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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1596: Rolf Gössner über die Verstrickung des Verfassungsschutzes mit Neonazis


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12 - Dezember 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Untauglich zur Bekämpfung der neonazistischen Gefahr"
Rolf Gössner über die Verstrickung des Verfassungsschutzes mit Neonazis

Von Anja Köhler


Häufig laufen staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Terroranschläge ins Leere, sobald rechtsextreme Kreise davon berührt sind. Ein Grund dafür kann sein, dass dann unweigerlich auch eine Verstrickung des Verfassungsschutzes in tödliche Anschläge bekannt würde. Nach dem Auffliegen der Mordserie an mindestens zehn Migranten und einer Polizistin rückt die Verantwortung des Staates für das mörderische Treiben in den Mittelpunkt.

Anja Köhler befragte dazu den Rechtsanwalt und Publizisten Rolf Gössner. Gössner ist Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Mitherausgeber seines jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports. Er hat zahlreiche Bücher zum Thema Innere Sicherheit und Bürgerrechte verfasst, u.a.: Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates, München 2003, und Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der "Heimatfront", Hamburg 2007.


SOZ: Haben die Verfassungsschutzbehörden (VS) ein Problem mit Rechtsextremisten in den eigenen Reihen, sind sie auf dem rechten Auge blind oder hatten sie ihren eigenen Laden nicht mehr im Griff?

ROLF GÖSSNER: Sicherlich ist in manchen VS-Behörden und bei manchen VS-Bediensteten ein rechtsorientierte Gesinnung anzutreffen und eine gewisse Kumpanei zwischen V-Leuten aus der Neonaziszene und ihren V-Mann-Führern - zumindest Distanzlosigkeit. Insgesamt gehe ich im vorliegenden Fall allerdings weniger von Unfähigkeit und Pannen aus, als vielmehr von ideologischen Scheuklappen, Ignoranz und Verharmlosung des neonazistischen Spektrums. Bedrohungen und Gefahren für Demokratie und Verfassung werden immer noch in erster Linie mit "Linksextremismus/-terrorismus" und "Islamismus/islamistischem Terrorismus" assoziiert.

Bei Neonazis ist man traditionellerweise weit zurückhaltender, was besonders vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte schockierend ist - und angesichts der Tatsache, dass seit 1990 über 150 Menschen von Neonazis und fremdenfeindlich eingestellten Tätern brutal ermordet wurden. Jetzt müssen wir mindestes zehn weitere Mordopfer dazurechnen. Schon in den 80er Jahren kamen in Westdeutschland insgesamt 35 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben. Das Phänomen ist also keineswegs neu - ganz anders als jetzt immer wieder, mit Entlastungsfunktion, behauptet wird. Aber auch damals richtete sich der staatliche Kampf vorwiegend gegen Linksterrorismus und -extremismus, wobei die gesamte Linke davon nicht verschont blieb.

SOZ: Welche historischen Zusammenhänge gibt es zwischen den VS-Behörden und dem Nationalsozialismus bzw. der extremen Rechten in der Bundesrepublik?

ROLF GÖSSNER: Der VS hat bis heute ein nicht geklärtes Verhältnis zu seiner NS-belasteten Entstehungsgeschichte - auf Bundes- wie auf Länderebene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wurde zu weiten Teilen von belasteten Alt-Nazis, die schon in der NS-Zeit bei Gestapo, SS oder NS-Justiz einschlägig tätig waren, aufgebaut und ist antikommunistisch geprägt. Erst vor kurzem wurde die Aufarbeitung dieser Vergangenheit in die Wege geleitet, welche selbstverständlich prägenden Einfluss auf die weitere Entwicklung und Arbeit des VS in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik hatte. Eine exzessive Kommunistenverfolgung in den 50er und 60er Jahren, an der der VS maßgeblich beteiligt war, steht für diese Phase; um die altnazistische Szene kümmerte sich der VS anfänglich und allzu lange Zeit nur wenig, sie war schließlich weitgehend im Staatsapparat aufgegangen beziehungsweise - wie der erste BfV-Präsident Otto John bemerkte - von den Regierungsparteien integriert worden.

