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STREIFZÜGE/031: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 58, Sommer 2013


Streifzüge Nummer 58 / Sommer 2013

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Wahlverruf

Petra Ziegler: Mitgefangen.
Wie uns die Dinge durch unser Tun beherrschen

Emmerich Nyikos: Verborgene Herrschaft.
Die übergesellschaftliche Macht des gesellschaftlich Gemachten

Franz Schandl: Theologie der Gallerte.
Materialien gegen das Irrewerden am Irresein. Zum Fetisch

Annette Schlemm: Fetisch Überleben

Dietrich Hoß: Befreiung vom Fetisch.
John Holloway und die Organisationsfrage

Lars Distelhorst: Depression und Kapitalismus

Paolo Lago: Waffen, Heer, Soldaten
Fetischismus all'Italiana

Franz Schandl: Das Vagante und das Extravagante
Flüchtige Notizen zu Fetisch und Sexualität

Meinhard Creydt: Selbstbehauptung als Subjekt

Andreas Exner: Wozu Entwicklung?
Tanzania, das Kupfer, und ein Ende des Kapitalismus

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Rückkopplungen: Roger Behrens
Immaterial World: Stefan Meretz

Rubrik 2000 abwärts
Franz Schandl (F.S.): Naturkatastrophen?
Walther Schütz (W.S.): Nachhaltige Abhängigkeit
Walther Schütz (W.S.): Erkenntnisleitende Logik
Petra Ziegler (P.Z.): Gut geschlafen?
Dominika Meindl (D.M.): Mir ist so fad!
Barbara Grün (B.G.): Waren besonderer Art
Birgit v. Criegern (B.v.C.): Blech und Prestige

Rezensionen
Julian Bierwirth (J.B.) zu Peter Bierl: Schundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn - Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell.
Lorenz Glatz (L.G.) zu Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar der Gegenwart.

*

Einlauf

von Petra Ziegler

Der sommerliche Schwerpunkt widmet sich dem Verhältnis von Menschen und Dingen. - Der Fetischismus von Ware und Geld hält uns im Griff und fordert umfassend Tribut. Er stiehlt uns unsere Zeit, erschöpft unsere Ressourcen und die des Planeten, er erlaubt uns kaum Atem zu holen. Dienst am Fetisch geht vor gedeihlichem Miteinander.

In der kapitalistischen Realität erscheinen die Dinge eigenwillig mit Leben begabt. Die Menschen folgen der Logik des Selbstgeschaffenen, ein Verhältnis von Sachen beherrscht ihr eigenes gesellschaftliches Verhältnis. Ein Sachzwang, den wir uns durch unser tägliches Handeln immer neu auferlegen. Die Macht, der wir ausgeliefert sind, ist eine, die wir selbst erzeugen. Davon zu wissen reicht nicht aus, uns davon zu befreien und verweist doch auf den einzig möglichen Ausweg. - Es wäre an der Zeit den Spuk zu beenden!

Vielleicht sollten wir es einmal explizit ansprechen. Der aufmerksamen Lektüre kann es ohnehin nicht entgehen, in unseren Heften findet sich durchaus Widersprüchliches. Die Autorinnen und Autoren - zumal die "Gäste" - vertreten in ihren Beiträgen nicht unbedingt, was der Mehrheit in der Redaktion als Konsens gelten dürfte. Die Texte werfen Fragen auf, wollen zu Auseinandersetzung und Diskussion einladen. Kommentare, Repliken, Kritik und ergänzende Ausführungen sind daher stets willkommen, Anschreiben an die Redaktion (redaktion@streifzuege.org) ebenso.

Auch soll jede Ausgabe Neuankömmlingen die Möglichkeit bieten, in unser "Universum" einzusteigen, ohne an einer zu hermetischen Lektüre zu verunglücken. Unsere langjährigen Leserinnen und Leser gleichzeitig nicht zu langweilen gleicht mitunter einem Balanceakt.

Dabei auf Dauer nicht abzustürzen, braucht Eure Unterstützung und Zuwendung. Dass wir sie regelmäßig auch in finanzieller Form erbitten müssen, widerstrebt uns ebenso, wie es unter den herrschenden Verhältnissen notwendig bleibt.

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Wahlverruf

von Franz Schandl

Wieder mal sind Wahlen. Nationalratswahlen in Österreich, Bundestagswahlen in Deutschland. Die nächsten Monate stehen ganz im Zeichen unerträglicher Kampagnen, die über alle Medien laufen. Dem ist nicht zu entgehen. Wir sind umstellt und umzingelt.


Niemand kann sich heute mehr seiner Wähler sicher sein. Diese sind zwar eine leicht verschiebbare Masse geworden, sie müssen aber jedes Mal aufs Neue gewonnen werden. Auch das quantitative Verhältnis von Stammwählern, Wechselwählern und Nichtwählern hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Jede Wahlentscheidung ist eine flexible, ja manchmal gar eine rein augenblickliche, denken wir nur an die Zunahme der Last-minute-Wähler, d.h. von Leuten, die sich erst direkt in der Wahlzelle zu einem Votum durchringen.


Wahl und Ware

Das Angebot beherrscht die Nachfrage. Wähler flanieren durch Einkaufspassagen. Die Konkurrenz der Eindrücke dominiert über die Konkurrenz der Interessen. Es ist wie auf den Märkten. Man kauft ein, obwohl man nicht überzeugt ist, aber überredet wurde. Auch in der Politik dominieren Sonderangebot und Ausverkauf. Die Konturen verschwimmen zusehends. Wahlen gleichen einem Maskenball, wo zum Schluss jene gewählt werden, die sich am Besten inszenieren. PR-Abteilungen erzeugen Reklamebilder in hörigen Bürgern.

Wähler sind Kunden, nicht Akteure. Ihre Stimmen sind zum Abgeben da. Abhängig von diversen Beeindruckungen, geben sie mal diesem, mal jenem, mal keinem den Vorzug. Was für den Markt der Kauf, ist für die Politik die Wahl. Wahlakt ist Zahlakt: Die Stimmabgabe entspricht der Begleichung einer Rechnung. Stimmen werden nicht erhoben, sondern abgegeben, und sodann gezählt. Politik muss, um sich zu legitimieren, alles daran setzen, dass die Wahlbeteiligung hoch ist. Daher werden die Politikverdrossenen auch umworben und geschulten. Aber deren Zahl ist wachsend, nach wie vor, wenn auch mit Unterbrechungen.

Politik folgt ähnlichen Regeln wie der Markt. Hier wie dort steht Werbung im Mittelpunkt, verschlingen Reklamekosten einen wachsenden Teil des Etats. Hier wie dort geht es um Verwertung. In der Politik werden Stimmungen zu Stimmen verwertet. Und Stimmung ist eine Kategorie des Moments. Es gilt, den Wähler und die Wählerin zu erwischen, abzuholen. "Man muss sich gut verkaufen", nennt das der Volksmund. Das politische Sortiment unterscheidet sich seiner Substanz nach nicht grundsätzlich von anderen Waren. Die Behauptung eines hehren oder unabhängigen Charakters der Politik ist reine Selbstbeweihräucherung.


Zauberkabinett der Reklame

Politik ist kein Ort der Selbstbestimmung, sondern ein Zauberkabinett der Reklame. Was drücken wir ihnen rein?, ist die obligate wie zynische Frage jeder, also auch politischer Werbung. Sie fällt damit ein vernichtendes Urteil über das Publikum, das sie behandelt. Nicht die Lage der Menschen ist Richtschnur, wohl aber deren Stimmung. Wer Politiker ist, kann die Leute (vor allem auch die Anhänger) nur verachten für das, was sie sich bieten lassen. Die meisten tun das auch, aber sie sagen es nicht. Dafür erzählen sie dem sogenannten Souverän die selige Geschichte vom Mündigen, denn die wird von allen Hörigen gerne gehört.

Aufgabe der Wahlkampagne ist es, Wähler richtig zu terminisieren. Das ist eine heikle Angelegenheit, darf man doch nicht zu früh und noch weniger zu spät kommen. Die frischen Eindrücke sind dabei die wichtigsten, aber sie brauchen auch eine gewisse Zeit, um sich setzen zu können. Differenzen zu erzeugen, wo keine sind, ist eine Kunst der Simulation, hergestellt in outgesoursten War Rooms, die laut Marketing nicht mehr Parteisekretariate heißen dürfen. Da wird dann geplayt und gegambelt, Meinungsumfragen gleichen Börsenkursen.

Stammwähler sind eine aussterbende Spezies. War früher das Wahlverhalten großteils von Interessen geprägt, fühlte man sich einer Weltanschauung verpflichtet, gar einer Klasse oder einem Stand zugehörig, so ist das heute bloß noch in Ausnahmefällen so. Derlei gehört zur Folklore einer Herkunft, zu einem wohligen Duft der Vergangenheit, den man gelegentlich nutzt. Im Prinzip ist dieses Aroma nur noch in geringen Dosen einsetzbar. Es verleiht die Würze einer Identität, die längst abhanden gekommen ist, auch oder gerade wenn sie wieder einmal beschworen wird. Zu viel Stallgeruch verscheucht Wähler.

Wahlen werden zusehends von Unentschlossenen in last-minute-acts entschieden. Das sind Wähler, die zwar beim Eintritt ins Wahllokal noch nicht wissen, wen sie wählen, sich aber beim Rausgehen wundern oder vielleicht sogar ärgern, wen sie gewählt haben. "Wen willst du eigentlich wählen?", wird immer mehr zu einer geflügelten Frage, auf die man keine seriöse Antwort erwartet. Auch ich kann nicht mehr sagen, ob ich, wen ich und warum ich in den letzten Jahren gewählt habe. Wozu die Erinnerung damit belasten?


Entpolitisierung und Repolitisierung

Gemeinhin hat uns Politik als eine Bedingung des Daseins zu erscheinen. Sie wird beschrieben als das Zentrum der Gesellschaft, eine sich selbst setzende Struktur, die schon könnte, wenn sie wollte, wie sie sollte. Der aktuellen Ohnmacht der Politik begegnet man allseits nur einem Postulat der Potenz, das suggeriert, dass die Schwäche aus der Selbstschwächung rührt, die jederzeit auch wieder durch eine Selbststärkung abgelöst werden könnte. Politik gehört in diesem Weltbild der Politik selbst. Sie ist Ort und Hort der Freiheit. Politisierung ist eine positive Kategorie, Entpolitisierung ein abwertender Begriff, daher muss Repolitisierung das Ziel sein.

Politik sollte aber nicht mitjeder praktischen Intervention im öffentlichen Raum verwechselt werden. Jene ist stets auf den Staat und Markt bezogene Handlung, d.h. ihr affirmativer Charakter ist vorbestimmt, sie ist a priori befangen. Politik moderiert die Gesellschaft, nicht willentliche Gestaltung ist ihre Aufgabe, sondern Verwaltung vorgegebener Funktionen. Politik ist die gesonderte Verallgemeinerung bürgerlicher Gesellschaftlichkeit wie der Staat die gesonderte Allgemeinheit derselben darstellt. Staat und Politik gehören also zusammen. Politik ist die staatliche Pragmatik der gesellschaftlichen Notwendigkeiten unter dem Diktat des Kapitals. Die staatsbürgerliche Freiheit besteht in der Nuancierung ebendieser.

Basismedium der Politik ist jenes der Ökonomie, nämlich Geld. Alle Entscheidungen müssen in der Sprache der Wirtschaft gefällt werden. Die immer stärkere Vermarktwirtschaftlichung der Politik ist gekennzeichnet durch das stetige Ausscheiden weltanschaulicher Beigaben. Politik reduziert sich auf ihr Grundwesen und lässt gesonderte Erscheinungen nur noch als Reklame zu. Das aber umso heftiger. Das politische Theater der Parteien ist geprägt von einem geradezu wild gewordenen Taktizismus der Marken, gemeinhin auch Kampagnen genannt.

Politik ist keine ledige Form, sondern ein problematischer Inhalt, der aber als neutrale Hülle emergiert, mit der man alles anstellen kann, was man möchte, erhält man genügend Zuspruch. Welch beharrliche Halluzination! Die Macht der politischen Sphäre war auch früher weitgehend Illusion, indes ermöglichte der in der Relation größere finanzielle Spielraum doch so etwas wie relative Autonomie. Politische Fragen sind keine Fragen materieller und ideeller Möglichkeiten und Potenzen, sondern stets Fragen der Finanzierung. Man kann also nur beschließen, was man bezahlen kann oder bezahlen wird können, womit freilich schon die ganze Autonomie der Politik sich selbst dementiert. Dass das nicht auffällt, ist schon bezeichnend. Dass aber bezahlt werden muss, erscheint den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsinsassen als unproblematisches und daher unproblematisiertes Naturgesetz. (Ausführlicheres siehe: Franz Schandl, Politik - Zur Kritik eines bürgerlichen Formprinzips, Weg und Ziel, Nr. 2, Mai 1995, S. 17ff.)

Ständig verwechselt der Bürger seine Freiwilligkeit mit dem freien Willen. Die haltlose Einbildung, sowohl in Handlungen als auch in Urteilen souverän zu sein, konstituiert ihn. Politik macht nicht frei, sondern dumm. Sie befreit einen vielmehr von Engagement und Initiative, von Reflexion und Selbstermächtigung, indem sie uns zum Kunden des Parlamentarismus und des Populismus macht, die uns die Stimmen abnehmen und als Legitimation konsumieren. Politik ist ganz vom Spiel der Verwertung und der Konkurrenz geprägt, aus dem sie nicht ausbrechen kann, weil sie ihm ehern zugehörig ist.


Populismus und Obskurantismus

Die Parteienlandschaft in Österreich (aber nicht nur hier!) etwa zerbröselt in rasantem Tempo. Zweitagsfliegen wie Martin, Dinkhauser oder Stronach verdeutlichen genau das, sie sind Momente des Zerfalls. Strohsack wird, wenn überhaupt, bloß länger machen, weil die Kasse praller gefüllt ist. Die von ihm aufgekauften Abgeordneten sind übrigens Politiker des allermodernsten Typs. Dieses Politikantentum erscheint als der neueste Schlager, der aber nur noch als Verschlagenheit zu haben ist. Pomadisierte Geistesgrößen im Mausformat singen selige Lieder von fetischisierten Werten und warten auf Überweisungen aus Kanada, auf die Parteienförderung oder einen satten Politikerbezug. Es sind die ganz Unverdrossenen und Unverfrorenen, die solches wählen. Man glaubt es kaum, aber es gibt sie in Massen.

Dass gerade die Wähler nicht blöd sind, ist übrigens eines der dümmsten Vorurteile, die der gesunde Menschenverstand so verbreitet. Indes muss die Politik permanent deren Kompetenz und Intelligenz beschwören, obwohl sie diese täglich Lügen straft. Verlogene Sprüche wie "Der Wähler hat immer recht!" sind da nur die Spitze. Wer sagt dem Souverän schon gerne, dass er Stimmvieh ist? Die Verdrossenen ärgern deswegen, weil sie ihre tierische Pflicht nicht erfüllen. Sie lassen sich nicht für blöd verkaufen, sondern gar nicht. Das sieht man nicht gerne.

Die geistige Hilflosigkeit ist allerorten, sie verkleidet sich allerdings in zahlreichen Machtphantasien. An den Stammtischen etwa probieren sich Amateure als Politabenteurer, im Gegensatz zu den realen Politikern wissen sie nicht einmal, was nicht geht. Lösungen und Losungen sind so einfach wie diese Gemüter. Nicht nur Alfred Gusenbauer würde off records sagen, sie sudern. Besser wäre, sie wären verdrossen.

Der Populismus ist jedenfalls der letzte Hit, auf den die Politik noch setzen kann. Ob Strache oder Stronach, die Piraten, irgendwelche Glücksritter oder schlichtweg Obskuranten. Gerade mal den Populisten gelingt es, etwas Feuer zu entfachen. Aber das auch nur, weil sie mehr blöd reden können als fad regieren müssen. Man denke nur an die zeitweilige Entzauberung der Haider-Partie in der Schüssel-Regierung.


Am Ende?

Das politische System gerät mehr und mehr aus den Fugen. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine Krise von Parteien und Politikern, sondern um eine Erosion des Politischen. Die Politik ist verkommen, aber nicht weil die Politiker verkommen sind, sondern weil die Politik als Formprinzip der Moderne an ihre Schranken stößt. Doch dieser Grenzen ist sie sich nicht bewusst, sie hat kein Sensorium, um über sich selbst zu reflektieren, sie gleicht einem autistischen Subjekt, das einfach weitermacht.

Politik hat keine Zukunft mehr, ihr letzter Horizont ist die Notstandsverwaltung ökonomischer, sozialer und ökologischer Dauerkrisen. Wobei wir hierzulande bisher lediglich am Rande in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Es wird jedenfalls immer schwieriger, unter dem Diktat der Finanzierung Wohlstand zu erhalten bzw. gar zu kreieren. Das jedoch möchte niemand so recht wissen. Wenn schon Alternativen, dann sieht man sich im Retrobereich um, schwärmt von Kreisky und bejubelt Keynes.

Unerträglich ist, dass partout Ware und Geld, Konkurrenz und Wachstum sakrosankt sind und außer einer billigen wie gefährlichen Anklage gegen Banker und Spekulanten, Politiker und Bürokraten kaum jemanden etwas einfällt. Der Wahn ist zu bekämpfen, nicht die Akteure des Wahnsinns. Denn das sind wir letztlich alle selbst, alle, die mit ihrem täglichen Handeln dieses völlig absurde System weiter am Laufen halten und akkurat keine Transformation ins Auge fassen wollen. Weder nationale Grenzlandboten noch europäische Landboten vermögen mehr die Politik zu retten.

Ist Politik am Ende am Ende? - Ja. Wer einen Wechsel oder eine Wende will, redet nicht weniger Unsinn als jene, die keinen Wechsel und keine Wende wollen. Auch Wechsel und Wende sind am Ende. Nicht Politiker und Politiken stehen zur Disposition, sondern die Politik überhaupt. Zu diskutieren wären Alternativen zu Markt und Staat. Zu viel der Zumutung? Nun, weniger können wir nicht bieten.


Politikverdrossenheit

Um aber nicht der Indifferenz das Wort zu reden, sei vorsichtig eingeschränkt: Natürlich gilt es da noch ab und zu sich für das kleinste Übel zu entscheiden, eben gegen die angebräunte Partei oder gegen das neue Querulantentum zu sein, aber das sind keine konstruktiven Entschlüsse mehr. Perspektive hat dieses Verhalten keins, auch wenn es gelegentlich als Defensivmaßnahme angebracht ist.

Ein vager Hoffnungsschimmer sind die Verdrossenen. Die relativ größte Gruppe sind gegenwärtig jene, die sich dem Spektakel entziehen, ganz einfach nicht hingehen und sich enthalten. Natürlich mag man einwenden, dass deren Klassifizierung eine rein negative ist, also keine positive Gemeinsamkeit der Absenz konstatiert werden kann. Das stimmt schon, die Verdrossenheit ist keine wie immer geartete Option, aber eines ist sie doch: eine Absage.

Politikverdrossenheit ist nun ein Empfinden, das sich zwar nicht auszudrücken versteht, aber sich auch kaum mehr beeindrucken lässt. Sie ist eine klassenlose Regung, nicht Folge eines subjektiven Interesses, sondern eines um sich greifenden antisubjektiven Desinteresses. Dieses kann alle ergreifen. Die Verdrossenen spüren, dass da in der Politik nichts mehr geht und nichts mehr kommt, was wirklich anregend wäre. Sie liefern sich nicht der Täuschung aus, sondern ziehen erste Konsequenzen aus der politischen Enttäuschung.

Der Unterschied zwischen den Wutbürgern (vgl. Franz Schandl, Die Wut und ihre Bürger, Streifzüge 54, S. 44) und den Verdrossenen liegt auf der Hand: Wer wütend ist unterstreicht seinen Glauben an das System und seine Werte, wer verdrossen ist, zweifelt daran oder tut das nicht mehr. Wer wütend ist, denkt nicht, wer verdrossen ist, denkt zu wenig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Unbehagen in Ressentiment umschlägt, aber deswegen darf das Unbehagen nicht dauernd zurückgewiesen werden, sondern umgekehrt, es ist als solches ernst zu nehmen, nicht als ein Abzuschaffendes, sondern als ein unausgegorener Aspekt der Emanzipation zu erkennen.

Es ist jedenfalls weniger dumpf nicht zu wählen als zu wählen. Diese Leute erteilen nicht nur den traditionellen Formationen, sondern auch deren Scheinalternativen, dem Populismus und dem Obskurantismus eine kräftige Absage. Motto: Nicht mit mir! Das ist doch schon was. Warum beklagen? Schlimmer als die Politikverdrossenheit ist doch die blindwütige Politikversessenheit. Der in Vorwahlzeiten zu nehmende Weckruf, doch unbedingt wählen zu gehen und von den demokratischen Rechten Gebrauch zu machen, wirkt zusehends lächerlicher, er ist armseliger aber staatstragender Kanon, den da Politiker und Politikberater, Politikwissensehafter und Populisten unisono in die Welt posaunen. Und das auch noch ohne Widerrede. Man sollte sich dieses Diktat reinen Glaubens nicht länger gefallen lassen. Die Deaktivierten sollen sich der Reaktivierung verweigern. Weder den matten Versuchen der Etablierten, noch den Lockrufen der Populisten sollten sie sich nachgiebig zeigen.

Nicht die Verdrossenheit ist von Übel, eher umgekehrt gilt es zu fragen, warum denn heute noch jemand nicht verdrossen ist, also weiterhin im Politspektakel mitspielt, als sei dies ganz selbstverständlich. Den Verdrossenen ist unverständlich, was den Unverdrossenen noch immer verständlich ist. Das Problem ist, dass die meisten Verdrossenen sich damit begnügen, nicht nach dem Grund der Verweigerung fragen, geschweige denn nach neuen Horizonten suchen. Was diese Leute machen, das haben sie kaum begriffen. Es ist Synthese ohne Analyse. Somit auch noch keine Kritik, sondern lediglich manifestes Unbehagen. Das Problem ist, dass die Politikverdrossenen selbst nur unpolitisch sind, aber nicht antipolitisch.


Fazit

Was steht zur Wahl? Nichts steht zur Wahl! Alle wollen dasselbe: Markt, Geld, Staat, Wachstum, Konkurrenz und vor allem natürlich Arbeit. Die SPÖ etwa hat sich auf ihren Plakaten klar als "Partei der Arbeit" deklariert und somit desavouiert. Es gibt keine Richtungsentscheidung, es gibt nichts auszuwählen, es gibt nichts abzuwählen, es gibt keine Zeichen zu setzen. Außer vielleicht letzteres umgekehrt: Das Zeichen, dass kein Zeichen gesetzt werden kann, indem man diese Wahlen einfach boykottiert. Why not? Wo es nichts zu wählen gibt, gibt es nichts zu wählen.

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2000 Zeichen abwärts

Naturkatastrophen?

Geht es nach den sich häufenden Überschwemmungen, werden die Jahrhunderte immer kürzer. Doch schnell kehrt die Normalität wieder. Wenn die Japaner sich von keinem Supergau schrecken lassen, warum wir hier von einem Hochwasser? Zum Schluss erschlägt die mediale Dramaturgie die reale Tragödie durch ihren Hype. Zuerst ist die Welt fast untergegangen, doch dann ist wieder fast nichts passiert. Betroffenheit, das sollten wir nicht vergessen, ist nicht schlicht eine menschliche Größe, sondern oft Folge der Inszenierung. Sie wird nicht selten exogen evoziert, nicht bloß unmittelbar gespürt.

Sie geschehen nicht nur. Zwar sind Umweltkatastrophen nicht frei von Natur (verstanden eben als Geschehen ohne menschliches Zutun), doch primär sind sie den sozialen und ökologischen Zusammenhängen geschuldet. Das Unglück, das da oft hereinbricht, ist ohne gesellschaftlichen Kontext in der sich ereignenden Form nicht denkbar. Ja, man muss heute schon so weit gehen, den Begriff "Naturkatastrophe" überhaupt in Frage zu stellen. Der führt in die Irre, weil er uns "höheren Gewalten" ausliefert, um unsere eigenen Taten besser verbergen zu können. Die Verwertung ist die trächtige Mutter aller modernen Katastrophen. Mögen die Kinder nun Wachstum, Konkurrenz, Einkommen, Kauf, Arbeit, Mobilität, Müll oder anders heißen.

Katastrophen sind gemacht, ohne dass sie gemacht werden. Diese Unterscheidung ist nur auf den ersten Blick haarspalterisch, denn tatsächlich ist es so, dass es nicht in unserer Absicht liegt, darauf hinzuarbeiten, dass wir es aber doch mit aller Konsequenz tun. Und auch nicht einfach lassen können in einem System, wo nicht die Folgen interessieren, sondern alles auf Kosten und Lohn, Preis und Profit konzentriert ist. Die Ergebnisse, so sehr sie uns auch schädigen und ärgern, passieren aufgrund unserer Aktivitäten, aber nicht aufgrund unseren Wollens. Sie sind Folge unserer Entschlossenheit, die wiederum arm ist an Erkenntnis und Bewusstsein. Wille und Resultat wären also zu synchronisieren. Annähernd. Das sollte nicht nur möglich sein, das ist auch notwendig.

F.S.

*

Mitgefangen

Wie uns die Dinge durch unser Tun beherrschen

von Petra Ziegler

"Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun."
(Aristoteles, Metaphysik)

"Im Anfang war die Tat."
(K. Marx, Das Kapital Bd. 1)


Wir können nicht anders. Was unsere Spezies gerne einer nicht ganz unhübschen Sorte Wühlmäuse unterstellt, betreibt sie selbst mit kollektivem Eifer, in zunehmender Rasanz und selbst/mörderischer Konsequenz. Wir veröden fruchtbare Böden, vermüllen ganze Ozeane, verpesten die Atmosphäre - wenn hier nicht mehr wie noch in den 1980ern, dann umso mehr anderswo -, wir überziehen die Landschaft mit hoch- und tiefgebauten Scheußlichkeiten, nehmen die Zerstörung der Lebensräume von Milliarden Menschen in Kauf, hetzen uns selbst oder gegenseitig ins Burnout, wir scheißen auf die Verhungernden in Afrika oder sonstwo, auf die kommenden Generationen sowieso, suchen Trost in trostlosem Konsum, mokieren uns über die gemeingefährliche Dummheit der anderen, automobilisieren noch staatlich gefördert, wir liefern uns samt unseren Liebsten dem Markt aus, strudeln uns ab und schlagen mehr oder weniger ambitioniert die Zeit tot. Wir sehen zu, wie wir (unser) Leben vergeuden.


Befangen

Nein, selbstverständlich wollen wir das so nicht. Aber wir handeln danach - teils gleichgültig, teils widerwillig, gedankenlos oder ohnmächtig. Fehlt es an Einsicht, scheitern wir an der Maßlosigkeit Einzelner, an massenhafter Völlerei, menschlicher Hybris oder am individuellen Starrsinn? Droht uns die "gerechte Strafe", weil wir "von Natur aus" unersättlich sind, kein "Genug" anerkennen? Und niemand da, um dem destruktiven Treiben Einhalt zu gebieten? Und wer oder was überhaupt treibt uns, und wozu?

Betrachten wir uns einmal als ein durchschnittlich umtriebiges, zwischen Zielstrebigkeit und Wankelmut, Gefühl und Ratio changierendes Einzelwesen, durchaus kompromissbereit, gelegentlich widerständig. Ein mehr oder weniger gegenüber der Umwelt, wie auch dem mitmenschlichen Umfeld freundlich gestimmtes Individuum in unserer modernen westlichen Welt. Mit Verpflichtungen, Vorlieben und Talenten, nicht ohne Sorgen, mit hinreichend Verstand und auch Bosheit, vielleicht sogar mit Träumen. So ein Individuum will für sich, wenn nicht das Beste, so doch zumindest was haben vom Leben. Nicht unbedingt gegen die anderen, durchaus aus eigener Kraft, selbstbestimmt und auch mal aus purer Lust und Laune. Geradezu allergisch fällt die Reaktion aus, wollte jemand sich da einmischen. Allen täglichen, durchaus auch so empfundenen objektiven Zwängen zum Trotz glauben wir uns weitgehend in Freiheit. Auf diese Freiheit pocht unsereins. Frei zu tun oder zu lassen, frei ordentlich was zu leisten, um sich was Ordentliches zu leisten. Freilich - und das versteht sich gewissermaßen von selbst - auf Grundlage der bürgerlich-demokratischen Ordnung. Oder, sagen wir, auf Grundlage der herrschenden Verhältnisse. Money makes the world go around, soviel weiß das bürgerliche Subjekt. Und in der Tat beweist sich das Tag für Tag.

So heißt es denn vernünftig sein - im Rahmen der Verhältnisse.


Von Menschen und Dingen

Totemkult und Reliquienverehrung liegen uns fern, sind jedenfalls nicht sonderlich geachtet. Das aufgeklärte bürgerliche Exponat hat die Dinge im Griff und bekennt sich gar nicht ungern zu "seinen" Fetischen. Sie gelten ihm ganz selbstbewusst als Ausdruck der je eigenen Persönlichkeit. Zwar ist Fetisch-Ästhetik längst Teil des popkulturellen Mainstream, ein ehemals vielleicht noch subversiver Anspruch nicht einmal mehr in Spurenelementen erkennbar, für eine gezielte Provokation, einen leicht verruchten Touch, ein sich Akzentuieren, ein "Outing" in fröhlicher Runde oder auch nur stillschweigendes Sich-Abheben reicht es allemal. Überhaupt kann eins hie und da einen kleinen Kick gebrauchen.

Die Welt der uns umgebenden Dinge erscheint uns gewöhnlich recht gewöhnlich und wird allenfalls in ihren "Auswüchsen" hinterfragt. Konsumsucht wird kaum gut geheißen, Fälle allzu strenger Markengläubigkeit durchaus verspottet. Echtes Befremden löst ein beliebiges Fertigteil aber nur aus, ist es gar zu offensichtlich für die Halde produziert. Ansonsten gilt die oberflächliche Vielfalt als sakrosankt, auch wenn langsam auffällt, dass der Nuancenreichtum, so nicht ohnehin bloß vorgegaukelt, in Wahrheit beständig schwindet.

Eine Ware - ob simpel oder raffiniert - ist uns so alltäglich, so trivial, wie irgendetwas nur sein kann. Magisch anziehend im Einzelfall, das ja, nicht selten überflüssig, notwendiger Gebrauchsgegenstand oder zum Verzehr geeignet, vielleicht auch hässlich, trashig, unbrauchbar, ein bloßer Staubfänger, doch keinesfalls nachhaltig verstörend.

Ganz anders in der Marxschen Analyse. Hier erweist sich, was uns so selbstverständlich erscheint, als "ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken", als "sinnlich übersinnliches Ding", "rätselhaft" und "geheimnisvoll".

Wie das? Was vermag einen uns so vertrauten, x-beliebigen Gebrauchsgegenstand, entstanden mehr oder weniger direkt von menschlicher Hand, derart zu verwandeln? Wodurch verändert sich sein "Charakter", wird "rätselhaft", sobald er Warenform annimmt? Es ist eben diese Form! "Das Geheimnisvolle der Warenform", führt Marx dazu aus, besteht darin, "dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt." Der "Fetischcharakter der Warenwelt entspringt ... aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert." In einer entwickelten Marktwirtschaft wird der gesellschaftliche Zusammenhang auf ganz spezifische, einzigartige Weise hergestellt. Erst über den Austausch des von uns unabhängig voneinander Produzierten treten wir - im Nachhinein! - in Kontakt. Mit dem unbeabsichtigten Effekt, darauf verweist uns Marx, dass die wechselseitigen Beziehungen der Produzierenden als gegenständliche Eigenschaften der Arbeitsprodukte selbst erscheinen. Es ist aber eben, darauf besteht er wiederholt, "nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt." Und weiter: "Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist." (Alle Zitate, sofern nicht anders angegeben, entstammen dem Abschnitt "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis", MEW 23, 85ff.)


Sachzwang

Im Kapitalismus, so Marx, besitzt die "eigne gesellschaftliche Bewegung" für die Menschen "die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren." Das zu behaupten ist keine Kleinigkeit. Es erklärt den Fetischismus geradezu zum Wesensmerkmal der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.

Halten wir uns nochmals den "gegenständlichen Schein" der Ware vor Augen. Wiewohl nüchtern betrachtet, sehen wir die Sache gewissermaßen doppelt: einerseits als - unterstellen wir das mal - nützliches Ding, andererseits als Wertding. Das haben wir uns so angewöhnt, einfach dadurch, dass wir unsere Arbeitsprodukte tauschen. Um sie überhaupt austauschen zu können, müssen wir von ihrer jeweils besonderen Qualität absehen, wir müssen sie sozusagen auf einen gemeinsamen Nenner bringen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft wie der unsrigen vollzieht sich das "praktischerweise" über ein allgemeines Äquivalent (vulgo Geld). So alltäglich dieser Vorgang für uns ist, so weitreichend sind seine Konsequenzen. Dadurch, dass wir auf spezifische Weise verschiedenartige Dinge (oder auch Dienste) für andere bereitstellen und sie mit Produkten und Leistungen für unseren eigenen Bedarf wechselseitig ins Verhältnis bringen, d.h. sie einander gleichsetzen, werden die tatsächlich zugrundeliegenden Verhältnisse offenbar auf den Kopf gestellt. Unwissentlich - die Gleichsetzung ist dem Tauschakt durchaus nicht bewusst vorausgesetzt, vielmehr resultiert sie aus dieser Handlung - haben wir uns durch unser scheinbar so banales Tun etwas eingehandelt, das in beträchtlichem Ausmaß unsere Handlungsweise bestimmt.

Der Wert, wiewohl nur durch einen gesellschaftlichen Gewohnheitsakt hervorgebracht, scheint der Ware innezuwohnen, als wäre er ihre Eigenschaft, eine gleichsam "übernatürliche Eigenschaft". Zur Vollendung kommt der "falsche Schein" in der Geldform. "Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eigenen Resultat und lässt keine Spur zurück. ... Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozess und daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eigenen Produktionsprozesse erscheinen zunächst darin, dass ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen. Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetisch." (MEW 23, 107f.)

Ein Trugbild und doch nichts weniger als eine einfache Täuschung. Der "zu sich gekommene", quasi-verselbständigte Wert steht uns in Form von Geld und Kapital als eine höchst reale "sachliche" Macht gegenüber. So erleben wir es, das ist keine Einbildung. Seine Logik wird durch das Handeln der Menschen hindurch wirksam, unabhängig vom Bewusstsein und den Absichten der Einzelnen. Als vereinzelte Einzelne bleiben wir Mitgefangene in diesem Prozess. Wenn das auch niemanden der persönlichen Verantwortung enthebt: Empathie im Umgang oder nach unten zu treten, das macht schon einen Unterschied. Sich Fügen bedeutet letztlich immer auch Zustimmung.

