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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2505: Gesundheit - Gehört mein Arzt schon einem Investor?


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 · Juni 2022
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Gesundheit
Gehört mein Arzt schon einem Investor?

von Volker Brauch


Seit den 90er Jahren gibt es mehr und mehr Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen. Neben der Privatisierung von Gesundheitsberufen, Krankenhäusern, Zuzahlungen bei medizinischen Leistungen und Eigenfinanzierungen, ist die nächste Etappe der Aufkauf von Arztpraxen durch internationale Investoren.

Das internationale Kapital, immer auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, hat mit dem Kauf diverser Arztpraxen ein neues Geschäftsmodell entdeckt.

Insbesondere orientiert sich das lukrative Geschäft auf Augen und Zähne und nimmt damit Einfluss auf die medizinische Versorgung und das Gesundheitswesen. Spekulanten haben in den vergangenen Jahren hunderte von Augenarztpraxen aufgekauft, sodass bereits in einigen städtischen Ballungsgebieten monopolartige Strukturen gewachsen sind, und das weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Die in diesen Praxen vertraglich tätigen Augenärzte sind Angestellte bei Großunternehmen wie bspw. der Kette Sanoptis, die einer Londoner Investmentfirma gehört. Sie hat seit 2019 regionale Praxiseinheiten in Schleswig-Holstein und anderen Teilen Deutschlands aufgekauft.

Diese internationalen Private-Equity-Gesellschaften übernehmen kleinere Unternehmen und führen sie zu konzernartigen Verbünden zusammen, um sie dann Jahre später gewinnbringend zu verkaufen. Das Modell nennt sich "Buy-and-Build", also "Kaufe-und-Wachse". Das 2018 gegründete Unternehmen Sanoptis verfügt mittlerweile über mehr als 200 Einrichtungen in Deutschland und der Schweiz.

Eine weitere monopolartige Zusammenballung von augenärztlichen Praxen findet sich in Nordbayern in der Gegend Fürth und Nürnberg, wo jetzt schon ein Großteil nichtselbständiger Ärzte für die Ober-Scharrer-Gruppe (OSG) arbeitet. 2011 wurde dieses Unternehmen mit sieben Einrichtungen an eine Londoner Private-Equity-Gesellschaft weiterverkauft. Die dann auf 80 angewachsenen Standorte wurden vom Investor weiter veräußert. Die Gruppe verfügt nach eigenen Angaben mittlerweile über 125 Standorte und hat etwa 300 Augenärzte unter Vertrag.

Im April 2022 gehörten mehr als 500 Augenarztpraxen in Deutschland internationalen Privatinvestoren, dreimal so viele wie noch vor drei Jahren. Geschätzt arbeitet heute etwa ein Fünftel aller ambulant angestellten Augenärzte in Ketten von gewinnorientierten Finanzinstitutionen. Lokal entstehen marktbeherrschende Konzentrationen.

Es sind aber beileibe nicht nur Augenarztpraxen im Visier von renditeorientierten Unternehmen. Im Visier dieser Investoren sind ebenfalls Zahnarztpraxen, Radiologen, Kardiologen, Nierenfachärzte und sogar Allgemeinmediziner. Bis Januar 2020 sind etwa 4100 derartige Zentren entstanden, die zum Teil in Praxisketten zusammengefasst sind.

Der Londoner Finanzanalyst Vivek Kotecha hält eine 20-Prozent-Gewinnerwartung bei Private-Equity-Gesellschaften im ambulanten Medizinbereich für durchaus üblich. Die Gesundheit der Menschen wird somit zum Spekulationsobjekt. Für Patienten ist kaum zu erkennen, wer sich hinter den jeweiligen Praxen verbirgt und wer der eigentliche Eigentümer ist.

Und die Auswirkungen?

Ein derart auf Gewinn orientiertes Bereicherungsstreben kann auch für die medizinische Versorgung nicht ohne Folgen bleiben. Zwar bestreiten die Investoren jegliche Art von Einschränkung der Versorgungsleistung, doch die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Der Druck auf die angestellten Ärzte ist enorm. Sie müssen sich mit anderen Kollegen in der Praxis vergleichen, die höhere Beträge erwirtschaften, und werden genötigt, sich diese zum Vorbild zu nehmen.

An Patienten sollen möglichst viele Zusatzleistungen verkauft werden, die sie selbst bezahlen müssen. Operationen wie der Graue Star sollen z.B. in hohen Mengen den Patienten schmackhaft gemacht werden. Geschäftsberichte der Ketten weisen dann hohe Erträge aus. Über Gewinnabführungsverträge wird geregelt, dass diese Gewinne auch tatsächlich beim Investor ankommen.

Bei Zahnärzten werden insbesondere Implantate, Kronen und Brücken als ärztliche Leistungen favorisiert. Eine Zahnärztin berichtet gegenüber dem NDR, dass sie Zähne angebohrt hat, die eigentlich gesund waren. Der Druck auf die Ärzte geht dahin, möglichst viele und vor allem aufwendige oder unnötige Behandlungen abzurechnen. Einfache, aber wirksame Leistungen, die weniger Ertrag abwerfen, werden vernachlässigt.