Aufgrund dieser prägenden antikommunistischen und antisozialistischen Ausrichtung ist es bis heute schwer vorstellbar, dass ausgerechnet dieser Geheimdienst, der schon frühzeitig und bis in die jüngere Zeit die "Gefahren des Kommunismus" und "Linksextremismus" übersteigerte und die des Neonazismus sträflich verharmloste, zu einem Garanten für die Eindämmung dieser Gefahr werden könnte. Diese Befürchtungen sind gerechtfertigt - schon in den 80er und 90er Jahren versagten die VS-Ämter auf ganzer Linie: Weder konnten sie die Zunahme rechter Organisationen und Aktivitäten vorhersagen und erklären, noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten. Zudem bagatellisierten sie lange Zeit die organisatorischen Qualitäten rechter Gruppierungen - obwohl es längst starke Ansätze zur Organisierung und Vernetzung gab. Offenbar setzt sich diese Verharmlosung und Blindheit auf dem rechten Auge bis heute fort.

SOZ: Welche Gefahren birgt die ausufernde V-Leute-Arbeit des VS in Neonazi-Szenen?

ROLF GÖSSNER: Im Laufe der Jahre entstand ein regelrechtes Netzwerk aus Spitzeln und Agents provocateurs in der Neonazi-Szene - ein undurchdringliches Gestrüpp aus braunen Parteien, Neonazi-Gruppen, Verfassungsschutz und seinen dubiosen Zuträgern. Die infiltrierenden Aktivitäten des VS in den gewaltbereiten Neonazi-Szenen bergen große Gefahren: Über seine angeworbenen, gedungenen und bezahlten V-Leute - im rechtsextremen Spektrum handelt es sich um hart gesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten auch um Gewalttäter - verstrickt sich der VS fast zwangsläufig in kriminelle Machenschaften, wobei auch Straftaten geduldet oder indirekt gefördert werden. Brandstiftung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung einer terroristischen Vereinigung - das sind nur einige der Straftaten, die "Vertrauensmänner" des VS im Schutz ihrer Tarnung begingen und begehen. Und ihre V-Mann-Führer in den VS-Etagen gehen mit ihnen nicht selten ziemlich vertrauensselig bis kumpelhaft um.

Das Erschreckendste, was ich bei den Recherchen erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute oft genug deckt und systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, um sie weiter abschöpfen zu können - anstatt sie unverzüglich abzuschalten. Mit verfassungsschützerischer Rückendeckung können sich diese Kriminellen im Dienste des Staates in ihrem rechten Treiben ermutigt fühlen und unangefochten weitermachen wie bisher. Dieses Verhalten nennt man psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten. Das ist zwar strafbar, doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden - selbst wenn dadurch unbeteiligte Personen schwer geschädigt wurden.

Der Staat hat also die rechtsextremen Szenen und Parteien über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Abertausende DM und Euros flossen in rechtsextreme Neonazistrukturen. So wurde der VS über sein V-Leute-Netz selbst Teil des Neonazi-Problems, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Bekämpfung beitragen.

SOZ: Haben die V-Leute aus dem rechtsextremen Spektrum den VS instrumentalisiert oder gar beeinflusst?

ROLF GÖSSNER: Auch das ist vorgekommen und dokumentierbar. So haben etwa die V-Leute Wolfgang Frenz und Udo Holtmann aus Nordrhein-Westfalen die NPD jahrzehntelang mit aufgebaut, an führenden Stellen die Zielsetzung und Aktivitäten der Partei entscheidend mitbestimmt und rassistisch geprägt - obwohl gerade das nach den internen V-Leute-Richtlinien eigentlich untersagt ist. Frenz, Holtmann und andere haben also das Beobachtungsfeld, das sie für den VS von innen auskundschaften sollten, als V-Leute selbst mitgestaltet. Sie betätigten sich nach eigenen Aussagen auch als "Doppelagenten", in dem sie versuchten, ihrerseits den VS auszuspähen und ihn lediglich mit Spielmaterial zu versorgen - als nur mit Informationen, die zuvor von der NPD gefiltert wurden.