Frei gesetzt in der Konkurrenz zwingt uns der Wert seine Gesetze auf, macht, was seiner "Natur" entspricht - ökonomisches Wachstum und betriebswirtschaftliche Effizienz etwa -, zur äußerlichen Notwendigkeit für die Menschen, macht sie real wirksam. Die bürgerlich-demokratische Freiheit ist die des Wettbewerbs aller gegen alle: "Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen - von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen." (MEW 42, 551, Hervorh. PZ)


Schlüsselbegriff

Das "ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" war Marx' selbstgestellte Aufgabe. Wenngleich - und darüber lässt er uns keinen Moment im Unklaren - in Form umfassender Kritik mit dem Ziel, eben diese Verhältnisse umzuwerfen. Mit seiner Fetischismuskritik hat er uns einen Schlüssel dazu in die Hand gegeben.

Der Fetischismus, der der Warenwelt anhaftet, verschwindet nicht einfach, indem wir uns die Augen reiben oder ihn ins Bewusstsein heben. Auch wenn letzteres eine notwendige Voraussetzung für ersteres ist. Als blindes Resultat unserer gesellschaftlichen Praxis (der Warenproduktion) bleibt er wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Die bewusste Überwindung des gesellschaftlich Unbewussten geht mit dem Abschied von den uns so vertrauten Formen (Ware, Geld, Arbeit) einher. Der Fetisch verliert seine Macht, sobald unser Tun, unsere Produkte und Zuwendungen, unmittelbar zum gesellschaftlichen Ganzen beitragen und nicht erst eine "von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt" annehmen müssen. Wenn wir also unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form koordinieren, erst dann wird sich zeigen: Wir können auch anders.

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Rezens

Peter Bierl: Schundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn - Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell. Konkret Literatur Verlag 2012, 250 Seiten, ca. 25,50 Euro

Wenn die Wirtschaft nicht rund läuft und die Menschen in ihrer Existenz bedroht, dann bekommen wir die absonderlichsten Vorstellungen darüber zu Gehör, wer denn Schuld sein soll an dieser Situation. Mal sind es die "Arbeitsscheuen" oder die "faulen Griechen", mal sind es zockende Spekulanten von der US-amerikanischen Ostküste. Diese Vorstellungen haben ihren Entstehungsort zu wesentlichen Teilen im Bauch der betreffenden Redner- oder SchreiberInnen. Und sie verdichten sich nicht selten zu rassistischen, antisemitischen, sexistischen und anderen herrschaftsförmigen Ideologien. Silvio Gesell (1862-1930) kann als prototypischer Vertreter dieses Ad-Hoc-Antikapitalismus gelten.

Peter Bierl kommt das Verdienst zu eine 230-seitige Untersuchung über Gesell, seine Theorie, seine theoretischen Vorläufer, seine politischen Mitstreiter und seine EpigonInnen vorgelegt zu haben. Gesells theoretische Überlegungen zielen, so der Autor, auf einen sozialdarwinistischen Manchester-Kapitalismus ab, in dem Frauen in erster Linie die Rolle von Gebärmaschinen in einem rassifizierten Zuchtprogramm zukommt, in dem Arbeit und Plackerei zur höchsten menschlichen Tugend geadelt und Müßiggang verdammt wird.

Bierl handelt sowohl die praktischen Widersprüche und Probleme ab, in die sich historische wie aktuelle Versuche einer Umsetzung der Gesell'schen Lehre verstricken, als auch die bereits in seinen theoretischen Überlegungen verborgenen Widersprüche und kontrafaktischen Annahmen über die kapitalistische Realität.

J.B.

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Verborgene Herrschaft

Die übergesellschaftliche Macht des gesellschaftlich Gemachten

von Emmerich Nyikos

"Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen."
(F. Engels, Brief an J. Bloch vom 21./22.9.1890, in: MEW 37: 463f.)



1.

Der Ausdruck Fetisch - "Zauber" - stammt aus dem Portugiesischen (feitiço , von lat. facticium ) und bedeutet ursprünglich nur: "das Gemachte", das "Machwerk". Und in der Tat: Ein Ding wird von den Menschen gemacht, dieses Ding aber, weil es sich ihrer Kontrolle entzieht (insofern es nicht als ein profanes Ding, sondern als ein supranaturales gemacht wird), gewinnt schließlich Macht über sie und unterwirft sich buchstäblich die, die es hergestellt haben.



2.

Fetisch: das Gemachte, das Macht über die, die es machen, gewinnt. Erinnert das nicht an den Zauberlehrling von Goethe? Der Besen, der von sich aus keinen Schaden anrichten kann, wird von diesem zum Leben erweckt und entgleitet dann seiner Kontrolle, ja nicht nur das, der Besen übt in der Folge eine solche Macht über ihn aus, dass die Gedanken des Lehrlings nur mehr um die Maßnahme kreisen, das, was er übermütig in Gang gesetzt hat, ein für allemal zum Stillstand zu bringen.



3.

Geschichte bedeutet: Die Akteure, indem sie agieren, hinterlassen historische Spuren, die dann als Handlungsrahmen - das, was Marx die "Umstände" nannte - das nachfolgende Handeln bestimmen. Indessen hinterlassen nicht alle Handlungen Spuren, obgleich andererseits auch Alltagshandlungen Spuren hinterlassen, viel eher sogar als die Aktionen der Großen Akteure. Solche Handlungen nun, die nicht augenblicklich wieder verdampfen oder, um es anders zu sagen, die zu Umständen "gerinnen", sind demnach historisch.

Nun ist es aber so, dass Handlungen nicht nur Spuren hinterlassen, die in der Absicht der Handelnden lagen, sondern darüber hinaus gleichfalls auch solche, die jegliche Intention transzendieren, weitere Folgen, die nicht beabsichtigt waren, ja von denen die Akteure schlicht und einfach nichts wussten: Die Irrigation des Zweistromlands erhöht die Produktivkraft der Arbeit enorm, führt aber auch zur schleichenden Versalzung des Bodens, der, nach Generationen, schließlich zur Wüste verkommt.

Diese Gefahr, dass das Handeln Konsequenzen zeitigt, die für die Akteure fatal sind, liegt in jedem Handeln verborgen, und man kann sie nur graduell, durch die Expansion des Wissens um das Funktionieren der Dinge - auf der Grundlage einer prometheischen Haltung -, verringern, niemals jedoch vollständig bannen. - Es versteht sich von selbst, dass das epimetheische Handeln - nach Art des Epimetheus in Hesiods Werke und Tage, dem erst die Folgen seines Tuns zu denken gaben - in einer Gesellschaft, die nur die Gegenwart kennt, epidemisch sein muss. Und wer würde wohl daran zweifeln, dass das Kapital, das die Gesellschaft beherrscht und sie zwingt, so wie es selbst zu agieren, auf das Hier und das Jetzt, auf die Gegenwart, auf das momentane Dasein fixiert ist? Denn wäre es das nicht, so setzte es sich selbst auf das Spiel. Der post-moderne Diskurs - das Exorzieren des Werdens - reflektiert im Grunde daher nur die Maxime der Kapitaleigentümer: "Nach mir die Sintflut."



4.

In einem Warensystem handeln die Akteure jeder für sich - als Privateigentümer, sei es der Produktionsmittel, sei es des Arbeitsvermögens -, zugleich aber wirken sie alle zusammen, jedoch nicht bewusst, nicht nach einem gemeinsamen Plan, sondern spontan und bewusstlos . Was aus der Kombination ihrer Aktivitäten herauskommt, ist daher nicht nur das, was sie wollten - die Profitmaximierung, der Lohn -, sondern darüber hinaus sind es auch solche Effekte, die sie, wenn es in ihrer Macht stehen würde, um jeden Preis zu vermeiden versuchten. Jeder Kapitalproduzent strebt etwa danach, die Produktion auszuweiten, um die Masse seines Profits zu erhöhen - im Rahmen des Gegebenen ein durchaus rationales Verhalten -, da dies jedoch alle zugleich tun, folgt die Überproduktion wie das Amen im Gebet auf dem Fuße, der Absatz stockt und es fallen die Preise, und man weiß nicht mehr, woher und wohin. Schließlich, um den Verlust, als Folge des Preisverfalls, zu konterkarieren, wird das Volumen der Produktion von jedem Akteur von neuem erhöht und so fort, bis schließlich die Mehrheit, diejenigen, die mit den anderen nicht mehr mithalten können, vollends ruiniert ist: Das Gemachte gewinnt Macht über die, die es machten. Dies ist ganz unabhängig davon, was sich die Akteure selbst dabei denken. - Hierin besteht im Übrigen der Unterschied zum Fetisch im eigentlichen Sinn, dessen Macht über die Akteure rein fiktiv, d.h. Produkt der puren Einbildung ist. Was zählt, ist daher nicht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse den Akteuren als sachliche erscheinen, worauf es ankommt, ist vielmehr, dass die Sachen selbst, das Gemachte, die wahren dramatis personae sind.

Hier handelt es sich nun nicht mehr nur darum, dass in den Handlungen Wirkungen liegen, die gar nicht beabsichtigt sind, sondern dass sich notwendigerweise Konsequenzen ergeben, die keiner gewollt hat, eben weil das Zusammenwirken stets mehr ergibt, als wenn jeder Akteur für sich allein handeln würde: Das Ganze ist, wie schon Hegel gewusst hat, mehr als die Summe seiner Teile. Da aber dieses Zusammenwirken blind und spontan ist, unterliegt dieser "Überschuss" per definitionem keiner Kontrolle, wächst mit anderen Worten über die Akteure hinaus und bestimmt als Rahmen der Praxis diktatorisch ihr Handeln.



5.

Die Philosophen der frühen Bourgeoisie - von Vico, über Mandeville, Ferguson und Smith bis hin zu Marquis Mirabeau, Herder, Kant, Schiller und Hegel - haben die nicht-intentionalen Folgen des Tuns durchaus als positives Faktum gesehen: Sie haben sie als "invisible hand" oder "List der Vernunft" sogar in den Rang einer philosophischen Wahrheit erhoben. Wir aber wissen, dass - im Rahmen des Kapitalsystems mit seinen spezifischen Gesetzen - ab einem bestimmten historischen Punkt das spontane, bewusst- und planlose Agieren nicht nur zu periodischen Systemkrisen führt, sondern geradewegs zu einem Gesellschaftszustand, wo es nur mehr darum zu tun ist, den Schaden, den man selbst nolens volens verursacht, immer und immer wieder von neuem - wie in einem Tretrad - zu flicken.



6.

Die übergesellschaftlichen Mächte, die im Prinzip nur das Resultat der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft von Privatleuten, sind, degradieren diese Gesellschaft zu einem lachhaften Popanz, der an Fäden zappelt, die jene dann obendrein noch, verblendet wie sie nun einmal ist, als Inkarnation schlechthin der Freiheit versteht. - Wie sagte doch Brecht? Es gibt keine schlimmere Knechtschaft als die, die sich als Freiheit drapiert.



7.

Verborgene Herrschaft mithin, die das Gerede von "Demokratie" schlechterdings hinfällig macht. Und in der Tat: Es ist nicht der dêmos, der "herrscht" (ho dêmos krateî), indem er alle vier Jahre zur Wahl geht, es ist vielmehr so, dass die vom dêmos Gewählten, wer immer das sei, alles daransetzen müssen, dass das bürgerliche Gesellschaftssystem, so wie es ist, friktionslos funktioniert, und das bedeutet mithin, dass sie gezwungen sind, die Prinzipien dieses Systems, dessen Vorgaben, getreulich zu exekutieren - als volonté générale der Bourgeoisie. Und dies aus keinem anderen Grund, als dem, dass, wenn sie dieses oder jenes "Versprechen" (das sie ihrer Wählerschaft gaben, damit sie sie in die Staatsämter wählt) einlösen wollen, vorausgesetzt ist, dass der Produktionsapparat reibungslos schnurrt - dass, anders gesagt, die Profitrate sich im Bereich des Tolerierbaren hält. Denn wenn sie es nicht tut - wenn der Systemmotor stottert -, dann verengt sich der Spielraum für die Akteure des Staates, für die vom dêmos Gewählten, enorm. Und überhaupt: Selbst im Falle einer rein zynischen Haltung, wo es gar nicht mehr darum zu tun ist, eine Klientel zu bedienen (die eine oder die andere Klasse: die Arbeiter, den "Mittelstand" oder die Bauern), d.h. deren partikulare Belange, so führt allein schon das Selbsterhaltungsprinzip - die Entschlossenheit, sich als Hohes Staatspersonal zu behaupten - dieses dazu, im Sinne des bürgerlichen Systems - des Privateigentums - zu agieren. Denn wenn das Produktionssystem kriselt, wenn es zu Turbulenzen kommt, dann ist es mit der Wiederwahl ganz sicher vorbei. - Freilich sind solche Turbulenzen nie zu vermeiden, es zu versuchen jedoch gebietet die Selbsterhaltungstendenz, also der unwiderstehliche Drang, auch die nächste Wahl zu gewinnen.



8.

Gerede von "Demokratie": eine Fassade, hinter der sich gar nichts verbirgt. Und dennoch: Die "Demokratie" ist für alle zu einem Sakralding geworden - für oben und unten, für links und für rechts, für vorne und hinten -, zu einem Fetisch mithin, der von allen verehrt wird, dem alle huldigen müssen und dessen Missachtung den Bannstrahl aller "politisch Korrekten" nach sich zieht, selbst wenn es so sinnentleert ist wie die Alternation von zwei Fraktionen ein und derselben Partei.

Ein Fetisch, vor dem man im Staub liegt, ein "Objekt", das bloßer Ersatz ist, ein grotesker Ersatz, der nie an das Ersetzte herankommt, kurz: ein Surrogat bloß für das, was den Namen der "Freiheit" - Einsicht in die Notwendigkeit - allein verdienen würde: das bewusste und planmäßige Handeln, nicht nur, wie bisher, im Mikrokosmos des Alltags, sondern zugleich auch in der Geschichte, in diesem Makrokosmos, den seines naturhistorischen Charakters zu entkleiden heute, angesichts des Produktivkraftkomplexes, den das Kapitalsystem malgré lui hervorgebracht hat, durchaus im Bereich des Denkbaren liegt.

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2000 Zeichen abwärts

Nachhaltige Abhängigkeit

Es geht nicht darum, von der [Konsum-]Sucht zu therapieren, sondern bei zunehmender Unlust von noch härteren Drogen abhängig zu machen. Rein moralisch gesehen ist eine solche Haltung in einer Welt, in der 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen, eine riesige Schweinerei!

Und doch ist eine gewisse Vorsicht angebracht: Wir sind hier an einem Punkt angelangt, der über indviduelles Versagen hinausgeht, der die gesellschaftlichen Grundlagen an sich berührt. JedeR von uns weiß: Wenn die Leute tatsächlich "postmateriell" würden, die ganze Fülle an Waren nicht kaufen würden, dass dann diese Wirtschaft ins Stocken geraten würde - auf einmal würde es zu Arbeitslosigkeit kommen, zu Krisen usw. Aus dem freiwilligen, vernünftigen Verzicht würde auf einmal der unfreiwillige, die Not!

Wir alle sind dazu verdammt, "belieferungsbedürftige Mängelwesen" zu sein, wie es die deutsche Philosophin Marianne Gronemeyer ausdrückt. Um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können, müssen wir dafür sorgen, dass die Bedürfnisse nie befriedigt sind - wenn das nicht ein Widerspruch ist! Aber es ist die Logik einer Marktgesellschaft, die darauf beruht, dass ich nur gebe, wenn ich was bekomme. Der Alltagsverstand nennt es "Sachzwang". Man könnte es auch im Sinne Hollywoods sagen: Wir leben in der Matrix! Bei Karl Marx heißt dieses Phänomen FETISCHISMUS.

Das alles ist logisches Resultat einer Gesellschaft, in der nicht direkt zur Befriedigung von Bedürfnissen produziert wird, sondern Dinge als "Waren" (als etwas für den Verkauf Bestimmtes) für den Markt produziert werden.

W.S.

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Theologie der Gallerte

Materialien gegen das Irrewerden am Irresein. Zum Fetisch

von Franz Schandl


"Die Theologie ist Gespensterglaube. Die gemeine Theologie hat aber ihre Gespenster in der sinnlichen Imagination, die spekulative Theologie in der unsinnlichen Abstraktion."
(Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums)

"Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch."
(Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I)

"Die Waren werden nicht durch das Geld kommensurabel. Umgekehrt."
(Karl Marx, Das Kapital I)

"Der Fetischcharakter der Ware ist nicht bloß Schleier sondern Imperativ."
(Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel)


Bisher habe ich mich ja erfolgreich davor gedrückt. Nicht weil es mich nicht interessierte, sondern weil es mich zu sehr faszinierte, ich aber davon ausgehe, dass man an diesem Thema nur scheitern kann. Die Rekapitulation der Fetischproblematik kommt meist einer Kapitulation gleich. Der Gegenstand, so er überhaupt einer ist, entzieht sich dem Betrachter wie eine Gallerte. Wenn er hingreifen will, flutscht ihm das Objekt immer wieder durch die Finger. Der verrückten Ökonomie folgt bestenfalls eine entrückte Kritik. Lässt man sich darauf ein, gerät man flugs in die Innereien des Werts. Rein kommt man ja noch, aber wie kommt man wieder raus? Schnell landet man in der Exegese. Leicht verfällt man in einen hermetischen Jargon oder huldigt einer marxistischen Scholastik. Doch wenn die Redaktion der Streifzüge solche Schwerpunkte beschließt, bin ich in der Pflicht und erfülle sie mit Neigung.

Im Fetischismus zeigen sich deutlicher als an anderen Fragen die Grenzen der Erkenntnis und der Kritik. Nicht wenige ziehen daraus den Schluss, dass je dunkler darüber gesprochen wird, desto gehaltvoller die Analysen ausfallen. Unwissen und Ignoranz des Publikums gelten dann als ein Zeichen der eigenen Qualität. Theorie wird dabei zu einer Art Geheimwissenschaft sich selbst auswählender Priester. Viele Beiträge zum Fetischismus lesen sich ja tatsächlich wie verschlüsselte Kassiber. Das Ritual gleicht einem Kontratanz um einen heiligen Gral bürgerlicher Vergesellschaftung. Im Forschungsfeld des Fetischismus tummeln sich nicht wenige esoterische Magier.


Zweierlei Fetischismen

Natürlich ist es nicht einfach, ein Dechiffrierungsprogramm des Werts zu fahren, auf dass es auch alle begreifen, sind sie nur guten Willens. In der frühen Arbeiterbewegung hielt man Marxens Überlegungen für eine Marotte des Alten, mit der sich kein Klassenkampf machen ließe. Immanent gedacht, war das nicht falsch. Nicht wenigen erscheint wohl gleich Eugen von Böhm-Bawerk das Marx'sche Fetischkapitel als reiner "Hokus-Pokus". Auch Hartmut Böhme tut in seinem Wälzer geradewegs so, als hätte Marx den Fetischismus von Ware und Geld selbst erfunden. (Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 320) Böhme etwa meint allen Ernstes, dass Marx in seiner Analyse der Ware behaupte, dass "der Fetischismus den Dingwert pervertiert" (S. 229). Man glaubt es kaum. Da wird aus dem Kritiker des Werts ein Vertreter des richtigen Werts, der gegen dessen Pervertierungen kämpft. Den Begriff "Dingwert" gibt es bei Marx überhaupt nicht. Lediglich ein "Wertding" gibt es. Aber das nur nebenbei. Der Missverständnisse sind viele.

Der Fetischismus hat etwas Langlebiges. Er ist vor Ware und Wert, Geld und Arbeit in die Welt gekommen. So vermittelt er den Eindruck, als habe es ihn schon immer gegeben. Jener ist also zweifellos von größerer ontologischer Härte als die angeführten Formprinzipien. Die relative Ablösung der Menschen aus den reinen Zwängen der ersten Natur korrespondierte mit der Entfaltung fetischistischer Vorstellungen und Praxen. Das Begeistigen der Welt und die Begeisterung für den Fetischismus dürften miteinander entstanden sein. Dabei handelt es sich um eine Überhöhung des Beschränkten durch diverse Absolutierungen. Religionen etwa waren wohl ursprünglich Systematisierungen originärer Fetischpraxen. Nun wurden sie kanonisiert und galten - zumindest in den monotheistischen Varianten - als nicht mehr hintergehbar.

Fetischismus verdeutlicht Begeisterung im wahrsten Sinne des Wortes. Doch es ist keine schlichte Begeisterung, sondern eine immens aufgeladene, eine, die sich nicht bloß fixiert, sondern auch fixiert bleibt. Und eine, die die Projektion stets als ihre Umkehrung wahrnimmt: Nicht ich entzünde das Objekt, das Objekt entzündet mich.

Den Gebrauchswertfetischismen liegt allen eine Art Anbetung zugrunde. Fixierung und Hingabe werden aktiv gestaltet oder zumindest still zelebriert. Es ist eine außergewöhnliche Betätigung in einer außergewöhnlichen Sphäre. Wenn der Fetisch als Fetisch signifikant ist, sich dieser Bezeichnung also nicht wie der Warenfetisch und seine Kumpane erfolgreich entziehen kann, dann ist Auslieferung letztlich auch eine benennbare, verfügbare, regulierbare. Dieser Gebrauchswertfetischismus der Dinge, Symbole, Rituale, Götter ist anderer Natur als jener, der direkt an den Metamorphosen der Verwertung hängt. Die Auslieferung ist dort noch relativ, nicht absolut wie bei Ware und Geld. Gebrauchswertfetischisten würde auch nie einfallen, etwas zu fetischisieren, was sie nicht kennen, das ist außerhalb ihrer Welt. Der Tauschwertfetischist zögert da keine Sekunde, nicht weil er so schnell ist, sondern weil seine Reflexe darauf eingestellt sind.

Fetischismen, die auf dem Wert resp. Tauschwert beruhen, bedürfen keines Objekts im eigentlichen Sinne. Sie sind auf etwas fixiert, ohne sich fixieren zu müssen. Die Fixierung wird hier rein synthetisch durch die Handlungen vollzogen (Arbeit, Kauf, Vertrag etc.). Das Heilige hat sich nicht verflüchtigt, weil es sich völlig im Weltlichen aufgelöst hat. In den Metamorphosen des Kapitals ist die Transzendenz nichts Äußeres (z.B. ein Gott), sondern liegt in der Immanenz der Geschäfte und Praxen selbst. Dieser Fetisch erscheint überhaupt nicht oktroyiert, er kommt nicht hinzu, er ist schon da. Er verfügt über keine eigene Sphäre, denn er sitzt in allen gesellschaftlichen Bereichen und Sektoren. Dass wir nicht tauschen und handeln, nicht einkaufen und verkaufen, nicht Geld verdienen und ausgeben, nicht arbeiten und arbeiten lassen, kein Parlament wählen, keine Rechtsverträge abschließen, keine Staaten oder Nationen bilden, das alles scheint völlig abwegig zu sein. Man ist Fetischist, auch wenn man gegen das Geld oder gegen den Tausch ist. Da herrscht eine Begierde, die jeder zu haben hat.

Tauschwertfetischisten unterläuft die Fetischisierung, während Gebrauchswertfetischisten offen darauf setzen. Sie handeln beide, aber dem jeweiligen Handeln liegen unterschiedliche Bezüge zugrunde. Der Warenfetisch und sein ganzer Kosmos entfalteter Formen (Wert, Geld, Kapital, Zins, Recht, Staat, Nation) ist ein Fetischismus sui generis. Ja es stellt sich sogar die Frage, ob die Verwendung des gleichen Terminus nicht eher in die Irre führt, als etwas schlüssig zu klären. So vereinigt der Überbegriff in sich doch mehr, als möglicherweise eine seriöse Kategorie aushält. Die Vermengung völlig unterschiedlicher Fetischbildung bringt einiges durcheinander, man lese bloß Hartmut Böhme. Auch eine feinere Differenzierung von Fetisch, Fetischisierung und Fetischismus, wie sie in unserem Essay manchmal anklingt, wäre wohl erforderlich.


Synthese und Reflex

Der Gebrauchswert ist das existenzielle Ergebnis konkreter Arbeit. Der Wert hingegen ist die essenzielle Darstellung abstrakter Arbeit. Der Tauschwert ist die Form des Werts auf der Zirkulationsebene, wie dieser sich am Markt realisiert. Abstrakte Arbeit ist nicht Wert, sie schafft Wert. Wert ist Resultat lebendiger Arbeit als toter (= vergegenständlichter) im Produkt. Wert steckt im Produkt, weil abstrakte Arbeit im Produktionsprozess hineingesteckt wurde. Wert ist das Phantom abstrakter Arbeit, sie ist drinnen und auch nicht. Sie ist da, selbst wenn sie schon fort(gegangen) ist. Der Wert ist die Hinterlassenschaft abstrakter Arbeit, die sich nun am Markt realisieren muss, um als solche nicht nur gültig zu sein, sondern ebenso gültig gewesen zu sein.

Zweifellos gibt es ganz unterschiedliche Ebenen, wenn wir von den Ausformungen des Fetischismus sprechen. Der Waren- und Geldfetisch unterscheidet sich eben von den anderen, weil er seinen Trägern weitgehend unbewusst bleibt. Sie wenden ihn entschieden an, aber sie begreifen nicht, was sie dabei tun. Die Leute sollen wissen, wie es geht, alles andere braucht sie nicht zu interessieren. Betriebsanleitungen sind zu studieren. Das reicht. Wir vollziehen blind, erfüllen unsere Pflicht und fühlen uns dabei sogar mündig. Das, was wir unablässig tun, ist das, wovon wir am wenigsten verstehen, und das, obwohl wir alles kapiert haben. Aufmerksamkeit kapriziert sich auf die einzunehmende Funktion, wir sind nicht reflektiert, sondern reflexiv.

Beim Waren- und beim Geldfetisch wissen die Fetischdiener gar nicht mehr, dass sie Diener sind. Geld und Ware halten sie für schlichte Lebensmittel. Nur Übertreibungen erscheinen ihnen als fetischistisch. An den Formgesetzen des Tauschens und Arbeitens, des Kaufens und Verkaufens, da hegen sie keinen Zweifel, selbst wenn sie kein Bekenntnis ablegen. Das muss auch nicht unbedingt sein. Unterwerfung ist jenseits ihrer Wahrnehmung. Gerade das zeichnet den Fetischcharakter der Ware aus, macht ihn zu einem einzigartigen Phänomen. Mit dem Warenfetischismus ist somit nicht der Konsum- oder der Markenfetischismus gemeint - das sind lediglich okkulte Gebrauchswertfetischismen -, sondern die jeder Ware innewohnende Verkehrung, die Verzauberung abstraktifizierter Arbeitsquanta zu gesellschaftlichen Dingen, Wertdingen.

In diesem Beitrag ist jedenfalls nur von den Fetischen die Rede, die von der Wertvergesellschaftung konstituiert sind (Ware, Tausch, Geld, Kapital, Arbeit, Staat, Recht, Politik, Nation), also vom bürgerlichen Universum im engeren Sinne. Nicht ist die Rede von den Alltagsfetischismen, die allesamt auf Gebrauchswerte bezogen sind. Der Wert wiederum herrscht nicht bloß in der Ökonomie, er sitzt in allen Sphären, im Alltag, in der Politik, in der Ideologie. Er ist nichts Äußeres, sondern innerer Modus bürgerlichen Daseins. Im Waren-, Geld- und Kapitalfetisch betritt der Fetisch ein neues Terrain oder besser umgekehrt das neue Terrain verleibt sich den alten Fetischismus ein und transformiert ihn in seinem Sinne. Erstmals bezieht er sich auf keinen wie immer gearteten Gebrauchswert. Nicht ein konkreter Gegenstand, ein bestimmtes Symbol oder eine göttliche Imagination ist sein Ziel, sondern er konzentriert sich auf die realabstraktive Form, die Wertform.

"In diesem Fetischismus einer Vergesellschaftung der toten Dinge statt der lebendigen Menschen selbst, der das Wesen des 'automatischen Subjekts' ausmacht, stellt sich ein Verhältnis von Form und substantiellem Inhalt her, das sowohl real als auch phantasmagorisch ist. Die konkrete menschliche Tätigkeit in der Umformung der Naturstoffe bleibt ungesellschaftlich und partikular ('betriebswirtschaftlich'), obwohl sie von vornherein nicht autark, sondern auf einen Zusammenhang allseitiger und wechselseitiger Abhängigkeit ausgerichtet ist. Die erst sekundäre Vergesellschaftung über den Markt macht zweierlei notwendig: Erstens wird die produktive Tätigkeit jeder konkreten Bestimmung entkleidet, also abstraktifiziert zur puren 'Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn' (Marx) und erst dadurch zur abstrakten 'Arbeit', um die qualitativ verschiedenen Tätigkeiten und Güter im Äquivalententausch kommensurabel zu machen; zweitens erscheint diese abstraktifizierte Verausgabung von menschlich-gesellschaftlicher Energie (in der durch den jeweiligen Produktivitätsstandard gültigen Quantifizierung) nunmehr, obwohl sie als realer Prozess bereits vergangen ist, als gesellschaftliche Eigenschaft und Substanz der Produkte - die wiederum durch die ausgesonderte 'allgemeine Ware' des Geldes ihren Ausdruck in der Form des Geldpreises erhält." (Robert Kurz, Marx 2000, Der Stellenwert einer totgesagten Theorie für das 21. Jahrhundert, Weg und Ziel, 2/1999, S. 12)

Wir produzieren also Waren, d.h. für den Kauf bestimmte Produkte. Wir denken diese Waren nicht als gesonderte Form, ja wir denken gar nicht, wir handeln schlicht mit ihnen und durch sie. Wir verstehen nicht, was wir da tun, aber wir verstehen jede Menge, wie wir das anzustellen haben. Die Ware ist jedoch nur möglich als zerstörtes Gut, indem Nutzung bloß durch den Tausch ermöglicht oder verunmöglicht wird. Der Gebrauchswert ist in der Ware dem Wert untergeordnet.

Die Ware ist nicht real, weil Waren einfach reale Gegenstände sind (die sie als Gebrauchswerte auch durchaus sein können), die Waren sind real durch ihre stete Setzung als wertförmig vergleichbare Gallerten der Produktion in der Zirkulation. Da sich die Ware im Tausch realisiert, muss sie real sein, da sie sich - so der fetischisierte Glaube - ansonsten nicht realisieren könnte. Lebensmittel werden als Waren halluziniert, weil sie Wert besitzen. In dieser irren Welt funktioniert das Modell, weil alle in ihm verkehren und es betätigend bestätigen. Es regiert wahrlich ein tautologisches Realszenario.

Man mag das mit Alfred Sohn-Rethel Realabstraktion nennen. Es handelt sich dabei um eine Abstraktion, die sich aus der Handlung ergibt. Sie ist nicht Denken, sondern dem Denken vorausgesetzt. Es wird also synthetisch abstrahiert, nicht analytisch. Die Abstraktion entspricht der gängigen Alltagspraxis, nicht irgendeinem spezifischen Gedanken oder gar einer elaborierten Theorie. Diese Synthese tritt als Reflex auf, nicht als Reflexion. Und dieser meint, er sei Instinkt und Natur. Ohne Frage. Die Ausprägung eines Geschäftssinns erscheint nicht nur als Notwendigkeit des Kapitals, sondern als eine sinnliche Gewissheit der Welt.


Fetisch als "Instinkt"

"Der 'Warenfetisch' ist vielmehr 'dechiffrierbar' auf einer 'menschlichen Basis': nämlich als Einheit von besonderem und allgemeinem Gebrauchswert, besonderem und allgemeinem Produkt, besonderer und allgemeiner Arbeit - somit von Individuellem und Überindividuellem, Sinnlichem und Übersinnlichen." (Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik, Freiburg im Breisgau 1997, S. 325, vgl. MEW 13, S. 33f.) Alle Gebrauchswerte haben gemeinsam, als Werte resp. Tauschwerte ausgedrückt zu werden. Das ist ihr vom Fetisch vorbestimmtes Schicksal, das sie zu erfüllen haben oder an dem sie scheitern werden.

Wenn Gebrauchswert auch Tauschwert sein soll, heißt das, jener genügt sich nicht mehr selbst, ist sich nicht mehr selbst gleich, sondern (auch) etwas anderes als er selbst. Der Gebrauchswert steht dann nicht für sich, sondern als Tauschwert für andere Gebrauchswerte. In der Ware wird dies Wirklichkeit. Und nur in der Ware. Diese Täuschung ist konstitutiv für die Ware, Grundlage des Tauschs: Das eine ist ebenso das andere, weil das eine im anderen ausgedrückt werden kann, ja muss. Der Gegenstand ist somit nicht mit sich selbst identisch, sondern auch mit allen anderen identisch, die den gleichen Kriterien folgen. Alles wird tauschbar.

"Bei der Verkehrung, die bereits die einzelne Ware auszeichnet, wird das Konkrete zum bloßen Träger des Abstrakten", schreibt Anselm Jappe (Die Abenteuer der Ware, Münster 2005, S. 33). "Für Marx ist der Fetischismus nicht nur eine verkehrte Darstellung der Wirklichkeit, sondern auch eine Verkehrung der Wirklichkeit selbst." (Ebenda, S. 30) "Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge." (MEW 23, S. 86) Es ist die dingliche Form der Ware, die die gesellschaftlichen Prozesse verbirgt.

"Die Wertform des Arbeitsprodukts und die Wertbeziehungen, die im Austausch (Kauf und Verkauf) der Arbeitsprodukte als Ware hervortreten und bei entwickelter Warenproduktion auch schon über ihre Herstellung oder Nichtherstellung entscheiden, drücken keine Eigenschaften oder Beziehungen von Dingen, sondern, unter dinglicher Hülle versteckt, gesellschaftliche Beziehungen der bei ihrer Produktion in bestimmter Weise zusammenwirkenden Menschen aus." (Karl Korsch, Karl Marx [1938], Reinbek bei Hamburg 1981, S. 224) Das Mysterium liegt wohl darin, dass aus lebendiger Arbeit tote geworden ist, dass man den Gegenständen nicht Arbeit und Arbeitskraft ansieht, sondern nur noch das fertige Produkt eines Dinges bestaunt. "Der Produktionsprozess erlischt in der Ware. Dass in ihrer Herstellung Arbeitskraft verausgabt worden ist, erscheint jetzt als dingliche Eigenschaft der Ware, dass sie Wert besitzt." (MEW 24, S. 385)

"Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe." (MEW 23, S. 88) Sie tun etwas, wovon sie nichts wissen, mit einer Selbstverständlichkeit der Alleskönner. Sie ignorieren den Vorgang, weil sie ganz auf das Resultat fixiert sind. Wenn die Warenbesitzer handeln, wissen sie zwar nicht, was sie tun, aber sie wissen, was sie zu tun haben. Sie erledigen ihren Fetischdienst. Der Wert der Dinge scheint ihnen als Eigenschaft der Dinge vorgegeben, aber eben nicht als Folge abstrakter Arbeit, die in alle Waren eingegangen ist und in ihnen steckt. Der synthetische Vollzug des Fetischdiensts erscheint instinktartig, er ist für sie naturgegeben. Es ist eine Fetischisierung, von der sie gemeinhin nicht einmal ahnen, dass sie eine sein könnte.