Praxen im Besitz von Finanzinvestoren zeichnen sich deutlich dadurch aus, dass sie höhere Kosten für vergleichbare Behandlungen abrechnen, und das systematisch. Das gesundheitliche Interesse der Patienten oder eine allgemeine Grundversorgung steht hier nicht im Vordergrund.

Ärzte unter Druck

Bei der Ärzteschaft und ihren Standesorganisationen ist das Problem mittlerweile angekommen. Wenn Praxen als Spekulationsobjekt behandelt werden, bedroht das ihren Status als Freiberufler.

Im Podcast ÄrzteTag beklagt der Vorsitzende der KV Bayerns, Wolfgang Krombholz, dass Investoren, vor allem in den operativen Bereichen wie Radiologie und Augenheilkunde, die Preise bis um das Fünffache in die Höhe treiben.

Ärzte warnen und fordern auf dem 125. Deutschen Ärztetag das Verbot von Fremdbesitz für Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Durch Rendite und steigenden Wiederverkaufswert werden die Preise in die Höhe getrieben, was niedergelassene Ärzte noch mehr unter Druck setzt.

Insbesondere jüngere Augenärzte berichten, dass die Preise für Arztpraxen derart explodieren, dass sie keine Chance hätten, sich selbständig niederzulassen. Denn die großen Ketten würden hohe Summen für Arztsitze bieten, die Einsteigern keine Chance mehr ließen. Mittelfristig droht also eine Übernahme großer Teile der ambulanten Gesundheitsversorgung durch ein solches Investorenmodell.

Die Tatenlosigkeit des Gesetzgebers

Das sog. GKV-Versorgungsstrukturgesetz von 2011 sollte eigentlich die Aktivitäten privater Investoren einschränken. Aktiengesellschaften wurde bspw. untersagt, medizinische Zentren zu erwerben. Doch das Gesetz blieb wirkungslos, da es juristische Schlupflöcher enthielt.

Es ist zu einer Situation gekommen, vor der der Bundesrat Ende 2018 explizit gewarnt hatte: "In immer mehr Bereichen der ambulanten ärztlichen Versorgung bilden sich konzernartige Strukturen aus, oft in der Hand renditeorientierter Unternehmen", hieß es damals in einer Stellungnahme.

Der Bundesrat sah "die Gefahr der Monopolisierung und damit der Verschlechterung der Patientenversorgung". Es könne etwa "zu einer Einengung der angebotenen Versorgung auf bestimmte, besonders lukrative Leistungen" kommen. Der Bundesrat schlug deshalb eine Gesetzesänderung vor, um dem entgegenzuwirken. Die damalige Bundesregierung von CDU und SPD setzte sie jedoch nicht um.

Eine Liste investorengeführter Arztpraxen gibt es nicht. Fehlende Transparenz durch ein öffentlich einsehbares Register erleichtert es Investoren, die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse zu verschleiern. Ein Antrag der LINKEN im Bundestag im Jahr 2019, ein entsprechendes Register einzuführen, wurde mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und AfD abgelehnt (die Grünen haben sich enthalten).

Auf Anfrage des ARD-Magazins Panorama teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, ihm liege, bezogen auf augenärztliche Investorenketten, keinerlei Kenntnisse über "etwaige Konzentrationstendenzen" bzw. "beherrschende Marktkonzentration" vor.

Nicht umsonst schreibt die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) in ihrem neuesten Gutachten "Gesundheit darf kein Spekulationsobjekt sein": "Das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel, den Zugang von Finanzinvestoren in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung wirksam zu begrenzen, wird klar verfehlt."

Die KVB fordert, dass klare Vorgaben in bezug auf Transparenz, Zulassung und Gestaltung durch die Politik zu erbringen sind, um die in Frage gestellte Freiberuflichkeit zu schützen. Eine marktbeherrschende Stellung von investorgeführten MVZ müsse der Gesetzgeber verhindern.

Wenn es aber bis dato kein Register gibt, in dem von Investoren übernommene Praxen erfasst sind, tappt die Politik im Dunkeln und hat keinerlei Übersicht. Der Markt ist somit noch nicht einmal im Ansatz reguliert.

Die gesamte Entwicklung lässt nur einen Schluss zu: Das Gesundheitssystem durchlebt aktuell einen historischen Wandel und ein Ende ist nicht absehbar.

Die aktuelle Regierung scheint nichts daran ändern zu wollen. Das Bundesgesundheitsministerium teilte dem NDR mit, es sei ihm nicht bekannt, "ob und inwieweit eine beherrschende Marktkonzentration augenärztlicher Versorgungsstrukturen" in einzelnen Bereichen vorliege und "worauf etwaige Konzentrationstendenzen zurückzuführen" seien. Insgesamt sei es auch rechtlich schwierig, den Markt stärker zu beschränken. Allein die Feststellung einer Zunahme von investorenbetriebenen Praxen dürfte nach Einschätzung des Ministeriums dafür nicht reichen.


Volker Brauch war Sozialpädagoge im Bereich Schulsozialarbeit und Vertrauensmann bei Ver.di.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 37. Jg., Juni 2022, S. 10
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

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