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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2189: Die Verstaatlichung der Revolution...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 · November 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die Verstaatlichung der Revolution...
und wie man ihr begegnen kann

von Manuel Kellner


Ist es nur der Kalender, der uns zur Beschäftigung mit der "Oktoberrevolution" vom 7. November 1917 (25. Oktober a.St.) in Russland treibt? Ist sie nicht ohne Belang für die Gegenwart? Brauchen wir sie - wie manche unterstellen -, um einen Mythos zu unterhalten, der über den heute so geringen Einfluss revolutionär-sozialistischer Ideen hinwegtrösten soll?


Die Herrschenden sind anderer Meinung. Sie legen wert darauf, dass ihre Ideologen noch heute diese Revolution als "Putsch einer Minderheit von Verschwörern" in den Dreck ziehen. Sie behaupten beharrlich, die Herrschaft des verschmolzenen Partei- und Staatsapparats und alle Gräuel der Stalinzeit seien die direkte Folge der mit einer Mehrheit von Bolschewiki errichteten Herrschaft der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte gewesen.

Diese Geschichte bleibt also offensichtlich politisch umkämpftes Terrain. Der Versuch, aus ihr Lehren zu ziehen, gehört zum Kampf gegen die Krise der Glaubwürdigkeit einer sozialistischen Alternative zum Zerstörungswerk der kapitalistischen Klassengesellschaft. Ob die Macht des Kapitals weltweit gebrochen werden kann, weiß niemand. Sicher ist nur eins: Ohne dies gibt es für die Menschheit keine lebenswerte Zukunft.

Aber was soll an die Stelle des Bestehenden treten? Die Diktatur einer "Vorhutpartei"? Um ihre bürokratische Herrschaft zu verfestigen, mussten die stalinistischen offiziellen Nachfolger der kommunistischen Führung um Lenin und Trotzki mit ihrem Terror insbesondere gegen Kommunisten einen blutigen Strich zwischen sich und der revolutionären Vergangenheit ziehen und die wirkliche Geschichte der Revolution systematisch verfälschen.

Doch finden sich in der Frühgeschichte der russischen Räterepublik auch Keim- und Vorformen der späteren Entwicklung: die Ausschaltung aller anderen Parteien aus den Räten, das Fraktionsverbot in der Partei selbst, der von Anfang an zu beobachtende Missbrauch der Macht eines gegen die Konterrevolution eingerichteten Organs wie der Tscheka, die furchtbare Tragödie von Kronstadt usw.

Doch so wenig Linke von einigem Verstand die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte von 1789 verwerfen, weil es danach den linken jakobinischen und dann den rechten thermidorianischen Terror gab, das Direktorium, das Konsulat, Kaiserreiche, die napoleonischen Kriege, royalistische Restaurationen und die Niederschlagung der Pariser Kommune, so wenig verwerfen sie, was als Erbe der Oktoberrevolution von 1917 bleibt: an erster Stelle die umfassende Selbstorganisation von unten in den Räten, eine lebendige revolutionäre Partei (das Gegenteil der späteren monolithischen Karikatur), die es versteht, Mehrheiten und mit ihnen die Macht zu erobern, eine konsequent internationalistische Orientierung auf die sozialistische Weltrevolution.


Was kommt nach dem revolutionären Elan?

Der Gang in die stalinistische Diktatur einer kleinen Minderheit hatte keine fatale Zwangsläufigkeit, denn es wurden zeitgenössisch von Oppositionellen immer wieder Alternativen formuliert. Doch die wirtschaftliche und moralische Zerrüttung, die der furchtbare Bürgerkrieg samt der ausländischen Intervention mit sich gebracht hatte, die Vernichtung einer ganzen Generation von proletarischen Revolutionären und ihre Absorbierung beim Aufbau des neuen Staatsapparats, die drückende Rückständigkeit und die Isolierung der Sowjetmacht begünstigten ohne Zweifel das Entstehen einer autoritären Diktatur.

Auch ohne die extremen Verwüstungen durch Krieg und Bürgerkrieg in einem überwiegend bäuerlichen Land wie damals in der jungen Sowjetrepublik ist das Abflauen revolutionärer Massenbewegungen nach einer Periode höchster Aktivität die Regel. Nach äußerster Anspannung und großer Begeisterung wenden sich viele Menschen wieder mehr ihren privaten Belangen zu und empfinden das Engagement in Organen der Selbstverwaltung und die tägliche Teilnahme an politischer Willensbildung als lästig.