"Sie [die Produzenten] sind in Verhältnisse gesetzt, die ihren mind bestimmen, ohne dass sie es zu wissen brauchen. Jeder kann Geld brauchen, ohne zu wissen, was Geld ist. Die ökonomischen Kategorien spiegeln sich im Bewusstsein sehr verkehrt ab." (MEW 26.3, S. 163) Jeder weiß, was Geld ist, und doch versteht es keiner. Das macht freilich nichts, solange es irgendwie funktioniert. Der Wert ist nicht verständlich, aber alle verstehen ihn zu betätigen; der Wert ist auch nicht wirklich, aber alle verstehen ihn realitätstüchtig zu verwenden. Die Mystifikationen werden ganz reell. Es gibt sie, weil wir uns danach richten. "Dass ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis sich als ein außer den Individuen vorhandener Gegenstand und die bestimmten Beziehungen, die sie im Produktionsprozess ihres gesellschaftlichen Lebens eingehen, sich als spezifische Eigenschaften eines Dings darstellen, diese Verkehrung und nicht eingebildete, sondern prosaisch reelle Mystifikation charakterisiert alle gesellschaftlichen Formen der Tauschwert setzenden Arbeit. Im Geld erscheint sie nur frappanter als in der Ware." (MEW 13, S. 34f.) Es ist daher auch so, dass "das Geld nicht Produkt der Reflexion oder der Verabredung ist, sondern instinktartig im Austauschprozess gebildet wird" (MEW 13, S. 35). Dieser "Wareninstinkt" versteht sich als Natur der Menschen. Das Ontische kann nur ontologisch gedacht werden.

Karl Marx' Resümee: "Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion. Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher sofort, sobald wir zu andren Produktionsformen flüchten." (MEW 23, S. 90)


Realillusion und Labyrinth

"Der Fetisch ist eine Realillusion", schreibt John Holloway. "Die Überwindung der Fetischisierung bedeutet, die Trennung von Tun und Getanem aufzuheben." (Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002, S. 90) "Fetischismus ist ein Prozess der Fetischisierung", sagt er (S. 108), der Fetisch muss aktiv hergestellt werden, damit er als stets vorhanden und sich allmächtig erweist.

Die Macht, der wir ausgeliefert sind, ist eine, die wir selbst erzeugen. Der Fetisch ist keine objektive Kraft, sondern eine verobjektivierte Aufladung, die aber als objektive Kraft wirkt. Seine Potenz ist ausschließlich eine von sich ausliefernden Subjekten, die diese Unterwerfung im Schlaf beherrschen. Wir können nicht anders, weil wir permanent so handeln, als ob wir nicht anders könnten. Und für diese Welt stimmt das auch. Solange wir an sie glauben oder besser uns an ihren Modus halten, bewegen wir uns richtig im Falschen und füttern mit all unseren Handlungen die tautologische Wertverwertung. Der objektivierte Zwang ist nichts ohne die Arbeit der Subjekte für ihn. Sie ist die Alltagserfahrung, die sich wiederum betätigend bestätigt. Wir leben nicht unser Leben, sondern wir sind das Personal einer Matrix. Unsere tägliche Anästhesie gib uns heute.

Natürlich stellt sich der Fetischismus nicht durch den Fetisch her, sondern durch die Fetischisierung. Indes, Fetischisierung ist keine Aktion, die wir einfach tun oder lassen könnten, ja sie ist nicht einmal eine Aktivität, sondern Reaktivität eines absurden Daseins. So erscheint sie als eine unmittelbare und stets notwendige Reproduktion des Lebens und nicht als dessen Usurpation. Wie sollen nun aber die Leute mit etwas aufhören, von dem sie gar nicht wissen, dass sie es tun? Sich Aktivitäten abzugewöhnen ist zweifellos leichter als Reflexen nicht mehr zu entsprechen. - Hm. Man spürt es direkt, bei jeder Formulierung und bei jeder Korrektur, der Autor ist vorerst im Labyrinth gelandet.


Schein als Meditation

Machen wir eine Pause und betrachten wir einen Geldschein. Welche Kraft hat er? Nun, er hat die Energie, die wir ihm verleihen. Die Kraft zu kaufen, sprechen wir ihm zu und als Verkäufer und Käufer halten wir uns daran, akzeptieren diese Potenz als seine. Wir wissen, was wir gar nicht zu denken brauchen. Unsere Zueignungen sind Folge und Resultat des Fetischs, den wir uns angeeignet haben. Ohne ihn geht nichts. Unsere Kraft ist unsere Kaufkraft, unser Vermögen unser Geldvermögen. So leben wir und so erleben wir uns.

Der Geldschein vor uns ist eben kein Fetzen Papier, auch wenn er nichts anderes ist. Er ist das zentrale Mittel, das Medium unseres Daseins. Er erst macht möglich, was wir auch so bewerkstelligen könnten, aber ohne Dienst am Fetisch uns nicht zugestehen dürfen, da es weder obligat noch zulässig ist, ohne seinen Beistand über unsere Leistungen und Produkte frei zu verfügen.

Derweil, der Fetisch ist, was die Produktion betrifft, nicht nötig - er ist kein Rohstoff, kein Werkzeug, keine Tätigkeit, keine Fertigkeit; er ist auch nicht nötig zur Distribution - er ist kein Lastkraftwagen, keine Lagerhalle, keine Logistik; er ist auch nicht nötig zur Konsumtion - er ist keine Speise, kein Getränk, kein Gusto, kein Genießen, keine Geselligkeit. - Wozu also?

Trotzdem beherrscht dieses Nichts alles. Trotzdem sitzt dieses Nichts tief in uns, ist nicht aufgesetzt, sondern unablösbar, eingebettet, verhaftet allen Erlebnissen wie Ergebnissen. Der Fetisch ist nichts, aber er kann alles: Er baut Gebäude und Straßen, erntet Felder und Gärten, transportiert Kühlschränke und Waschmaschinen, montiert Heizungen und WC-Anlagen, pflegt Alte und versorgt Kinder. Ohne Fetisch ginge das doch alles nicht! - Oder?

Täglich beweist er uns, was er alles kann und dass wir ohne ihn nichts können. Vor solcher Macht muss man sich verneigen. Tief bückt man sich und erweist ihm die Ehre, indem man fast alles über ihn und nicht ohne ihn erledigt. - Warum?


Indirekte Vergesellschaftung

Fetischismus meint nicht: Wie dienen und bedienen wir einander und damit auch uns selbst?, sondern Wie dienen und bedienen wir ein Drittes?. Erst darüber kann das, was wir voneinander brauchen, was wir herstellen und leisten, überhaupt vermittelt werden. Fetischdienst bedeutet, dass alle Wege über diesen Götzen zu führen haben. Wir beziehen uns nicht auf uns, sondern wir beziehen uns auf uns via!

Was wir für die anderen haben oder von ihnen wollen, das geben und nehmen wir nicht unmittelbar, nein, wir überlassen es zwischenförmlich einer äußeren Instanz (die doch das innerste Wesen unserer Charaktermaske ist), damit es dort beurteilt und genehmigt, vor allem aber der Wert realisiert wird. Erst anschließend darf es zum Empfänger, der den Tauschwert in Form des Geldes in der Höhe des Preises zu entrichten hat. Dieses Dritte, das uns innere Äußere ist die Form der gesellschaftlichen Kommunikation selbst. Wir denken und fühlen in ihr. Käufer und Verkäufer wissen nicht, dass sie sich auf Ware und Geld kaprizieren, auch wenn sie das stündlich tun. Es ist ihnen ganz so, als atmeten sie Luft oder als tränken sie Wasser.

Da wir alle dem Fetisch huldigen, sind wir uns alle gleichgültig. Sämtliche Besonderheiten und Bedürfnisse sind lächerlich gegen die Kaufkraft genannte Energie des Werts. Wir verkaufen dem das Produkt und die Leistung, der sie zahlen kann. Das ist unser Kriterium. Es ist ganz unabhängig von Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten. Davon wollen die Leute vielleicht als Menschen wissen, als Warenbesitzer ist ihnen das völlig egal. Das haben sie zu ignorieren. Das geht sie als Warenhüter nichts an. Dass darin die eigentliche Verrücktheit liegt, das kann den bürgerlichen Subjekten keine Sekunde kommen. Wie denn auch, ist ihre Konstitution doch auf der Grundlage von Wert und Tausch zustande gekommen.

Wer einem Hungernden Brot nur gegen Geld gibt, ist doch kein Irrer, oder? Wer Korn und Butter, Obst und Fleisch in den Müll kippt, ist doch kein Irrer, sondern kalkuliert bloß die Preise, die sonst in den Keller fahren würden. Und so weiter, und so fort. Derweil ist es doch vielmehr irre, Menschen verhungern zu lassen und Lebensmittel absichtlich zu vernichten. Und ist es nicht ebenfalls verrückt, Verträge abschließen zu müssen, um überhaupt Sicherheiten zu erlangen? Was hindert uns daran, sich einfach ohne Vertrag zu vertragen? Blöde Fragen sind das, wo doch klar ist, dass ohne die Fetischisierung des Vertragens durch einen Vertrag wir uns nie und nimmer vertragen würden.

Nicht Menschen erkennen sich an, sondern Geld- und Warensubjekte nehmen sich wahr. Die Ideologie sagt uns stets, dass wir, die selbstbestimmten Verfüger, über das Verfügte verfügen, nicht dass die Verfügung über das Verfügte die Verfüger bestimmt, das muss erst Ideologiekritik leisten. Das bürgerliche Subjekt trägt vor sich her das Postulat des freien Willens, es hält sich tatsächlich für ein selbstbestimmtes Individuum, wo es doch gerade dieses nicht ist. Das ist einer der Grundirrtümer von Demokratie und Kapitalismus.

Fetischismus bedeutet, dass Menschen sich nicht selbst akzeptieren, sondern dinglicher oder symbolischer Konstrukte bedürfen, um miteinander und auch zu sich selbst in Beziehung treten zu können. Ihre Anerkennung erfolgt nicht direkt, von Du zu Du, sondern durch die von jenen objektiv oktroyierten wie subjektiv realisierten Formen. Menschen schätzen nicht Menschen, sondern Verkäufer und Käufer schätzen Werte oder profaner: Kosten. Im bürgerlichen Geschäft haben jene als Charaktermasken des Kapitals aufzutreten und entsprechend zu handeln. Der Fetisch muss bedient werden. Und fetischistisch ist alles, was sich auf die Waren- und Geldform bezieht. Wir denken den Wert nicht mit, wir denken im Wert.


Projektion und Umkehrung

Wir haben es zu wissen: Gott ist keine Spekulation, sondern gegeben, die Ware ist kein besonderes Gut, sondern von ewiger Gültigkeit, dass sie mit Wert ausgestattet ist, ist eine natürliche Eigenschaft. Geld entspringt demnach aus den Dingen selbst, nicht aus den Produktions- und Zirkulationsverhältnissen, unter denen Waren und Dienstleistungen hergestellt und angeboten werden.

Die Projektion alleine jedoch macht noch keinen Fetischismus. Fetischistisch wird die Projektion erst, wenn diese nicht als solche, sondern umgekehrt das Projektierte als Projektor wahrgenommen wird, wenn sich also die Projektion an das und im Resultat verliert und es nunmehr so scheint, als sei dieses der Ausgangspunkt. Der Fetischismus ist eine Fiktion, in der sich die Fiktionalisierung umkehrt: Nicht wir erschaffen sie am Objekt, sondern das Objekt erzeugt sie an uns. Wir korrumpieren uns selbst, indem wir die Magie nicht als unsere Kraft, sondern als eine äußere Instanz setzen, freilich als eine geschmeidige und schlüssige Größe, deren Attraktion wir uns einfach nicht entziehen können. Aktiv und Passiv geraten nicht nur durcheinander, sie sind nicht mehr richtig ausnehmbar. Auch dahingehend macht die Rede vom "automatischen Subjekt" (Marx) durchaus Sinn. Entsprungen unserer Phantasie, scheint der Fetischismus geradewegs umgekehrt in diese gesprungen zu sein. Wir können uns nicht vorstellen, dass wir uns das vorstellen. Aber ebenso: Wir können uns nicht vorstellen, dass wir uns das nicht vorstellen.

Was haben Waren gemeinsam? Doch nicht, dass sie Dinge sind, ja nicht einmal Gebrauchsgegenstände, sondern dass sich in ihnen menschliche Arbeit kristallisiert. Abstrakte Arbeit ist es, die sie alle auszeichnet und vergleichbar macht. In den Waren werden letztlich menschliche Verhältnisse gleichgesetzt, nicht dingliche Eigenschaften. Die Ware ist kein krudes Ding, keine profane Sache, die Ware ist ein gesellschaftliches Verhältnis, dem keins auskommen kann. Jedes bewegt sich als solches in ihr. Wir schaffen und realisieren Wert, somit Ware. Fast alle Begehrlichkeiten kleiden sich in ihrer Form oder werden zumindest in irgendeiner Weise von ihr berührt. Wir denken in dieser Form. Wir sind diese Form.

Was falsch ist, ist auch richtig: Nicht wir beherrschen Fetische, nein, die Fetische beherrschen uns. Wir liefern uns ihnen nicht bewusst aus, aber wir sind ausgeliefert. Und in dem von uns besprochenen Fall, ohne es zu wissen, ja ohne es zu ahnen. Obzwar der Fetischist den Fetisch kreiert, betätigt er sich in diesem Prozess nur als dessen Kreatur. Er verwirklicht alles, aber nimmt nichts wahr, er ist Meister einer Technik, von dessen Programm er keine Vorstellung hat, dessen Register er aber als Praktiker und Experte zu bedienen versteht.

Die Dinge haben nichts, was wir ihnen nicht geben. Wir sind es, die mit unseren Projektionen die Gegenstände erschüttern, doch im Fetischismus erscheint es so, als erschütterten die Dinge uns. Der Waren- und Geldfetischismus ist eine projektive Leistung, die aber dem Projektor, soweit überhaupt, als konstitutive Leistung des Objekts erscheint. Im Fetischismus werden Absender und Adressat permanent vertauscht. Wäre das nicht der Fall, würde sich das Problem gar nicht als elementares stellen, sondern lediglich eine Debatte über Suggestionskräfte und ihre Potenzen, ihre Schwierigkeiten und Grenzen auslösen. Keine Spur davon.


Verzauberung als Säkularisierung

Das Abgefeimte des Kapitalfetischs ist nun dessen verwegene Unterstellung, dass in ihm und durch ihn und mit ihm die Vernunft in die Welt gekommen sei. So prahlt die bürgerliche Welt mit einem Vorurteil, das fast alle glauben: Rational, das sind wir, irrational, das sind die anderen. Selbst wenn Letzteres in vielen Fällen (historisch wie aktuell) stimmt, heißt das noch lange nicht, dass die Selbsteinschätzung nicht ebenso irr ist, ja in ihrer Wirkmächtigkeit sogar noch irrer als alles andere. Der moderne Rationalismus ist selbst als eine Variante des Irrationalismus zu entziffern, nicht als der Schritt aus diesem heraus, wie alle Apologeten der Aufklärung dies verheißen. Womit nicht gesagt werden soll, dass der richtige Rationalismus erst anstünde. Das Ziel ist, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, nicht, eine Welt auf Ratio und Rationen aufzubauen.

Dass gerade die kapitalistische Rationalität das dichteste Netzwerk der Verzauberung sein soll, das darf nicht sein. Wir leben doch nicht im Mittelalter, wo alle an den vorgegebenen Gott glauben und seinen irdischen Handlanger gehorchen mussten. Und doch, wir leben in diesem. Die Profanisierung Gottes in der praktischen Vernunft des Werts ist dessen Fortsetzung, nicht dessen Überwindung. Keine These ist wohl so falsch wie die Max Weber'sche von der "Entzauberung der Welt". Der Zauber wurde bloß transformiert, aber dieser Zauber ist mächtiger als alle seine Vorgänger.

Die These der Säkularisierung ist eine zentrale Schutzbehauptung der Modernisierung und ihrer Bataillone (Aufklärung, Arbeiterbewegung, Liberalismus, Demokratie, Rechtsstaat, Zivilgesellschaft etc.). Sie legt falsche Fährten, um die Spuren zu verwischen. Der Wert braucht kein gesondertes Jenseits mehr, weil das Jenseits längst im Diesseits angekommen ist und hier als Selbstverständlichkeit und nicht als Besonderheit gilt. Das unterscheidet diesen Fetischismus auch von seinen Vorgängerinnen, den Religionen.

Dem Bürgerlichen ist nichts mehr unheilig, weil ihm alles heilig geworden ist. Alles muss den Segen des Geldes haben, was meint, an ihm definiert und differenziert werden. Der auf dem Wert aufbauende Fetischismus verfügt über keine religiöse oder räumliche, zeitliche oder sexuelle oder irgendeine andere Sonderzone. So betrachtet erweist sich die Säkularisierung der Welt als ihr schieres Gegenteil. Papst und Kaiser sind im Bürger eins geworden. Nicht einmal Glaubensfanatiker verbringen so viel Lebenszeit beim Fetischdienst wie die bürgerlichen Subjekte an ihren vom Wert geprägten Geschäften und Erledigungen. Galt es früher den Fetischen zu opfern, so ist nun das ganze Leben dem Fetisch geopfert. Der Großteil unserer Existenz besteht darin, Dienst an Ware und Geld zu versehen.

Nichts ist so diesseits wie dieser jenseitige Fetisch und nichts ist so jenseits wie dieser diesseitige Fetisch. Das Jenseits wurde im Diesseits aufgehoben, so dass sie beide gar nicht mehr als gesonderte Erscheinungen wahrgenommen werden können. Und die, die sich ernsthaft dazu äußeren, wirken oftmals als Sonderlinge. Gemeinhin gilt: Leute die über das Irre irre reden, können nur irre sein. Indes umgekehrt: Leute, die über das Irre nicht irre reden, können nur Irre sein.


Entzauberter Zauber

Es läuft ja immer wieder auf die gleiche Konsequenz raus: Der Warenfetisch und sein Universum vulgo Kapitalismus ist zu entsorgen. Was mit den diversen Fetischen des Alltags geschieht, ist eine Frage konkreter Sichtung und selbstbestimmter Hantierung. Das Spiel könnte demnach der vom Fetischismus befreite Fetisch sein. Die Fetischisierung würde somit lediglich als Varianz des Lebens fungieren, nicht aber als Verstetigung einer Form. Im Prinzip geht es um eine entschiedene Zurichtung der Fetische für individuelle Zwecke. Aber auch jene sind umgehbar und hintergehbar zu machen, die Subordination hat sich zu kehren, die Abhängigkeit ist zu lösen. Die Dinge haben für uns da zu sein, nicht wir für die Dinge. Es darf ja nicht davon ausgegangen werden, dass die Gebrauchswerte im Gegensatz zum Wert tüchtige Gesellen seien. Es gilt sie sehr genau zu inspizieren. Selbstverständlich werden nie alle Pathologien auszuscheiden sein.

Das Problem ist nicht, dass wir magische Bezüge zu Sachen und Personen, zu Verhältnissen oder Eigenschaften entwickeln, das Problem ist, dass diese Beziehungen über uns verfügen und wir ihnen unterworfen sind, ohne dass wir es merken. Wir sind sowohl befangen als auch gefangen. "So leben die Agenten der kapitalistischen Produktion in einer verzauberten Welt, und ihre eignen Beziehungen erscheinen ihnen als Eigenschaften der Dinge, der stofflichen Elemente der Produktion." (MEW 26.3, S. 503)

Der Fetischismus hat wenig mit sinnlicher Fülle des Lebens zu schaffen, aber er schafft doch eine Form von Kompensation. Das trifft auf alle Fetischismen zu. Sie vermitteln das kleine Glück im großen Unglück, sie sind die beschränkten Gärten der Lust und in vieler Hinsicht notwendig. Sie den Menschen zu vermiesen oder gar wegzunehmen macht diese nicht glücklicher. Geld zu haben macht zwar auch nicht glücklich, aber in einer Gesellschaft, in der eins Geld haben muss, macht Geld zu haben glücklicher, als kein Geld zu haben. Auch Recht zu haben macht glücklicher, als kein Recht zu haben, und Staatsknete zu erhalten macht glücklicher, als keine zu bekommen. Und bei einem Geschäft abzucashen macht glücklicher, als seine Arbeitskraft nicht verkaufen zu können. Und so weiter, und so fort.

Der glücklicheren Unglücke sind gar viele. "Kein Glück ohne Fetischismus", hält Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia fest. (GS 4, S. 137) Wie unglücklich muss eine Gesellschaft jedoch sein, für die diese Aussage weitgehend stimmt. Ohne jene Kompensation könnten wir freilich diese Welt nicht ertragen, aber dass wir sie vielleicht gerade deswegen aushalten, hat schon was von einer planetarischen Tragikomödie.

"Die Seligkeit von Betrachtung besteht im entzauberten Zauber. Was aufleuchtet, ist die Versöhnung des Mythos", schreibt Adorno (GS 4, S. 256). Der Zauber soll nicht verschwinden, sondern in unseren Händen zu liegen kommen. Zauber müsste in der bezaubernden Welt als Zauber gelten und seinen Platz haben. Wir sind die Zauberer!

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2000 Zeichen abwärts

Erkenntnisleitende Logik

von Walther Schütz

­... Eine Logik, die von der Notwendigkeit des Bestehenden ausgeht, die Kategorien, auf denen es aufbaut, nicht hinterfragt. Man müsste ergänzen: Nicht einmal hinterfragen kann. Es ist die Logik der Aufklärung, die immer vom Einzelnen, vom Individuum ausgeht. Die Gesellschaft kommt höchstens als Summe der Individuen, nicht aber als eigene Qualität vor. (So, als ob man ein Auto aus seinen einzelnen Schrauben, Trägern etc. erklären könnte und nicht aus deren Zusammenwirken, die damit eine eigene Qualität entwickeln). Dass etwa "Arbeit", Staat, Entwicklung ... gesellschaftliche Kategorien sein könnten, die aus der (kapitalistischen) Form des Zusammenwirkens der Menschen entstehen, kommt gar nicht ins Blickfeld. Was bleibt ist die Anpassung, das vernünftige Sich-Einfügen in die Verhältnisse. Das ist die Freiheit des Hegel, das ist die Aufklärung. Sie überwindet zwar die alten Götter, aber nur, um an ihre Stelle notwendigerweise neue Fetische zu setzen. Und wenn die Fetische diktieren, dass man leiden muss, auch wenn noch so viel Potenzial für Wohlstand vorhanden ist, dann gilt es eben zu leiden. Dann muss man sich z.B. zu Tode konkurrenzieren, dann muss man arbeiten...

Wenn gefragt wird, ob die Ökonom/innen "spinnen", so findet sich hier die Antwort: Sie spinnen nicht, wenn man die inneren Notwendigkeiten der Kapitalverwertung heranzieht. Sie "ticken aber nicht richtig", wenn man eine andere Logik als Kriterium hat:

Diese andere Logik, geboren aus dem Bestreben, uns selbst aus unserem Dasein als erniedrigte, geknechtete Wesen zu erlösen, muss aber fragen, woher es kommt, dass es uns nicht so gut geht, wie es könnte. Diese andere Logik kann gar nicht anders als versuchen die Fetische zu überwinden. Die herrschende Logik und die sie konstituierenden Kriterien sind zu hinterfragen. Alle Begriffe, die unser Leben ausmachen, sind zu delegitimieren und auf ihre Genese hin abzuklopfen. Warum müssen wir Arbeit haben, statt dass wir die Bedürfnisse mit möglichst wenig "Arbeit" befriedigt haben wollen? Was hat das nun wiederum für die "Bedürfnisse" zur Folge? Was bedeutet dies für unseren Blick auf die Anderen? usw. usf.

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Rezens

Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar der Gegenwart. transcript-Verlag 2012, 320 Seiten, ca. 26,80 Euro

Eine Sammlung grundlegender Texte zur Raumtheorie liegt seit geraumer Zeit bei suhrkamp (taschenbuch wissenschaft 1800) vor. Der "spatial turn", die Untersuchung der Phänomene nach ihrem räumlichen Zusammenhang, hat in den letzten Jahrzehnten auch die sogenannten Geistes- und Kulturwissenschaften erfasst.

Im "Ortsregister" sind 46 Aufsätze von "Asyl" bis "Zeit" versammelt, ein Verzeichnis von Orten, deren Begehung auch eine Annäherung an die vielfältigen räumlichen Muster und Verflechtungen der Gegenwart verspricht. Es geht nicht um eine Intervention in wissenschaftliche Debatten, sondern um einen "Blick auf eine Vielzahl alltäglicher und unbekannter, umstrittener und umkämpfter, verheißungsvoller und exklusiver Räume und Orte". Ein forschender Blick wird auf diverseste Orte geworfen, von Gated Community oder Finanzparkett bis Lager und Land Grabbing, von Offshore und Spekulationsblase bis Maquiladora und Reservat. Aus kühler Distanz oder aus eigenem Erleben, mit Interesse an Zusammenhängen und Funktionsweisen bzw. Dysfunktionalitäten, oft mit dem Motiv der Abschaffung oder Änderung.

Die verschiedensten "Lesewege" machen Sinn. Ob in willkürlich-alphabetischer Anordnung oder entlang der Entfaltung der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise oder auch "durch das Dickicht der Natur- und Kulturverhältnisse" oder auf anderen Zusammenhängen, die sich heim Lesen erschließen mögen. Ob hier oder dort entlang, fruchtbar und oft überraschend ist die Lektüre allemal.

L.G.

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2000 Zeichen abwärts

Gut geschlafen?

Ein müder Blick aufs Handy zeigt für die vergangene Nacht eine durchschnittliche Herzfrequenz von 48 Schlägen in der Minute, aber nur einmal, um 03:11 Uhr, ganz kurz aufgewacht. So weiß ich, dass ich ausgeschlafen bin. Ein Tag, wie geschaffen um 270 Schritte mehr zu gehen, dann könnte ich das Pensum für Juni vielleicht noch erreichen. Das würde sich gut machen, schon um den Kalorienverbrauch an den von Tina anzugleichen. Meine Befindlichkeitskurve im März lag ohnehin deutlich unter dem Durchschnitt. Vielleicht bin ich nicht glücklich? Am Ende machen sie mich noch für statistische Ausschläge nach unten verantwortlich. Das gibt dann wieder eine e-Mahnung vom Servicecenter der Krankenkasse...

In unserer ohnehin schon besten aller Welten orientiert sich auch der Weg zur Selbsterkenntnis endlich an exakt bestimmbaren Bezugsgrößen. "Self Knowledge Through Numbers" lautet das Motto der Quantified-Self-Bewegung. Permanente Überwachung der Körperfunktionen, im Vergleich mit Gleichgesinnten oder auch nur um die Selbstanalyse vermittels Datenakkumulation voranzubringen. Die "Quantifizierung des Ich" wird mittlerweile von einen) kaum noch zu überblickenden Angebot an Smartphone-Apps und anderen technischen Anwendungen für Selbstoptimierer unterstützt. Ganz oben auf der Beliebtheitsskala findet sich das Stimmungsbarometer "Moodscope" - immer gut zu wissen, wie eins gerade drauf ist.

Ein guter Anlass, mal wieder in sich selbst zu investieren, so ein Neuroheadset etwa, zum Aufzeichnen der Gehirnströme, ist angeblich schon für wenige hundert Euro zu haben. Oder wie wäre es mit "The One"? Ein kabelloser Aktivitäts- und Schlaftracker, die erfassten Werte werden automatisch mit Computer und Smartphone synchronisiert. Vorbildfunktion, weil pausenlos im Einsatz, hat das Ding auch. Schließlich wollen wir den "Spaß mit immer höheren Zielen" verbinden.

P.Z.

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Fetisch Überleben

von Annette Schlemm

Nein, es geht diesmal nicht darum, ob die menschliche Zivilisation als Ganzes die Wirrnisse des Klimawandels und des Peak Everything zu überleben vermag. Es geht nur um mich und um Dich in unserm ganz gewöhnlichen Alltag. Hier ist uns die Überlebensfrage so nahe gerückt, dass das Klimaproblem hinterm Horizont verschwindet. Es geht ums wirtschaftlich-soziale Überleben: Woher kommt das Geld für die Miete, die neuen Schuhe, den Wochenendeinkauf?

Wer der Hartz IV-Hetze entronnen ist, findet sich wieder im dauernden Überlebenskampf der Arbeitswelt. Vorbei sind die Zeiten, als ich unter der Monotonie der täglichen Arbeitsroutine litt, dass mit der Berufsausbildung auch die Lebenslaufbahn festgeschrieben war. Wer sein Leben flexibler gestalten wollte, musste immer wieder ausbrechen. Selbständigkeit, Autonomie, das Leben in die eigene Hand nehmen, selbst entscheiden. Was für einige Pioniere befreiend war, wird nun für immer mehr Lohnarbeitende zum Normalzustand. Um die Jahrtausendwende waren es bereits ca. ein Fünftel der Arbeitenden, die nicht mehr direkt diszipliniert werden müssen, die sich nicht mehr für Karriereknicke im Lebenslauf entschuldigen müssen. Sie können und sollen die wachsenden Unwägbarkeiten auf dem Arbeitsmarkt nicht als Bedrohung sehen, sondern als Chance zur ständigen Neuerfindung. Gegenüber den auch heute noch repressiv zur Arbeit Gezwungenen ist diese Arbeitsweise durchaus eine Privilegierung.

Aber sie darf auch nicht übersehen lassen, was an neuen Trends auf uns zukommt und wo aus der Privilegierung eine neue Falle wird: Die Studie "Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierung in entgrenzten Arbeitsformen" von Hans J. Pongratz und G. Günter Voß (von 2003) beschreibt den "Trend weg von verberuflichten Arbeitsformen hin zu Formen des 'Arbeitskraftunternehmertums'" nicht nur als Wachstum von Chancen sondern vor allem aus der Sicht von steigenden Anforderungen und Belastungen. Früher vermietete ich meine Arbeitskraft und überließ das Risiko und die Sorge dem Unternehmer. Es ging darum, meine Stunden abzuarbeiten, die geforderten Aufgaben zu erfüllen, der Rest des Lebens war meins. Heute jedoch grüble ich noch in den Nächten darüber nach, wie ich meine Arbeit morgen hinkriege, was ich mit wem noch organisieren muss, wem ich welche Zuarbeit abfordern muss und wie ich den Meckereien der Kollegen, die von mir etwas wollen könnten, zuvor kommen kann. Ich bin es, die tagtäglich beweisen muss, dass sie dem Unternehmen was bringt. Es reicht nicht, einfach meine Arbeit zu machen, sondern ich muss dafür sorgen, dass mir meine Arbeit auch bleibt, ich muss sie mir direkt auf den Tisch ziehen, damit ich meine Existenz- und Arbeitsberechtigung in dieser Firma immer wieder beweisen kann. Es ist der Kollege, vor dessen zurechtweisender Kritik ich Bammel habe, den Chef braucht das nicht zu kümmern.

Der hat ja andere Sorgen: Seit 20 Jahren erlebe ich im Territorium der früheren DDR den andauernden Überlebenskampf der jungen Firmen. Es ist ja tatsächlich so, dass mein Job davon abhängt, ob "meine" Firma überlebt. Wenn wir nicht ranklotzen, Innovationen auf Teufel komm raus hervorzaubern und uns auf dem Markt durchsetzen, war's das mal wieder mit dieser Arbeitsstelle. Ich selbst sehe, was notwendig ist, und will natürlich, dass alle ihre vollen Kräfte einsetzen, damit unsere Firma sich durchsetzt. Es wäre ja zu blöd, wenn meine Anstrengung umsonst wäre, nur weil da ein paar Kollegen ihrer Frau nicht klarmachen können, dass das Abnahmeprotokoll für das auszuliefernde Gerät wichtiger ist, als das Kind von der Kita abzuholen. Denn wenn's die eine nicht erledigt, muss der andere ran. An dem Gerät hängt die Quartalsbilanz, es muss pünktlich raus. Wir alle wissen das und verhalten uns danach - da braucht's keinen Druck vom Chef. Nur ganz junge Leute glauben noch daran, dass dieser Stress irgendwann, nach dem übernächsten Gerät, nach einigen Wochen, Monaten oder wenigen Jahren doch noch in ein normales Leben einmündet, das man sich dann verdient zu haben glaubt.

Meine Existenz und die der Kolleg_innen hängt tatsächlich vom Überleben "unserer" Firma ab. Das redet uns keiner nur ein, das ist nicht nur Ideologie. Darin bestätigt sich Marxens Konzept vom gesellschaftlichen Fetisch. Unter kapitalistischen Verhältnissen erfahren wir den gesellschaftlichen Charakter unserer Arbeit nicht unmittelbar als Gesellschaftlichkeit, sondern als Beziehung von Dingen: Geldstücken und Waren. Die Bewegungsgesetze dieser Dinge steuern und koordinieren unser Verhalten. Dass wir uns ihnen zu unterwerfen haben, ist weder Lüge noch Schein, sondern wird davon bestimmt, dass ich tatsächlich nur meine Arbeitskraft als Ware verkaufen kann und das auch muss, um vermittels Geld an Lebensmittel zu kommen. Das kann ich nur, wenn ich einen Unternehmer finde, der mir die zur Arbeit nötigen, aber mir fehlenden Produktionsmittel beistellt. Zu den Produktionsmitteln gehörte früher auch die Kompetenz, Fähigkeit und Möglichkeit zur Organisierung, Koordination und Steuerung der Arbeitsprozesse. Früher organisierte der Unternehmer die Arbeit und wies mir dann meine Arbeitsaufgaben zu. Er besorgte das Kapital für nötige Investitionen und die Vermarktung des von mir Hergestellten. Ich war nur ein Rädchen im Getriebe. Die Funktion der Organisation, Koordinierung und Vermarktung hat er uns nun auch noch aufgedrückt. Wir sind selbst verantwortlich für das Überleben der Firma und spüren das tagtäglich und unmittelbar. Wir übernehmen Unternehmensinteressen und finden Klassenkampf völlig überholt, denn wir alle in einer Firma, ob Kapital- oder Arbeitskraftunternehmer_in, kämpfen ja gemeinsam ums Überleben der Firma und nicht etwa gegeneinander.

