen ist in der Regel die Möglichkeit der Begegnung verbunden. Die Einrichtungen sind wichtige Aufenthaltsräume und Ankerpunkte für die Menschen, die eigentlich nirgends sein dürfen und ständig neu damit rechnen müssen, aus dem Stadtgebiet vertrieben zu werden. Es sind die einzigen Orte in der Stadt, an denen Wohnungslose oder Menschen mit ganz wenig Geld wirklich willkommen sind.

Häufig sind um das Essenangebot herum weitere Notwendigkeiten wie Körperpflege, Kleidung, Wäschewaschen, Schlafsäcke, medizinische Versorgung und Rechtsberatung, aber auch Dienstleistungen wie Frisör und Fußpflege organisiert. Menschen ohne Wohnung verfügen nicht mehr über die geringsten Ressourcen, um den Alltag zu organisieren, und sind für alles und jedes auf externe Anlaufstellen angewiesen. Ganz wesentlich ist, dass die Nutzung an keine Voraussetzung gebunden ist. Die meisten Angebote sind kostenlos oder gegen einen symbolischen Betrag erhältlich.

Die Nutzer sind in den allermeisten Fällen Einheimische, vor allem Männer mittleren Alters und älter. Der Frauenanteil liegt meist unter 10%. Zu einem geringen Anteil sind auch Migranten bis hin zu Wanderarbeitern aus Osteuropa vertreten. Kinder werden manchmal von ihren Müttern mitgebracht, bleiben aber die Ausnahme.

Gleichwohl leben in Dortmund etwa 70 Kinder und Jugendliche auf der Straße, die Zahl der Wohnungslosen wird auf rund 600 geschätzt (265.000 in Deutschland). Der tatsächliche Kreis der Nutzer ist jedoch größer. Zunehmend greifen auch Menschen aus dem ALG-II-Bezug oder mit geringen Renten bzw. Niedriglöhnen auf kostenlose Angebote zurück. Die Hemmschwelle, diese anzunehmen, ist dennoch sehr hoch, weil die Obdachlosen als die "Aussätzigen" der Gesellschaft gelten. Die Nutzer sind nicht nur ganz überwiegend deutsch, sie sind auch zum größten Teil Dortmunder.


An der Grenze

Seit dem Ende der 80er Jahre ist die Nachfrage ständig, parallel zum Anstieg der Armut, gestiegen. Mit der Zeit ist in der Dortmunder City und vor allem in den Stadtteilen der Innenstadt ein dichtes Netz aus Unterstützungs- und Beratungsangeboten entstanden. Doch viele Einrichtungen sind inzwischen an ihre Kapazitätsgrenzen angelangt. Mehr als 300 Gäste pro Essensausgabe und Einrichtung sind nicht mehr zu bewältigen.

Bei der Qualität der Essenangebote muss man Abstriche gegenüber dem üblichen Standard machen. Das meiste ist nicht mehr frisch. Das Essen ist einfach und fleischbetont. Man kann satt werden, aber die Auswahl ist begrenzt. Im Unterschied z.B. zum Kantinenessen gibt es mittags immer nur ein Gericht, welches man nehmen oder darauf verzichten kann. Wünsche sind kaum möglich und ernährungsbedingte Krankheiten ein Problem, man darf keine z.B. Allergien oder Diabetes haben. Viele, gerade der Wohnungslosen, sind jedoch in mehrerer Hinsicht krank. Auf diese Bedarfe können die Angebote nicht eingehen. Sie geben aus, was ihnen gespendet wurde.

Bei den Helferinnen der Projekte ist das Verhältnis genau umgekehrt: Ganz überwiegend sind es Frauen mittleren Alters und älter. Sie kommen aus allen sozialen Schichten, aber es scheint so zu sein, dass in den ehemaligen Arbeitervierteln sich auch viele Menschen engagieren, die selber nur über wenig Geld verfügen, aber Menschen helfen wollen, denen es noch schlechter geht.

Die beschriebenen Projekte kooperieren miteinander in dem Sinne, dass sie gegenseitig auf die jeweils anderen Angebote verweisen und überzählige Sachspenden austauschen. Darüber hinaus gibt es - außer mit der Tafel - keine direkte Zusammenarbeit, weder bei öffentlichen Aktionen noch in Form von Öffentlichkeitsarbeit. Überschneidungen mit anderen Projekten gibt es keine. Alle Projekte haben verbindliche Beziehungen zu einzelnen Unternehmen aufgebaut, von denen sie günstige Dienstleistungen oder Sachspenden erhalten, eine gezielte Sponsorenpflege gibt es allerdings nur bei der Tafel.

