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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2065: Mehmet Simsek über die türkisch-kurdischen Gemeinden in Deutschland nach dem Putsch


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 September 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der lange Arm Erdogans

Mehmet Simsek über die türkisch-kurdischen Gemeinden in Deutschland nach dem Putsch

Ein Interview der Soz-Redaktion


Trotz des stillen Staatsstreichs von Erdogan und seines Marsches in den Führerstaat unterstützt die deutsche Innenpolitik weiterhin Erdogans Krieg gegen die Kurden.
Am 31. Juli war die Polizei in NRW ohne weiteres in der Lage, eine Großdemonstration für Erdogan sowie drei kleine Gegendemonstrationen gleichzeitig stattfinden zu lassen, ohne größere Zwischenfälle. Als die Föderation der kurdischen Vereine Nav-Dem, die der PKK nahesteht, Mitte August im Rheinenergie-Stadion ein Kulturfestival abhalten wollte, wurden die Auflagen dafür so drastisch hochgeschraubt, dass dies einem Verbot gleichkam. Die Polizei bekannte auch ganz offen, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass PKK-Fahnen gezeigt werden. Die Organisatoren sagten daraufhin das Festival ab. Für den 3. September hat jetzt ein breites türkisch-kurdisches Bündnis eine Kundgebung auf der Deutzer Werft angekündigt, wo zuvor die Pro-Erdogan-Demo stattgefunden hatte. Ein Demonstrationszug durch die Kölner Innenstadt wurde aber erneut untersagt.
Über die Lage in den türkischen und kurdischen Gemeinden in Deutschland sprach die SoZ mit dem politischen Aktivisten Mehmet Simsek. In den 70er Jahren wurde Mehmet in der Türkei einmal zu acht und einmal zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Seit Anfang der 80er Jahre lebt er in Deutschland.


SoZ: Welche Auswirkungen haben der Putsch und Erdogans Reaktion auf die türkischen und kurdischen Gemeinden in Deutschland?

Mehmet Simsek: In erster Linie hat es die religiösen Kreise der türkischen Gemeinde getroffen. Denn sofort nach dem Putsch begann die Verhaftungswelle angeblicher Gülen-Anhänger, die in den Putsch involviert gewesen sein sollen.

Die türkische Gemeinde in Deutschland ist gespalten, AKP-Anhänger haben sich gleich nach der ersten Verhaftungswelle in der Türkei gegen die Gülen-Anhänger gestellt, haben sie nicht in die von der AKP-Regierung kontrollierten Moscheen gelassen und wollten sie sogar aus den Gemeinden ausschließen. Manche wollten Gülen-Anhänger mit Gewalt verfolgen, wie es in der Türkei öfters passierte und passiert. Diese Auseinandersetzungen waren aber eher selten. Es gab sie dort, wo es viele Gülen-Gemeinden gibt, wie z.B. im Ruhrgebiet.

Gegen die kurdische Gemeinde gab es schon vor dem Putsch eine staatlich organisierte Feindschaft. Erdogan konnte natürlich nicht die Kurden für den Putsch mitverantwortlich machen, trotzdem hat er militärische Maßnahmen und Verhaftungswellen gegen Kurden massiv verstärkt. Feindseligkeiten gibt es zudem nicht nur gegen die kurdische Gemeinde, sondern auch gegen die Alaviten. Auch sie werden gemieden und mitunter nicht in Moscheen gelassen, doch das geht nicht auf den Putsch zurück, das sind alte Feindschaften. Die Mehrheit der kurdischen und alavitischen Gemeinden sind eher laizistisch. Insofern kann nicht von einer einheitlichen Auswirkung auf die gesamten aus der Türkei stammenden muslimischen Gemeinden gesprochen werden. Zur bestehenden Fragmentierung kommt nun eine neue Spaltung innerhalb der sunnitisch-muslimischen Gruppen hinzu.


SoZ: Wie groß ist der Einfluss der religiösen Kreise auf die türkischen und kurdischen Gemeinden in der BRD?

Mehmet Simsek: Es gibt drei Richtungen: Die eine ist die alavitische Gemeinde, die nicht staatlich organisiert ist und meist eigene Gebetshäuser hat. Die beiden anderen Richtungen werden von der Gülen-Bewegung bzw. von der AKP dominiert, letztere ist natürlich regierungsnah. Die Moscheen werden mit Imamen aus der Türkei besetzt, das sind Beamte, derzeit sind es 970 Imame. Die verfolgen genau die Regierungslinie, und sind dem Amt für Religionsangelegenheiten in der Türkei unterstellt.

