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STREIFZÜGE/033: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 60, Frühling 2014


Streifzüge Nummer 60, Frühling 2014

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde





INHALTSVERZEICHNIS

Stefan Meretz: Einlauf

Andreas Exner: Von der Einhegung der Liebe zur Polyamorie?
Erste theoretische Erkundungen in einem wenig bekannten Terrain

Stefan Meretz: Keimform und gesellschaftliche Transformation

Ulrich Weiß: Vergebliche Suche nach Keimformen

Franz Schandl: Kein Form!
Wir haben nichts zu erfüllen, außer uns selbst

Annette Schlemm: Dass nichts bleibt, wie es ist ...

Andrea Vetter: Keimformen und Konvivialität

Christian Siefkes: Wie der Kapitalismus entstand. Und was uns das über die Entstehungsvoraussetzungen der nächsten Gesellschaft lehrt

Georg Merseburger: Hausprojekte als Organisationsformen des Prekariats. Oder: Privateigentum, Kollektivhäuser und der Commonismus

Home Stories: mit Beiträgen von Sarah Scholz, Barbara Grün und Uli Frank

AG Sexualität der Gruppen gegen Kapital und Nation: Der Hass auf Homosexuelle. Thesen zur Kritik der bürgerlichen Sexualitäten

Meinhard Creydt: Stufen der Subjektivierung

Stephan Hochleithner: "Arbeit in die Kalahari!"?

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz - "Keimform und Elementarform"
Dead Men Working: Maria Wölflingseder - "Lauter Simulanten"
Rückkopplungen: Roger Behrens - "Artpop"

Rubrik 2000 abwärts
Hedwig Seyr (H.S.): Dazugehören

Rezension
Lorenz Glatz (L.G.) zu Lisa Mittendrein: Solidarität ist alles, was uns bleibt. Solidarische Ökonomie in der griechischen Krise

Auslauf: Petra Ziegler "Ende der Vorgeschichte"

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Einlauf

von Stefan Meretz

Ich hatte das Vergnügen, den Schwerpunkt als Gast-Kurator zu betreuen. Es lief einfacher als gedacht, am Ende hatten wir sogar mehr Artikel, als wir unterbringen konnten.

Die Keimform-These spricht einen bestimmten, aber selten thematisierten Aspekt der an Marx orientierten Theorie an: Wie gehen gesellschaftliche Systeme unterschiedlicher Qualität in der Entwicklung auseinander hervor? Traditionell schien dieses Thema in Bezug auf den Kapitalismus mit der Figur der die Macht ergreifenden Arbeiterklasse gelöst zu sein: Die regelt das dann. Doch so schlicht und politizistisch funktioniert(e) der geschichtliche Prozess nicht. Die untergegangenen realsozialistischen Versuche bezeugen dies. Das Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen ist weitaus komplexer als gedacht.

Der Keimform-Ansatz liefert neue Überlegungen. Er liegt quer zum uralten Streit um Revolution versus Reform, da er primär die Frage nach der Produktionsweise stellt. Vereinfacht ausgedrückt versuchten Revolutionär*innen wie Reformist*innen die Verfügung über die Warenproduktion zu bekommen, um dann entweder die Ergebnisse umzuverteilen oder die Ausrichtung der Produktion umzuorganisieren. Die Herausforderung, dass Produkte gar nicht erst Warenform annehmen sollten, stellte sich ihnen nicht.

Aus Sicht des Keimform-Ansatzes steht hier die gesellschaftliche Transformation auf dem Kopf. Ihm zufolge geht es darum, die gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf nichtwarenförmige Weise herzustellen, also die Frage der Produktionsweise direkt zu stellen und praktisch anzugehen. Dies schließt politische Interventionen nicht aus, nur ist der Maßstab für solche Interventionen nicht die Durchsetzung spezifischer Machtinteressen, sondern die Schaffung und Verteidigung von Rahmenbedingungen zur Entfaltung einer neuen Produktions- und Lebensweise.

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Von der Einhegung der Liebe zur Polyamorie? *

Erste theoretische Erkundungen in einem wenig bekannten Terrain

von Andreas Exner

Wenn wir über Schenken, Teilen und Beitragen nachdenken, betrifft das nicht nur den Bereich der heute so genannten Produktion, die Betriebe. Es betrifft auch den davon als getrennt wahrgenommenen und organisierten Haushalt. Historisch betrachtet ist der Haushalt in der heute vorherrschenden Idee und Form eine Besonderheit. Sie ergibt sich aus der versuchten Fusion von Wirtschaftsgemeinschaft, Liebe und Sexualität. Diese Besonderheit ist im Zuge der Durchsetzung von Privateigentum, Marktwirtschaft und Kapital entstanden. Sie prägt die Gefühle der Menschen tief.

Den emotionalen Kern des Haushalts bildet die Zweierbeziehung oder Monogamie, wobei dies früher die Ehe sanktionierte, was heute keine Rolle mehr spielt. In einer sehr langen geschichtlichen Sicht kann man die Entstehung der Monogamie, die den bürgerlichen Haushalt tragen soll, wie er heute noch ideologisch dominiert, als Produkt einer Reihe von Einhegungen der Liebe verstehen.

