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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1677: Ein Dringlichkeitsprogramm gegen die Krise


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 - Juli/August 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Ein Dringlichkeitsprogramm gegen die Krise

Eric Toussaint nennt Grundlagen für eine europäische Antikrisenfront



In Übereinstimmung mit den Forderungen des IWF haben die Regierungen der europäischen Länder beschlossen, ihren Bevölkerungen eine rigide Sparpolitik zu verordnen - mit drastischen Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben: Entlassungen im öffentlichen Dienst, Einfrierung oder Senkung der Gehälter der öffentlich Bediensteten, Reduzierung des Zugangs zu elementaren Dienstleistungen und sozialen Schutzmaßnahmen, Erhöhung des Renteneintrittsalters.

Die Bevölkerungen sind jedoch immer weniger bereit, die Ungerechtigkeiten und die gewaltige soziale Regression zu ertragen, die mit diesen Programmen einhergehen. Denn während die Lohnabhängigen, die Erwerbslosen und ihre Familien am stärksten zur Kasse gebeten werden, werden die Gläubiger weiter gemästet.

Die Senkung der öffentlichen Schuldenlast ist kein Selbstzweck. Unter Umständen können Schulden auch dazu dienen, die Wirtschaft anzukurbeln und die Lebensbedingungen der Opfer der Krise zu bessern. Schuldensenkung kann zudem nicht allein über die Senkung der Ausgaben, sondern muss vornehmlich über ein Steigerung der (Steuer-)Einnahmen laufen (durch höhere Steuersätze und Bekämpfung von Steuerflucht); auf der Ausgabenseite gehören die Schulden selbst auf den Prüfstand, illegitime Schulden gehören gestrichen, aber auch gesellschaftlich widersinnige und schädliche Ausgaben wie die für Rüstung oder für umweltgefährdende Projekte. Die Ausgaben für Soziales und umweltfreundliche Energien hingegen müssen steigen.

Eric Toussaint, der Präsident des "Komitees für die Annullierung der Schulden der Dritten Welt" (CADTM, www.cadtm. org), nennt nebenstehend 11 Punkte, die eine Grundlage für eine gemeinsame europäische Antikrisenfront bilden könnten.


Auf europäischer wie auf lokaler Ebene muss eine breite Antikrisenfront aufgebaut werden, damit sich Lösungen durchsetzen können, die auf sozialer und Klimagerechtigkeit gründen. Sie sollte sich 11 Punkte vornehmen:

1. Die Austeritätspläne müssen gestoppt werden.
Sie sind ungerecht und verschärfen die Krise. Der Stop der Sparmaßnahmen hat absolute Priorität - mit Massenmobilisierungen auf der Straße, mit Streiks, mit zivilem Ungehorsam.

2. Die illegitimen öffentlichen Schulden gehören gestrichen.
Dazu dient eine öffentliche Anhörung (ein Audit) über die Staatsschulden unter der Kontrolle der Bürger. In manchen Fällen kann zudem eine einseitige und souveräne Aussetzung der Schuldenrückzahlung sinnvoll sein. Die Staatsschulden lassen sich damit drastisch reduzieren.

3. Den Reichtum gerecht umverteilen.
Seit 1980 sind die direkten Steuern auf die höchsten Einkommen und für Großunternehmen unaufhörlich gesunken. Diese Steuergeschenke in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro sind vorwiegend in die Spekulation und die Anhäufung von Reichtümern geflossen.

Es bedarf einer tiefgreifenden Steuerreform, um wieder soziale Gerechtigkeit herzustellen, und ihrer Harmonisierung auf europäischer Ebene, um Steuerdumping zu unterbinden. Damit lassen sich die öffentlichen Einnahmen erhöhen, insbesondere mittels einer progressiven Einkommensteuer für die reichsten Personen (wobei der Spitzensteuersatz effektiv auf 90% steigen kann), der Wiedereinführung der Vermögenssteuer und der Körperschaftsteuer. Gleichzeitig müssen die Preise für elementare Güter und Dienstleistungen sinken. Von den Steuern muss vor allem die Mehrwertsteuer sinken. Mehrere Länder können sich zusammenschließen, um eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, insbesondere auf Devisenmärkten, das würde die Spekulation begrenzen und Wechselkurse stabiler machen.