Gegenüber der lokalen Politik ist man sehr zurückhaltend bis reserviert. Hierin drücken sich vielfältige Enttäuschungen aus. Es gibt keine Erwartung (mehr), von dieser Seite Unterstützung für die Arbeit zu erhalten, zugleich aber die Erfahrung, dass die Politik sich in der Öffentlichkeit regelmäßig durch einen repressiven Umgang mit armen Menschen zu profilieren sucht, was ihre Lage weiter verschlechtert. So verweigert man sich auch unisono Presseauftritten mit Politikern: "Die sollen sich nicht mit Obdachlosen schmücken."


Klare Hierarchie und Wohlverhalten

Die Nothilfeangebote stützen sich ausschließlich auf ehrenamtliche Arbeit. Gelegentlich kommen auch Straffällige mit Sozialstunden zum Einsatz, oder es werden einzelnen Wohnungslosen kleine Zuverdienste insbesondere für Gartenarbeit angeboten

Bei allen beschriebenen Einrichtungen lässt sich eine Dreiteilung der Arbeit und der Beteiligung beobachten. Die Leitungsebene ist für zentrale organisatorische und inhaltliche Aufgaben und für die Repräsentation in der Öffentlichkeit zuständig. Sie setzt sich zumeist aus langjährigen Aktivisten zusammen, insbesondere aus der Mittelschicht. Hier ist der Männeranteil in der Regel deutlich höher als in den Arbeitsteams, die von Frauen bestimmt werden.

Die Arbeitsteams leisten das Tagesgeschäft mit dem Frühstücks- oder Mittagsangebot, sie organisieren sich selbst und setzen die Hausregeln gegenüber den Nutzern durch. Hier ist die soziale Lage gemischter. Gerade im "Gast-Haus" und bei "Kana" sind viele Helferinnen dabei, die mit wenig Geld auskommen müssen, selber arbeitslos sind oder gar die Einrichtung zunächst als Gäste besucht haben. Die Nutzer haben keine Mitspracherechte.

Die Nothilfeangebote haben auch in der Wirtschaftskrise bislang kein Problem, Spenden einzuwerben. "In der Not helfen" und "das Überleben sichern" gehört zu den Grundmustern des Zusammenlebens und bedarf keiner weiteren Begründung.

"Kana" und "Gast-Haus" haben eine gefestigte Spendenbasis: Bei Kana spenden die Vereinsmitglieder monatlich einen Teil ihres Einkommens, weitere Spenden stammen von eher bürgerlichen Mitgliedern der Kirchengemeinden. Die Spender kennen die Gabenempfänger nicht, sie erwarten jedoch Dankbarkeit und politische Neutralität. Armut darf zwar benannt und angeprangert werden, aber es ist verpönt, die Ursachen aufzudecken und etwa die Spender als Mitverantwortliche für die Erzeugung von Armut zu bezeichnen. Die "Unabhängigkeit" der Projekte, "weil sie ohne öffentliche Förderung auskommen", erweist sich somit als begrenzt. Politisches Wohlverhalten ist die Grundlage dauernder Spendenbereitschaft.


Die Armenhilfe: Zweitverwertung...

Während die Nothilfe von Ehrenamt und Almosen (Sach- und Geldspenden) lebt, betreibt die Armenhilfe Projekte, die öffentliche Förderung erfahren und dafür in den sog. Dritten Arbeitsmarkt integriert sind. Sie wendet sich mit der Tafel, den Sozialkaufhäusern, Beratungsangeboten u.a. an diejenigen, die von ihrer Stütze oder ihrem Einkommen nicht leben können.