Unser Verhältnis zueinander als gesellschaftliche Wesen wird immer noch von verdinglichten Verhältnissen geprägt, auch wenn die neuen Managementformen unsere Bedürfnisse nach Autonomie und Selbstorganisation besser befriedigen als die fremd- oder selbstdisziplinierenden früheren Formen.

Den Zwang zum wirtschaftlichen Überleben, so sehr er als natürlicher und damit unumgänglicher erscheint, gibt es überhaupt nur in kapitalistischen Verhältnissen. Ich könnte mich auch einfach mit anderen Menschen zusammen tun, um die fürs Leben nötigen Dinge herzustellen, wenn wir denn nicht getrennt wären von den Produktionsmitteln. Um diese nutzen zu können, dürfen wir nicht selbst entscheiden, wie wir vernünftigerweise die für unsere Bedürfnisbefriedigung nötigen Produkte herstellen, sondern es schiebt sich das Profitmotiv zwischen unser Tun und unsere Bedürfnisse, und immer mehr sind auch unsere Bedürfnisse von diesen Verhältnissen bestimmt. Der Produktionsmitteleigentümer zwingt uns nicht nur aus beliebig veränderbaren Wünschen heraus, dass wir für ihn Profit erzeugen, sondern er bleibt nur dann Produktionsmitteleigentümer, wenn er im Überlebenskampf der Unternehmen gegeneinander besteht, d.h. wenn er durch die Anstellung von Arbeitenden ausreichend Profite generiert. Diese sich gegenüber den wandelbaren Wünschen aller Beteiligten verselbständigende Logik zeigt sich als "Fetisch".

Dass sie sich derzeit so offen zeigt, dass wir sie im Arbeitsalltag bewusst erfüllen müssen, kann auch eine Chance sein. Das gesellschaftliche Zwangsverhältnis verbirgt sich nicht mehr hinter persönlich zuschreibbaren Disziplinierungen, sondern offenbart sich als Herrschaft "des Marktes", der Ökonomie über das Leben. Es geht offensichtlich nicht mehr darum, gegen andere Menschen (z.B. die Unternehmer) zu kämpfen, sondern die Verhältnisse abzuschaffen, in denen alle Menschen nur noch als "Charaktermasken" ihrer ökonomischen Funktion gelten und damit der Entfaltung anderer menschlicher Potentiale beraubt sind.

Außerdem zeigt es sich, dass wir die Unternehmer zumindest in ihrer früheren Organisierungs- und Steuerungsfunktion gar nicht mehr brauchen. Das machen wir inzwischen eh selber. Es sind tatsächlich unsere eigenen produktiven Kräfte, die zu Produktivkräften des Kapitals werden (MEW 26.1: 365). Wozu brauchen wir dann noch das Kapital?

P.S.: Ich habe diesen Text eines Morgens um vier Uhr geschrieben, nachdem ich mal wieder schlaflos über die Arbeitsprobleme des kommenden Tages nachgegrübelt hatte. Wem aber gehört meine Lebenszeit? Wenn ich schon nicht schlafen kann, sollte wenigstens dieser Text entstehen...

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2000 Zeichen abwärts

Mir ist so fad!

Beim Nachdenken über Sex ist mir neulich bewusst geworden, dass dieses Thema für mich abgefrühstückt ist. Erzählt jemand - sei es im Fernsehen, sei es beim Bier - über sein Liebesleben, verflüchtigt sich flugs der Sauerstoff in meinem Gehirn, ich schiele auf die Uhr und ich hoffe, dass bald wieder über Steuerrecht oder Ökostromeinspeisungstarife geredet wird. Der öffentliche Diskurs über die Kopulation hängt in den Seilen und: hinkt wie eine schlechte Metapher. Ich mag nicht mehr darüber nachdenken. Also ein wenig noch, sonst wird das hier ein Text minderer Güte, aber dann kann von mir aus Schluss sein mit dem Sprechen über Geschlechtsverkehr.

Hier bitte meine These, machen Sie damit, was Sie wollen: Der wahre Fetisch ist heute der Sex selbst. Das ewige Sich-Äußern über Orientierungen und Praktiken hat ihn zu einem Ding gemacht, nein: einem Unding. Das Privatfernsehen arbeitet sich daran ab wie ein Dreizehnjähriger im Hormonsturm. Unschön! Das Private ist das Öffentliche? Ja, eh. Aber könnte sich die Welt bei der Besprechung des Intimen jetzt schön langsam wieder ein wenig zurücknehmen? Es ist wie in diesen unerträglichen amerikanischen Serien und Filmen, in denen die love interests so lange alles zerreden, bis niemand mehr Lust auf irgendetwas hat. Außer Alkohol.

Ein anderer Grund für meinen Überdruss am gesellschaftlichen Reden über das Bumsen könnte natürlich sein, dass mich das mangels Mangel nicht mehr interessiert (man hat ja privat nichts zu beklagen). Aber den Gedanken stelle ich lieber gleich wieder unter die kalte Dusche, denn er könnte prahlerisch wirken. Ausserdem rede ich ja nicht mehr über das Vögeln. Ab jetzt.

D.M

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Befreiung vom Fetisch

John Holloway und die Organisationsfrage

von Dietrich Hoß

Dieser Beitrag will zweierlei: erstens darauf hinweisen, dass John Holloway in den letzten Jahren einen Ansatz entwickelt hat, der meines Erachtens einen entscheidenden Schritt darstellt, die Kritik am Fetisch Wert praktisch zu wenden; zweitens ausgehend von seinen Thesen einige Gedanken bezüglich einer Neuformulierung der Organisationsfrage zur Diskussion stellen.

Die Kritik der Wertform, Kern der marxschen Kritik der politischen Ökonomie, war über ein Jahrhundert lang überlagert durch die Analyse des - von Marx und Engels selbst ins Zentrum ihrer Theorie und Praxis gerückten - Antagonismus von Kapital und Arbeit. Dieser war Grundlage der Strategie und Taktik des Klassenkampfes der marxistisch inspirierten Arbeiterbewegung. Doch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts tritt der Kapitalismus in eine Phase ein, in der hinter dem Klassenwiderspruch ein viel elementarerer Widerspruch hervortritt: der Antagonismus zwischen der neuen Grundlage der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums, der Produktivkraft Wissenschaft und Technik, bzw. ganz allgemein der kollektiven Kreativität des general intellect der Menschen innerhalb und außerhalb der Arbeit einerseits und andererseits der immer brutaleren Anstrengung der Vertreter der herrschenden Unordnung, diese neue Produktivkraft in das Prokrustesbett des Fetischs Wert, Geld, Kapital und Lohnarbeit zu pressen (wie dies Marx in den Grundrissen vorhergesehen hatte, s. Marx 1953, 592ff.).

Vor dem Hintergrund dieser neuen Konstellation begann um 1968 die Wiederentdeckung der marxschen Kritik der Wertform mit den theoretischen Arbeiten von Krahl, Backhaus, Reichelt, und etablierte sich im deutschsprachigen Raum ab den neunziger Jahren die Strömung "Wertkritik" im Umkreis der Zeitschriften Krisis, Exit, Streifzüge. Aber auch auf internationaler Ebene begründeten Autoren wie Postone, Gorz, Jean-Marie Vincent diese neue Ausrichtung. Ausgehend von diesem Orientierungswechsel erweiterte sich die politische Perspektive vom traditionellen Kampf gegen das Kapital zu einem Kampf gegen die Arbeit und schließlich immer eindeutiger zu einer Infragestellung der Grundlage von Kapital und Arbeit, der Fetischisierung der Produktivität der sozialen Beziehungen als Wert, Ware, Geld etc. Diese Neuausrichtung blieb jedoch bisher weitgehend theoretisch, aufklärerisch, propagandistisch.


Abstrakte Arbeit und konkretes Tun

Es ist das Verdienst von John Holloway, ausgehend von einer derartigen Analyse die Widersprüche, Bruchstellen und Krisenelemente in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt zu haben, die auf eine neue politische Praxis verweisen - jenseits der traditionellen Perspektive der Eroberung der politischen Macht, die bis heute in der Regel als unerlässlicher, entscheidender Schritt zur Gesellschaftsveränderung angesehen wird. (Holloway 2002 und vor allem - hier ausführlich zitiert - Holloway 2010)

Holloways Neuansatz ist zunächst einmal dadurch charakterisiert, dass er abstrakte Kategorien zu verflüssigen, ihrer Tendenz zur Verdinglichung zu entgehen sucht. Dies beginnt damit, dass er dem substantivischen Begriff der sozialen Beziehungen im Austausch der Menschen mit der Natur eine verbale Form gibt, sie als das die Wirklichkeit produzierende "Tun" der Menschen konzipiert. (Ich benutze hier die in der Übersetzung des ersten Buches von Holloway gewählte Vokabel für das "doing" im englischen Original, da das "Tun" mir treffender und ausdrucksstärker zu sein scheint als das in der Übersetzung seines zweiten Buches gewählte "Tätigsein".) Auf diese Weise geht Holloway zu dem Ausgangspunkt von Marx zurück, der in den Manuskripten von 1844 darauf verwies, dass die "lebendige bewusste Tätigkeit" der Menschen im Kapitalismus einen Doppelcharakter erhält. Auf der einen Seite wird diese Tätigkeit in abstrakte Arbeit transformiert, absorbiert als eine unspezifische Tätigkeit, lediglich quantitativ evaluiert als die zur Herstellung einer Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, reine Verausgabung menschlicher Energie, in der Lage, Wert zu schaffen - Grundlage des Mehrwerts - in den Erscheinungsformen Geld und Kapital. Auf der anderen Seite bleibt die menschliche Tätigkeit eine konkrete, nützliche Tätigkeit, die den Reichtum der Gebrauchswerte schafft.

Dieser Doppelcharakter hat entscheidende Konsequenzen für eine theoretische Bestimmung des Handelns der Menschen. Das "Tun" der Menschen, umfassender als die wertschaffende abstrakte Arbeit, entwickelt sich "in, gegen und jenseits der Arbeit". Zwar unterliegen wir alle der Herrschaft des Fetischs Wert, Ware, Geld etc. Ein Leben jenseits dieser Fetischisierung der Produktivität der sozialen Beziehungen erscheint undenkbar. Deshalb beteiligen wir uns, ob es uns passt oder nicht, an der Reproduktion des Fetischs: als Unternehmer oder als Lohnarbeiter, als Aktionär oder als Gewerkschafter, als Händler oder Konsument. Doch diese Absorption des Tuns durch das Kapital ist nicht vollständig. Seine nicht kommensurable Seite ist resistent gegenüber Abstraktifizierung und Formatierung. Die verfestigte, versteinerte, scheinbar unerschütterliche Weltherrschaft des Fetischs Wert, Ware, Kapital, bedarf einer permanenten Anstrengung, eben diese fetischisierte Ordnung ständig zu reproduzieren und zu erneuern.

Deshalb, so meint Holloway, muss man klar unterscheiden zwischen dem Begriff des Fetischismus als eines Zustands, eines etablierten Mechanismus der Vergesellschaftung und dem Begriff der Fetischisierung, als des Prozesses, der nötig ist, um diesen Mechanismus tagtäglich zu aktualisieren. Wiederum geht es darum, einen Begriff, selbst einen kritischen Begriff wie den des Fetischismus, nicht zu verdinglichen. So ist etwa die den Fetisch konstituierende Trennung der Produzenten von Ihren Produktionsmitteln keineswegs mit der ursprünglichen Akkumulation abgeschlossen: "Die tatsächlich angewandte und die angedrohte Gewalt, die nötig ist, um die Abtrennung der Produzenten von den Produktionsmitteln wieder und wieder herzustellen, ist heute vielleicht viel größer, als Marx es sich in seinen schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können. Die Einhegung des Lands und die Respektierung des Privateigentums erfordern zu ihrer Durchsetzung eine ungeheure Armee. Wenn wir zu Sicherheitsdiensten, Polizei und Militär noch die Richter, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter und Lehrer (oder gar die Eltern) dazu rechnen, ergibt sich, dass ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung mit der fortwährend zu wiederholenden Trennung der Menschen von den Produktionsmitteln beschäftigt ist." (Holloway 2010, 166f.)


Brüche erkennen

Der permanente Kampf zwischen der allseitigen Mobilisierung zur Reproduktion der Herrschaft des Fetischs und der widerständigen, dem Wertgesetz unvereinbaren Dimension des menschlichen Tuns ist Ausgangspunkt und Zentrum der Überlegungen Holloways. Diese unkontrollierte Dimension des Tuns von Millionen Menschen schafft ebenso viele Bruchstellen, Sprünge und Risse im kapitalistischen System. Die Fülle der Beispiele, die er auf drei Seiten bunt gemischt ausbreitet, reichen von dem "Arbeiter in der Birminghamer Autofabrik, der seine Abende in seinem Schrebergarten mit Tätigkeiten verbringt, die ihm etwas bedeuten und Spaß machen" über das "Mädchen in Tokio, die sagt, sie werde heute nicht zur Arbeit gehen, und sich stattdessen mit einem Buch in den Park setzt" bis zu dem "jungen Mann in Mexiko City, der aus Wut über die Brutalität des Kapitalismus in den Urwald zieht, um den bewaffneten Kampf zu organisieren" (ebd. 10ff.).

Dieses Widerstandspotential, dieses Streben nach einem würdigen und selbstbestimmten Leben, ist für Holloway die Grundlage der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus. Es steht dessen frenetischem Lauf zerstörerischen Wachstums entgegen. Indem er den konstitutiven Widerspruch zwischen abstrakter Arbeit und dem Tun zu seinem Ausgangspunkt macht, vermeidet es Holloway, neue Abstraktionen und Mystifikationen zu konstruieren, wie etwa die von Hardt und Negri, die die gesellschaftliche Wirklichkeit als einen Kampf zwischen zwei neuen verdinglichten Grundeinheiten strukturieren: das "Empire" gegen die "Menge".

Der Kapitalismus bleibt für Holloway vielmehr ein Mechanismus blinder Strukturierung, ein "automatisches Subjekt" (Marx), welches weder durch eine soziale Kategorie - die Hochfinanz, die Multis etc. - beherrscht noch durch polit-ökonomische Institutionen - die Weltbank, die WHO, die G 7, 8, 20... - kontrolliert werden kann. Die Brüche ihrerseits, die unendliche Vielfalt der Anstrengungen der Menschen, sich einen Raum zum Atmen zu verschaffen, wenigstens teilweise ihr Leben in die Hand zu nehmen, bleiben immer unsicher und prekär. Sie sind ständig in Gefahr, erstickt bzw. aufgesogen zu werden von der "Gallerte der kapitalistischen Gesellschaftssynthese" (ebd. 55), d.h. "dass die Bruchstellen einfach Instrumente zur Linderung der Spannungen und Widersprüche des Kapitalismus werden..." (ebd. 57) Sie sind staatlichem Handeln ausgesetzt, das sie auszumerzen versucht, falls sie sich nicht zur Perfektionierung seiner Kontrolle über die Gesellschaft instrumentalisieren lassen. Sie unterliegen dem Zwang des Wertgesetzes, welches das Überleben an die Unterwerfung unter die Regeln des Warenaustausches bindet. Und sie sehen sich vor allem auch mit inneren Widersprüchen konfrontiert: "Neue gesellschaftliche Beziehungen werden nicht per Dekret geschaffen: selbst Gruppen, die die Schaffung anderer Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern als eines ihrer Hauptanliegen ansehen, enden manchmal in bitteren Querelen und großen Enttäuschungen... die Widersprüche des Kapitalismus stellen sich inmitten unserer Revolte wieder her." (Ebd. 70) Es ist äußerst schwierig, sich aus der Zwangsjacke zu befreien, in die wir, jeder auf seine Weise, im Kapitalismus gesteckt sind. "Abstrakte Arbeit eignet sich unsere Körper an, unseren Geist, unseren Verstand." (Ebd. 110) Die Arbeitsabstraktion bricht "das Gesellschaftliche am Fluss des Tätigseins, das Wir, in eine Vielzahl individueller Subjekte auf, eine Vielzahl von Identitäten." (Ebd. 112)


Brüche stabilisieren, erweitern und zusammenfließen lassen

Die einzige Perspektive, so Holloway, ist: Kapitalismus aufbrechen! Ihn in so viele Teilchen aufbrechen wie möglich, die Brüche tiefer und weiter treiben, vervielfachen, und dafür sorgen, dass sich die Bruchlinien verbinden. Auf diese Weise kann sich eine Dynamik gegen die atomisierende Isolierung der Individuen entfalten. Eine solche Dynamisierung erfordert allerdings eine neue Sprache des Kampfes, neue Prinzipien der Organisierung, die mit dem traditionellen Schema der Vereinigung des Proletariats, der Arbeiterklasse, oder - in jüngerer Zeit - der Frauen, der "Minoritäten" und "Randgruppen" brechen.

Alle diese gesellschaftlichen Kategorisierungen, mit denen sich die illusorische Hoffnung verbindet oder verband, ein historisches Subjekt der Veränderung identifiziert zu haben, benennen lediglich Einheiten, die als solche nur strukturierende Elemente der Reproduktion des herrschenden Gesellschaftsmodells darstellen. Sie schotten die im Kampf stehenden Menschen gegeneinander als kollektive konstitutive Elemente der herrschenden ökonomischen und politischen Ordnung ab, verweisen sie auf ihre Klassenlage, "klassifizieren" sie: die Arbeiter kämpfen als Arbeiter für ein stabiles Arbeitsverhältnis und eine bessere Vergütung, die Frauen für ihre Rechte als Frauen, die Minoritäten und Randgruppen gegen gruppenspezifische Diskriminierung und für gesellschaftliche Teilhabe.

Gegen diese klassen- und gruppenspezische Formatierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geht es gerade darum, deren Verbindungslinien aufzudecken und zu verstärken. Es gilt, "nicht-instrumentelle Organisationsformen" zu entwickeln, "in denen es um die Artikulation der Meinungen von allen geht, die an den Kämpfen teilnehmen, und von diesen Meinungen ausgehend Perspektiven entwickeln und nicht in umgekehrter Richtung von einem vorweg gesteckten Ziel ausgehen" (ebd. 47). Letztlich ist bezüglich der Kämpfe festzuhalten, "dass, über die unmittelbaren Ziele und ihre Erreichung (oder Nichterreichung) hinaus, ihr bleibendes und entscheidendes Ergebnis die Schaffung oder Wiederentdeckung von anderen gesellschaftlichen Beziehungen ist" (ebd. 48).

Es sind dies: "Kameradschaftlichkeit, Menschenwürde, Liebesfülle, Liebe, Solidarität, Freundschaft, Ethik: all diese Wörter stehen den warenförmigen, geldförmigen Beziehungen des Kapitalismus gegenüber, sie alle beschreiben Beziehungen, die in den Kämpfen gegen den Kapitalismus entwickelt wurden und die wir so verstehen können, dass sie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus vorwegnehmen oder schaffen." (Ebd. 49)

Sicher, diese Art nicht-warenförmiger Beziehungen entstanden auch im Rahmen der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung. Aber sie wurden als Nebenprodukt des Kampfes angesehen. Sie sollten lediglich dazu dienen, die unmittelbaren Ziele bzw. die künftige Machteroberung zu erreichen. In der neuen Perspektive einer Politik der vorwegnehmenden Veränderung, wie sie Holloway anvisiert, werden sie selbst zum Ziel des Kampfes. Er geht aus von der Idee, "dass der Kampf für eine andere Gesellschaft diese Gesellschaft in seinen eigenen Kampfformen bereits schaffen muss" (ebd. 51). Folglich beschließt Holloway sein letztes Buch mit dem Aufruf, "Räume des Anders-Seins" zu schaffen: "Schafft Brüche und lasst sie sich ausdehnen, vervielfachen, widerhallen, zusammenfließen. Lasst uns Dimensionen schaffen, in denen wir nicht mehr Knechte sind und wo wir zuschauen, wie der Herrscher, 'wie ein riesiges Standbild, dem man den Boden wegzieht, vom eigenen Gewicht zusammenstürzt und in Stücke bricht.'" (Ebd. 260, Holloway zitiert hier La Boëtie.)


Wie sich organisieren?

Mit Holloway an diesem Punkt angekommen, stellt sich für mich allerdings die Frage, ob wir uns tatsächlich mit dieser Perspektive bescheiden können oder nicht vielmehr gezwungen sind, entsprechend dem von ihm zitierten zapatistischen Prinzip "fragend weiterzumarschieren". Es stimmt: Wir konnten in den letzten Jahren zusehen, wie sich allenthalben mehr oder weniger spontan Brüche in der scheinbar allmächtigen Herrschaft des Fetischs auftaten, mit einem gewissen Widerhall untereinander explosiv und massenhaft neue Kampf- und Lebensformen schaffend - in Chiapas und New York, auf öffentlichen Plätzen wie Tahir und Puerta del Sol und an vielen anderen Orten. Doch angesichts der Sackgassen und Niederlagen gerade auch dieser Bewegungen scheint eine zusätzliche Anstrengung zur Stabilisierung und Absicherung derartiger Aufbrüche nötig zu sein, die eine systemintegrierende Vereinnahmung verhindern und letztendlich die Herrschaft des Fetischs wirklich zusammenstürzen lassen kann.

Es handelt sich meines Erachtens darum, alle Energie darauf zu konzentrieren, ein gemeinsames Denken in Gang zu setzen, öffentliche Reflexionsräume zu schaffen, die das enorme, vielgestaltige, aufopferungsbereite Engagement der Menschen und die verschiedenen theoretischen Neuansätze in ein gemeinsames bewusstes Handeln zusammenfließen lassen. Ein solcher Prozess ist weder in den alten, am Kampf um die politische Macht orientierten Organisationen, noch bislang in den neu sich gruppierenden Kernen und Foren zu haben.

Bezeichnend ist die Erfahrung des letzten Weltsozialforums in Tunis (März 2013). Dieses hätte ein solcher Denkraum sein können. Doch die Vielfalt und Unbestimmtheit der Orientierungen war zu groß, um eine Diskussion über gemeinsame Zielvorstellungen zu erlauben. Der chilenische Aktivist Gustavo Marin zog dort die Bilanz: "Das Weltsozialforum ist ein Chaos... Man kann keine Orangen von einem Apfelbaum erwarten. Man braucht Orangen, aber man hat immer noch keine Orangerie gefunden." (Libération 1.4.2013) Eine solche "Orangerie" wäre ein Raum gemeinsamen Denkens zwischen zu starker doktrinärer Abkapselung und zu großer unverbindlicher Offenheit.

Holloway deutet die Richtung an, in der eine solche "Denkbewegung", d.h. eine Bewegung zur Schaffung eines gemeinsamen Denkraums, zu entfalten wäre: "Die Bewegung des Tätigseins gegen-und-über-die-Arbeit-hinaus ist eine Art Schmelzen, ein gesellschaftliches Fließen, das Definitionen aufbricht und in dem das Handeln der einen Person mit dem vieler anderer sich vermischt, gar nicht mehr abgegrenzt werden kann. Die Art von Wissen, die diesem Tätigsein entspricht, ist auch Teil derselben Bewegung: auch ein Schmelzen, ein gesellschaftliches Fließen, das Abgrenzungen und Definitionen aufbricht, ein Fließen, in dem das Wissen der einen Person mit dem vieler anderer sich vermischt, gar nicht mehr abgegrenzt werden kann." (Ebd. 254) Holloway versteht dieses Schmelzen als einen sich spontan herstellenden Prozess: "Eine Art Resonanz verbindet sie [die Kämpfe], sie erkennen einander als Teile derselben Bewegung gegen-und-über-hinaus, ein fortwährendes Mit-Teilen von Ideen und Informationen." (Ebd. 255) Er sieht keine Notwendigkeit (oder Möglichkeit?), diesen spontanen Prozess bewusst zu organisieren, um ihn zu beschleunigen, auszudehnen, zu vertiefen und abzusichern.

Doch stehen diesem Schmelz- und Verschmelzungsprozess des Wissens und Denkens die mächtigsten Abwehr- und Zerstörungsmechanismen zur Verteidigung des Fetischs entgegen. Holloway selbst verweist auf die Notwendigkeit, der Formatierung durch schulische und akademische Ausbildung entgegenzutreten: "Die Wände um unser Denken einreißen, die Verknöcherungen des Denkens, die von der abstrakten Arbeit her komm[en] und in Schulen und Universitäten verstärkt [werden]." (Ebd. 260) Darüber hinaus ist es jedoch der gesamte gigantische Apparat der Kulturindustrie, der durch eine in den letzten Jahrzehnten ins Unermessliche gesteigerte multimediale Flut von Bildern und Tönen alle Poren einer potentiell freien, dem Denken und der Einbildungskraft offenen Zeit verschließt. Holloway erwähnt nirgendwo dieses Monster, welches doch das wichtigste Mittel ist, den Warenfetisch in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Das Verlangen nach einem anderen Tun, nach Lust und Traum, wird benutzt, kanalisiert und filtriert, als Treibstoff dieser Maschinerie.

Holloway, der häufig Adorno und Marcuse zitiert, bezieht sich nirgendwo auf deren Analyse der Pseudo-Befreiung des Lustprinzips, von Marcuse "repressive Entsublimierung" genannt. Dieser blinde Fleck in Holloways Analyse lässt ihn sogar von den rave parties als selbstorganisierter Bresche im Kapitalismus sprechen (ebd. 69) - anstatt diese als ein kulturindustrielles Mittel zu verstehen, um das Verlangen von Jugendlichen nach Zusammenschluss, einem Ausweg aus der Isolierung und nach Schaffung von selbstbestimmten Räumen in gewaltige Lärmbetäubung zu transformieren, die jegliches Denken und jeglichen Austausch erstickt, tatsächlich eine exemplarische Variante der "einsamen Masse" (Riesman) schafft.

Vielleicht erklärt die Tatsache, dass Holloway seit rund zwanzig Jahren in Lateinamerika lebt und lehrt, seine Unterschätzung des Stellenwerts der Kulturindustrie in den alten Metropolen des Kapitalismus. Die Beispiele kollektiver Kämpfe und politischer Debatten, auf die er sich bezieht, sind vor allem in seiner jetzigen Heimatregion angesiedelt, einem sozio-kulturellen Kontext, in dem die soziale Kontrolle noch unmittelbarer ausgeübt wird, durch staatliche Unterdrückungsapparate und die privaten Hilfstruppen mafioser Land- und Kapitalbesitzer. Sobald diese Strukturen einmal neutralisiert sind, können sich relativ frei Energien und Erfindungskräfte entfalten, die neue Formen sozialer Beziehungen schaffen: Zapatisten, Piqueteros, Landbesetzungsbewegungen... Der Hintergrund dieser sozialen Kämpfe wiederum ist Ausgangspunkt einer breiten, offenen Debatte über die theoretischen Implikationen dieser Bewegungen - sogar im institutionellen Rahmen der Universitäten.

Bei uns sind die verdinglichten Formen des Denkens, der "ideologische Schleier" (Adorno), der die Wirklichkeit einhüllt, auf sehr viel perfektere Art im Bewusstsein der Menschen verankert, sowohl in den beruflichen, akademischen und massenmedialen Milieus als auch generell in der Bevölkerung. Alles wird getan, um ganz allgemein das Denken, besonders aber natürlich radikale, dissidente Gedanken zu ersticken, an den Rand zu drängen, zu entstellen und aufzusaugen. Diese Anstrengung ist umso größer, als der Widerspruch zwischen dem höher denn je entwickelten wissenschaftlichen und kulturellen Niveau des general intellect und dessen Einzwängung in die Strukturen der abstrakten Arbeit sich ständig weiter verschärft. Die Konsequenz ist Erschöpfung, Resignation oder ein sektiererischer Rückzug des kritischen Gedankens. So gesehen ist der Apell, den Holloway an uns richtet, die Breschen im Kapitalismus zu vermehren und zusammenfließen zu lassen, berechtigt, aber relativ ungefährlich. In einer Situation, in der jeder Ausweg, das endgültige Desaster zu vermeiden, zubetoniert scheint, in der jede Perspektive einer wirklichen Veränderung undenkbar geworden ist, in der es einfacher ist, "sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus", wie Holloway sagt, muss man da nicht seinen Aufruf umformulieren in die Aufforderung, nach Wegen zu suchen, wie denn diese so perfekte Verriegelung des Denkens aufzubrechen sei? Wie erneut das Undenkbare denkbar zu machen sei? Müssen wir nicht alle Anstrengung auf diese zentrale Aufgabe konzentrieren: die Befreiung der entscheidenden Dimension des Tuns, die das Denken darstellt? Dieser Kampf scheint heute der schwerste, aber gleichzeitig auch der notwendigste zu sein. Angesichts des enormen Drucks, der sich von außen, aber auch im Innern des Individuums, gegen eine solche Wiederbelebung unreglementierten phantasievollen Denkens richtet, sind schwerere Waffen ins Auge zu fassen als der allgemeine Appell zum Desertieren.


Gemeinsame Denkräume schaffen

Da die Widerstandskräfte des einzelnen Individuums begrenzt sind, sind wir darauf verwiesen, nach neuen Formen der Vereinigung und des Zusammenschlusses zu suchen, die uns gemeinsam befähigen, unsere reflexiven und schöpferischen Denkkräfte zu entfalten. Es stimmt, die traditionellen Formen eines organisatorischen Rahmens kollektiven revolutionären Denkens sind heute obsolet. Sie waren im Übrigen stets umstritten, da dem Risiko monströser Entartung ausgesetzt. Holloway wendet sich folglich mit Recht gegen eine Wiederbelebung des leninistischen Organisationsmodells. Aber heißt das, dass wir deshalb jeglichen Gedanken an die Herstellung eines gemeinsamen, autonomen Raumes der Diskussion und der Verständigung über die Perspektiven einer Überwindung des Kapitalismus aufgeben müssen?

Tatsächlich beginnen sich schon seit geraumer Zeit derartige Räume auf lokaler und zum Teil auch nationaler Ebene herauszubilden. Vor allem im virtuellen Netz bieten sich die verschiedensten Blogs und Webseiten zur Diskussion an. Ebenso werden - was zur Herstellung der oben erwähnten nicht-marktförmigen persönlichen Beziehungen unerlässlich ist - allenthalben direkte Begegnungen, Debatten in Buchhandlungen und Cafés sowie vielerlei Seminare und Arbeitsgruppen, Kritische Universitäten und Sommerschulen organisiert, die jedoch in der Regel ephemer und unverbindlich bleiben.

Einer dauerhaften öffentlichen Entfaltung, Vertiefung und Konvergenz derartiger Initiativen sind, wie jeder anderen Bresche auch, vielfältige äußere und vor allem innere Widerstände und Hindernisse entgegengesetzt: In militanten Milieus werden die allgegenwärtigen Blockaden und Abtötungen des Denkens teilweise als Theoriefeindlichkeit reproduziert. Theorie als solche wird als elitär und herrschaftsverdächtig angesehen, vom Handeln ablenkend. Oder es werden im Gegenteil von theoriezentrierten Gruppierungen in idealistischer Tradition bestimmte Theorieelemente als allein selig machende Erkenntnis propagiert. Im "theoretischen Kampf" wird individualistisches und gruppenspezifisches Konkurrenzverhalten, Spielregel Nummer eins im herrschenden ökonomischen und sozialen Kontext, als sektiererische Haltung reproduziert. Holloway hat dies treffend bezeichnet, wenn er sagt: "Starrheiten und Dogmen zu formen und das 'mit denen reden wir nicht, denn sie sind Reformisten' und 'mit denen haben wir nichts zu schaffen, denn sie trinken Coca Cola', 'wir arbeiten nicht mit ihnen zusammen, weil sie Sektierer sind', heißt, aktiv zum Einfrieren des Rebellionsflusses beizutragen, die Definitionen und Klassifikationen und Fetische des kapitalistischen Denkens nachzubilden." (Ebd. 256)

Das Resultat ist Aufsplitterung, wechselseitige Ignoranz und eine gemeinsame Verdunkelung der intellektuell oft so beachtlichen und stichhaltigen Leistungen der Einzelnen. Auch der "kleine Aufruf zur Erhebung" von Franz Schandl (Streifzüge 48/2010) unter dem Titel "Organisieren?" scheint mir genau diesen Punkt zu treffen: "Die wichtigste Frage ist unmittelbar nicht die nach der programmatischen Stringenz, sondern die des mentalen Grundverständnisses der Akteure... Wir müssen also umgänglich und genießbar sein. Das System, das wir ablehnen, auch noch zu kopieren, wäre einfach eine Dummheit. Auf der zwischenmenschlichen Ebene erfordert das eine konsequente Verabschiedung von der Politik der Verdächtigung, dem Gerede von Abweichlern und Kleinbürgern, der fast saloppen Denunziation als Rassisten, Antisemiten, Sexisten. Diese oftmals leichtfertig gebrauchten Anwürfe vergiften die Atmosphäre in unerträglicher Weise, ersticken Diskussionen, machen die Rede und das Atmen schwer." Nichts scheint schwieriger zu sein als die Herstellung von Räumen gemeinsamen Denkens, die die Abschottungen zwischen verschiedenen professionellen und sozialen Milieus und die Differenzen zwischen verschiedenen theoretischen Positionen durch "emotionale Transposition" (Schandl) überwindet. In historischer Perspektive geht es um nichts weniger, als einen Prozess der Ausdifferenzierung revolutionärer Bewegungen zu revidieren, der schon innerhalb der sogenannten Ersten Internationale, der Internationalen Arbeiterassoziation, zum Abbruch der Diskussion und des Austausches zwischen wissenschaftlichem und utopischem Sozialismus, sowie zwischen Kommunismus und Anarchismus geführt hat.

Angesichts der begrenzten historischen Wirksamkeit von Initiativen in dieser Richtung, wie etwa die der Surrealisten und der Situationisten, könnte der Verweis auf die Unerlässlichkeit der Herstellung solcher Räume auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene als ebenso vergeblich und illusionär erscheinen wie der allgemeine Appell Holloways, "aufzuhören, den Kapitalismus zu schaffen". Uns bleibt jedoch keine andere Wahl: die Ablösung der Herrschaft des Fetischs durch Einsetzen der "lebendigen bewussten Tätigkeit" der Menschen als neuer Grundlage eines gemeinsamen Lebens ist nur um den Preis der Entwicklung, Ausbreitung und schließlich allgemeinen Durchsetzung von Räumen zur Schaffung eines gemeinsamen Bewusstsein denkbar.


Literatur

John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Westfälisches Dampfboot, Münster 2002.

John Holloway: Den Kapitalismus aufbrechen, Westfälisches Dampfboot, Münster 2010.

Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Dietz Verlag, Berlin 1953.