4. Steuerparadiese bekämpfen.
Allen Absichtserklärungen zum Trotz haben es bislang alle G20-Gipfel abgelehnt, real gegen Justiz- und Steuerparadiese vorzugehen. Dabei wäre es eine einfache Maßnahme, allen Personen und allen Unternehmen auf dem Territorium eines Staates jede Transaktion zu verbieten, die sich über Steuerparadiese vollzieht, bei Strafe der Zahlung eines Bußgelds. Die kriminellen Geschäfte und die Korruption im Finanzwesen gehören ausgehebelt. Den Finanzbehörden müssen die Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie effizient und vorrangig den organisierten Betrug der großen Unternehmen und der reichsten Familien bekämpfen können. Die Ergebnisse müssen öffentlich gemacht und die Schuldigen hart bestraft werden.

5. Die Finanzmärkte stutzen.
Die weltweite Spekulation ist um ein Mehrfaches größer als aller auf der Erde produzierte Reichtum. Ihre verwickelte Architektur macht es unmöglich, sie zu kontrollieren. Ihre Mechanismen zerstören jedoch die Realwirtschaft, Finanztransaktionen sind in der Regel undurchsichtig. Um die Gläubiger an der Quelle zu besteuern, muss man sie identifizieren. Die Spekulation auf öffentliche Schuldentitel, auf Devisen, auf Nahrungsmittel gehört verboten, ebenso Leerverkäufe und das Geschäft mit Kreditversicherungen. Die außerbörslichen Märkte für Derivate, regelrechte schwarze Löcher, die sich jeder Regulierung und Überwachung entziehen, gehören geschlossen. Die Ratingagenturen müssen reformiert und reguliert werden. Sie sind keine objektiven Akteure, sondern eng mit der Finanzwelt verbunden.

Kapitalverkehrskontrollen müssen wieder eingeführt werden.

6. Banken und Versicherungen in öffentliche Hand und unter öffentliche Kontrolle.
Der größte Teil der Banken ist nicht in einer vorübergehenden Liquiditätskrise, sondern zahlungsunfähig. Die Entscheidung der Zentralbanken, ihnen unbegrenzten Zugang zu Kredit zu gewähren, ohne die Spielregeln zu ändern, verschärft das Problem.

Zurück zu den Basics: Banken sind als öffentlicher Dienstleister zu betrachten, gerade wegen ihrer Bedeutung und der verheerenden Folgen, die ihr schlechtes Management für die Wirtschaft haben kann. Das Kreditwesen ist eine zu ernste Sache, um sie privaten Bankern zu überlassen. Da Banken mit öffentlichen Geldern umgehen, staatliche Garantien genießen und der Gesellschaft einen fundamentalen Dienst leisten, müssen sie zu öffentlichen Einrichtungen werden.

Die Staaten müssen ihre Fähigkeit zur Kontrolle und Orientierung der Wirtschafts- und Finanztätigkeit wiedererlangen. Sie müssen auch über die Instrumente verfügen, um Investitionen zu tätigen und öffentliche Ausgaben zu finanzieren, Anleihen bei privaten Instituten müssen auf ein Minimum reduziert werden. Es ist deshalb nötig, die privaten Banken (Kreditinstitute wie Depotbanken) entschädigungslos zu enteignen und sie der Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger zu unterstellen. In unserer Option würde der privatkapitalistische Bankensektor abgeschafft und es blieben nur noch der öffentliche und der genossenschaftliche Sektor übrig. Ähnliches gilt für den Versicherungssektor.

7. Die Privatisierungen seit 1980 rückgängig machen.
Mit den Privatisierungen der letzten 30 Jahre haben die Regierungen die Fähigkeit zur Regulierung der Wirtschaft eingebüßt. Neue öffentliche Unternehmen müssen geschaffen und ihre Produktion den Bedürfnissen der Bevölkerung angepasst werden.

8. Radikale Verkürzung der Arbeitszeit zur Sicherung der Vollbeschäftigung und eine sozial gerechtere Einkommenspolitik.
Die Umverteilung des Reichtums ist die beste Antwort auf die Krise. Der Anteil der Löhne am produzierten Reichtum sinkt seit Jahrzehnten, der Anteil der Gewinne und Vermögen hingegen steigt unaufhörlich und verschwindet in der Spekulation. Durch die Anhebung der Löhne wird vielen Menschen wieder ein würdiges Leben ermöglicht, und es fließen auch wieder mehr Mittel in die Kassen der Sozialversicherungen und der Renten.