Die Zunahme des Gewichts der Stellvertreterpolitik einer in Politik und Verwaltung aktiv bleibenden Schicht ist eine direkte Funktion dieser sinkenden Aktivität breiter Massen. Je mehr solche Minderheiten auf sich gestellt regieren und leiten, desto mehr neigen sie dazu, im eigenen Interesse zu handeln und schließlich demokratische Kontrolle und Teilhabe von unten als unerwünschte Einmischung zu verstehen.

Schon die Erfahrungen der kurzlebigen Pariser Kommune von 1871 veranlassten Marx und die sich auf ihn berufen, Gegenmittel gegen die drohende Bürokratisierung zu entwickeln: Bezahlung der Mandatsträger mit durchschnittlichem Arbeitslohn, Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit der Räte und Amtsinhaber auf allen Ebenen, Rotation von Amts- und Mandatsfunktionen. Die IV.Internationale und ihr nahestehende Kräfte betonen darüber hinaus seit Jahrzehnten die Notwendigkeit der Parteienpluralität, einer unabhängigen Justiz und der von jeglicher Bevormundung freien Interessenverbände (angefangen mit den Gewerkschaften) in einer sozialistischen Demokratie der Zukunft.

Angesichts der Gefahr der Bürokratisierung im Zusammenhang mit dem üblichen Abflauen des revolutionären Enthusiasmus nach einer Anfangszeit des revolutionären Aufschwungs, genügen diese Überlegungen jedoch nicht, so richtig sie auch bleiben. Für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist die Frage wichtig, wie in einer mehr oder weniger lang andauernden Übergangsperiode zur klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft demokratische Teilhabe gezielt institutionalisiert werden kann.


Allgemeine Arbeitszeitverkürzung

Eine große Bedeutung kommt der radikalen Arbeitszeitverkürzung zu. Die damit wachsende freie Zeit für alle kann von den einzelnen für eine Vielzahl von selbstbestimmten Tätigkeiten genutzt werden: ausleben und entfalten der eigenen kreativen und künstlerischen Anlagen, lesen und sich bilden, betreuen von Kindern, Hausarbeit, gärtnern, basteln, Sport treiben, spielen, lieben und Muße genießen, um sich zu erholen und sich zu besinnen. Doch die neue freie Zeit steht auch für die Teilnahme an Selbstverwaltung und politischer Willensbildung auf allen Ebenen zur Verfügung.

Ich wende mich in diesem Zusammenhang - nur beispielhaft - an die Musizierenden und Schachspielenden unter unseren Leserinnen und Lesern: Was empfindet ihr bei der Vorstellung, einige Stunden, einen halben oder auch einen ganzen Tag Cello oder Schach zu spielen, gemessen an eurer Lust, auf Versammlungen Verwaltungsprobleme zu wälzen und über Politik zu diskutieren (den zeitgeistigen Irrtum, das alles lasse sich locker nebenbei am PC erledigen, lasse ich hier mal beiseite)? Wo ihr ja außerdem noch Kinder und Freunde habt, mit denen ihr auch immer wieder gerne absichtslos zusammensein wollt, um deren geliebte Gegenwart zu genießen?

Es liegt nahe, dass die auf den verschiedenen Versammlungen verbrachte Zeit im Laufe der Jahre eher anödet - außer natürlich die Politik- und Geltungssüchtigen. Und was anödet, das flieht man. Wie kann angesichts dessen ein hoher Aktivitätsgrad breiter Massen in Politik und Verwaltung gesichert werden?

Eine Idee wäre die Strukturierung der Pflichtarbeitszeit in einen Anteil, der der Reproduktion des Lebens, einen weiteren, der der Teilnahme an der Verwaltung und politischen Willensbildung dient und einen dritten, der völlig frei zur Verfügung steht. Angenommen, der Rätekongress einer frisch gebackenen sozialistischen Demokratie in einem entwickelten Industrieland beschließt die Einführung der 20-Stunden-Woche, die bei fünf Werktagen einem 4-Stunden-Tag entspricht. Dieser Kongress könnte zugleich bestimmen, dass dieser 4-Stunden-Tag jeweils um eine Stunde (also um fünf Stunden pro Woche) verlängert wird, wobei in dieser Zeit die Teilnahme an Selbstverwaltungsreinrichtungen und politischer Willensbildung Pflicht ist. Das Ergebnis ist eine 25-Stunden-Woche, von der ein Fünftel in die Teilhabe aller an der Lösung der gemeinschaftlichen Probleme "investiert" wird. So könnte dem mangelnden Enthusiasmus in einer Übergangsperiode mit sanftem Nachdruck auf die Sprünge geholfen werden.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 32. Jg., November 2017, S. 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2017

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