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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2172: 100 Jahre russische Revolution, Teil 6


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 September 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

100 Jahre russische Revolution, Teil 6
September: Kurs auf den bewaffneten Aufstand

von Manuel Kellner


Der Sturz der Kapitalherrschaft durch Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hat viele spätere antikapitalistische Bewegungen inspiriert. Die bürokratische Diktatur diskreditierte jedoch die sozialistische Idee. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bleibt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?(*)


In den Wochen vor der Niederschlagung des Kornilow-Putsches hatten die Bolschewiki ihre Losung "Alle Macht den Sowjets" zurückgenommen, weil die Räte (Sowjets) von Kräften beherrscht wurden (den Menschewiki und Sozialrevolutionären), die offen die bürgerliche Regierung Kerenski unterstützten, welche die Entwaffnung der Arbeiterinnen und Arbeiter, vor allem in Petrograd, und die Unterdrückung der revolutionären Linken betrieb. Darum suchten die Bolschewiki in dieser Zeit Rückhalt bei den Fabrikkomitees und anderen Massenorganisationen, in denen sie bereits die Mehrheit hatten.

Die Tatsache, dass die Bolschewiki bei der Niederschlagung des Putsches (die die Regierung Kerenski und die von Menschewiki und Sozialrevolutionären dominierten Sowjets vor dem Untergang bewahrte) eine herausragende Rolle gespielt hatten, während die Regierung Kerenski weitgehend das Programm Kornilows durchzuführen bemüht war, änderte die Lage Anfang September grundlegend. Der Einfluss der Bolschewiki in den Räten wurde nach den jüngsten Erfahrungen immer größer. In dieser Situation stellten die Bolschewiki die Losung "Alle Macht den Räten!" wieder auf. Sie hielten es für möglich, die Eroberung der Macht nunmehr wieder auf friedlichem Weg zu erreichen, indem sie die Mehrheit in den Räten eroberten. Sie schlugen den Menschewiki und Sozialrevolutionären einen neuen Pakt gegen das Kapital und die Regierung Kerenski vor, in dessen Rahmen der Meinungsstreit in den Räten geführt werden sollte.

Erst die Ablehnung dieses Vorschlags durch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre versperrte diesen Weg. Dadurch wurde die Losung "Alle Macht den Räten" rasch zur Perspektive der Macht für die Räte mit bolschewistischer Mehrheit - und von da an entwickelte sich in der Führung der Bolschewiki die Orientierung auf den bewaffneten Aufstand.

Dazu gab es durchaus kontroverse Positionen. Noch im Oktober stimmten zwei Mitglieder des Zentralkomitees, Sinowjew und Kamenew, nicht nur gegen den Aufstand, sondern agitierten auch öffentlich dagegen. Doch gab es auch Zwischenpositionen: "im Prinzip" für den Aufstand, aber nichts übereilen... Es ist auch schwierig, die damaligen Meinungsverschiedenheiten zu beurteilen, unterschiedliche Meinungen zum Tempo und zum konkreten Vorgehen gab es auch im Lager der unbedingten Befürworter des Aufstands.

Eine wichtige Episode war die sogenannte "Demokratische Beratung" bzw. das "Vorparlament", das die Regierung Kerenski sich selbst mit "passenden" Mehrheiten fabriziert hatte, um sich den Anschein einer demokratischen Legitimation zu geben. Die Bolschewiki waren darin in der zweiten Septemberhälfte mit einer Fraktion vertreten, die eine recht kleine Minderheit darstellte, während sie in den Räten beider Hauptstädte (Petrograd und Moskau) bereits die Mehrheit hatten.

Lenin schrieb dazu am 22. September (a. St.): "Man muss das Vorparlament boykottieren. Man muss in den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, in die Gewerkschaftsverbände, überhaupt zu den Massen gehen. Man muss die Massen zum Kampf aufrufen." In diesen Fragen der grundlegenden Orientierung war Trotzki mit Lenin einer Meinung. Am 23. September schrieb Lenin: "Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!" (Werke, Bd. 26, S. 40.) Die Fraktion der Bolschewiki war aber mehrheitlich gegen den Boykott.

In einer nützlichen Dokumentensammlung Die russische Revolution 1917 (München: dtv, 1964) finden sich Texte von Lenin, der sich aus seinem Versteck heraus entschieden für den Kurs auf den Aufstand einsetzte. Überschrieben sind diese Texte mit "Lenins Hetze zum Aufstand". Doch handelte es sich nicht um "Hetze", sondern um eine ganz rationale Argumentation: Der Aufschwung der Revolution auf internationaler Ebene, die bolschewistische Mehrheit in den entscheidenden Räten, der entfesselte Bauernkrieg, die Ablehnung der Fortführung des Krieges durch die Mehrheit der Soldaten und die Tatsache, dass nur die Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse die Revolution vor der Niederlage bewahren konnte, setzte den Aufstand auf die Tagesordnung, um die Macht so schnell wie möglich zu erobern und den Räten zu übergeben.

Die stalinistische Geschichtsfälschung hat später aus Lenin einen kanonisierten Heiligen gemacht. Die "Unfehlbarkeit" Lenins war ein Hilfsmittel zur Durchsetzung der "Unfehlbarkeit" Stalins und der stalinistischen Führung. Doch Lenin war natürlich nicht unfehlbar. Weil er sich verstecken musste, war er weit ab vom Schuss. Seine Orientierung auf den Aufstand setzte sich durch, weil sie der Stimmung der proletarischen Mitglieder der Partei und breiter Massen entsprach. Doch keiner der konkreten Vorschläge Lenins, wie der Aufstand technisch durchgeführt werden sollte, setzte sich durch. Diese Vorschläge wurden von den Akteuren vielmehr meist kaum zur Kenntnis genommen. Was im Oktober folgte, war tatsächlich ein - fast völlig unblutiger - Massenaufstand.


Anmerkung:
(*) In Teil 5 ging es um die Julitage und den Kornilow-Putsch.

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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2161: 100 Jahre russische Revolution, Teil 5

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 32. Jg., September 2017, S. 21
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2017

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