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2000 Zeichen abwärts

Waren besonderer Art

Arzneimittel gelten für den Gesetzgeber als "Waren einer besonderen Art", weshalb der Handel mit ihnen den Apotheken und nicht dem freien Markt vorbehalten sein soll. Nicht ein Kunde soll sie konsumieren, weil sie gerade so billig sind, sondern einem Patienten sollen sie ausgehändigt werden, weil er sie momentan benötigt, weshalb meist noch ein Arzt als Vermittler dazwischengeschaltet ist.

Ein marktfreies Idyll, in dem Vernunft und Notwendigkeit (= der Gebrauchswert eines Gutes) vorherrschen? Natürlich nicht. Schließlich zahlen die Krankenkassen den Tauschwert und übernehmen nun das Schachern - bezahlt wird nur das für die jeweilige Krankenkasse preiswerteste Medikament. Zum Wohle der Versicherten, heißt es. Doch die können einfach nicht glauben, dass die blaue Packung genauso hilft wie die rote. Dieselben Tabletten in einer anderen Packung - und schon bekommen manche Menschen Herzprobleme, Ausschlag oder Depressionen - schlicht Angst.

So erlebe ich also den besonderen Warenfetisch der Waren besonderer Art: Die Wirkung der Arzneimittel scheint unabdingbar mit ihrer äußerlichen Form verbunden. Genau wie Nike-Turnschuhe eben nicht nur einfach Turnschuhe sind, wird ein Arzneimittel durch ein anderes Label plötzlich zum gefährlichen Gift. Bei ihren Enkeln schütteln meine erbosten Patienten den Kopf - Erläuterungen, dass es sich auch bei ihren Arzneimitteln um Waren handelt, werden empört zurückgewiesen.

Nun könnte mensch meinen, da wird eine neue Generation nachwachsen, die sich ausschließlich am Wirkstoff orientiert - am Gebrauchswert eines allopathischen Arzneimittels. Doch ist das eine wünschenswerte Perspektive? Offenbar haben ja auch Homöopathika, Anthroposophika, Placebos einen Gebrauchswert - worauf immer er auch beruhen möge. Würden die Menschen also etwas verlieren, wenn der Zauberschleier über ihren Arzneimitteln weggezogen würde? Müssen Arzneimittel ihren Vodoo-Faktor behalten?

B.G., Apothekerin

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Dead Men Working

qualitätszertifiziert & lösungsorientiert?!

von Maria Wölflingseder

Der große, alles dominierende Geldfetisch gebiert ständig neue kleine Fetische. Möchtegern-Zaubermittelchen, um all den Wahnsinnigkeiten des alltäglichen Lebens Tarnkappen aufzusetzen, um all die Idiotie mit adretten Mascherln zu verkleiden.

Zum Beispiel flammt in regelmäßigen immer kürzer werdenden - Abständen ein Lebensmittelskandal auf. Oft müssen ungeheure Mengen an (Lebend-)Ware vernichtet werden. Und das, obwohl es in Österreich 91 Gütesiegel und Markenzeichen für Lebensmittel und die stets beteuerten "strengen Kontrollen" durch die AGES, die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH, gibt. All die Aufgaben in den Bereichen "Ernährungssicherung, Lebensmittelsicherheit, Tiergesundheit, öffentliche Gesundheit, Medizinmarktaufsicht" und viele andere sind auf www.ages.at detailreich beschrieben. Demnach müssten ökologisch-paradiesische Zeiten längst angebrochen sein. Diese breit angelegten Maßnahmen können jedoch all die G'schmackigkeiten nicht verhindern: von Analogkäse bis Klebefleisch, von Pestiziden, Herbiziden, Fungiziden in Obst und Gemüse bis zu Hormonen und Antibiotika im Fleisch, vorn Rostschutzmittel im Paprikapulver bis zu Uran im Wasser und gepanschtem Alkohol.

Ein anderes Beispiel: Alle Elektrogeräte werden nach Stromverbrauch klassifiziert und mit "Green Labels" zertifiziert. Immer detailreichere Energieeffizienz-Klassen werden kreiert: A, A+, A++, A+++. Umtauschaktionen werden initiiert: alte Kühlschränke, Waschmaschinen oder Autos sollen vernichtet und neue, sparsamere angeschafft werden. Was die Erzeugung der neuen an Umweltbelastungen mit sich bringt, wird jedoch nicht einkalkuliert. Aber nicht nur deshalb wird dem Ökomascherl immer weniger getraut. Auch die Haltbarkeit von Autos, Elektrogeräten und elektronischem Equipment wurde seit deren Erfindung kontinuierlich kürzer. Ganz zu schweigen davon, dass immer seltener Service und Reparaturen angeboten werden, und dass es kaum Ersatzteile zu kaufen gibt. "Das zahlt sich ja nicht aus." All diese systemlogischen Profit-Notwendigkeiten fallen langsam auch den inbrünstigsten Marktgläubigen unangenehm auf. So wurde etwa www.murks-nein-danke.de "gegen geplante Obsoleszenz" initiiert.

Kein Produkt, kein Unternehmen, das sich heute nicht mit unzähligen "Labels", also mit Prüf-, Güte- und Qualitätssiegeln schmückt. Nur "kundenfreundlich" zu sein, reicht heute nicht mehr aus. Um im knallharten Konkurrenzkampf zu punkten, braucht es mehr: Verschiedenste - oft zweifelhafte - Nachhaltigkeitslabels, etwa bei Verpackungen, über CSR (Corporate Social Responsibility) bis hin zur ISO (International Organization for Standardization)-Zertifizierung. Das CSR-"Pickerl" wird von Unternehmen aber allzu offensichtlich meist nur zur Image-Politur verwendet, zum "Greenwashing". Auch ein "Ablasshandel" wird von Kritikern konstatiert: Uni entsprechende Gesetze zu verhindern, wird beteuert, ohnehin "ethisch korrekt" zu wirtschaften. - Und wer sich die acht Grundsätze des "standardisierten Qualitätsmanagements" der ISO zu Gemüte führt und sie mit den tatsächlich herrschenden Zuständen vergleicht, kann sich ein Bild vom wahren Ausmaß eines Tarnkappenbombardements der etwas anderen Art machen: "Kundenorientierung, Verantwortlichkeit der Führung, Einbeziehung der beteiligten Personen, Prozessorientierter Ansatz, Systemorientierter Managementansatz, Kontinuierliche Verbesserung, Sachbezogenen Entscheidungsfindungsansatz, Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen."

Unangenehme Bekanntschaft mit einer Mogelei, mittels derer sich Unternehmen im Ranking nach oben schummeln, machte eine Tiroler Alleinerzieherin. Eine große, österreichweit tätige Firma brüstete sich mit einem Betriebskindergarten. Dieser schließt allerdings mangels Bedarf an Nachmittagsbetreuung zu Mittag. Als die Frau ihren kundtat, wurden sie und das Kind nach allen Regeln der Kunst gemoppt.

Offenbar ist immerzu Vorsicht geboten, sobald etwas besonders hervorgehoben und angepriesen wird. Der Schein, der Blöff, die Attrappe haben sich etabliert. Das potemkinsche Dorf hat sich weltweit in immer mehr gesellschaftlichen Sphären durchgesetzt. In der Politik sowieso. Besonders beliebt ist auch die Political correctness. Wie praktisch: "richtig" zu sprechen ersetzt die grundlegende Veränderung der Verhältnisse. Besonders skurril das Ansinnen, alle historischen Kinderbücher akribisch nachzukorrigieren. Insbesondere die Wörter Neger und Zigeuner.

Mit ausnehmend viel Aufwand und hohen Kosten vermitteln, kontrollieren, überwachen und prüfen staatliche Einrichtungen wie Mediationen, Bioethikkommissionen oder die Volksanwaltschaft - zum Schein! Denn letztlich gehen die sogenannten "Wirtschafts- oder Staatsinteressen" vor. Von allen Beschwerden an die Volksanwaltschaft werden gerade einmal fünf Prozent positiv erledigt. Und Bioethikkommissionen und Mediationen dienen in erster Linie der geordnete" Durchsetzung von Kapitalinteressen. Nicht viel anders verhält es sich mit den staatlich geförderten und gelenkten Umwelt- und Konsumentenschutz-Einrichtungen.

Das hippe Softskill-Adjektiv "lösungsorientiert" ist also nichts als ein Rohrkrepierer - sowohl in genannten Vermittlungseinrichtungen als auch in Unternehmen. Letztere haben die Lösungsorientiertheit in Callcenter outgesourct. Dort dürfen sich desorientierte Youngsters mit den Lösungsversuchen herumschlagen.

Aber die Hauptsache ist, man kann mit all den Tarnkappen, Mascherln und Kulissen Profit machen. Vergegenwärtigen Sie sich doch nur den gigantischen Aufwand, mit dem einerseits getarnt und getrickst wird und andererseits - oft nur zum Schein - versucht wird, das Tarnen und Tricksen hintan zu halten. Quasi eine "Doppelmühle". So kann bei jedem Zug beim Gegner ein Stein abgeräumt werden. Aber das Leben ist kein Brettspiel. Warum setzen wir den globalen absurden Theater kein Ende? Stellen Sie sich all die verschleuderte menschliche Energie und all die vergeudete Zeit vor! Höchste Zeit die Scheuklappen, die mit den Tarnkappen und Mascherln stets frei Haus mitgeliefert werden, abzunehmen. Hinter der Maskerade lauert nichts weniger als die Apokalypse.

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2000 Zeichen abwärts

Blech und Prestige

Wieder der Blechkultur-Wahnsinn auf der Straße, wenn ich mit dem Rad in Berlin-Kreuzberg unterwegs bin, zum Beispiel Wrangelstraße. In Mehrreihen-Formation parken die Wagen von Gewerbe-Leuten, AnwohnerInnen oder Touristinnen. Da mußt du Augen überall haben und besser nicht pokern wie manche Autofahrer. Durch den freien Fahrraum beweg ich mich slalom-artig, da geht es zwischen einem einparkenden Wagen auf der rechten Spur und einem in zweiter Reihe geparkten in der linken hindurch. Dennoch rauscht ein großer Mercedes-Kombi auf mich - in Mitte der Straße - zu, möchte nicht abbremsen. Die Message: Der Stärkere hat Vorfahrt (trotzdem hier auch, zu allem Überfluss, Spielstraße mit Tempo 30 gilt) und du, Radlerin, drück dich gefälligst aus der Bahn. Bei seinem Pokerspiel muss ich mich nach rechts in Richtung manövrierendem Einparker retten, mache eine wütende absenkende Handbewegung zum Raser, der an mir vorbeisausend etwas Unfreundliches aus dein offenen Fenster schnauzt.

Radfahren ist lebensgefährlich, bei einem Lärmaufgebot von Null Dezibel und einem Schadstoffausstoß von Null Abgasen: bescheiden, klimafreundlich und prekär. Auch in Berlin, das mit etlichen Radwegen als Vorbild gilt, bin ich auf der Hut bei jeder verengten Fahrspur aufgrund einer Baustelle, bei jedem aggressiven Auto-Fahrstil. Cool fahr ich gewiß nicht, ich verhafte mich lieber wie eine Schnecke mit Hirn, zumindest hierbei.

Zum Lachen find ich aber Umweltschutz-Predigten: Nachhaltigkeits-Moden, Toleranz-Sätze. Es geht um Zaster, wenn immer mehr Autos produziert werden, und es geht um Prestige und Bauaufträge, wenn etwa in Kreuzberg eine Autobahnzufahrt A100 gebaut wird, für die Bäume gefällt und Gartenlauben niedergewalzt werden. Müsste nicht für Naturfreundlichkeit ein gut Teil Statusdenken umgeworfen werden, das den Blechpanzern und ihrer PS-Stärke anhaftet? Wer sozial und naturfreundlich fahren will, braucht den Mut, "Schlußlicht" zu sein.

B.v.C

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Depression und Kapitalismus

von Lars Distelhorst

Der Staat hat Repression heute kaum noch nötig, da die herrschende soziale Ordnung auf einem weit verbreiteten gesellschaftlichen Konsens beruht, der sich vielleicht nicht allerorten aus begeisterter Zustimmung speist, in der gängigen Meinung, das Bestehende sei nun einmal nicht zu ändern, jedoch seinen stärksten Verbündeten findet. Hartz IV, Unterbeschäftigung, Working Poor und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitete Phänomene und führen in Deutschland zu einer Armutsquote von über 15 Prozent (Destatstis, 2012). Doch hat sich die Gestalt von Armut im Zuge der Entwicklung der westlichen Länder wesentlich verändert, führt heute vor allem zu sozialem Ausschluss und geht nicht mehr mit einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens einher.

Vor diesem Hintergrund bewegt sich auch die weit verbreitete Diskussion um psychische Erkrankung, an deren Spitze die Diskussion über die Verbreitung von Depressionen steht. Der dahinter stehende Gedanke lässt sich leicht zusammenfassen: Durch die immense Entwicklung der Wirtschaft ist es der modernen westlichen Gesellschaft gelungen, nahezu alle existentiellen Probleme zu überwinden und sich als stabiles politisches System zu etablieren, doch hat dies einen hohen Preis gefordert. Der heutige Mensch ist praktisch immer bei der Arbeit, stets gehetzt, rund um die Uhr erreichbar und dadurch einem immensen Leistungsdruck ausgesetzt. Das Resultat liegt auf der Hand: Viele halten den Druck nicht aus und werden psychisch krank - vor allem depressiv. Die Zahlen scheinen diese Diagnose zu untermauern. Knapp über acht Prozent der Bevölkerung leiden unter Depressionen, hinzu kommen gut vier Prozent mit diagnostiziertem Burnout-Syndrom, die Zahlen sind steigend und werden die Armutsquote mit einiger Wahrscheinlichkeit bald überflügeln (Kurth, 2012, 987). Es ist nicht verwunderlich, wenn die Verbreitung psychischer Erkrankung mittlerweile der Dreh- und Angelpunkt jeder Diskussion ist, in der nach den grundlegenden Problemen des heutigen Kapitalismus gefragt wird. In Abwesenheit lebensbedrohlicher Repression und Ausbeutung geht von der Depression ein Schauer aus, der einerseits das dumpfe Unbehagen vieler Menschen in der Gesellschaft erklärt und andererseits geeignet scheint, die von ihr ausgehende Bedrohung greifbar zu machen.

Die Depressionen können ebenso wenig wegdiskutiert werden wie ihre zunehmende Verbreitung, auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind. Doch den Grund für diese Entwicklung im Leistungswahn der modernen Gesellschaft auszumachen, erscheint bei näherem Hinsehen als eine sehr verkürzte Form der Kritik, die eher dazu angetan ist, den Bestand der etablierten Gesellschaft zu garantieren als ihre Veränderung voranzutreiben. Ein Blick zurück hilft, diese These zu illustrieren. Vor 150 Jahren, als der Kapitalismus noch auf klassischer Industriearbeit beruhte, die Landbevölkerung in die Städte strömte und nur die Alternative hatte, sich entweder bis aufs Blut ausbeuten zu lassen oder in Ermangelung tragfähiger sozialer Sicherungssysteme mehr oder weniger schnell zugrunde zu gehen, wären Arbeitstage von heutiger Länge und der mit ihnen einhergehende Lebensstandard den meisten Menschen als Paradies auf Erden erschienen. Viele Bergarbeiter blieben tagelang in den Stollen, und auch die Kinder blieben nicht verschont. Arbeitssicherheit gab es nicht, der Gesundheitszustand der Meisten war schlecht, die Lebenserwartung entsprechend niedrig und jede Form öffentlicher Kritik konnte verheerende Folgen haben. Engels Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England", Emile Zolas "Germinal" oder auch André Malraux' "La Condition humaine" veranschaulichen diese Situation in aller Deutlichkeit. Jeden Tag das Schreckgespenst der Entlassung oder der Invalidität vor Augen verausgabten sich die Menschen bis zur Erschöpfung und konnten froh sein, wenn ihr schmaler Lohn ausreichte, um die Familien zu ernähren, die sich in viel zu kleinen Wohnungen drängten.

Die Frage mag zynisch erscheinen - aber hätte diese Zeit nicht die Geburtsstunde der Depression oder immerhin depressiver Symptome sein müssen? War das nicht die wahre Leistungsgesellschaft und war der auf den Menschen lastende Druck zu dieser Zeit nicht wesentlich höher? Und wenn dem nicht so war - warum nicht?

Diese Frage lässt sich auf die heutige Zeit übertragen. Aktuellen Studien zufolge stammen die an Depression erkrankten Menschen nicht aus dem Bereich klassischer Arbeitsbranchen wie Bauwesen, Land- oder Forstwirtschaft, deren Erkrankungshäufigkeit ganz im Gegenteil um 35 bis 50 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Unter Depressionen leiden vor allem im Dienstleistungsbereich arbeitende Menschen, am stärksten solche, die in sozialen Berufen tätig sind (BPkT, 2010; 8f.). Um die These aufrechtzuerhalten, Depression sei das Ergebnis des allgegenwärtigen Leistungsdrucks, könnte der geschichtliche Exkurs und die heutige Verteilung der Depression in verschiedenen Berufsgruppen nur durch die Behauptung erklärt werden, in von klassischer Arbeit geprägten Berufen sei der Druck geringer als in der Dienstleistungsbranche. Da aber Bauarbeiter offensichtlich nicht mehr zu lachen haben als Sozialarbeiter, scheint eine solche These reichlich abwegig.


Kapitalismus als Tautologie

Die Richtung, in der möglicherweise eine Antwort zu finden ist, eröffnet sich durch eine kurze Betrachtung, was unter Kapitalismus zu verstehen ist. Kapitalismus gilt vielen als wertender Begriff, der vor allem darauf zielt, die Profitgier der heutigen Gesellschaft zu geißeln. Entsprechend wird er von Gewerkschaftsfunktionären und SPD-Politikern immer dann gerne genutzt, wenn es auf den Wahlkampf oder den Ersten Mai zugeht. Auch in akademischen Kreisen wird er mit Vorliebe gezückt, um der eigenen Position das Flair eines gewissen radical chick zu verleihen.

Solche Verwendung des Begriffs verwundert einen, wenn man Marx denn gelesen hat. Im "Kapital" wird der Begriff in rein deskriptivem Sinne verwendet, um den Dreh- und Angelpunkt einer ökonomischen Ordnung zu beschreiben, die durch den Kreislauf des Kapitals bestimmt wird. Kapital wird dabei als Geld bestimmt, das in Maschinen und Arbeitskraft investiert wird, um Waren zu produzieren, deren Zweck darin besteht, sich für mehr als das ursprünglich investierte Geld zu verkaufen, um mit dem Profit den Kreislauf auf erweiterter Stufenleiter erneut zu beginnen (MEW 23, 161ff.).

Das eigentliche Problem des Kapitalismus liegt darin, das Primat der Produktion stets in der Verwertung zu lokalisieren, zu der die Befriedigung von Bedürfnissen sich bestenfalls wie ein Nebeneffekt verhält (Heinrich, 2005; 84). Dass soziale Strukturen sich ab einer gewissen Größe von der unmittelbaren Intention ihrer Träger trennen und ein Eigenleben produzieren, ist bis zu einem gewissen Grad normal, doch der Kapitalismus steigert diesen Effekt in einem historisch einzigartigen Maße. Der eigentliche Zweck menschlicher Arbeit (Bedürfnis) wird zu einem bloßen Mittel (zur Verwertung), die Form (G-W-G') verdrängt ihren Inhalt (konkretes Produkt). Die Bewegung entzieht sich jeder gezielten Kontrolle, da sie durch die Konkurrenz von Akteuren angetrieben wird, deren einzige Vermittlung über die Anonymität des Marktes geschieht und die um ihrer Existenz willen gezwungen sind, den Zirkel immer wieder von neuem auf möglichst stark erweiterter Stufenleiter zu wiederholen. Aus dieser Sicht ist das Problem der heutigen Ordnung vor allem ihre Verselbständigung, die angesichts des Destruktionspotentials des Kapitalismus verheerende Folgen zeitigt (wie jüngst in Bangladesch gesehen).

Doch mit der Zirkularität des Kapitals geht noch ein weiteres, weniger thematisiertes Problem einher. Mindestens ebenso verheerend wie die mangelnde Kontrolle über den Kreislauf des Kapitals ist dessen Eigenschaft, eine perfekt geschlossene Tautologie zu verkörpern, denn in selbiger liegt ein nicht zu unterschätzender Angriff auf die psychische Integrität der Menschen verborgen. Roland Barthes hat in "Mythen des Alltages" die Tautologie treffend beschrieben: "Die Tautologie ist immer aggressiv. Sie bedeutet einen wütenden Bruch der Intelligenz mit ihrem Objekt. Sie ist die arrogante Androhung einer Ordnung, in der man nicht denken würde." (Barthes, 1964, 27). Dies hat wesentliche Konsequenzen für die Menschen, die gezwungen sind, in einer kapitalistischen Gesellschaft zu leben. Der Kapitalismus hat nicht nur eine historisch einzigartige Tendenz, sich jeder Form von sozialer Steuerung zu entziehen, er beseitigt auch die konkrete Bedeutung aller Dinge, Handlungen und sonstigen Lebensvollzüge, die Teil seiner kreisförmigen Bewegung werden. Oder kurz ausgedrückt: Er höhlt systematisch Bedeutungsverhältnisse aus. Ein Objekt oder eine Fähigkeit, die für sich betrachtet sehr spezifische Bedeutungen haben, büßen diese ein, sobald sie zu einem Produktionsmittel im Kreislauf des Kapitals werden. Jede produzierte Ware könnte ebenso gut eine andere sein, jede Arbeitskraft könnte mit der gleichen Berechtigung vollkommen anders eingesetzt werden, jedes Bedeutungsverhältnis ist stets nur artifiziell, provisorisch und den Fluktuationen des Kapitals unterworfen, von dem es schließlich ganz zum Verschwinden gebracht werden wird. Der Kapitalismus ist aus dieser Sicht eine Bewegung, die den Tauschwert an die Stelle des Gebrauchswerts gesetzt hat (Debord, 1996, 38) und jedes von ihr affizierte konkrete Bedeutungsverhältnis durch die Leere der Tautologie ersetzt. Die Frage ist, wie sich diese Tatsache auf die Psyche auswirkt.


Das Schwinden der Distanz

Marx beschreibt die psychischen Konsequenzen kapitalistischer Produktion mit dem Begriff der Entfremdung. Der Proletarier entfremdet sich von seinem Produkt, seiner Arbeit und schließlich - da sein Selbstverhältnis vor allem über Arbeit vermittelt ist - von sich selbst (Marx 1968, 514f.). Auf welche Weise die Entfremdung sich psychisch manifestiert und ob dies Ähnlichkeiten zum heutigen Zustand der Depression haben könnte, bleibt Spekulation.

Von wo die Entfremdung herrührt kann jedoch genau festgestellt werden: aus der Arbeitswelt. Hier macht er die Erfahrung, sich die Produkte seiner Arbeit nicht aneignen zu können, am Fließband nur kleine Komponenten zu fertigen, die keinen Bezug zum endgültigen Erzeugnis haben, seine handwerklichen Fähigkeiten vielleicht nur zu einem minimalen Teil ausspielen zu können und sich dadurch selbst fremd zu werden. Zwei Faktoren mindern die Effekte der Entfremdung jedoch. Zum einen ist es auch unqualifizierten Arbeitern möglich, ihre Arbeit mit Stolz zu versehen, indem sie trotz allem versuchen, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen (Sennett, 2006, 103f.). Zum anderen geht ihre Persönlichkeit nicht gänzlich im Produktionsprozess auf. Ihr Verstrickung in die Bewegung des Kapitals ist durch den Umfang ihrer für die Produktion relevanten Fähigkeiten ebenso limitiert wie durch das Ende des Arbeitstages. Ob ein Arbeiter höflich ist, gerne liest oder Fußball spielt, ist für seine Tätigkeit in der Fabrik vollkommen irrelevant, weil diese Eigenschaften nicht Bestandteil des Produktionsfaktors Arbeitskraft sind. Obendrein kommt er nach Arbeitsschluss nach Hause und kann in seiner Privatsphäre die Erfahrung eines nicht entfremdeten Lebens machen.

Diese Tatsache erklärt die Frage, warum heute klassische Arbeitsverhältnisse um die Hälfte weniger mit Depressionen einhergehen als Dienstleistungsberufe. Der Arbeiter bleibt mit einem Teil seiner Persönlichkeit außerhalb des Kapitalkreislaufs und wird entsprechend weniger von dessen Leere heimgesucht. Dies ist bei Dienstleistungsberufen gänzlich anders. Sie produzieren nicht nur einen Anteil von über 70 Prozent des Bruttosozialproduktes, sie bedeuten vor allem eine folgenschwere Verschiebung des Kapitalverhältnisses. Diese Verschiebung hat zwei Aspekte.

Erstens: Marx zufolge verkauft der Arbeiter seine Arbeitskraft als Ware an den Kapitalisten. Gegen den Strich gelesen steckt in dieser Behauptung die These verborgen, beim Arbeiter und seiner Arbeitskraft handle es sich um zwei verschiedene Dinge (was, wie gesehen, mit Blick auf klassische Industriearbeit auch korrekt ist). Dienstleistungsberufe gehen mit einer gänzlich anderen Struktur einher. Die Arbeitskraft eines (zum Beispiel) Sozialarbeiters kann nur schwerlich von seiner Persönlichkeit getrennt werden. Wo der Arbeiter vor allem seine Stärke und eine spezifische Form von Wissen als Arbeitskraft in den Kapitalkreislauf einspeist, kann beim Sozialarbeiter keine vernünftige Eingrenzung dessen vorgenommen werden, was er als Arbeitskraft verkauft. Sicher hat er einmal studiert und auf diese Weise ein bestimmtes Wissen erworben, und natürlich muss auch er sich physisch gesund halten, also essen, sich kleiden und eine Wohnung bezahlen. Doch damit ist es bei weitem nicht getan. Er muss eine bestimmte Weise des Umgangs mit seiner Klientel haben, engagiert sein, ein bestimmtes Erscheinungsbild haben, ebenso eine spezifische Weise, sich, die anderen und die Welt zu betrachten und vieles mehr. Zwischen ihm als Person und seiner Arbeitskraft gibt es damit keinen Unterschied. Persönlichkeit und Arbeitskraft sind deckungsgleich geworden. Wo es beim Bauarbeiter egal sein mag, welche Musik er gerne hört, ist dies beim Sozialarbeiter von großer Wichtigkeit, ebnet Musik doch - wie man heute weiß - insbesondere den Zugang zu schwieriger Klientel. Was eben noch außerhalb des Kapitalkreislaufs stand, wird nun dessen integraler Bestandteil und dadurch ins Herz der Tautologie gezogen.

Zweitens: Proletarier und Kapitalist sind durch eine klare Linie voneinander getrennt, wenn sie sich nicht gar im Klassenkampf gegenüberstehen. In Dienstleistungsberufen (und schleichend auch im Bereich klassischer Arbeit, der hinsichtlich Servicebetonung, Image und beruflichem Selbstverständnis langsam nach den Gesichtspunkten von Dienstleistungen umstrukturiert wird) geht dieses Gegenüber mehr und mehr verloren. Die Ich-AG war der allzu deutliche rhetorische Klimax einer Bewegung, die sich von oben nach unten in der Gesellschaft durchsetzt. Die Menschen werden mehr und mehr genötigt, sich wie kleine Kapitalisten zu begreifen und entsprechend zu handeln (Bröckling, 2007). Sie feilen an ihrer Employability, nehmen an Beratungen teil, die ihnen vermitteln, Probleme als Herausforderungen zu begreifen und pflegen akribisch ihre Netzwerke, auch wenn sie viele ihrer Bekannten vielleicht nicht einmal mögen. Arbeit ist heute kein Ausbeutungsverhältnis mehr, sondern für viele Menschen zum Medium ihrer Selbstverwirklichung geworden. Sicher trifft dies eher auf jemanden mit hoher Qualifikation als auf einen Empfänger von Sozialleistungen zu, doch auch Arbeitslose und Geringqualifizierte wie z.B. Verkäufer oder Friseurinnen werden entsprechend zurechtgemacht. Auf diese Weise kommt es zu einer schrittweisen Verkehrung der Perspektive. Erschien die Reihe G-W-G' im klassischen Kapitalismus dem Proletarier als W-G-W, da er nur arbeitete, um sich durch entsprechenden Konsum am Leben halten zu können, nehmen die arbeitenden Menschen heute immer mehr an ersterer Bewegung teil. Sie investieren Geld in sich selbst, verkaufen ihre Persönlichkeit und streichen am Ende (zumindest einige) mehr Geld ein, um den Kreislauf von neuem zu beginnen (besonders deutlich wird dies beim Personal Branding).

Diese beiden im Dienstleistungsbereich besonders stark ausgeprägten Bewegungen beseitigen den Abstand zwischen dem leeren Kreislauf des Kapitals und den Subjekten, was Distanzierung oder gar Widerstand wesentlich erschwert. Dies betrifft Menschen mit Arbeit ebenso wie Arbeitslose. Sind die einen bereits in den Kreislauf integriert, versuchen die anderen auf jedem Weg hineinzukommen und nehmen auf diese Weise an ihm teil. Wenn das Kapital eine tautologische Bewegung ist und selbige dazu tendiert, Bedeutungsverhältnisse zu nivellieren, wenn nicht gar aufzuheben, ist das moderne Subjekt vollkommen in diese Dynamik eingespannt, da es über keine Ressourcen mehr verfügt, um sich auf Abstand zu halten. Weder gibt es Aspekte seiner Persönlichkeit, die nicht als Kapital in Frage kämen, noch hat es ein Gegenüber, von dem es sich distanzieren könnte. Das Subjekt wird von der Leere des Kapitalkreislaufs aufgezehrt. Und genau hier ist die Verbindung zur Depression, die das psychische Spiegelbild dieser Bewegung ist.


Depression als Akt der Identifikation

Als Symptome einer Depression werden in der Regel Zustände wie Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Trauer, Gefühlslosigkeit, sozialer Rückzug und Verlust der Libido beschrieben. Depressive erleben sich selbst anders als zuvor, verändern ihr Verhalten und haben nicht selten körperliche Beschwerden, die ihren Grund vor allem in ihrem psychischen Zustand haben. Die Depression betrifft also den Menschen als Ganzes und ist wie ein Strudel, in dem langsam alles verschwindet, was die Persönlichkeit eines bestimmten Individuums einmal ausgemacht hat. Nicht selten ist das soziale Umfeld überfordert und zieht sich zurück, was den Zustand des Betroffenen verschlimmert (Deutsche Depressionshilfe, 2013). Die Entstehung von Depressionen ist bis heute unklar, ebenso wie die Frage, was eine Depression abgesehen von der Beschreibung ihrer Symptome eigentlich ist. Auf einschlägigen Webseiten finden sich in der Regel nur Aufzählungen, die physische, genetische, psychische und biographische Elemente kombinieren, um anschließend darauf zu verweisen, eine typische Depression gäbe es eben nicht. Die Krankheit bleibt bis zu einem gewissen Punkt ein Rätsel.

Zu Freuds Zeiten gab es eine psychische Krankheit, die in ihrer Symptomatik frappierende Ähnlichkeit zur Depression aufwies, heute aus dem psychischen Fachvokabular jedoch nahezu verschwunden ist - die Melancholie. Freud beschreibt sie als einen Zustand der Selbstzerknirschung, der mit Gefühlen innerer Leere und der Herabsetzung des Ich einhergeht. Die Entstehung der Melancholie geht auf einen gravierenden Objektverlust zurück, den das Subjekt nicht verarbeiten kann oder darf (wenn die Normen es verbieten), weswegen es sich vor der Einsicht in den Verlust durch die Identifikation mit dem Objekt zu schützen versucht. Das Objekt wird in das Ich aufgenommen und anschließend vom Über-Ich mit Angriffen überzogen, da sein plötzliches Verschwinden ein enormes Potential an Aggressivität freigesetzt hat (Freud, 1989, 197ff.).

Interessant sind an dieser Stelle vor allem drei Momente. Erstens ist die freudsche Melancholie eine Krankheit, die aus einem Konflikt resultiert. Das Subjekt kann oder darf nicht trauern und in seinem Inneren tobt ein kleiner Krieg, in dem sich Ich und Über-Ich aneinander aufreiben. Zweitens handelt es sich bei der Melancholie um eine Krankheit der Identifikation, wobei es die dergestalt vollzogene Internalisierung des Objekts ist, die erst zur Ausbildung der entsprechenden Symptomatik führt. Drittens ist die Melancholie eine Krankheit, die von einer schrittweisen Entleerung des Ichs geprägt ist, die bis zur völligen Verarmung reichen kann (ebd., 206).

Auf dem Weg von der alten Melancholie zur heutigen Depression gibt es eine ausschlaggebende Veränderung. Alain Ehrenberg verweist auf die Tatsache, dass die heutigen Gesellschaften nicht länger durch Verbote mitsamt den daraus resultierenden Konflikten strukturiert sind, sondern vor allem durch einen weiten Horizont von Möglichkeiten, aus dem das Subjekt beständig zu wählen gezwungen ist, um seine Identität für andere und die Gesellschaft attraktiv zu machen. Wo es in der Gesellschaft Freuds um Schuld ging (die Schuld des verstorbenen Objekts, die Schuld, falsch geliebt zu haben, etc.), geht es nunmehr vor allem um die Verantwortung für die Modulation der eigenen Identität (Ehrenberg, 2008, 15f.). Das moderne Subjekt sei übermäßig damit beschäftigt, sich selbst immer wieder neu zu erfinden und verliere sich in einem narzisstischen Zirkel, der schließlich in die Depression münde, da es zwar händeringend versucht, es selbst zu sein, an dieser Aufgabe jedoch permanent scheitert (ebd., 179).

Der von Ehrenberg beschriebene Prozess spiegelt sich in der Omnipräsenz sozialer Netzwerke, der gesellschaftlichen Verpflichtung zur Originalität und der allgemein anerkannten Hippness kalkulierter Abweichung. Wer zwei Stunden am Tag sein Facebook-Profil pflegt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob die dahinter stehende Wahrnehmung, noch jeder kleine Lebensvollzug sei es wert, medial aufgearbeitet und öffentlich gemacht zu werden, nicht eher einer fatalen Selbsttäuschung entspricht, hinter der sich eine Person verbirgt, der ihr eigener Narzissmus zum Gefängnis geworden ist. Beachtenswert ist jedoch, dass die Depression bei Ehrenberg wie die Melancholie als Krankheit der Identifikation und des Mangels bzw. der Leere verstanden wird. Letztere resultiert ihm zufolge aus dem ständigen Gefühl, nicht genug Identität akkumuliert zu haben und hinter den Erwartungen anderer und des eigenen Selbst zurückzubleiben. Es gibt immer noch ein Kleidungsstück, das man mal probieren sollte, ein Coaching, an dem teilzunehmen ein lohnendes Unterfangen wäre und offene Fragen, die sich bei Hinzuziehung entsprechender Beratungsangebote vielleicht klären ließen. Die heutige Verbreitung entsprechender Angebote und die Überflutung der Bücherregale mit Ratgeber- und sonstiger Werd-Besser-Literatur lässt Ehrenbergs Standpunkt nahezu selbstevident erscheinen.