Die Dortmunder Tafel ist für Erwachsene das einzige Angebot in der Nahrungsmittelhilfe. Sie versorgte Anfang August 2009 2677 Haushalte und erreichte 5983 Menschen, darunter 2016 Kinder (zu 56% aus der Nordstadt). Die Nordstadt gilt als Dortmunds Problembezirk. Die Nutzerinnen sind einkommensarme Haushalte: zu 40,3% Alleinstehende, 13,7% Alleinerziehende, 46% sonstige Mehrpersonenhaushalte. Den bei weitem größten Anteil stellen mit 75% deutsche Haushalte, gefolgt von 17% Haushalten aus den GUS-Staaten. Mittlerweile entstehen auch besondere Angebote für Kinder. So bietet der Verein "komm-kids-com", eine Initiative der Unternehmensgruppe Kraft, seit April 2008 von Montags bis Freitags einen kostenlosen Mittagstisch für 85 Kinder an; die Kinder müssen allerdings vorher angemeldet werden.

Die Tafel setzt 50-60 Tonnen nicht mehr verkaufsfähiger Lebensmittel in der Woche um, davon kann sie nur etwa 30-40% in Form von Lebensmittelkörben ausgeben, den größeren Teil muss sie entsorgen, d.h. er wandert in den Müll.

Immer wieder gibt es Spender, die in der Tafel eher die Möglichkeit einer kostensparenden Entsorgung sehen als einen Zweitverwerter. Sie hat damit auch einen hohen logistischen Aufwand, weil sie immer wieder gegen gegen den Verfallstermin arbeiten muss: durch Vorkochen, Kühlketten, ständige Lagerkontrolle.

Dennoch übersteigt die Nachfrage das Angebot bei weitem, die Tafel schätzt es auf 20.000-30.000 Menschen in Dortmund. Der angebotene Überschuss und Ausschuss aus dem Lebensmittelhandel reicht dafür nicht aus. Hinzu kommt die mittlerweile fühlbare Konkurrenz um die Reste durch fliegende Händler, die sie etwa auf Flohmärkten unter die Leute bringen. Die Tafel kann daher nur ein ergänzendes Angebot bereit stellen, keine vollständige Lebensmittelversorgung.

Die Kleiderkammer hat mehr und mehr Sozialkaufhäusern Platz gemacht. Seit die Entsorgung Dortmund GmbH (EDG) im Rahmen des Abfallwirtschaftskonzepts 1996 gezwungen ist, Wertstoffe wie Altkleider getrennt zu sammeln und wieder einer Nutzung zuzuführen, ist das Angebot an Altkleidern deutlich gestiegen. Die EDG sammelt durchschnittlich 1200-1300 Tonnen Altkleider pro Jahr und gibt sie an Sozialverbände und Projekte wie "Jacke&Hose" oder das Sozialkaufhaus weiter. Dort werden sie gewaschen und gebügelt, bevor sie in den Verkauf kommen (Durchschnittspreis: knapp über 2 Euro). Das erledigen 1-Euro-Jobber.

Für die Projekte ist das eine kostenlose Arbeitskraft. Die Kleiderkammern waschen und bügeln nicht, erhalten von der EDG aber auch keine Altkleider. Darüber hinaus bietet das Sozialkaufhaus Hausrat, Möbel, weiße Ware und Unterhaltungselektronik, aber auch Bücher und Schuhe an. Erfahrungsgemäß können nur etwa 30% des Spendenaufkommens wieder verkauft werden. Den Rest verkauft die EDG nach Osteuropa oder gibt es in den Reißwolf. Die insgesamt sechs Kleiderprojekte versorgen jährlich an die 120.000 Kunden und machen einen geschätzten Umsatz von 2,4 bis 3 Millionen Euro.


...und Beschäftigungsmaßnahme

Die Armenhilfe finanziert sich zuvörderst aus öffentlichen Mitteln. Träger sind hier vor allem die Wohlfahrtsverbände, Unternehmen wie die Tafel oder auch Selbsthilfekollektive, und Arbeitsprojekte. Während die Tafel oder die Selbsthilfe 64% bzw. 55% ihrer Einnahmen aus dem Umsatz erzielen, den Rest aus Spenden, stellen die Arbeitsprojekte eine spezifische Form der öffentlichen Beschäftigung dar.

70-80% ihrer Kosten sind Personalkosten, die zu 100% von den ARGE (heute: Jobcenter) für 1-Euro-Jobs oder Programmbeschäftigte z.B. in der Jobperspektive bezahlt werden; aus eigenen Einnahmen decken die Projekte nur die Sachkosten.