Die Moscheen unterhalten aktuell 120.000 ehrenamtliche und festangestellte Mitarbeiter (2004 waren es noch 72.000), ihr Einfluss ist entsprechend groß. Auf den verschiedenen Ebenen gibt es dazu jede Menge freiwilliger Helfer. Die Moscheen sind der Behörde für Religionsangelegenheiten (Dinayet) in der Türkei unterstellt. Diese Behörde hatte letztes Jahr ein Budget von 1,8 Milliarden Euro. Mit einem Teil dieses Geldes werden in Deutschland die Aktivitäten der Moscheen und von DITIP (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) finanziert. Bis jetzt hat diese Behörde sich geweigert offenzulegen, wie hoch die Finanzierung genau ist.

Die dritte Gruppe bilden die Gülen-Anhänger, sie sind meist in Bildungseinrichtungen organisiert. Die Gülen-Bewegung gibt es nicht nur in Deutschland und der Türkei, sie ist in 120 Ländern mit Schulen und Kulturzentren vertreten.


SoZ: Stellen die auch Imame?

Mehmet Simsek: Nein, die offiziellen Imame kommen von der türkischen Regierung, das ist eine Abmachung zwischen der türkischen und deutschen Regierung.


SoZ: Hat DITIB einen mehrheitlichen Einfluss auf die türkische Bevölkerung in Deutschland?

Mehmet Simsek: Ja, natürlich, besonders auf die sunnitisch-religiösen Kreise. In DITIB gab es aber auch jede Menge Gülen-Anhänger, denn die AKP und die Gülen-Bewegung haben früher zusammengearbeitet, erst 2010 haben sie sich überworfen. Nach dem Putsch werden die Gülen-Anhänger nun vergrault. In der Türkei wird die Bewegung stark verfolgt. Wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenken kann, hat die Regierung 84.000 Leute entlassen, davon wurden 18.000 verhaftet und man sagt, dass es alles Gülen-Anhänger waren. Ob das so ist, ist fraglich.

In Deutschland ist die Verfolgung nicht so massiv. Die Gülen-Bewegung ist hier seit den 90er Jahren organisiert, sie leitet Nachhilfekurse, Schulen und sogar Privatgymnasien, z.B. in Köln, Berlin, Stuttgart, Hamburg, Frankfurt. Insgesamt hat sie rund 150 Schulen und Vereine. Diese Zahl ist eine Schätzung, da sich die Bewegung immer unter verschiedenen Trägernamen organisiert. Schon 2010 gab es 14 Privatgymnasien der Gülen-Bewegung. Gegen diese Schulen wurden keine Maßnahmen ergriffen, dass müsste ja die deutsche Regierung tun, die Türkei kann da nicht viel ausrichten. Die türkische Regierung versucht allerdings, die deutsche Regierung zu überzeugen, führende Persönlichkeiten der Gülen-Bewegung an die Türkei auszuliefern. Bislang stieß sie damit aber auf taube Ohren.


SoZ: In den deutschen Medien wird immer betont, die Gülen-Bewegung sei von ihrer Ideologie her nicht so fundamentalistisch wie die AKP. Kannst du das bestätigen?

Mehmet Simsek: Nein, überhaupt nicht, das ist nur der Schein. Es gibt zahlreiche Webseiten von Gülen-Vereinen, auf denen die Texte sehr moderat sind und die dargestellten Personen sehr modern aussehen, die Männer mit Krawatte und Anzug, die Frauen manchmal mit offenen Haaren, ohne Kopftuch. Doch das ist Taktik. Schon in den 80er Jahren hat sich die Gülen-Bewegung das Ziel gesetzt, die türkische Bevölkerung vor allem in der Türkei zu islamisieren und einen islamischen Staat zu bilden, d.h. einen sunnitisch-islamischen Staat. Das ist aber nur ein Teil ihrer Ziele, sie will ihren Einfluss auch auf die türkischsprachige Bevölkerung in vorderasiatischen Länder (Turkmenistan, Aserbaidschan...) und auf dem Balkan, in Nordafrka usw. ausdehnen. In den USA bspw. unterhält sie mehrere große Vereine. Sie gibt Nachhilfekurse in Studentenheimen und betreibt weltweite Missionierungsarbeit.