SOZ: Warum ist den Parlamentarischen Kontrollkommissionen nichts aufgefallen?

ROLF GÖSSNER: Parlamentarische Kontrollgremien haben meines Wissens bislang weder VS-Skandale noch problematische VS-Strukturen aufgedeckt, das waren zumeist die Medien oder Insider. In den parlamentarischen Gremien arbeiten Abgeordnete, die in der Regel keine Fachleute für Geheimdienstarbeit sind. Sie prüfen nicht prophylaktisch, sondern meist erst dann, wenn der Skandal perfekt ist. Viele von ihnen beklagen, dass diese parlamentarische Kontrolle letztlich unzureichend sei.

SOZ: Könnte man etwas grob sagen, der VS kann eigentlich machen was er will?

ROLF GÖSSNER: Verfassungsschutzbehörden sollen dem Schutz von Verfassung und Demokratie dienen, sie sind aber Inlandsgeheimdienste, denen von Anfang an der euphemistische Tarnname "Verfassungsschutz" verpasst wurde. Als Geheimdienste sind sie jedoch selbst Fremdkörper in der Demokratie, weil sie mit ihren geheimen Strukturen, Mitteln und Methoden den demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Deshalb neigen Geheimdienste zu Verselbstständigung und Eigenmächtigkeit, Machtmissbrauch und Willkür, und immer wieder zu Skandalen. Darum wird immer wieder diskutiert, ob solche Geheimorgane, die Demokratie und Bürgerrechten mehr schaden als nützen, perspektivisch aufgelöst werden müssten. Nach dem neuen Staatsschutzskandal ist diese Debatte keineswegs mehr abwegig.

SOZ: Die offizielle Version des Geschehens um die Neonazi-Morde enthält eine Reihe von Ungereimtheiten. Vertuschen die VS-Behörden etwas?

ROLF GÖSSNER: Vertuschen gehört zum Handwerk von Geheimdiensten, das ist nichts Ungewöhnliches. Was genau vertuscht wird, das wissen wir leider (noch) nicht, weil es ja geheim ist. Hat möglicherweise eine organisierte Abschirmung der Täter aus den Sicherheitsbehörden heraus stattgefunden? Welche Rolle spielt der (thüringische) VS bei der Vertuschung? Wir dürfen nicht zulassen, dass hier die Aufklärung wieder an die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats stößt, weil Geheimdienste im Spiel sind. Eine rückhaltlose und unabhängige Aufklärung verträgt sich nicht mit Geheimhaltung und Vertuschung.

SOZ: Tappten die Polizeibehörden auch deshalb so lange im Dunkeln, weil die VS-Behörden Einfluss auf die Ermittlungen genommen haben?

ROLF GÖSSNER: Dieser ungeheuerliche und beispiellose Nichtermittlungsskandal ist eigentlich nur erklärlich, wenn man eine organisierte Abschirmung und Begünstigung der Täter aus den Reihen der Sicherheitsbehörden heraus unterstellt. Wir müssen die kommenden Ermittlungen abwarten, wobei auch hier die Rolle des VS von besonderer Bedeutung ist. Schließlich war der VS mit V-Leuten wie Tino Brandt gerade in jenen Neonazi-Gruppen wie dem "Thüringer Heimatschutz" hautnah dran, in denen die späteren Mörder organisiert waren. Deshalb ist es unverständlich, weshalb drei Neonazis, denen bereits terroristische Straftaten vorgeworfen wurden, nach Erlass eines Haftbefehls über mehr als ein Jahrzehnt untertauchen und unbehelligt mehrere Migranten und eine Polizistin ermorden konnten.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12, 26.Jg., Dezember 2011, Seite 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2011