Doch lässt sich die Argumentation durch Rückgriff auf die vorherigen Ausführungen über den Kapitalismus und dessen Tendenz zur Subversion fester Bedeutungsstrukturen auch umkehren. Statt einem notorischen Scheitern der Identifikation ließe sich ganz im Gegenteil von einer vorbildlich funktionierenden Identifikation sprechen. Wenn der moderne Kapitalismus sich dadurch auszeichnet, jedes Individuum als Kapitalisten anzurufen und statt einer gegen die Persönlichkeit abzugrenzenden Arbeitskraft den ganzen Menschen mit all seinen Eigenschaften ins Rad der Produktion zu spannen, ist die Leere der Depression nichts anderes als die Identifikation mit der Leere des Kapitalkreislaufs selbst. Das Verschwinden des Klassenwiderspruchs, die abnehmende Relevanz von Ausbeutung und Unterdrückung und die unternehmerische Modulation der Persönlichkeit haben die Distanz zum Kapitalkreislauf beseitigt und drohen jede Lebensäußerung des Subjekts in selbigen zu integrieren. Dem heutigen Subjekt ist potentiell alles Kapital, ob nun in seiner ökonomischen, kulturellen oder sozialen Gestalt (Bourdieu, 1983), sogar das Emotionale ist bereits erschlossen (Illouz, 2007, 102). Freundschaften werden zu Netzwerken, Intellektualität mutiert zu Problemlösungskompetenz und ein dickes Fell zu Frustrationstoleranz. Der in seiner Totalität zum Produktionsfaktor gewordene Mensch macht an jeder Ecke seines Lebens die Erfahrung, wie wenig es auf die konkrete Dimension seines Lebens ankommt, schließlich besteht das Ziel immer in der Verwertung an sich, nicht aber in ihrer konkreten Form. Wie auch immer das Subjekt seine Identität gestaltet, wird sie dort, wo sie in den Kapitalkreislauf eingeht, in die Sinnlosigkeit der Tautologie hineingezogen und von ihrer Leere affiziert. Die Identifikation mit dem Kapital ist die Identifikation mit der Leere, und diese äußert sich als Depression. Aus dieser Sicht ist die Depression weniger eine Abweichung als Symptom einer gelungenen Anpassung an die Logik der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Das ist zwar ärgerlich, weil die Menschen krankheitsbedingt bei der Arbeit fehlen und dadurch hohe Kosten verursachen, es ist jedoch auch äußerst praktisch. Denn wo kaum noch jemand über eine Identität verfügt, gibt es auch keinen Ort mehr, der zur Basis von Widerspruch werden könnte.


Literatur

Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann, Suhrkamp, FaM.

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): "Soziale Ungleichheiten", Soziale Welt Sonderband 2, Göttingen.

BPtK (2010): Komplexe Abhängigkeiten machen psychisch krank - BPkT-Studie zu psychischen Belastungen in der modernen Arbeitswelt,
www.bptk.de/uploads/media/20100323_bptk-studie_psychische_erkrankungen_in_der_arbeitswelt.pdf (abg. 9.5.2013).

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst, Suhrkamp, FaM.

Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, übersetzt von Jean-Jacques Raspaud, Edition Tiamat, Berlin.

Destastis (2012): Pressemitteilung Nr. 369,
www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/10/PD12_369_634.html (abg. 9.5.2013).

Deutsche Depressionshilfe (2013):
www.deutsche-depressionshilfe.de/stiftung/depression-erkennen.php (abg. 9.5.2013)

Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst, Suhrkamp, FaM.

Freud, Siegmund (1989): Trauer und Melancholie, in: Studienausgabe Bd. 3, Fischer, FaM.

Heinrich, Michael (2005): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Schmetterling, Stuttgart.

Illouz, Eva (2007): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Suhrkamp, FaM.

Kurth, B.M. (2012): Erste Ergebnisse aus der "Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" (DEGS); in: Bundesgesundheitsblatt 2012 (55), Springer, Berlin.

Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband 1, Dietz, Berlin.

Marx, Karl (1989): Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Dietz, Berlin.

Sennett, Richard (2006): The Culture of the New Capitalism, Yale University Press, New Haven.

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Waffen, Heer, Soldaten*

Fetischismus all'Italiana

von Paolo Lago


Siam pronti alla morte...

(Italienische Nationalhymne)

Waffen, Truppen, Soldaten in Auslandseinsätzen und diese selbst sind im Italien von heute echte Fetische. All das scheint genau von der Art "Erhebung" und "Poesie" getragen zu sein, die ihm der Dichter Gabriele D'Annunzio in den Zwanzigerjahren zugeschrieben hat, der Hymnen auf das Heer und seine Waffen sang, in rhetorischen Figuren, die der Faschismus dann zum Großteil übernehmen sollte.

Ein Ding wird zum Fetisch, wenn es emotionell und symbolisch aufgeladen wird. Der Terminus geht zurück auf das lateinische Wort facticium (Zauber), mit dem die ersten portugiesischen Missionare den steinernen oder hölzernen Gegenstand der Verehrung bei Bewohnern Afrikas bezeichneten. Damit ist also der Charakter der Verwandlung eines Dings in Göttliches, Mythisches, in ein Objekt der Verehrung bzw. Anbetung in der Bezeichnung selber angelegt: Ein lebloses Etwas erhält durch Verehrung eine bestimmte symbolische Bedeutung (vgl. die Studie über den symbolischen Charakter des Fetischs bei heutigen Bevölkerungen Afrikas: Marc Augé, Le Dieu Objet, Paris 1998).

Waffen und Rüstung sind heute in Italien solche Gegenstände. Vor allem die letzten Regierungen, ob Mitte-Links oder Mitte-Rechts und erst recht das "technische Kabinett" Monti, haben über alle Maßen die Beschaffung von Waffen und militärischer Ausrüstung zu Lasten anderer Maßnahmen forciert. Milliarden Euro wurden für die Anschaffung von Jagdbombern bereitgestellt, während das Sozialbudget zusammengestrichen wurde. Trotz der Wirtschaftskrise leistet sich Italien täglich hunderttausende Euro für die "Friedensmissionen" im Ausland. Die Streitkräfte werden mit den modernsten Waffen ausgestattet, während es in den öffentlichen Schulen nicht einmal Geld für Klopapier gibt. Waffen und Militär sind ein Objekt der Anbetung. ein Fetisch der Macht, der von dieser selbst aufgerichtet wird.

Überdeutlich geworden ist das in der Art, wie die Regierung Mond, die sich aus einer geschlossenen Gesellschaft von Adeligen, Großbürgern und Militärs zusammensetzt, jüngst mit der Affäre um zwei italienische Militärangehörige umgegangen ist. Die beiden sind in Indien wegen der Tötung zweier indischer Fischer angeklagt. die sie angeblich mit Piraten verwechselt hatten: Sie wurden von der Rhetorik der Macht zu Nationalhelden und Vaterlandsverteidigern, zu mythischen Gestalten und Gegenständen der Anbetung stilisiert, während sie in Wirklichkeit einfach zwei von einem Reeder zum Schutz seines Öltankers gedungene Söldner sind.

Wie Roland Barthes gut beobachtet hat, ist der Unterdrücker als Verkörperung der Macht derjenige, der den Mythos konstruiert (Mythologies, Paris, 1957, 223). Die Macht hat solcherart eine mythische Bedeutung und kann ihre Gegenstände der Anbetung unter den Menschen verbreiten: An sich ist ein nicht geringer Teil der Bevölkerung in Italien gegen die Aufrüstung, aber der Waffen- und Militär-Fetisch ist nicht nur für die Regierungen und den Präsidenten der Republik unantastbar, sondern besitzt seine geisterhafte Macht auch unter den Leuten. Das zeigt sich an der Tatsache, dass ausgerechnet in einer Wirtschaftskrise dieses Ausmaßes, mit gewaltigen Einschnitten im Sozialbereich, bei den Pensionen, den Schulen und den verfallenden Spitälern die Bevölkerung angesichts der immer gewaltigeren Mitteln für das Militär einfach stillhält. Nichts geschieht. Die abstrakte Macht des Fetischs scheint alle Schichten der Bevölkerung zu durchdringen. Italien ist einer der führenden Waffenproduzenten, und (auch illegalen) Exporteure. Das Fetisch-Gespenst durchdringt alles in diesem sozial devastierten Land und erzeugt fetischistisches Bewusstsein und Gewissen. Es verwandelt sich in die Begierde der herrschenden Klasse nach Profit und wird auf einen Großteil der Bevölkerung als Schrei nach Lohn und Arbeit gespiegelt.

Der Fetischismus materialisiert sich jedes Jahr, wenn bei der Parade zur Festa della Repubblica am 2. Juni die Truppen mit ihren Waffen und gepanzerten Fahrzeugen vor dein Ministerpräsidenten, dem Verteidigungsminister und dem Staatspräsidenten wie in einer Militärdiktatur vorbeidefilieren. Pünktlich erneuert sich jedes Jahr vor einer jubelnden, Fähnchen schwenkenden Menge das fetischistische Ritual der Anbetung der militärischen Gottheiten. Italien ist schließlich auch ein Land, in dem das Heer bei Großveranstaltungen seine Juwelen zur Schau stellt: armierte Transporter, Kampfpanzer, Helikopter und Jagdbomber, auf denen dann die Kinder "zum Spaß" herumhüpfen dürfen, wenn die Leute wie zu einem tollen Volksfest voll Begeisterung hinströmen. Insofern ist Italien wie zur Zeit des Faschismus geblieben, als die militärische Prahlerei um- und es auf einen verheerenden Weltkrieg zuging.

Aber, wie Silvano Petrosino versichert: "Man darf nie vergessen: Der Götze wird fallen, aber nicht gleich, das Gespenst wird verschwinden, aber nicht gleich." (Soggettività e denaro. Logica di un inganno, Milano 2012, 50) "Der Götze wird fallen", wenn nicht heute, dann vielleicht morgen oder übermorgen. Der Fetisch und alle seine Mechanismen der Begierde sind dazu bestimmt zu fallen, wie auch dieser Kriegskapitalisnius, der sich noch in Zeiten am Lehen hält, die den Begriff Krieg schon längst vergessen haben sollten. Aber wir müssen noch warten: In Italien ist eben erst, zwischen einem Grillo, der immer mehr einem Diktator in Wartestellung gleicht, einem orientierungslosen Partito Democratico und einem Polo delle Libertà, der von der Niedertracht eines Berlusconi geführt wird, eine Regierung eingesetzt worden, die ganz der democrazia cristiana der Achtzigerjahre gleicht. Man hat gerade einen Sprung rückwärts unter die Führung eines uralten und "antiken'' Staatspräsidenten gemacht: Auf uns wartet vorerst eine neuerliche Zerstörung von allem, was sozial ist, und eine unaufhaltsame Anbetung des Fetischs des Kriegs.

* Übersetzung aus dem Italienischen: L. Glatz

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Das Vagante und das Extravagante

Flüchtige Notizen zu Fetisch und Sexualität

von Franz Schandl


Der Sexualfetisch ist in der Konstruktion einer der einfachsten, in seinen unendlichen Varianten aber einer der raffiniertesten und delikatesten Gebrauchswertfetischismen. Aufdringlich, fixiert, früher meist verschämt, zusehends aber unverschämt und allgegenwärtig.


Einst dienten Überlegungen zum Thema in erster Linie dazu, Modell-Perversionen vorzuführen. Der Fetischismus galt als eine "Störung des Trieb- und Affektlebens", wie etwa Wilhelm Stekel (1868-1940) in seiner voluminösen Studie gleichen Namens unermüdlich nachzuweisen versuchte. Auch Richard Krafft-Eibeling behauptete: "Der Fetischismus. Er beruht auf der Betonung der Vorstellung von einzelnen Körperteilen oder Kleidungsstücken des anderen Geschlechts, oder gar bloß Stoffen, mit welchen sich dasselbe zu kleiden pflegt, mit Wolllustgefühlen. Das Pathologische dieser Erscheinung ergibt sich u.a. grell daraus, dass der Körperteilfetischismus nie eine direkte Beziehung zum Sexus hat, dass ein Teileindruck vom Gesamtbild der Person des andern Geschlechts alles sexuelle Interesse auf sich konzentriert und dass in der Regel der Koitus beim Mangel des individuellen Fetisch unmöglich oder wenigstens nur unter Zuhilfenahme bezüglicher Phantasiebilder erzwingbar und selbst dann unbefriedigend ist. Ganz besonders zeigt sich das Pathologische der Erscheinung aber darin, dass der Fetischist als das eigentliche Ziel seiner Befriedigung nicht den Koitus betrachtet sondern irgend eine Manipulation an dem interessanten, als Fetisch wirksamen Körperteil oder Gegenstand." (Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie (1912), München 1993, S. 48-49) Für den Fetischisten ist "der Fetisch der ganze Vorstellungsinhalt" (S.176), dieser führe letztlich zu "psychischer Impotenz" (S. 178). (Alles zitiert nach Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 390-391)


Version und Perversion

Das Urteil war gesprochen und es hallte lange nach. Doch schon bald kamen Zweifel auf an dieser doch rigiden Sicht. Sigmund Freud schränkte dezidiert ein: "Der pathologische Fall tritt erst ein, wenn sich das Streben nach dem Fetisch über solche Bedingung hinaus fixiert und sich an die Stelle des normalen Zieles setzt, ferner wenn sich der Fetisch von einer bestimmten Person loslöst, zum alleinigen Sexualobjekt wird. Es sind dies die allgemeinen Bedingungen für das Übergehen bloßer Variationen des Geschlechtstriebes in pathologische Verirrungen." (Drei Abhandlungen über die Sexualtheorie (1905), Studienausgabe, Frankfurt am Main 2000, Band V. S. 64) Und Havelloek Ellis meinte bereits 1922, dass der Fetischismus "in seinein Wesen etwas absolut normales", "lediglich eine 'entwickelte und dissoziierte' Form des 'erotischen Symbolismus'" sei. (Zitiert nach Valerie Steele, Mode, Sex und Macht, Berlin 1996, S. 54)

Wir beschreiben hier den Fetischismus nicht als Abweichung von irgendeiner Norm, sondern als spezifische und konzentrierte Fixierung. Sexuelle Fetischismen sind Versionen der Sexualität, keine Perversionen. Unterstellt man letzteres, werden sie diskriminiert, nicht bloß in diesem oder jenem konkreten Fall, sondern pauschal. Alles, was sich abweichend bewegt, wird tendenziell als pervers tituliert, nicht selten ist dies mit Ausschluss oder gar Repression verbunden. Aus Devianz wird Delinquenz. Die Fetischismen werden damit allen kritischen Debatten weitgehend entzogen und als abartig denunziert. Was artig ist, entspricht hingegen der geforderten oder tolerierten Konvention. Was sich außerhalb dieser vollzieht, steht unter Verdacht. Ein nicht unbeträchtlicher Teil sexueller Möglichkeiten wird diffamiert und somit in doppeltem Wortsinn unmöglich gemacht. Die Reduzierung der sexuellen Varianz, die Stigmatisierung gewisser Praktiken, die Degradierung bestimmter Vorlieben, das alles macht den Sex zu einer stets bedrohten Freude. Aus Lust wird Unlust.


Akzeptanz und Devianz

Ob eine sexuelle Handlung oder Haltung akzeptabel ist oder nicht, hängt nicht primär von ihr ab, sondern von den Umständen, in denen sie sich verwirklicht oder zeigt. Kurzum: die selbe Bewerkstelligung kann sowohl erfüllend als auch erdrückend wirken, entscheidend ist, wie die Beteiligten sie empfinden bzw. ob sie diese gewollt haben oder nicht. Es hängt also an der konkreten Kommunikation der Akteure, nicht an den Gegenständen oder Praktiken. Es gibt keine Perversionen an sich. Wenn jemand gern Schuhe schnuppert, ist das sozial wie ökologisch, sexuell wie individuell in jeder Hinsicht tragbar. Ob es auch ertragreich ist, ist keine Frage, die eine allgemeine Antwort erforderlich macht.

Hier Urteile abseits der jeweiligen Konstellationen zu treffen, ist absolut unseriös. Das Sexuelle und das Korrekte gehen sowieso nicht zusammen, ohne dass Ersteres völlig verunglückt. Es gilt aufzupassen, dass diese Correctness nicht generell zur Attacke auf Erotik und Libido wird. Der Terror der Norm ist meist größer (vor allem in Summe) als jeglicher Terror der Abnorm, wenngleich es solchen schon auch geben kann. Sexualität auf einen Codex zu bringen ist nur möglich, wenn man Phantasie Gewalt antun will.

Gelingende Sexualität ist eine menschliche Aufführung, die von ihrer Inszenierung oder besser eigentlich von ihrem Spiel weiß, aber dies in Momenten der Zelebration vergisst. Eins wäre weder verkopft noch hätte es den Kopf verloren. Menschliche Sexualität bleibt zweifellos eng an die Phantasie gebunden, ja letztlich ist sie deren Produkt. Phantasie ist kein Instinkt, sondern ein soziales Konstrukt, eine außernatürliche, d.h. kulturelle Leistung. Und diese ist an und für sich deviant. Kurzum: Das Extravagante und das Vagante sind nur Spielarten und Varianten.

Die sexuelle Konvention ist Ausgeburt eines domestizierten Fetischismus. Dieser ist, obwohl vorhanden, so ausgedünnt, dass er nicht als solcher wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu seinen bösen Geschwistern gilt er als erlaubte und empfohlene Norm, mag sie auch langweilig und arm sein, weil in ihr lediglich das kontingentierte Potenzial an Entfaltungsmöglichkeiten realisiert wird. Im Prinzip ist dieser Standard (aufgrund gesellschaftlicher Zwänge und Zwangsvorstellungen) auf der Ebene einer niedrigen Triebabfuhr angesiedelt. Man sollte diese weder bagatellisieren noch akzeptieren.

Fetischismus heißt, dass das Performative und Partikulare, das Idealisierte und Fixierte, extrem auffällig in Erscheinung treten. So betrachtet wären Sexualfetischismen (wie übrigens auch alle anderen Alltagsfetischismen) nur Steigerungen oder Übersteigerungen von Motiven und Aspekten, die als gegeben anzunehmen sind. Die Fetischismen wären nicht anderer Qualität als das Gewöhnliche, sondern bloß von anderer Quantität und Signifikanz. Der Fetischist ist dann eben einer, der nicht das vorgegebene Maß einhalten möchte. Was den Komparativ betrifft, ist dieser nicht einfach als "besser" oder "schlechter" einzustufen, reichhaltiger ist er auf jeden Fall. Aber auch hier gilt es immer zu fragen nach den jeweiligen Situationen und nach deren Ausgestaltung, um Urteile zu treffen, die jenseits der Vorurteile sind.


Subtraktion und Surrogat

Standardisierter Sex ist subtrahierender Sex. Das Subtrahierte freilich verschafft sich auf Umwegen sein Recht, heute vornehmlich in der Pornographie. Die kann folgenloser konsumiert werden als etwa die Prostitution oder der Swingerclub. Pornographie ist besser als ihr Ruf, vor allem besser als die herrschende sexuelle Tristesse, allerdings ist und bleibt sie Surrogat, also Ersatz für das stets Versäumte, das auch dort nur simuliert werden kann. Aber es wird zumindest angesprochen, nicht einfach verdrängt oder gar verboten. In der Pornographie äußert sich das Versäumte voyeurisierend und masturbierend, aber nicht (oder äußerst selten) koitierend. Pornographie entledigt sich der Anstrengungen des Vögelns, gerade weil es virtuell um nichts anderes geht. Pornographie ist keine Begegnung zwischen Menschen, sondern eine zwischen Menschen und Artefakten.

"Es ist falsch, die Differenz von Pornographie und Erotik als Wesensunterschied zu interpretieren", sagt Peter Gorsen. (Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 80) Pornographie nimmt die sexuellen Mängel wahr und lindert sie auf ihre Weise. Pornographie ist der bürgerliche Abort unbefriedigter Geilheit "Pornographie, sozialkritisch und sozialkreativ genommen, schillert in der insurgierenden Ambivalenz real unerfüllten Glücks und der Idee seiner realen Erfüllung. Indem Pornographie zugleich das von ihr Unerfüllbare festhält, setzt sie den Aufforderungscharakter zu ihrer eigenen Abschaffung. Sie verschafft Genuss, aber unbefriedigenden." (Ebenda, S. 90)

Es ist die Diskrepanz zwischen Akt und Veröffentlichung, auf der Pornographie sich konsolidiert. Wird das eine gewollt, gilt das andere als verpönt oder grenzwertig. Zwar lässt diese Spannung nach, aber vorhanden ist sie nach wie vor. So gibt es eigentlich keine pornographische Handlung, sondern nur eine pornographische Darstellung. Pornographie ist die bewusste Verletzung eines Tabus, das auf dem formellen wie informellen Gebot des Nichtzeigens beruht. Scham wird verletzt, Intimität gebrochen. Indes, warum soll man etwas, das ist, nicht zeigen? Pornographie ist kein Außen, das via Internet immer mehr in die Mitte der Gesellschaft rutscht. Es war nie an einem anderen Ort, es wechselt dort nur vom Untergrund in die oberen Stockwerke.

Das Exzentrische der obszönen Phantasie kommt nicht aus dem Genre, sondern ist Ausdruck vorhandener Begierden. Es sind Rekonstruktionen, die sich dort einfinden, verdichten und vehement illustrieren. So auf die Schnelle sind folgende Fetischisierungen augenfällig: eine Fetischisierung der Geschlechtsorgane, eine Fetischisierung des zentrierten Blicks, eine Fetischisierung von Kleidung, Utensilien, Accessoires, eine Fetischisierung ritueller Abläufe. Diese taxative Aufzählung beansprucht keine Vollständigkeit. Das Feld ist weit...

Pornographie ist also weniger eine Verzerrung der Geilheit als eine offensive und oft auch aggressive Demonstration derselben. Sie ist ein sonderbarer Projektionsapparat, der das Scharfe noch verschärft, oft bis zur ideellen Verätzung. Das macht mitunter Angst, zu Recht wie zu Unrecht. Es wäre jedenfalls an der Zeit, darüber zu sprechen, denn zweifellos steckt im Porno viel Wahrheit. Pornographie ist weniger falsch oder gar verlogen als das Hauptabendprogramm oder die flächendeckende Werbung. Pornographie ist gerade deswegen erhellend, weil sie die männlich-heterosexuell codierte Obszönität der Sexualität kenntlich zur Schau stellt. Da ist so ziemlich alles am Tisch. Sie bringt auf den Punkt, was nicht auf den Punkt gebracht werden dürfte. Sie hört mit dem Andeuten auf. Jedes Mal geht es zur Sache, von der es nur noch eine zu geben scheint.

Pornographie ist die Exhibition der Kopulation. Im Gegensatz zu ihrer großen Mutter, der alles ein- und aussaugenden Kulturindustrie, ist sie um einiges redlicher. Die Sexualästhetik reicht gegenwärtig ja weit über das Sexuelle hinaus, die Waren selbst versuchen sich permanent als sexuelle Erscheinung, vom Autoreifen bis zur Klobrille. Der PR-Bereich funktioniert nach diesen Gesetzen. Die gesamte Kulturindustrie ist pornoid ohne pornographisch zu sein. In ihr geht es ganz unverschämt, aber doch versteckt immer um dasselbe. Auf den Koitus wird angespielt, aber er wird nicht gespielt, obzwar nicht öffentlich, ist er stets zugegen. Insofern macht es durchaus Sinn, dass in Pornos Fernsehserien und Spielfilme gecovert werden. Was dort fehlt, wird jetzt nachgeholt. Das Unterschlagene reklamiert sich in die Produkte.


Serieller Koitus

Das Schlimme an der Pornoindustrie ist nicht die Pornographie, sondern die Industrie. D.h. jenes Aggregat, das dem billigen Produzieren von Matrizen dient und jede Ästhetik und Exklusivität ständig schlägt. In der Pornographie präsentiert sich die Schönheit der Geschlechter in ihrer derbsten Prägung. Nicht, dass sie den Koitus zeigt, ist ihr anzukreiden, zu kritisieren ist, dass sie ihn industrialisiert, d.h. ihn seriell fabriziert, sodass die Ähnlichkeit der Szenen schnell ermüdet. Pornostars und noch mehr die in Pornos auftretenden Nichtstars sind oft einem atemberaubenden Tempo der Vernutzung ausgeliefert, eben weil die Darstellerinnen und die (meist schlechter bezahlten) Darsteller von Sequenz zu Sequenz hecheln. Es sind gehetzte Akkordarbeiterinnen und -arbeiter, die sich in diesen Filmen tummeln. Die Frage ist nicht nur: Was haben sie zu zeigen?, sondern auch: Wie ist es ihnen dabei ergangen? Letztere lässt nichts Gutes ahnen.

Es ist das Fließband, das stört. Und die Flut. Demütigend und verletzend am Porno ist nicht die Sichtbarkeit des Akts, diese Offenlegung der Geschlechter und ihre Vereinigungen, sondern das Serielle der Form. Das unermüdliche Herstellen des immer Gleichen gleicht der Abfütterung des Publikums durch Fast-Fond. Einmal mehr siegt die Redundanz der Ware. Die Singularität - ja auch jene der gestellten Szenen - wird zugemüllt. Sie werden ihrer Einzigartigkeit beraubt und als multiplizierbar betrachtet. In den exponierten Bildern verschwinden Gefühle und Empfindungen, Geilheit gebärdet sich totalitär und untergräbt damit auch ihr Vermögen. Es fehlt an Finesse. Lust deformiert sich zur Lüsternheit, Aufmerksamkeit verliert sich im Peeping. Es schmeckt nicht mehr, es ist alles zu viel. Die sexuelle Wüste des Alltags kontrastiert sich in einem Kaleidoskop eingebildeter Omnipotenz.

Doch diese illustrierte Geographie der Körper, insbesondere natürlich der Geschlechtsorgane, ist schon eine wilde und abenteuerliche Entdeckungsreise in eine uns zutiefst eigene Welt. Wenn jemand meint, da sei nichts zu lernen, irrt er gewaltig. Zweifellos verfügt das Genre inzwischen über inhaltliche Spektren und subversive Fähigkeiten, die man der Branche gar nicht zutrauen würde. Es ist doch nicht alles gleich und vieles harrt differenzierter Einschätzungen. Für die meisten Pornos aber gilt: Der fragmentierte Blick wird selten defragmentiert. Fixiert bleibt er isoliert, ist befangen am Gegenstand, den er dann nicht mehr deuten kann. Mögen die Bilder auch noch so eindringlich sein, sie leeren mehr als sie füllen. Sie sind ein Versprechen, das nicht hält und eingelöst werden kann, sondern lediglich als Versatzstück oder Lüge hängen bleibt. Hunger wird nicht gestillt, Durst wird nicht gelöscht, aber Interesse und Verlangen werden perpetuiert.

Die Erotik der Verdinglichung ist satt, aber schal. So macht dieser Fetischismus nicht heiß, sondern fühlt sich trotz der prächtigen Aufnahmen recht kühl und leblos an. Prototypisch dafür könnten etwa die meist gut gemachten Filme von Andrew Blake stehen. Männer erfahren darin zwar eine heilsame Relativierung, aber nicht durch die Wärme der Frauen, sondern durch ihre Kälte. Domestizierung hat Dominanz abgelöst. Newtonsche Modelle haben bei Blake laufen gelernt. Die Frauen treten auf als Herrinnen, die Männer als Statisten einer Staffage. Sex wird zu einer Frage von Styling und Stellung, von Make-up und Close-up. Diese Momente sind nicht bloß inkludiert (wogegen wenig zu sagen wäre), sondern sie exkludieren alles andere. Nicht dass die Geschichten meist ohne Geschichte sind, stört, was mehr stört, ist, dass Sexualität zu einem existenziell losgelösten Ereignis verkommt, dass Leben gar nicht mehr stattfindet, und wenn dann nur als billiges Luxussujet einer bourgeoisen Selbstbespiegelung firmiert. das nichts weniger als seine immanente Utopie preist. Da ist nichts Feuriges. In ihren schlechteren Passagen sind diese minimalistischen Filme von einer geradezu trostlosen Ernsthaftigkeit. Lachen kann man selten, doch Lust ohne Lachen ist keine.

Die sinnliche Entleerung findet natürlich nicht nur im inhaltlichen Genre, sondern auch im technischen Medium selbst ihr objektives Limit. Am allerauffälligsten ist das haptische Manko. Das Streicheln zu spüren ist erhebend und befriedigend, das Streicheln anzusehen hingegen äußerst langweilig. Was Haut und Hände können, das vermag kein Auge zu begreifen. So findet es auch keinen Eingang. Damit ist aber einem zentralen Aspekt der Sexualität der Weg in diese Filme abgeschnitten, die Berührung wird im Porno liquidiert resp. nur in der zugespitzten Form der Handgreiflichkeit ins Visuelle übersetzt. So wird das Auge in der Pornographie noch um vieles mehr überdimensioniert, als das schon im Alltag der Fall ist. Das optische Tier wird so gelegentlich zum optischen Ungeheuer. Wobei die virtuelle Macht eine Lächerlichkeit sondergleichen ist, ein Computerspiel für erwachsene Kinder, meist Knaben. Das ist übrigens auch gut so. Ähnlich wie dem Spüren ergeht es dem Schmecken und Riechen, sie sind im Porno nicht stellbar, weder vor noch dar. Auch Stimmung und Gefühl fristen ein trauriges Dasein, wirklich geglückt sind daher jene Szenen, wo es Regie und Choreographie gelingt, diese doch überspringen zu lassen. Darin, das Kaum-Präsentierbare zu präsentieren, besteht eine wirklich große Kunst.

Scham und Intimität sind gesellschaftliche Konstrukte ebenso wie Schamlosigkeit oder Exhibitionismus. Woher rührt nun die Darstellungseinschränkung und warum erleben wir gerade jetzt deren Niedergang? Folgt der verordneten Scham nun der verordnete Exhibitionismus? In einem Zeitalter, wo die Spannung zwischen Geheimnis und Exhibitionismus zusehends nachlässt, wird sich seine Position wohl ändern. Das einst Verschämte tritt ja immer unverschämter in Erscheinung, insbesondere in den virtuellen Welten gibt es keine Schranken mehr.

Nicht nur in der Pornographie herrscht das performative Gebot, die gesamte Kulturindustrie legt nahe, dass Aufführung und Ausstellung Pflicht sind. Die aktuelle Entwicklung ist äußerst zweischneidig. Einerseits ist sie eine Lockerung oder Aufhebung alter Verbote und Ächtungen. andererseits mündet sie in neue Verpflichtungen. Was man einst nicht zeigen durfte, das hat man auf einmal zu demonstrieren. Was läuft, ist eine Reformatierung, eine immanente Verschiebung der Akzente und Muster. Die Befreiung der Scham ist aber weder die Schamlosigkeit noch die Unverschämtheit, sondern ein selbstbestimmtes Individuum, das über sich und seine Grenzen selbst entscheidet. Nicht: Ich stehe zur Verfügung, sondern: Ich setze meine Fügungen.


Mehr, als es ist

In Schuhen mehr als Schuhe, in Strümpfen mehr als Strümpfe zu sehen, das sind durchaus schräge, aber keineswegs schreckliche Leistungen unserer geistigen und emotionalen Potenz. Manche Gelüste mögen etwas lächerlich sein, aber auch das spricht nicht gegen sie. Der Fetischismus macht freilich stets mehr aus alledem, er suggeriert, dass dem auch real so ist, nicht nur in seiner Imagination. Weil er diese als objektive Überwältigung inszeniert. nimmt er seine eigene Phantasie nicht ernst, sondern verdrängt sie durch Auslagerung. Im Fetischismus geben wir uns unseren Geschicken hin, ohne sie als solche zu erkennen. Strumpf und Schuh jedoch strahlen nichts aus, was wir nicht in sie halluzinieren. Warum gestehen wir den toten Dingen und leblosen Symbolen mehr Energie zu als unserer Sinnlichkeit, die doch das alles erschafft? Warum glauben wir diesen Kräften nur, wenn wir sie falsch positionieren?

Der eigenartigen Fragen wären gar viele: Warum ist die Übertragung einer Magenoperation weniger delikat oder appetitlich als die Übertragung eines Koitus? Nicht, dass ich das beantworten könnte, aber die Frage scheint nur gar nicht seltsam. Oder banaler: Was macht der Stöckelschuh, wenn er uns anmacht? Er tut gar nichts, aber er löst zweifellos etwas aus. Natürlich ist diese Phantasie spezifisch geprägt. Warum gerade High Heels mehr reizen als Gummistiefel wäre auf deren Entwicklung, auf die Historie von Bein und Schuh, und hier wiederum primär auf die geschlechtlichen Aspekte derselben zu untersuchen. Biologisch bedingt ist da aber gar nichts. Dass Frauen in Röcken zur Welt kommen, gilt inzwischen als widerlegt.

Der Sexualfetischismus hat eine sehr einfältige Geschlechtergeschichte. Der Mann ist das lenkende Wesen und die Frau hat das ledige und gestaltbare Unwesen zu sein. Implizit gilt das auch aktuell noch, selbst wenn die Geschlechter nicht mehr einfach biologisch bestimmbar sind. Dass Frauen nicht einmal zum Fetischismus fähig seien, wie es speziell die alten Fetischismustheorien postulierten, war jedenfalls nicht als Kompliment gemeint. Camille Paglia lobte den Fetischismus gar als Notwehrprogramm bedrohter Männer: "Der Mann ist Fetischist. Ohne seinen Fetisch würde die Frau ihn einfach wieder verschlingen." (Die Masken der Sexualität. Aus dem Amerikanischen von Margit Bergner, Ulrich Enderwitz und Monika Noll, München 1992, S. 47)


Mode und Magie

Der Zusammenhang von Mode und Magie, von Kunst und Fetisch ist so offensichtlich, dass jedes Leugnen sinnlos ist. In der Ästhetisierung sind ähnliche Mechanismen am Werk wie in der Fetischisierung. Keine Ästhetik ohne Ästhetisierung. Ästhetisierung äußert sich ja als konzentrierte Bewunderung und selektive Berauschung und hat nichts mit einer nüchternen Sichtung zu tun. Ja, ist Ästhetisierung ohne Anästhetisierung zu haben? Kann das Schöne auch außerhalb seiner Differenz wahrgenommen werden? Ist jeder Vergleich eine Wertung und somit schon durch den Wert kontaminiert?