Die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbessert die Lebensqualität der Werktätigen und schafft Beschäftigung für jene, die sie brauchen. Sie bietet auch die Möglichkeit, einen anderen Arbeits- und Lebensrhythmus einzuführen, der vom Konsumzwang wegführt. Die gewonnene Zeit muss den Menschen eine höhere Beteiligung am politischen Leben ermöglichen, mehr solidarische, freiwillige und kulturelle Tätigkeiten.

Der gesetzliche Mindestlohn und - davon abgeleitet - die Durchschnittslöhne und die sozialen Transferleistungen müssen drastisch erhöht werden. Im Gegenzug muss eine rigorose Obergrenze für die Managergehälter festgelegt werden - sie haben absolut inakzeptable Höhen erreicht. (Das richtet sich gegen Stock-Options, Boni und andere Einkommensbestandteile.)

9. Staatsschulden - wofür?
Die Aufnahme öffentlicher Anleihen muss der 1) Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen dienen, und 2) eine Umverteilungskomponente enthalten, um die soziale Ungleichheit zu reduzieren. Deshalb schlagen wir vor, dass die Finanzinstitute, die Großunternehmen und die reichen Familien gesetzlich gezwungen werden, in einem bestimmten Verhältnis zu ihren Vermögen und Einkommen, zu 0% verzinste Staatsanleihen zu kaufen, während der Rest der Bevölkerung solche Anleihen frei kaufen kann - zu einem garantierten Zinssatz (z.B. 3%), einschließlich eines Inflationsausgleichs. Dies wäre eine Maßnahme der positiven Diskriminierung, die ebenfalls dazu dient, Reichtum umzuverteilen.

10. Den Euro zur Diskussion stellen.
Für eine Reihe von Ländern ist eine Debatte über den Austritt aus dem Euro absolut notwendig. Für Griechenland, Portugal und auch Spanien ist der Euro eine Zwangsjacke. Wenn wir diese Debatte nicht in den Mittelpunkt stellen wie die anderen Vorschläge, dann deshalb, weil sie die sozialen Bewegungen wie auch die Parteien der Linken spaltet. Unser zentrales Anliegen ist es aber, die Kräfte in Bezug auf das entscheidende Thema der Schulden in einer Antikrisenfront zu einen, dafür lassen wir vorübergehend beiseite, was uns trennt.

11. Eine andere, eine solidarische Europäische Union.
Verschiedene Passagen der Verträge über die EU, die Eurozone und die EZB müssen gestrichen werden. Das betrifft z.B. die Artikel 63 und 125 des Lissabon-Vertrags, die jede Kontrolle der Kapitalbewegungen und jede Hilfe für einen Staat in Schwierigkeiten verbieten, aber auch den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die bestehenden Verträge müssen durch neue ersetzt werden. Es muss ein wirklich demokratischer Verfassungsprozess eingeleitet werden, der zu einem "Solidarpakt für Beschäftigung und Umwelt" der Bevölkerungen führt. Die Währungspolitik wie auch Statut und Praxis der EZB müssen vollständig revidiert werden. Die EZB kann nicht über den Regierungen und somit über den Bevölkerungen stehen. Das Diktat der Finanzmärkte muss gebrochen werden.

Die Finanzierung eines Krankenhauses muss zu günstigeren Konditionen erfolgen können als die eines rein spekulativen Projekts.

Ein auf Solidarität und Kooperation aufgebautes Europa muss Konkurrenz und Wettbewerb, die "nach unten" drücken, den Rücken kehren. Die neoliberale Logik hat bislang die sozialen Indikatoren nach unten gedrückt und die Krise verursacht. Das vorrangige Ziel muss ein Europa sein, das sich auf die Kooperation zwischen den Staaten und auf die Solidarität unter den Völkern gründet.

In diesem demokratisierten Europa muss es ein paar nicht verhandelbare Grundsätze geben: soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit, gezielte Maßnahmen für den Anstieg des Lebensstandards und der Lebensqualität, Abrüstung und radikale Senkung der Militärausgaben, dauerhafte Wende zu erneuerbaren Energien, ohne Atomkraft, Ablehnung genetisch veränderter Organismen, Aufhebung der Festung Europa, gleichrangige und solidarische Partnerschaft mit den Völkern des Südens, bedingungslose Streichung der Schulden der Dritten Welt.

Die Streichung der Schulden ist zweifellos ein gemeinsamer Nenner für alle Kämpfe im Norden wie im Süden.


Quelle: www.cadtm.org/Europe-Quel-programme-d-urgence.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 27.Jg., Juli/August 2012, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2012