Dabei arbeitet sie verdeckt, nach der Methode: Behalte dein Ziel für dich und mache kleine Schritte, ohne das Endziel kundzutun. Im Islam gibt es einen bestimmten Begriff (Takkiye) für diese Art der politischen Arbeit, ich kann ihn auf Deutsch nicht wiedergeben. Die Gülen-Bewegung tut so, als wollte sie nur die Wissenschaft verteidigen. Sie ist aber bspw. Gegnerin der Evolutionstheorie. Sie versucht in erster Linie, Funktionsträger zu beeinflussen, um damit Einfluss auf Regierungskreise, egal in welchem Land, zu gewinnen.


SoZ: Deutsche Innenminister fordern seit längerem, dass Imame nicht mehr von der türkischen Regierung, sondern von der hiesigen Religionsgemeinschaft nach deutschen Ausbildungsregeln bestellt werden. Würdest du die Forderung unterstützen?

Mehmet Simsek: Natürlich würde ich das unterstützen, alle demokratischen Kräfte müssen das unterstützen, denn diese Imame propagieren eine sehr rückständige politische Sicht, eine Erdogan-Mythologie sozusagen. Sie stellen Erdogan als Retter der Nation dar. Auf diese Weise versuchen sie, Kader für die AKP zu rekrutieren. Ein Teil dieser Kader radikalisiert sich weiter und geht dann z.B. nach Syrien und in andere Länder, wo bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Sie kämpfen dann nicht unbedingt immer auf der Seite des IS, sondern auch anderer radikalislamischer Organisationen wie Al Nusra u.a. Die Imame funktionieren in erster Linie als Kaderschmiede. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.


SoZ: Warum treffen diese Radikalisierungsbestrebungen von oben hier auf einen so fruchtbaren Boden? Es gibt ja mittlerweile schon drei Generationen von Türken und Kurden in Deutschland, so allmählich müsste der Bezug zur Türkei verblassen. Aber nach dem, was du schilderst, sind die Menschen hier immer noch sehr stark auf den türkischen Staat fixiert. Wie erklärst du das?

Mehmet Simsek: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Erstens fühlt sich ein Teil der dritten Generation, also der Jüngeren, nicht als Teil der deutschen Gesellschaft. Besonders die jungen Leute, die keinen richtigen Beruf erlernen konnten oder arbeitslos sind, fühlen sich von dieser Gesellschaft ausgeschlossen. Die Propaganda der Imame oder der Gülen-Bewegung gibt ihnen Halt. Die AKP-Regierung propagiert die politische Legende, dass die Türkei irgendwann mal die glorreichen osmanischen Zeiten wiederaufleben lassen wird. Viele junge Menschen glauben an solche Märchen und fühlen sich als Teil dieser neuen Bewegung, die die halbe Welt erobern wird. Sie sehen darin eine Art Rache für ihre eigene Erfolglosigkeit und Unzufriedenheit mit der bestehenden Gesellschaft.


SoZ: Die Linke ist offenkundig in den türkischen Gemeinden ziemlich einflusslos. Was können wir dagegen tun?

Mehmet Simsek: Da hast du recht. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion sind viele linke Gruppen geschrumpft und haben an Einfluss verloren. Seitdem sind aber auch neue Gruppierungen und Bewegungen entstanden, besonders durch zwei Entwicklungen in der Türkei:

Eine davon ist die kurdische Befreiungsbewegung, sie hat die HDP hervorgebracht, die in Deutschland großen Einfluss in der Linken hat. Sie ist keine rein kurdische Partei, auch die türkische Linke ist ein Teil davon. Die HDP hat seit sieben, acht Monaten angefangen, hier einen regionalen Ableger zu bilden, der die Politik der HDP in der Türkei und die Bemühungen um einen Frieden zwischen Türken und Kurden unterstützt. Diese Initiative nennt sich Demokratische Kongress der Völker - Europa (Halklarin Demokratik Kongresi - Avrupa)(*). Wir sollten dieser HDP-nahen Organisation unsere Zusammenarbeit anbieten.

Die zweite Entwicklung war der Aufstand 2013 um den Gezi-Park. Dieser Aufstand hat die verschiedene Berufsverbände - Architekten, Ingenieure, Anwälte, Ärzte usw. - sehr politisiert. Sie waren daran maßgeblich beteiligt, und das hat der türkischen bzw. kurdischen Linken einen Schub gegeben. Sie hatten sich schon vor dem Militärputsch zusammengeschlossen, um gegen die faschistische Entwicklung in der Türkei Widerstand zu leisten. Sie haben Unterstützerkreise in Deutschland gebildet. Auch mit ihnen sollten wir die Zusammenarbeit suchen. Es sieht so aus, als seien die negativen Entwicklungen auf der Linken überstanden.

(*) www.facebook.com/HDK.Avrupa.Europe

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 31. Jg., September 2016, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2016

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