Die Dortmunder Tafel oder die Dortmunder Selbsthilfe arbeiten vor allem mit regulär Beschäftigten und Ehrenamtlichen. Hier überwiegt die Selbstorganisation der Aktiven und ein partnerschaftlicher Umgang zwischen beiden Gruppen. Bei der Dortmunder Selbsthilfe gehört es zum egalitären Selbstverständnis, dass die regulär Beschäftigten auch ehrenamtliche Arbeiten wahrnehmen und die Hierarchie flach ist. Sie beschäftigen nur wenige Leute von der ARGE. Die Dortmunder Tafel hat eine Leitung aus regulär Beschäftigten, einen großen Stamm von Ehrenamtlichen, die vor allem im Umgang mit den Tafelnutzern eingesetzt werden, und 1-Euro-Jobber, die eher die schmutzigen oder körperlich anstrengenden Arbeiten im Lager oder im Fahrdienst verrichten.


Die Dienstverpflichteten

Der Hauptzweck der Arbeitsprojekte ist es, Menschen in Maßnahmen zu beschäftigen. Der Inhalt der Arbeit ist nur Nebenzweck. Hier arbeiten neben den regulär beschäftigten professionellen Kräfte vor allem Dienstverpflichtete. Die beiden Bereiche sind klar voneinander getrennt und haben einen unterschiedlichen Status in der Hierarchie. Die Dienstverpflichteten (1-Euro-Jobber) bilden die unterste Stufe; das Geld, das sie erhalten, dient gerade der Deckung der Unkosten aus ihrer Tätigkeit. Sie sind nur befristet im Einsatz (max. neun Monate) und erhalten Weisungen; über die Teambesprechungen hinaus haben sie keine weiteren Mitspracherechte und keine Interessenvertretung; in Konfliktfällen müssen sie sich an den Sozialarbeiter wenden, eine Durchsetzung ihrer Interessen gegen die festangestellten Beschäftigten ist undenkbar. Krankheitszeiten von mehr als drei Tagen führen zur "Kündigung" und zum Abbruch der Maßnahme. Sie bilden im Projekt eine eigene Gruppe mit eigener "Subkultur". Mit den Nutzern des Angebots der Projekte teilen sie die Notwendigkeit, annehmen zu müssen, was ihnen gerade geboten wird.

Im günstigsten Fall kommen sie in das Programm "Jobperspektive". Dort werden ihnen anspruchsvollere Tätigkeiten übertragen: Nach einer Einarbeitungszeit werden sie häufig als Fachanleiter für 1-Euro-Kräfte eingesetzt.

Die Programmbeschäftigten erhalten keinen echten Tariflohn; sie werden de facto unabhängig von ihrer Tätigkeit und Qualifikation in die unterste Tarifgruppe des Tarifvertrags des Beschäftigungsträgers eingruppiert, und ihnen werden die üblichen Sozialleistungen vorenthalten. Sie bekommen ein willkürlich von der ARGE festgelegtes Entgelt, das jederzeit einseitig neu festgesetzt werden kann: in Dortmund waren dies bis 2010 einheitlich 1600 Euro brutto. Damit üben sie einen erheblichen Druck auf die Tariflöhne aus und verdrängen reguläre Beschäftigung. Beim Diakonischen Werk verursacht ein Programmbeschäftigter jährlich gut 10.000 Euro (25%) weniger Lohnkosten als ein Tarifangestellter bei gleicher Tätigkeit.

Die Kommune erhält in Dortmund jährlich etwa die Hälfte der 1-Euro-Job- Plätze, die Begleitpauschale für die 1-Euro-Jobber erlaubt mehr als die bloße Finanzierung der Personalkosten. Die Förderung der Jobperspektive liegt deutlich oberhalb der Förderung der früheren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (80% der Kosten, 20% verblieben als Eigenanteil beim Träger), läuft aber Ende 2011 aus.

Analog zur Rücknahme sozialer Rechte ist die öffentliche Förderung jedoch insgesamt - mit Ausnahme der Arbeitsprojekte - rückläufig. Die Angebote sind immer mehr auf Spenden und Erwirtschaftung eigener Mittel angewiesen. Unternehmerische Patronage tritt, wie schon im 19. Jahrhundert, als neues Element hinzu: Unternehmen beraten, spenden Ausrüstungen oder Geld oder erbringen kostenlos Handwerkerleistungen.


Die Autorin Irina Vellay lehrt angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7, 26.Jg., Juli 2011, S. 11-12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2011