Wird jemand als attraktiv bezeichnet, dann ist vorerst nicht von einem Menschen die Rede, sondern in welchem Ausmaße eine bestimmte Person den Maßen entspricht. Das mag traurig stimmen, aber alles andere wäre Lüge. Natürlich, nichts ist vergleichbar, alles ist einmalig. Aber wer auf den Tausch und die Werteskala trainiert ist, der vergleicht stets auf diese Weise. Dieser Maßstab ist im Kopf und unsere Sinne verhalten sich dementsprechend. Sie spuren. Selbst die Geschmäcker sind zu deuten als relative Abweichungen von den Normen.

Mode ist Bekleidung, die bewusst als Verkleidung auftritt. In der Tendenz ist das natürlich jede Kleidung, in der Mode jedoch wird dies extra hervorgestrichen und ständig betont. Das Extravagante macht sich einmal mehr zum Meister. Das Artifizielle hat das Funktionelle ausgebootet. Mode meint Modifikation des Körpers, und Fetisch meint diese noch weiter vorantreiben zu müssen "Mode ist der Komparativ von etwas, wovon Fetischismus der Superlativ ist'', behauptete James Laver (Modesty in Dress, Boston 1969, S. 119). Im Fetischismus übertreibt die Gesellschaft sich selbst. Aber sie erfährt dadurch auch ihre Pointe: Sieh mich an und erkenne dich!


Fixierung und Fragment

Vor allem die Fragmentierung von Körperzonen durch Gegenstände und Utensilien wird als Akzentuierung par excellence erfahren. Nehmen wir etwa der Nylonstrumpf und betrachten wir das obere Ende desselben, dort also, wo dieser meist noch intransparent verstärkt die Haut darunter zum Verschwinden bringt. Gerade jene farbliche Diskrepanz zwischen Stoff und Fleisch ist absolut markant und unübersehbar. Schwarz erzeugt zweifellos den größten Kontrast, offenbart eine optimale Fokussierung. Der Oberschenkel wird also nicht bloß wie das übrige Bein besonders betont, jener wieder übertrieben gekantet. Drastisch ist das. Wo Körper und Gegenstand aufeinander treffen, ist die Entzückung am größten.

Damenstrümpfe sind etwa dazu da, Frauenbeine zu exhibitionieren. "Man sieht die Stelle zwischen Strumpf und Rock. Ich habe diese Stelle an den Mädchen sehr gerne. Überhaupt glaube ich, dass jeder Mann diese Stelle sehr gerne hat", notierte Ödön von Horvath (Die stille Revolution. Kleine Prosa. Mit einem Nachwort von Franz Werfel, Frankfurt am Main 1975, S. 58). Es ist die scharfe Kante zwischen Haut und Produkt, die diesen immensen Charme auslöst. Nur die exquisite Kombination macht es möglich. Aber auch hier gilt: Was aktiviert und attraktiviert, ist der konstruktive Blick darauf. Es ist Einstrahlung, nicht Ausstrahlung. Das Sinnliche wie das Übersinnliche kommt von den gesellschaftlich dimensionierten Sinnesorganen, nicht von den Fetischen. Nicht die Fetische fetischisieren uns, sondern wir fetischisieren die Fetische. Die Fetische ergreifen uns nicht. wir ergreifen sie, auf dass sie uns haben. Schon Ludwig Feuerbach wusste: "Das Beispiel wirkt auf Gemüt und Phantasie. Kurz, das Beispiel hat magische, d.h. sinnliche Kräfte: denn die magische, d.i. unwillkürliche Anziehungskraft ist eine wesentliche Eigenschaft, wie die Materie überhaupt, so der Sinnlichkeit insbesondere." (Das Wesen des Christentums (1849), Stuttgart 1969, S. 225)

Scharf an der Kante ist die scharfe Kante. Sie figuriert als ein Zeichen mit vorgegebenen Mustern. Man springt auf etwas an. Die Raffinesse der Kantungen kann durch Multiplizierungen noch gesteigert werden, in etwa durch Tanstockings mit schwarzer Naht und schwarzem Rand, durch Netz- und Spitzenstrümpfe sowieso, wenn auch etwas anders konturiert. Kein sinnlicher Fetisch, der sodann nicht zu seiner industriellen Reproduktion findet.

Valerie Steele schreibt: "Die Beine sind der Weg zu den Genitalien. Strümpfe lenken die Augen des Betrachten beinaufwärts, während Hüfthalter die Genitalien rahmen. Vielen Männern erscheinen die Beine als Wegweiser zum gelobten Land, ein Effekt, der noch verstärkt wird, wenn sie mit Strümpfen mit Naht bekleidet sind." (Mode, Sex und Macht, S. 138) Wenn dies aber stimmt, und nichts spricht dagegen, dann ist diese Variante eine, die geradezu nicht auf sich, sondern auf das "normale Ziel", nämlich auf den Koitus hin orientiert. Der Fetisch ist dann kein Ersatz, sondern Instrument, ja Vehikel, zumindest in der Suggestion. Das ist er zumeist. Das Verfahren, Extremfälle zu konstatieren und den Fetischismus an ihnen zu charakterisieren, ist unseriös. Der Fetischismus ist keineswegs als Krankheit zu identifizieren. Niemand wird das Essen verurteilen, weil es welche gibt, die sich zu Tode fressen.


Torso und Liebe

Zu erwähnen wäre auch die spezifische Attraktion des Torsos. Es ist der ins Visuelle übersetzte Wunsch zur Einschränkung des Gegenübers, nicht als Ganzes soll es wahrgenommen werden, sondern als Teil, als Ausschnitt. Bei Männern, die auf den vagabundierenden wie voyeurisierenden Blick trainiert sind, ist das besonders ausgeprägt. Man kapriziert sich. Pathologisch wird diese Sichtung, wenn sie chronisch wird, eins nur noch Brüste und Beine, Löcher und Ärsche zu visualisieren und natürlich auch anzuvisieren versteht. Die Lust am Partikularen ist am Steigen, während die Lust am Ganzen im Sinken ist. Das gilt nicht bloß hier, sondern überall. Es ist das Partikulare, das uns immer wieder fasziniert.

Die Reduzierung resultiert wohl aus dem Drang, nicht alles wissen zu wollen. Nicht weil man die anderen partout verachtet, sondern weil man sie als seinesgleichen erkennt, hat man so eine begrenzende Sicht. Was folgt ist ein partikulares Interesse am anderen, gerade so wie es die Warengesellschaft vorgibt. Man weiß doch nie, was so in einem anderen steckt. Daher konzentrieren wir uns nicht auf ihn oder sie sondern auf Aspekte, die zweckdienlich sein könnten.

Zuneigung ist schwierig, und so beschränkt man sich auf Interessen. Wahrnehmung zugeteilter Rollen ist ja auch offizielles Programm, Fragmentierung bürgerliche Konvention. An den anderen interessieren Funktionen und Rollen, die für uns nutzbar oder abwehrbar sind. Alles Verhalten der vom Kapital dominierten Subjekte baut auf partikularen Interessen. Nur die Liebe vermag dies in ihren besten Momenten zu überwinden. Da ist man dann tatsächlich bereit, den Anderen ganz hinzunehmen und sich selbst ganz hinzugeben." Die alles Liebe ist die grüßte Kraft, die alles schafft", skandierten Laibach auf Nova Akropola (1985). Aber das würde hier zu weit führen und natürlich auch eine Debatte provozieren, inwiefern nicht gerade die Liebe als bürgerliches Konstrukt, das sie auch, aber nicht nur ist, auf der gemeinsamen Täuschung aufbaut.

Fest steht: Liebe baut mit fetischistischen Materialien. Fiktionen sind es, die Balken biegen und halten. In der Liebe erkennen sich zwar Menschen uneingeschränkt als Menschen an, versetzen sich dabei aber doch in einen Sinnenrausch, der auch als selektive wie entschiedene Halluzination dechiffriert werden kann. Einerseits bedeutet Liebe, sich dem anderen auszusetzen und hinzugeben, das Individuum als Ganzes anzunehmen, nicht auf partikulare Gleise abzustellen. Andererseits tummeln sich die fetischistischen Projektionen. Alles, was behagt. wird zum Popanz und alles, was nicht behagt, kommt in den Orkus der Verdrängung. Man sieht, was man sehen will, und übersieht, was man nicht sehen will. Dieser Zustand ist nicht durchzuhalten, vor allem auch, weil er im Alltag regelmäßig verunglückt. Popanz und Verdrängung sind nicht von Dauer. Das Spektrum der Aufmerksamkeit ändert sich. So hält die Liebe nie, was sie verspricht, und verspricht sich doch immer wieder...

Um das ansprechende Ganze herzustellen, ist es freilich nötig, ganze Teile auszublenden. Nur so kann das Richtige im Falschen richtig werden. Man richtet es sich richtig. Das ist zweifellos überhaupt die gängige Methode, das Falsche einzuschränken, indem man es wegzaubert. Diese Notwendigkeit ist alles andere als zu verachten, in dieser Illusion blüht gar einiges, allerdings scheitert auch einiges gerade an ihr. Somit liegt in ihr auch bloß eine sehr begrenzte Perspektive, selbst wenn sie im Augenblick ihrer Erscheinung das allergrößte Glück verspricht.

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Rückkopplungen

Wie wir leben wollen

von Roger Behrens

Tocotronic gründeten sich 1993, zwei Jahre später erscheint ihre erste Platte "Digital ist besser". Zwanzig Jahre später nun, zum Bandjubiläum, das zehnte Studioalbum mit nachgerade programmatischem Titel: "Wie wir leben wollen". Siebzehn Songs sind darauf versammelt, jeder für sich ein Statement zum Thema, musikalische Erläuterungen eines Quasimanifestes.

Das Albumcover ist in seiner Gestaltung sehr reduziert - wie schon bei "K.O.O.K." und "Tocotronic" - eine packpapier-beige Fläche, auf die mit rotem Stift in beinahe kindlicher Schreibschrift "Wie wir leben wollen" gekritzelt ist. Eine Reise in die Vergangenheit, oder besser: eine Reise in mehrere Vergangenheiten, Wege dorthin, zu dem, was gewesen ist und nicht mehr wiederkommt, also keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft mehr hat - obwohl doch, und das bringt die Spannung zur naiv anmutenden Parole "Wie wir leben wollen", eben dieser Spruch ganz und gar nach vorne zu weisen scheint, auf erst noch Kommendes. Die grafisch-formalen und damit auch inhaltlichen Referenzen sind ohne weiteres erkennbar:

Erstens - Ton Steine Scherben, das erste Album "Warum geht es mir so dreckig" (1971) und das zweite Album "Keine Macht für Niemand" (1972): Selbstbedruckte Pappumschläge, die Parole "Keine Macht für Niemand" wie an die Wand geschrieben. Hier geht es um Politik in Zeiten, in denen das Politische noch als künstlerisches Programm formuliert werden konnte: "Macht kaputt, was euch kaputt macht" war ein Imperativ, für den die Band nur Sprachrohr war; seine - auch ästhetische - Wirklichkeit erwies sich in der Praxis der emanzipatorischen Bewegung.

Zweitens - Trio, erstes Album 1981: neues Bandkonzept, das ein Jahrzehnt später, marktökonomisch längst etabliert, auch Tocotronic innerhalb des Musikbetriebs funktionieren lässt, eine repräsentativ inszenierte Do it yourself-Produktion, verkoppelt mit einer postmodernen, sublimierten Ironie- und Persiflage-Ästhetik. Wie auch später bei Tocotronic vollzieht sich die Politisierung der Kunst bei Trio bereits nicht mehr als historische Mission oder teleologische Vision, sondern als "kleine Literatur", als Ereignisbericht, als Sammlung von Anekdoten. Und dies zugleich in einer vermeintlich subversiven, dissidenten "Strategie" der durch Pastiche, Camp oder sogar Fake gebrochenen Überaffirmation.

Drittens - Tocotronic wurde 1993 von Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller gegründet (2004 kam Rick Mc-Phail dazu). Zank und Müller spielten zuvor in der Band Punkarsch bzw., nach Umbenennung Meine Eltern. Bis Ende der neunziger Jahre konnte man, an Bahnhöfen und anderswo, noch Graffiti finden in Kinderschnörkelschrift stand da "Meine Eltern".

Diese Anspielungen sind triftig und relativieren die programmatische Emphase der Titelparole "Wie wir leben wollen" zur Suche nach der verlorenen Zeit.

Schon 2007 hatten Tocotronic mit ihrem Album "Kapitulation" eben diese für sich erklärt. Was ist also zu erwarten, wenn Tocotronic nun wieder mit Verve Forderungen an die Zukunft zu proklamieren scheinen? Schon vorab hatten Tocotronic ihren Titel mit 99 Thesen gefüllt, zeitgemäß auf Twitter nachzulesen (twitter.com/99_Thesen), von "1. Als Zeichentrickgestalten" bis "99. Stumm". Als letzte Twitter-Eintragungen, die Hinweise: "Liebe Fanatiker_innen, nun ist es so weit: 'Wie wir leben wollen' ist ab sofort im Handel oder online unter bttp://www.tocotronic.de erhältlich." Sowie: "Liebe Fanatiker_innen, was wir Euch nicht unterschlagen wollen: Es gibt die Höfner Gitarre von Toco-Dirk zu gewinnen" inkl. Amazon-Link. Einige der Songs, deren Titel es semantisch hergeben, tauchen auch in der Liste auf: "Im Keller" oder "Auf dem Pfad der Dämmerung". - "Im Keller" ist das erste Stück (dessen erste Töne entfernt an Peter Lichts "Das Lied vom Ende des Kapitalismus" erinnern), die ersten gesungenen Worte: "Hey, ich hin jetzt alt. Hey. bald bin ich kalt." - Das letzte Stück, "Unter dem Sand", handelt vom Verschwinden: "Ich flüchte mit Dir / hinter die Tapetentür... Unter dem Sand / bin ich am Ziel angelangt."

Was spätestens jetzt (also am Ende der Platte) klar wird: Wenn die Parole "Wie wir leben wollen", wie es heißt, "von der Band ganz dezidiert nicht als Fragesatz formuliert" ist, so sind die vermeintlichen "Antworten" auch keine, die Thesen ein Konvolut aus Quatsch, Idiotie und politischen Banalphrasen. Der Satz "Wie wir leben wollen" und wie damit künstlerisch, musikalisch, politisch, ästhetisch etc. umgegangen wird, führt das ganze Projekt ad absurdum; wer 2013 ernsthaft von Tocotronic Hinweise erwartet, die die Parole mit Inhalt füllen, fällt dem billigsten Versprechen anheim, das die Kulturindustrie seit ihren Anfängen gibt. Sich von der Band als, korrekt gegendert, "Fanatiker_in neu" anrufen zu lassen und den musikalischen Proklamationen zu folgen (auf Twitter!), affirmiert als popbeflissene Haltung in individualistischer Variante das, was Adorno und Horkheimer "Aufklärung als Massenbetrug" nannten.

Dagegen scheint es vielmehr, als wenn "Wie wir leben wollen" von der Vergangenheit, einer unabgegoltenen, aber dennoch versäumten Vergangenheit handelt: 17 Stücke sind auf dem Album; auf dem ersten von 1993, "Digital ist besser", waren es 18. Der letzte Song der pubertäre, aber dennoch richtige Kalauer "Über Sex kann man nur auf English singen". Und der 17., der jetzt also mit "Unter dem Sand" korrespondiert, ist die berühmte Tocotronic-Hymne, die seinerzeit wirklich einzige, wenn auch schon misstrauisch oder hämisch als falsch durchschaute Antwort die auf die ja auch damals schon virulente Parole "Wie wir leben wollen" gegeben wurde und gegeben werden konnte: "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein"! Damit verband sich noch eine konkrete Utopie. die heute restlos verloren ist. "Wie wir leben wollen" hat kein aktualisierendes Potenzial, ist radikal nur im Rückblick zu verstehen. Aber "Wie wir leben wollen" ist heute keine Frage, weil es schon Anfang der 1990er keine war. Das reflektierend, müsste es insofern heißen "Wie wir leben wollten!"

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Selbstbehauptung als Subjekt

von Meinhard Creydt

Auf den Märkten der kapitalistischen Ökonomie kaufen und verkaufen die Individuen selbstständig und bewähren sich dabei als mehr oder minder geschickt nicht zuletzt in der Vermarktung ihres Eigentums bzw. ihrer Arbeitskraft. Mit dem bürgerlichen Recht macht den Individuen die Forderung schwer zu schaffen, ihre Position in der Welt sich als Resultat ihres freien Willens, ihres Einsatzes sowie ihrer Fähigkeiten und Energien zurechnen lassen zu müssen. Moral und Psychologie kultivieren diese Subjektform. Sie fokussieren und fixieren sich auf das Vermögen bzw. Unvermögen des jeweiligen Individuums, ichstark "sein" Leben "führen" zu können. Durch die Subjektform handeln sich die Betroffenen die Einheit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung ein. Aus der das Individuum überfordernden Fremd- und Selbsterwartung, ein starkes Subjekt zu sein, resultieren Scham- und Schuldgefühle. Sie gilt es abzuwehren. Bestimmte Varianten zwischenmenschlicher Beziehungen erlauben es, jene Persönlichkeitsanteile, die dem Subjektideal entsprechen, und jene, die von ihm abweichen, verschiedenen Personen zuzuordnen. Das intrapsychische Geschehen zwischen Subjekt und Individuum wird intersubjektiv gewendet. Für die im Folgenden grob skizzierten vier Individualitätsformen ist jeweils eine bestimmte zwischenmenschliche Konstellation charakteristisch. Typisiert werden bestimmte Weisen des Erlebens, der Erfahrungsverarbeitung und des Handelns. Konkrete Personen gehen in ihnen meist nicht auf.


Subjekt sein durch Überlegenheit

Eine erste Individualitätsform beinhaltet eine Subjektivität, die sich dadurch behauptet, dass sie sich von anderen positiv abhebt. Der Differenz zwischen Subjektideal und Realität des Individuums soll so begegnet werden, dass das "defiziente" Individuum außen ist. Das Empfinden, gegenüber dem Subjektideal nicht zu genügen, bearbeitet Ego, indem er sich auf die Schwächen des anderen konzentriert. Das Gefalle von oben nach unten ist dann charakteristisch.

Eine erste Variante des die eigenen Schwächen an anderen bearbeitenden Typs von Erlebens- und Handlungsweisen ist der helfende Stil. Er hält sich das Problem eigener Hilflosigkeit, Ohnmacht, Anlehnungsbedürfnisse und schwacher Anteile vom Hals, indem er sich als hilfreich, kompetent und fürsorglich für andere erleben kann. Implizit heißt es hier: "Gehen ist seliger als nehmen" und "Ich brauche nichts, ich gebe".

Der sich beweisende Stil inszeniert die Begegnungen so, dass sie zum Anlass werden, eigene Leistungen, Erfolge und Geltung überall auszustellen und entsprechende Anerkennung einzufordern. Der sich Beweisende steht unter dauerndem Druck, sich nach außen als vollkommener zu inszenieren, als er es faktisch ist. Diese Selbstdarstellung erfordert allerhand Aufwand und Energie. Ego spürt in seinem Sich-beweisen-Wollen nicht das Sich-beweisen-Müssen und versucht den impliziten Selbstzweifel beständig durch die Demonstration des eigenen Gelingens zu entkräften und fixiert sich auf dies ermöglichende Gelegenheiten.

Eine dritte Variante des die Schwächen von Ego am Alter bearbeitenden Typus von Erlebens- und Handlungsweisen ist der aggressiv-entwertende Stil (Schulz von Thun). Vorausgesetzt sind gesellschaftliche Verhältnisse, die Fehler oder mindere Leistung zum Anlass werden lassen für Selektion, für Herabstufung in niedrigere Schultypen, Qualifizierungs- und Bildungsgänge, für Nichtzulassung zu höheren Positionen in den gesellschaftlichen Hierarchien. Die Allgegenwart von Bemusterung und die Angst vor der Zurechnung massiver Fehler bilden den Hintergrund des aggressiv-entwertenden Empfindens und Verhaltens. In ihm ist die Aufmerksamkeit für die Fehler anderer stark ausgeprägt und gewinnt einen übermäßigen Umfang. Eine Vorform bildet das beobachtende Verhalten, das sich handlungsentlastet schlauer dünkt als die Handelnden. Der Krittler achtet beflissen darauf, sich nicht in die eigenen Karten schauen zu lassen. Das aggressiv-entwertende Empfinden lauert auf vermeintliche oder wirkliche Fehler anderer. Die eigene Genugtuung knüpft sich an das strafende Bemerken von solchem "Versagen" und aus Tadeln und Verhöhnen. In einer Welt von Widersachern sei mit anderen recht gnädig zu verfahren und sich selbst niemals eine Blöße zu gehen. Angriff gilt dann als die beste Verteidigung. Man stellt präventiv seine eigene Stärke, Gewitztheit, Schlauheit und Angriffslust demonstrativ zur Schau als Abschreckung gegen jeden möglichen Angriff.


Subjekt sein durch die Dienste anderer

In einer zweiten Individualitätsform orientiert sich der Betroffene daran, dadurch zum Subjekt zu werden, dass er Dienste von anderen verlangen kann. In einer ersten Variante tritt ein ebenso verwöhnter wie anspruchsvoller Gebieter auf, der sich als Liebling des Schicksals dünkt, die Gaben der anderen als selbstverständlich annimmt und sie bei ihrem Ausbleiben einfordert. Das Sich-Abheben von anderen ist hier nicht mehr mit einer wirklichen oder vermeintlichen Leistung für sie verknüpft. Die Existenz als Herr, der egozentrisch andere als seine Diener auf sich bezieht, geht mit einer Schwäche des realen Ichs einher, das sich selbst nicht aktiv an irgend etwas abarbeitet.

In einer zweiten Variante wird Ego subjektiv gewahr, dass er schwach ist. In der komplementärnarzisstischen Variante sucht man "sich ein idealisiertes Selbst bei einem anderen zu entlehnen" (Willi 1975, 78). Die Entfaltung des eigenen Selbst wird tendenziell zugunsten des eigenen Aufgehens in einem schwärmerisch idealisierten anderen aufgegeben. Sagt das Individuum im narzisstischen Modus: "Ich kann so grandios sein, weil du mich so schwärmerisch verehrst", so sagt "der Komplementärnarzisst": "Ich kann dich so schwärmerisch verehren, weil du (für mich) so grandios bist" (ebd., 80).

In einer dritten Variante dieser zweiten Individualitätsform geht es um jene Dienste von anderen, die dem Betroffenen nun angesichts seines Leidens als angemessen erscheinen. Das Scheitern bei der Ausweitung der eigenen Fähigkeiten wird als Infragestellung des Ichs als Subjekt erlebt. Selbstbehauptung heißt hier, aus Angst vor dieser Infragestellung der Ausweitung des eigenen Radius auszuweichen und ihn gering zu halten. Die implizite "Formel" der resignierten Lebensführung lautet: "Mein Lebensmodus, mich Schwierigkeiten zu entziehen, gibt nur das Machtgefühl, mich ihnen nicht stellen zu müssen." (Rühle-Gerstel 1980, 93f.) Der bedürftig-abhängige Stil erkennt die Forderungen an, die vom Subjektideal ausgehen. Mildernde Umstände werden geltend gemacht. Dein Individuum sei nicht möglich, die Anforderungen an es zu erfüllen. Nötig werde eine Begleitperson für das hilflose Individuum. Es betont ostentativ die eigene Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Beim Adressaten soll cm schlechtes Gewissen entstehen. Das Individuum wird hier dadurch zum Subjekt, dass es nicht nur Zuwendung und Hilfe erschwächelt, sondern darüber hinausgehende eigene Ansprüche durchsetzt. Appellieren lässt sich an die Rücksicht auf die wirkliche oder vermeintliche schlechte Situation des Betroffenen. Allerhand Dienste für ihn gelten ihm als Anzahlung auf die Wiedergutmachung seines schweren Schicksals seitens derjenigen, die es unverdient besser getroffen hätten.

Dem Subjektideal des sich in seiner Schwäche einrichtenden Individuums kam wenigstens bislang insofern Nahrung zu, als ihm die ihm zufließende Hilfe als Ausdruck davon gilt, dass andere ihn der Hilfe für wert befinden bzw. mit ihrer Zuwendung bestätigen, dass der Empfänger nicht aus eigener Schuld es an Subjekttüchtigkeit fehlen lässt. Eine vierte, dramatisch verelendende Variante kann entstehen, wenn das Individuum im bedürftig-abhängigen Modus andauernd lernen muss, dass es von anderen keine Hilfe enthält. Die Kluft zwischen Subjektideal und Faktizität des von Gott und der Welt verlassenen Individuums reduziert es nun auf besondere Weise. Es verzichtet nicht nur lieber auf bestimmte Wünsche, als dass es sie unbefriedigt lasst, sondern zieht sich auf einen Genuss der unentwickeltsten Stufe zurück. Der lasst sich durch Zufuhr von Essen, Trinken und Sonne sowie durch Schlaf erreichen. Schon hier ist die Gemeinsamkeit mit anderen zugunsten einer selbstgenügsamen Konzentration auf die eigene physische Befindlichkeit und auf das, was man sich selbst zuführen kann, verneint. In einer rabiateren Form wird die Dickfelligkeit mittels alkoholischer Abstumpfung erreicht. Das "Leben durch andere" geht hier über in ein Leben ohne andere, aber durch künstliche Substanzen. Sie sollen das Selbstgefühl wenigstens zeitweise nach oben schnellen und das Individuum sich dadurch als Subjekt erleben lassen, dass sie die Wirklichkeit bereits physiologisch vermittelt ausblenden.


Subjekt sein durch Unbetroffenheit

In einer dritten Individualitätsform bemüht sich der Betroffene, der Differenz zwischen Subjekt und Individuum so zu begegnen, dass von beiden Polen des Konflikts Abstand genommen wird. Darstellungen dieses Typus' bei Hemingway, Camus, Benn und Beckett macht Wellershoff zum Thema (1963). Der sich distanzierende Stil möchte das Erleben des Gegensatzes zwischen Individuum und Subjekt dadurch minimieren, dass er sich aus Situationen heraushält, die emotional diesen Gegensatz berühren und vergegenwärtigen könnten. Dieser Modus bevorzugt die Sachebene und die rollenmäßige Distanz. Der Sicherheitsabstand wird nicht nur zu den Mitmenschen gepflegt, sondern auch zu sich selbst bzw. zu den Gebieten der eigenen Psyche, in denen problematische Gefühle vermutet werden. Das Unnahbare, das Nichtbeteiligtsein und die Beobachterposition sind dem distanzierten Stil wichtig. Die Maxime lautet dann "Ich bin einer, dem kann keiner". Es geht darum, den affektiven Bezug zu Mitmenschen, Situationen und Objekten zu vermeiden, um Abhängigkeiten und Enttäuschungen zu entgehen. Entsprechende Motti lauten: "Wer sich mit anderen verbindet, auf Erden niemals Ruhe findet." Und: "Wer allein ist, hat es gut, keiner da, der ihm was tut." (Wilhelm Busch) Zum distanzierten Modus der Lebensführung passend meint Foucault, dass "die Gefahr, andere zu beherrschen und auf sie eine tyrannische Macht auszuüben, eben nur daher rührt, dass man sich nicht um sich gekümmert hat und zum Sklaven seiner Begierden geworden ist" (Foucault 1985, 16). Die "kritische Funktion der Philosophie leitet sich bis zu einem gewissen Punkt vom Sokratischen Imperativ ab: 'Beschäftige dich mit dir selbst', was heißt: 'Begründe dich in Freiheit durch Selbstbemeisterung'" (Schlusssatz des Gesprächs "Freiheit und Selbstsorge", Foucault 1985, 28).

Der distanzierte Modus kultiviert die Gegenposition gegen alles, was nach Betroffenheitskult und zu wenig ausgeprägter Distanz aussieht. Coolness erscheint demgegenüber als Ausdruck von Souveränität. Die Seele soll auf eine niedrigere Betriebstemperatur heruntergefahren werden und dies Unverwundbarkeit ermöglichen. Die Welt zerfalle in vielerlei Perspektiven und Teilwahrheiten. Das Engagement könnte sich leicht als Bestehen auf etwas naiverweise für wahr Gehaltenes herausstellen, das aus einer anderen Perspektive als Partikularismus und fixe Idee erscheint. Man möchte sich nicht für dumm verkaufen lassen und kultiviert Skepsis aus Angst vor dem Irrtum. Die Identifikation gilt insofern als problematisch, als sie ein Tun unangemessen affektiv überbesetzen und zu einem Sich-Versteigen und Sich-Verrennen sowie zur Verschrobenheit führen konnte. Ludwig Binswanger (1956) hat die Verstiegenheit und Verschrobenheit (neben der Manieriertheit) als Formen "misslungenen Daseins" meisterlich dargestellt. Der distanzierte Modus ist auf sie gegenfixiert. Mit der Ironie wird der Generalverdacht kultiviert gegen emotionale Tiefe, geschäftliche Redlichkeit, geistige Wahrheit und moralische Wahrhaftigkeit. Alles erscheint tendenziell als Bluff, Simulation oder Schein. Die toughe Abgeklärtheit, sich nichts vormachen Zu lassen und insofern sich mit nichts zu identifizieren, erfüllt die Betroffenen mit Durchblickerstolz.

Eine Variante des distanzierten Stils bildet der ästhetische Daseinsmodus. "Alles ist nur so lange schön, als es uns nichts angeht. ­... Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens." (Schopenhauer 1937, 428) Foucaults Lebenskunstkonzept geht es um die "Anstrengung, seine Freiheit zu bejahen und dem eigenen Leben eine gewisse Form zu geben" oder um "die Ausarbeitung des eigenen Lebens als eines persönlichen Kunstwerks" (Foucault 1986, 135). Das Subjekt ver- und entwirklicht sich hier darin, sich in seinen "Stil" einzudrehen. Die Diskrepanz zwischen Individuum und Subjekt soll nun dadurch verschwinden, dass zum vornehmsten Anliegen des Individuums die Stilisierung der eigenen Existenz avanciert. Die Immanenz der Form des Gehabes wird zum Maßstab einer manierierten Lebensführung, der es bei allem Was vorrangig ums Wie geht. Auf diese Weise vermag das Individuum sich als Subjekt vorzukommen, dem sich sein Sein in der Welt um sein ästhetisches Zentralgestirn dreht.

Und darum geht es in der subjektiven Ausgestaltung der Subjektform: Das Individuum muss sich als Selbstbestimmung leistend auffassen und dafür subjektiv einige Transformationen bewerkstelligen. "Vor allein aber arbeitet das Ich ständig an der Aufrechterhaltung des Gefühls, dass wir (und d.h.: jeder von uns) im Fluss der Erfahrung im Zentrum stehen und nicht an irgendeiner Peripherie herumgeschleudert werden; dass die Handlungen, die wir planen, von uns ausgehen und wir nicht herumgestoßen werden; und schließlich, dass wir aktiv sind, und uns durch schwierige Lagen nicht passiv oder untätig machen lassen." (Erikson 1975, 104)


Subjekt sein durch Identitätsdiffusion

Die vierte Individualitätsform besteht im Bemühen, der Differenz zwischen Subjekt und Individuum so zu begegnen, dass der Gegensatz zwischen beiden nicht wahrgenommen wird und, wenn doch, nicht als wahr gilt. Der histrionische Stil (von englisch histrionic "schauspielerisch, theatralisch, affektiert" und lateinisch histrio "Schauspieler") erzeugt und genießt eine das Individuum und seine Bezugspersonen betreffende Verwirrung, die es erschwert, das Auseinanderklaffen von individueller Faktizität und Subjektstatus wahrzunehmen. Wer sich im Vagen und Schwammigen bewegt, möchte den Gegensätzen zwischen Individuum und Subjekt sowie zwischen Individuum und Wirklichkeit ausweichen. So lässt sich nach Möglichkeit vermeiden, "Farbe bekennen" zu müssen.

Die Farbigkeit und Lebendigkeit des histrionischen Modus hängt an einer eigenen Produktivität zugehöriger Sinne und Fähigkeiten. Im Lichte seiner Effekte auf die anderen versucht der im histrionischen Modus Agierende sich selbst in eine andere Wirklichkeit zu manövrieren. Gefolgt wird der impliziten Vorstellung, mit den disparaten und divergenten Elementen der Welt spielerisch umgehen zu können und sie listig benutzen zu können, auf ihnen wie der Surfer auf der Welle reiten und von einer Welle zur anderen springen zu können. Identitätsdiffusion und Multiphrenie werden positiv gedeutet als Möglichkeit multipler Identitäten. Kohärenz und Kontinuität gelten als Einengung von Vielfalt und als Aufforderung zur Selbstdogmatisierung und Psycho-Sklerose.

Der histrionische Modus verweist auf die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Gestaltungsarbeit daran, dass das jeweilige In-der-Welt-Sein nicht bornierende Festlegungen und Fesseln beinhaltet. Der histrionische Stil baut ihnen gegenüber eine Faszination für die Offenheit auf, für das Neue und Überraschende und für phantastische Möglichkeiten. Sie überwinden ebenso überkompensatorisch wie imaginär jede Notwendigkeit und Begrenztheit, nicht nur die entfremdete, in der Perspektive von Freiheit und Veränderung. Es kommt zum Wechselspiel bzw. zur gegenseitigen Steigerung zwischen der mangelnden Arbeit an realen Fixierungen und Bornierungen einerseits, der Ausbildung eines phantastischen Möglichkeitssinnes andererseits. "Was überhaupt an konkreten Leistungen in realitate vorliegt, ist für ihn nur ein Abfall, er protestiert dagegen, dass er oder irgendeine Manifestation von ihm in der Beschränktheit gegenwärtiger Realität genommen werde. Das ist er nicht, das ist nicht sein Ich, er ist immer gleichzeitig noch unendlich vieles Andre, unendlich mehr, als er jemals in irgendeiner konkreten Sekunde oder bestimmten Äußerung sein könnte. Er betrachtet es als eine Vergewaltigung, ernst genommen zu werden, weil er die jeweilige Gegenwart nicht mit seiner unendlichen Freiheit verwechseln lassen will." (Schmitt 1919, 105f.) Der histrionische Modus erreicht seine Lebendigkeit und Farbigkeit, indem er alle existierenden Beschränkungen und Festlegungen imaginär bagatellisiert oder relativiert, um sich ihnen zu entziehen oder ihnen auszuweichen. "Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu." (Ödön von Horvath) Wer sich ständig "neu erfindet", genießt den Reiz des vermeintlichen Neuanfangs und meint, sich selbst das wichtigste Thema sein zu können, ohne die Selbstgenügsamkeit mit Langeweile büßen zu müssen. Das einschlägige Hilfsmittel - die vermeintliche unendliche Wandlungsfähigkeit - gilt als Ausweis der auf diese Weise möglich werdenden recht eigensinnigen Subjektstärke.

Der histrionische Daseinsmodus bildet just jene reale Praxis, auf die Foucaults Wunschbild von menschlicher Existenz praktisch hinausläuft. Foucault geht es um die "Überschreitung" als einer "permanenten Erschaffung unserer selbst", also um eine prinzipiell "unbestimmte Arbeit" ohne Ziel (Foucault 1990, 47 u. 49). Da "die theoretische und praktische Erfahrung, die wir von unseren Grenzen und ihrer Überschreitung machen, stets selbst begrenzt ist" (ebd., 50), ist ein unendlicher Prozess eröffnet, in dem gilt: "Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen" (Foucault 1987, 250). Notwendig ist die Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen, sich immer wieder "von sich selbst zu lösen" und mit sich zu "experimentieren" (Foucault 1989, 15; vgl. a. 1990, 50). Es geht darum, für "eine sukzessive Realisierung aller möglichen Identitäten" prinzipiell offen zu sein und "zahllose andere zu werden" (Klossowski 1986. 96f). Es geht um "die Bedingungen und unbegrenzten Möglichkeiten, das Subjekt, uns selbst, zu transformieren", so Foucault in der Vorlesung "Truth and Subjektivity" (zitiert nach Schäfer 1993, 62).

Diese vier Typen der Lebensführung bilden eine kräftige Quelle der Verschwendung von Aufmerksamkeit und Energie und sorgen zuverlässig für Aversionen und Zermürbungen. Mit diesen Individualitätsformen wird kultiviert, dass die vereinzelten Einzelnen ihre Beschränktheit gegeneinander geltend machen und gegen sich selbst geltend machen lassen. Eine Gesellschaft, die kapitalistisch mit ihrem abstrakten Reichtum und bürgerlich mit ihrer Subjektform nicht nur Umwelt-, sondern Innenweltverschmutzung als "Neben"produkt freisetzt, scheut sich aus gutem Grund vor einer umfassenden Bilanz ihrer Effekte. Denn sie würden den Fetisch des Bruttosozialprodukts als Kennziffer ihrer "Effizienz" und das "persönliche Gelingen" per Selbstbehauptung in der Subjektform in Frage stellen.


Literatur

Binswanger, Ludwig,' (1956): Drei Formen missglückten Daseins, Tübingen.

Erikson, Erik H. (1975): Dimensionen einer neuen Identität, Frankf. M.

Foucault, Michel (1985): Freiheit und Selbstsorge, hg. von Helmut Becker u. a., mit einem Interview von 1984, Frankf. M.

Foucault, Michel (1986): Von der Freundschaft als Lebensweise, Michel Foucault im Gespräch, Berlin.

Foucault, Michel (1987): Das Subjekt und die Nacht, Nachwort zu H. L. Freyfus, P. Rabinow: Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankf. M.

Foucault, Michel (1989): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankf. M.

Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung, in: E. Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankf. M.

Klossowski, Pierre (1986): Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München

Rühle-Gerstel, Alice (1980): Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München (zuerst Dresden 1927).

Schäfer, Thomas (1995,): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankf. M.

Schmitt, Carl (1919): Die politische Romantik, Berlin.

Schopenhauer, Arthur (1937): Sämtliche Werke, Bd. II, hg. v. A. Hübscher, Leipzig.

Schulz von Thun, Friedemann (1993): Miteinander reden. Bd. 2, Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung, Reinbek bei Hamburg.

Wellershoff, Dieter (1963): Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett, Köln.

Willi, Jürg (1975): Die Zweierbeziehung, Reinbek bei Hamburg.

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Immaterial World

Commoning und Commens

von Stefan Meretz

Die globale Commons-Bewegung tut sich schwer mit der konsensualen Bestimmung ihres ureigenen Gegenstands, den Commons. Wie bei anderen emanzipatorischen Ansätzen so findet auch hier ein mühsames Freischwimmen aus den bürgerlichen Bedeutungsbesetzungen statt. Jede partielle Klärung wirft sogleich neue Fragen auf, und immer wieder geht es ums Ganze.

Begonnen hat die Absetzbewegung mit der Kritik des Tragik-Theorems von Garrett Hardin, demzufolge ein Commons stets übernutzt und letztlich zerstört werden muss, wenn alle Beteiligten ihren Nutzen zu maximieren trachten. Commons werden hier kurzschlüssig als Ressourcen mit offenem Zugang (open access) definiert. Auswege zur Verhinderung der "Tragik der Commons" bieten dann nur staatliche Regulierung oder Privatisierung. Es liegt auf Hand, dass der Neoliberalismus hieraus ein mächtiges ideologisches Motiv zur Legitimierung forcierter Privatisierungen schöpfte, nachdem der Staat mit dem Niedergang des Realsozialismus gründlich desavouiert war. Und es verwundert nicht, wenn die NATO die offenen Weltmeere oder den Weltraum als "Commons" ansieht, die sie als suprastaatlicher Player zu regulieren, sprich: zu beherrschen gedenkt.

Doch Commons sind keine unregulierten Ressourcen. Die Beteiligten, etwa die Viehhirten im Falle Hardins, sind keine tumben und stummen Nutzenmaximierer, als die sie die bürgerliche Ökonomietheorie gerne modelliert, sondern Menschen, die im wohlverstandenen eigenen Interesse ihre gemeinsame Nutzung der Ressource (etwa der Viehweide) so absprechen, dass die Ressource erhalten bleibt und langfristig genutzt werden kann. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat dies anhand vieler empirischer Feldstudien gezeigt - noch völlig im Rahmen der Theorie vom homo oeconomicus. Der kommunizierende Nutzenmaximierer ist kluger. Commons werden folglich in fortgeschrittenen Ansätzen schon mal als "gemanagte" statt schlicht als unregulierte Ressourcen bezeichnet.

Ungebrochen war hingegen noch lange Zeit der Bezug auf stoffliche und zumeist natürliche Ressourcen: Wasser, Land, Wälder. Dies änderte sich mit dem Auftreten der neuen Commons: Information, Wissen, Kunst, Kultur, Software. In ihrem Fall bedeutet "Teilen" nicht halbieren, sondern verdoppeln, ist doch das Teilen und Mitteilen hier in der Regel mit schlichter Wiederholung bzw. mit nahezu aufwandslosem "Kopieren" verbunden. Sind stoffliche Güter und Ressourcen eher durch Übernutzung bedroht, können kulturelle Güter durch Unternutzung verwaisen. Viele Commons-Aktive sahen hierin lange einen riefen Graben zwischen rivalen und nicht-rivalen Gütern. Doch schnell wurde deutlich, dass mit dieser Sicht die Hardin'sche Ressourcenfixierung auf der Ebene der Nutzung wiederholt wird.

Der marxistische Historiker Peter Linebaugh brachte mit seiner prägnanten Formel "There is no commons without commoning" zusammen, was zusammen gehört: Commons sind nichts ohne den schöpferischen sozialen Prozess drumherum. Die Praxis des Commoning rückt nun in den Fokus. Die Freude über die Entdeckung des Sozialen in den Commons verdeckt jedoch manchmal, dass es nicht nur um einen sozialen Ressourcen nutzenden und erhaltenden Prozess geht, sondern dass dabei auch etwas herauskommt: Produkte. So wird immer noch gerne die irreführende Formel Commons = Ressourcen + Community + Regeln verwendet. Tatsächlich ist die Formel eher den Praktiken der traditionellen Commons entnommen als auf die neuen Commons beziehbar. Wieder wird reproduziert, was erklärtermaßen überwunden werden soll.

Die Untauglichkeit der produktagnostischen, eher auf die Bewahrung von Ressourcen bezogenen traditionellen Commons-Sicht fand ihren Ausdruck in der Schaffung eines neuen Begriffs für die neuen Commons: Peer-Produktion. Hiermit werden zwei zentrale Aspekte des Commoning deutlicher benannt: Es geht um die Tätigkeiten von Gleichrangigen (Peers), und es geht um die Schöpfung von Neuem, um Produktion. "Commonsbasierte Peer-Produktion", von Yochai Benkler eingeführt - wäre das nicht ein Kandidat für eine übergreifende Definition? Nein, denn "commonsbasiert" ist zu wenig, denn was nutzt eine Produktion, die zwar Commons nutzt, aber keine schafft? Sehr gerne produziert auch das Kapital "commonsbasiert", eigentlich schon immer - ignorant gegenüber den Folgen für die Commons. Commons-Aktivistin Silke Helfrich sieht klar das Dilemma und schlägt die "Commons Creating Peer Production" vor, was sich aber nur länglich mit "commonsschaffende Peer-Produktion" übersetzen lässt. Wie wäre es mit "Peer-Commons-Produktion" oder einfach nur "Commons-Produktion"?

Was aber ist mit dem Care-Bereich (Gesundheit, Kinder- und Altensorge, Pflege usw.) - sind hier nicht auch Commons zu finden? Wird nicht durch die Überbetonung des produktiven Aspekts die alte geschlechtliche Sphärenspaltung zwischen Produktion und Reproduktion wiederholt? Doch Care-Commons sind ein gutes Beispiel dafür, wie Prozess und Produkt zusammenfallen, wie Produktion und Reproduktion gerade nicht getrennt sind. Die Sphärentrennung ist ein Artefakt der Warenproduktion, Commons hingegen kennen sie nicht.

Allein weil Commons gesellschaftlich nicht die dominante Produktionsweise sind, sondern sich in den parzialisierten Bereichen der Warenproduktion behaupten oder entwickeln müssen, sind bestimmte Einseitigkeiten auch bei den Commons zu finden. Ihrer Potenz nach bieten Commons die Möglichkeit und die Strukturen, die Spaltung zwischen Produktion und Konsumtion, Produktion und Reproduktion, Inkludierte und Exkludierte zu überwinden. Gerade weil sich die Commons in ihrem Kern tatsächlich von der Warenproduktion unterscheiden, werfen sie im Prozess des Selbstbegreifens der eigenen Praktiken auch immer wieder neue Fragen auf, die nicht in den Kategorien der Warenproduktion gelöst werden können.

Die Commons sind eine Provokation, auch für die Commoners selbst. Das praktische und theoretische Herauswühlen aus den Logiken und Theoremen der Warengesellschaft kennt keine Automatismen und lässt sich nicht per Proklamation in die Welt setzen. Der Bruch ist ein Prozess.

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Wozu Entwicklung?*

Tanzania, das Kupfer, und ein Ende des Kapitalismus

von Andreas Exner

Entwicklung war eine große Erzählung. Zu groß. Noch bis vor Kurzem galt ihr alles. Nachhaltig sollte sie sein, ein Segen für die Menschheit. Während die EU zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank ihre Ränder kurz und klein schlägt, verdampft die dünn gewordene Suppe der Entwicklung vollends.

Nun scheint Entwicklung von einer hohlen Phrase in das Traumreich der vergessenen Worte überzuwechseln. Schon seit geraumer Zeit spricht die Weltbank ja weniger von Entwicklung, sondern vielmehr von Armutsreduktion im globalen Süden. Die neoliberale Strukturanpassung der 1980er Jahre, ein fortlaufendes Projekt ohne Ende, heißt heute einfach anders. Spätestens seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat der Kapitalismus im Grunde das Versprechen einer nachholenden Entwicklung unter dem toten Gewicht der Milliarden inhaltsloser Zahlen so genannten Werts begraben, die sich "verwerten" sollen und dies nur mehr unter zunehmenden Menschenopfern zustande bringen.

Dennoch spukt die Entwicklung noch herum, in den Entwicklungsländern, in der Entwicklungshilfe, in der Entwicklungspolitik. Unter so viele Anführungsstriche kann man das Wort freilich gar nicht mehr setzen, dass es noch einen Reim auf etwas Vernünftiges macht. Wie dem Bannkreis von Entwicklung entkommen, zur Befreiung ins Hier und Jetzt?


Das Entwicklungsbedürfnis

Woraus entspringt das Entwicklungsbedürfnis, das uns nicht aus dem Kopf will? Fragen wir, was man darunter landläufig versteht, so meint man wohl irgendeine Art der Verbesserung des Lebensstandards. Worin aber besteht diese Verbesserung genau? Hier schon beginnt die Schwierigkeit, und es enthüllt sich etwas. Im Folgenden will ich einige Thesen präsentieren, was Entwicklung eigentlich ist, und warum sie uns gefangen hält wie eine fixe Idee.

Das Entwicklungsbedürfnis ist eine schein-natürliche Ideologie des Niemals-Ankommens, des "Never-Catch-Up" und entspringt einem Paradox: Ausbeutung generiert Reichtum auf der einen, Armut auf der anderen Seite, und zwar als eine relative soziale Position. Armut bemisst sich immer im Verhältnis zu einer Gruppe, die nicht arm ist. Ein bescheidenes kollektives Lehen wäre keine Armut, sondern ganz einfach das Leben selbst. Die arm Gemachten, in ihrem Streben, die Kluft zu schließen, die sie von den Reichen trennt, eine Kluft, welche die Ausbeutung ihnen setzt und die sich beständig vergrößert, verlangen nach Entwicklung; zumindest nach einer längeren Geschichte der Ausbeutung. Nicht alle "Armen" wollen Entwicklung, denn da gibt es zum Beispiel jene, die kaum mit der globalen Stufenleiter des abfallenden Reichtums in Kontakt gekommen sind; es gibt sie, immer noch.

Das Entwicklungsbedürfnis setzt jedoch gerade eine Fortführung der Ausbeutung, also seine eigene Ursache, in noch größerem Maßstab voraus. Das ist ein Problem. Denn so kann es grundsätzlich nicht befriedigt werden. Dies deshalb, weil es eben Ausbeutung voraussetzt und damit die soziale Ungleichheit, deren Schere zu schließen es vorgibt und auch anstrebt. Entwicklung ist wie eine Karotte vor dem Esel, der den Karren der feinen Herren zieht.

Entwicklungshilfe als Versuch, dieses Entwicklungsbedürfnis zu stillen, muss versagen. Denn entweder ist sie eine Unterstützung der Ausbeutung, oder aber sie verteilt schlicht die Güter und Dienste der Ausbeuter. Diese aber vertrocknen in einer Situation, wo Ausbeutung nicht einen eigenen Kreislauf von Wachstum bildet, wie ein Windschutzstreifen in der Wüste, oder werden von der "Ökonomie der Beziehung" überwuchert wie landwirtschaftliche Hochleistungssorten vom Unkraut in einem von Pestiziden verschonten Acker. Dass Ausbeutung also einen eigenen Kreislauf von Wachstum bildet, ist offenbar keine triviale Angelegenheit, mal ganz abgesehen von den Menschenopfern, die dies involviert.


Eine Geschichte der Wiederholung

Wer sich nur einem Entwicklungsland befasst und seine Geschichte von den Anfängen der Kolonisierung bis in die Jetztzeit analysiert, erstaunt ob der endlosen Wiederholungen der immer gleichen Ideologie der Entwicklung. Sie verändert mitunter ihre Form, nicht aber ihren Inhalt. Nehmen wir den Fall von Tanzania, nur als Beispiel. Das Staatspersonal beklagt sich über die rückständige und träge Bauernschaft, die zu dumm ist oder zu faul um das für ihr Wohl Beste zu erkennen. Was die Bäuerinnen und Bauern denken, erfährt man selten.

Diese Dynamik war von den etwas weniger blutigen Phasen der deutschen Kolonialperiode über die britische Herrschaft, insbesondere in ihren letzten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, dieselbe wie nach der Unabhängigkeit 1961, vom so genannten Afrikanischen Sozialismus, der in die Zwangsumsiedlungen der 1970er Jahre mündete, über die neoliberale Strukturanpassung bis zu den Poverty Reduction Strategy Papers der Gegenwart. Immer sind es die Eliten, die es besser wissen als die Masse der Bäuerinnen und der Bauern, denen zu helfen ist, die nichts können aus eigener Kraft, denen man den Weg weisen muss, und sei es mit Gewalt.

Was denken diese Bäuerinnen und Bauern, diese in den Publikationen der Weltbank, den Reden des ehemaligen Präsidenten Julius Nyerere, den Berichten von Entwicklungshilfeorganisationen träge, sprachlose Masse? Wo sind ihre Träume, was wollen sie im Leben? Man schließt von sich auf sie, meint sie zu kennen. Wollen sie Entwicklung?


Gutes Leben statt Entwicklung

Ich wage eine These. Entwicklung fruchtet nicht, weil sie eine Angleichung der Lebensqualitäten in einem System anstrebt, das gerade eine fundamentale Ungleichheit der Lebensbedingungen setzt. Entwicklung ist genau deshalb erstaunlich resistent. Die Ungleichheit erzeugt den Wunsch zu den Reichen aufzuschließen, es ihnen gleich zu tun.

Entwicklung wird seit den 1980er Jahren immer wieder totgesagt, aber nie wirklich begraben, weil das System, das diese Idee aus sich hervortreibt, nicht begraben werden soll. Der wirkliche Abschied von Entwicklung bedeutet gerade, die Ausbeutung zu beenden, die Armut wie Reichtum als unversöhnliche Gegenpole menschlicher Erfahrung setzt.

Der wirkliche Abschied von Entwicklung wirft eine Menge von Fragen auf die wir nur erahnen können, solange von einem Ende des Entwicklungsbedürfnisses nicht die Rede sein kann. Er wirft die Frage auf, was überhaupt von dem, was heute reich zu machen scheint, in eine Welt jenseits der Ausbeutung transferiert werden kann. Die Frage wird zumeist zu einfach gestellt. Man denkt sich, diese oderjene Technologie sei irgendwie frei von Herrschaft, die sie erst erzeugt hat. Oder man denkt sich, diese oder jene Technologie sei eben von Grund auf neu zu konstruieren, um der herrschaftlichen Prägung zu entgehen.

Man sucht das Heil in Fabbern, Open Source Ecology und so fort. Nicht dass dies nicht verfolgenswerte Wege sind um Neues in die Welt zu bringen. Doch sind Zweifel angebracht.


Die Kunststoff- und die Kupferfrage

Wer wird den Fabbern Kunststoff liefern, wer den Traktoren der Open Source Ecology Metalle? Die Kunststofffrage ist die eine: man sieht geradezu zu Tausenden Hektar um Hektar vor sich, Biomasse für den rein stofflichen Bedarf; die Frage ist, wo liegt die Grenze und wer wird das alles anbauen wollen, wer wird sich an solcher Tätigkeit wirklich erfreuen können?

Die andere ist die Kupferfrage. Dort steckt vielleicht noch mehr Sprengpotenzial. Wer wird der allseits so geschätzten modernen Infrastruktur der Kommunikation das Kupfer liefern, den Computern all ihre bergbaulich gewonnenen Innereien, die, krasser geht's kaum, einer von der Welt entbundenen Geistigkeit als "immateriell" gelten?

Wer sind diese Menschen, die dafür arbeiten sollen? Wo sollen sie herkommen? Kennen wir sie? Der Einwand hat Gewicht, dass in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung alle möglichen Tätigkeiten, die heute noch verhasst wie die Pest sind und eine einzige Hölle, zur gesuchten Bewährungsprobe werden könnten, zu einer das Leben bereichernden Erfahrung. Aber gilt dies wirklich für die Maloche in einem Kupferbergbau in Hitze und Trockenheit, umgeben von Staub, Maschinenlärm und Hässlichkeit? Gilt dies überhaupt für den Bergbau mit all seinen kaum bewältigbaren ökologischen Folgen, die sicher nicht verschwinden, nur weil Bergeschlämme dereinst vielleicht post-kapitalistisch angehäuft würden - wenn in einer solchen Gesellschaft Bergbau noch in maßgeblicher Dimension betrieben werden sollte. Denn in einer post-kapitalistischen und zugleich herrschaftsfreien Gesellschaft dürfte Bergbau, wenn überhaupt, nur dann erfolgen, wenn zuerst einmal die von seinen Umweltschäden direkt betroffenen Menschen, heute oft Indigene, ihn auch freiwillig gutheißen. Das würden sie nur tun, wenn sie dazu bereit wären, auf ihre zumeist ackerbauliche oder fischereibasierte Lebensweise und die symbolische Bedeutung ihrer Landschaft zu verzichten.

Großer Bergbau zieht sehr gravierende Umweltfolgen nach sich. Bergeschlämme, die technisch häufig ein hohes Risiko darstellen und kaum langfristig unter Kontrolle zu behalten sind, was auch für post-kapitalistische Verhältnissen gelten dürfte, sind nur ein Beispiel. Aber nicht nur diese entlassen Giftstoffe in die Umgebung, die deren Nutzung unmöglich oder gefährlich machen. Bergbau hat auch viele andere ökologisch zerstörerische Auswirkungen, die betroffene Gemeinschaften häufig dazu zwingen, ihre Lebensweise drastisch zu ändern. Dass diese das freiwillig tun, ist nicht umstandslos vorauszusetzen. Generell stellt sich die Frage, ob Menschen überhaupt auf derart langfristige Schäden antworten, sie also auch verantworten können.

Recycling, ja, das wäre möglich, und es ist in der Tat vielfach bereits Realität. Wer aber wird die Hälfte allen überhaupt auf der Erde existenten Kupfers, inklusive des noch unter ihrer Oberfläche vorhandenen, das die moderne Infrastruktur der digitalen Kommunikation im globalen Norden bildet, in den Süden transferieren? Das wäre in etwa nötig, um den globalen Süden dem Norden rohstofflich gesehen ein wenig anzugleichen und den "digital divide", nebst einigen anderen Klüften, etwas zu schließen. Dabei käme immer noch kein gleicher Pro-Kopf-Bestand an Kupfer heraus, denn die Zahl an Menschen im Süden ist bei weitem größer als die der Leute im globalen Norden.

Was bliebe dann von der geschätzten "immateriellen" Kommunikation im Norden über? Selbst wenn man wirklich noch weiter Bergbau verantworten könnte und möchte - die Förderung eines Metalls wie Kupfer befindet sich wahrscheinlich bereits jenseits des oder nahe dem Gipfelpunkt, und auch die geringere Menge, die nach dem Fördergipfel noch zu gewinnen ist, kann nur unter bedeutend steigenden Aufwendungen an Energie. Stoff und Umweltschäden gewonnen werden.

Sicherlich muss man eine erhebliche Migration von Menschen aus dem Süden in den Norden unterstützen. Das ist zumindest ein kleiner Beitrag zum Ausgleich historischer Schuld. Doch würde sich, ins Extrem getrieben, damit auch nur die schon lange bekannte strukturelle Ungleichheit zwischen Stadt und Land in einem interkontinentalen Maßstab wiederholen.

Unwillkürlich drückte ein Abfallexperte auf einer Tagung zu strategischen Metallen ein noch tiefer liegendes Problem aus: Suffizienz, das Prinzip des Genug, das sei ihn] recht sympathisch. Auch mein Plädoyer für soziale Gleichheit finde er recht nett. Nur der Mensch sei einfach so, der will ein Handy, wenn es andere haben. Er selbst verzichte ja gern auf das Auto. Aber das Handy, nein, das gebe er nicht her.

Angemerkt sei hier nur, dass mein Plädoyer nicht auf Verzicht an Lebensqualität hinausläuft. Viel eher sollte man sich fragen, worauf wir im Rad der Warenproduktion eigentlich verzichten. Ein Investitionsverzicht ist viel mehr angesagt, denn die Investition bestimmt den Verbrauch. Dennoch erfolgen Investitionen nur in Erwartung des Absatzes von Waren im Konsum. Solange der letztere mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, anstatt Gemeingüter zu schaffen und soziale Gleichheit zu ermöglichen, ist folglich ein Netto-Investitionsstopp nicht denkbar.

Nun sind Kupferkabel aber nicht nur der recht irdische Träger in]materieller Datenströme, der auch nicht leicht durch Glasfaser und Aluminium für all die Anwendungen heute zu ersetzen ist, wie ein Blick in die Literatur dazu zeigt. Sie sind auch erstarrte Herrschaft, die sich in metallische Strukturen gegossen hat, die dem Kommando über Ressourcenströme dienen, dem Austausch von Informationen, derer andere schlicht entbehren.

Das Kupfer ist dabei nur ein Beispiel unter anderen. Es gilt zumindest auch für die Massenmetalle Kadmium, Chrom, Gold, Blei, Nickel, Silber, Zinn und Zink, ohne die moderne Infrastruktur nicht zu denken ist, und die den Untersuchungen von Werner Zittel zufolge sich wahrscheinlich ebenfalls an ihrem Fürderpeak befinden.


Häresien

Was eigentlich ist so schlimm an einem Leben mit einer weit geringeren Zahl an Computern, gar ohne Handys? Man ist entsetzt, Primitivismus lautet das Schlagwort, das dafür bereitsteht. Nein, Technologien können auch ganz anders sein, grüner, schöner, netter. Doch sind Computer wirklich in sozusagen handwerklichen Kooperativen zu erzeugen? Kann das ohne Zwang geschehen, ohne Herrschaft? Die Frage sei erlaubt.

Sicherlich, Technologien prägen den Menschen von Anbeginn seiner Evolution. Hier gibt es ein breites Band an Möglichkeiten zur Auswahl. Sicherlich auch ein gutes Stück an weiteren Verbesserungen oder einfach Anpassungen an sich verändernde Bedürfnisse.

Robert Kurz wagte einmal die Frage zu stellen, was eigentlich an den technologischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte wirklich neu sei, die Lebensqualität wirklich verbessere. Man darf ihn darin nachträglich unterstützen. Die Musik, um ein Beispiel herauszugreifen, befindet sich technologisch gesehen ruhigen Gewissens auf dem Niveau der 1950er Jahre. Die elektrische Gitarre etwa hat sich seit Jahrzehnten nicht wesentlich verändert, geschweige denn verbessert. Der schärfste Sound kommt immer noch aus der Röhre. Und wer den Unterschied zwischen Langspielplatte, leider aus Erdöl, und CD nicht hört, der ist wohl wirklich ein Banause.

Das soll nicht abstreiten, dass ein Soundcomputer, über den nicht wenige heute auch die Gitarre spielen und doch häufig nur den Sound der Röhre simulieren, neue Möglichkeiten des Klangs eröffnet. Allerdings ist es sicherlich kein Zufall, dass diese Möglichkeiten heute zu keinen musikalischen Neuerungen mehr Anlass geben. Im Grunde alles bereits dagewesen. Jimi Hendrix, György Ligeti, Sun Ra und Mr. Moog. Die 1960er und 1970er lassen grüßen.

Die digitale Kommunikation hat die Lektüre wohl verändert. Aber bat sie uns klüger oder wissender gemacht? Die Aufnahmekapazität für Informationen, und das hat noch nichts mit Wissen oder Wissenschaft zu tun, ist mit Sicherheit beschränkt. Was digitale Kommunikation erreicht, ist eine andere Art des Wissenszugangs, nicht immer nur zum Vorteil, will man meinen. Übrigens heißt eine hier gedanklich in Aussicht gestellte Schrumpfung dieser Form der Kommunikation keineswegs, dass sich alte, nicht mehr existente Formen der Lektüre und Wissensproduktion wiederherstellen würden. Das ist wohl gerade der Fehler eines wirklich primitivistischen Ansatzes. Die Gesellschaft geht niemals an einen früheren Punkt zurück.


Von den Menschen ausgehen.
Oder: Wenn Menschen aufeinander zugehen

Wenn ich über eine herrschaftsfreie Gesellschaft spreche, so rede ich wie ein Blinder von der Farbe. Die anderen Blinden fragen mich: Was wird aus unserem Kaffee? Was aus unseren Handys? Dazu kann ich nicht viel sagen, aber eines weiß ich: Niemand wird dazu gezwungen sein, mir Kaffee anzubauen oder Handys zu beschaffen, oder, meinetwegen, Saiten für die Gitarre, die ich spiele, oder gar diese selbst. Wer das nicht akzeptiert, ist, so leid's mir tut, ein Feind; der Menschen. Dass das nicht schlagend wird, hat seinen einzigen Grund darin, dass keine Bewegung existiert, die irgendeine wirksame Konsequenz aus diesem Umstand zieht.

Und wirklich: Man möchte fast verzweifeln an besagtem Umstand, nicht nur, dass es niemanden wirklich stört, jenseits sonntäglicher Bedenken, sondern auch dass man sich vor die Wahl gestellt sieht, auf die gesamte soziale Welt zu verzichten oder sich auf eine Position mehr oder weniger bequem zurückzuziehen, die dem entspricht, was man beklagen nennt.

Andere gingen in den Untergrund.

Zurück nach Tanzania. Wer wird den Bäuerinnen und Bauern dort Entwicklung bringen, wenn es keinen Kapitalismus mehr gibt, keinen Staat, der aus ihnen Steuern schöpft? Was werden die Bäuerinnen und Bauern dort eigentlich wollen, wenn die Rohstoffe aus dem benachbarten Kongo oder von sonstwo her über den Umweg Chinas oder Europas nicht mehr ihren Einzug als Handys noch in abgelegene tanzanische Dörfer finden?

Werden Menschen aus Europa in Scharen nach Tanzania strömen und endlich das aufbauen, was nach menschlichem Ermessen vor allem auf einem baut: auf Ausbeutung. einem Tun, das Andere kommandieren, zum Nutzen Anderer, die selbst nicht wissen wozu eigentlich?

Vielleicht könnte man von Venezuela lernen, ein leichteres Exempel freilich, nicht zu vergleichen mit dem den westlich-kapitalistischen Normen gegenüber so derart sperrigen "Fall Afrika", das zwar längst zu einer totalisierten Marktwirtschaft eigener Art geworden ist, aber doch nicht und nicht Entwicklung zeigen will. Ja, sicherlich, in Venezuela ging das voran, unter Chavez: eine Verbesserung der Ernährungslage, mehr von dem bitter nötigen Konsum für die Masse der arm Gemachten. Der Einwand, das beruhe doch alles nur auf den staatlichen Erdöleinnahmen ist zwar überzogen, aber auch nicht ganz falsch. Vor allem beruht es auf einer Weltwirtschaft, die definitiv vom Erdöl abhängt. Was aber nach Peak Oil?

Stelle ich hier einfach zuviele Fragen? Vielleicht. Mein Ansinnen freilich ist dabei nicht, die Zukunft im Voraus zu ergründen. Keineswegs ist auszuschließen, dass Leute ihren Sinn und ihre Freude darin finden, Tiefseekabel zu verlegen. Mein Ziel jedoch ist, zu ergründen, wie man sich wohl vernünftigerweise dazu verhalten soll: zur Entwicklung.

Eine praktische Conclusio, als Versuch: Unterstütze kein Bestreben, das von einem Plan der Verbesserung der Lebensbedingungen anderer Menschen ausgeht, den nicht diese Menschen selbst aufgestellt haben und auszuführen in der Lage sind, und zwar auf gleicher Augenhöhe mit Dir und anderen. Was das wohl in Tanzania heißen würde?

Nun, dazu müssten diejenigen, die das interessiert, die Leute dort erst mal fragen, und nicht nur die mit Stimme und mit Fahrrad, sondern auch die, die ihr eigenes Feld kaum bestellen können, weil sie, um nicht zu verhungern, auf denen der Reicheren, die in unseren Augen immer noch hoffnungslos arm sind, arbeiten müssen. Oder umgekehrt: Es gälte abzuwarten, ob eine Frage von dort uns erreicht. Und wenn es ein Mensch ist, der ein besseres Leben in dem Land sucht, wo die Früchte seines Landes landen, dann wäre er schlicht aufzunehmen.

Vielleicht wäre das eine gute Antwort auf Entwicklung.


* ursprünglich erschienen auf www.kaernoel.at

*

Auslauf

Kapitalismus als Religion

von Walter Benjamin

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.

Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung.

Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen "Wochentag", keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.

Dieser Kultus ist zum Dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müsste halten können, noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weitzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos, das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste, der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt.

Ihr vierter Zug ist, dass ihr Gott verheimlicht werden muss, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.

Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewussten verzinst.

Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen "Sprung" nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des "non facit saltum" unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt, hat Nietzsche präjudiziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus.

(Fragment 1921)

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AutorInnen

Roger Behrens, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Walter Benjamin, 1892-1940. Geb. in Berlin, Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer (Proust, Baudelaire, Balzac), Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung. 1933 Emigration nach Paris, nahm sich auf der Flucht vor der Gestapo an der spanischen Grenze sein Leben.

Julian Bierwirth, 1975. Studium der Sozialwissenschaften. U.a. bei Gruppe 180° aktiv. emanzipationoderbarbarei. blogsport.de

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Autor von Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit (2000). www.meinhard-creydt.de

Lars Distelhorst, Studium der Politikwissenschaft, Promotion am Otto Suhr Institut der FU Berlin. Er lehrt Soziologie und Soziale Arbeit an der Hoffbauer Berufsakademie in Potsdam.

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, 2003 bis 2011 Redakteur der Streifzüge. U.a. bei social-innovation.org aktiv.

Lorenz Glatz, Streifzüge.

Barbara Grün, 1957. Apothekerin & wissenschaftliche Dokumentarin, verbringt den bezahlten Teil ihres Lebens in einer kleinen Landapotheke in der Rhön. Den wichtigeren Teil widmet sie der Suche nach eben demselben.

Dietrich Hoß, 1943. Professeur émérite für Soziologie an der Universität Lyon 2, in den 60ern Engagement im SDS in Frankfurt, dann am dortigen Institut für Sozialforschung. Versucht den Brückenschlag zwischen kritischem Denken in Deutschland und Frankreich. journcritique.canalblog.com

Paolo Lago, 1974. Studium der klassischen Philologie. Er beschäftigt sich mit der Rezeption klassischer Literatur in der Moderne und Postmoderne, dem Verhältnis von Literatur und Kino sowie Theorie und Kritik des Kinos.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Lebt als freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Franz Schandl, Streifzüge.

Annette Schlemm, 1961. Physikerin und Philosophin, lebt in Jena und betreibt das virtuelle "Philosophenstübchen" auf www.philosophicum.de

Walther Schütz, 1958-2012. Ausbildung zum Hauptschullehrer, Studium der Geographie und Geschichte. Ab 1989 beim ÖIE-Kärnten/Bündnis für Eine Welt in Villach. www.kaernoel.at

Birgit von Criegern, 1976. Studium der Literatur, Islamwissenschaft und Diskursanalyse. Lebt in Berlin, journalistisch und schriftstellerisch tätig und in Basisgruppen unterwegs. interschriften.wordpress.com

Maria Wölflingseder, Streifzüge.

Petra Ziegler, Streifzüge.

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IMPRESSUM

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Quelle:
Streifzüge Nr. 58, Sommer 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2013