Liebe verstehe ich hier als einen offenen Begriff. Man kann Liebe adjektivisch näher bestimmen und entsprechend verschiedene ihrer Formen beschreiben. Die antiken Griechen etwa differenzierten zehn Formen der Liebe, die wir heute begrifflich nur mit Mühe trennen können. Eine Definition im eigentlichen Sinn aber ist immer willkürlich, weil die Liebe gerade als ein begriffliches Schwerezentrum wirkt, das verschiedene zusammenhängende Bedeutungen anzieht, sich in ihnen aber nicht erschöpft und nicht erschöpfen kann.

Was ich jedoch für die folgenden Überlegungen im Anschluss an Hermann Schmitz vorschlage, ist, die Liebe als ein Gefühl und eine Disposition zu betrachten. Dabei konzentriere ich mich auf die monogame oder mehrfache sexuelle Paarliebe. Liebe soll in diesem Sinn eine innige Attraktion und leidenschaftliche Hingabe bezeichnen, die von langer Dauer sein kann, aber nicht muss. Liebe hat viel mit dem möglichen Reichtum des Lebens zu tun. Ihr ist eine überfließende, zugleich den Menschen atmosphärisch ergreifende und in diesem Sinn überfließende Qualität eigen. Deshalb sehe ich die Liebe auch als eine Leidenschaft und als ein Gefühl, das soziale Normen tendenziell untergräbt, die dieser Qualität nicht gerecht werden. Zwar kann man Liebe klar von sexuellen Handlungen unterscheiden, wenn man diese physisch definiert, dennoch ist die innige, leidenschaftliche Liebe wohl nicht eindeutig oder streng von Sexualität zu trennen.

Dabei sollte man sich vor Augen halten, dass nicht nur die Liebe, sondern auch die Sexualität einen sehr besonderen Begriff darstellt. Im Mittelalter etwa existierte kein der Sexualität vergleichbarer Begriff. Auch die antiken Griechen hatten dafür keine der modernen Vorstellung entsprechende Idee. Im heutigen Sinn erotische Liebesgedichte sind allerdings schon aus der Zeit vor etwa 3000 Jahren dokumentiert.

Der überfließende und soziale Normen tendenziell untergrabende Charakter der Liebe wird nun im geschichtlichen Verlauf, der bis zum Kapitalismus führt, schrittweise diszipliniert und zuerst der Kontrolle durch Institutionen (Kirche, Staat), dann der Selbst-Kontrolle unterworfen. Die Liebe ist für die Entstehung von Herrschaft ein strategischer Bereich zwischen unwillkürlichen Regungen und Ergriffenheit einerseits und der Möglichkeit der willentlichen Formung und Unterdrückung andererseits. In diesem strategischen Bereich hat sich daher die kapitalistische Arbeitsdisziplin, die Normierung des Menschen und die für den Staat "lesbare" Ordnung von Beziehungen etabliert.

Ich setze dabei nicht voraus, dass es sozusagen ein ursprüngliches Paradies der Liebe gegeben habe. Dennoch kann man eine bis zum heutigen Tage fortschreitende Disziplinierung erkennen. Auch nehme ich nicht an, dass es eine historisch unwandelbare Liebe gibt. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Liebe zwar in einem Substrat jenseits von Kultur gründet, jedoch immer in historisch spezifischen kulturellen Gestalten in Erscheinung tritt und gefühlt wird. Dabei gibt es eine große Bandbreite von beispielsweise der Knabenliebe der Griechen über die mittelalterliche Minne bis zur romantischen Liebe, die im Kern zuerst im Alten Rom entwickelt wird, und ihren Verfallstypen im Zeitalter des "emotionalen Kapitalismus" (Eva Illouz). Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf die romantische Liebe in ihren entweder monogamen oder polyamoren Gestaltkomplexen. Die Gestaltung der Liebe im Sinne einer Art von Kunst oder als Vermögen unterscheide ich von einer Disziplinierung, die solche Spielräume der Gestaltung mittels schwerwiegender sozialer Sanktionen einschränkt.


Von der ergreifenden Liebe zur "Innenraumhypothese"

Der Prozess der Einhegung der Liebe findet eine wesentliche Grundlage in einigen Innovationen des griechischen Denkens und Fühlens, die der Philosoph Hermann Schmitz als die Etablierung der "Innenraumhypothese" bezeichnet: Das ist die Annahme, dass Gefühle nicht als Atmosphären den Menschen umgreifen und ergreifen, sondern in ihm in einem Innenraum namens Seele wohnen.

Im Zuge dieser Innenraumhypothese wird die Außenwelt von Gefühlen entleert, auf Zähl- und Messbares reduziert und der Mensch auf einen seelischen Innenraum eingeschränkt. Der seelische Innenraum ist dabei paradox konzipiert: Er ist einerseits der Kern des Menschen, während sein Leib als unwichtig, weniger menschlich oder sogar als schmutzig gilt. Es entsteht also eine radikale Trennung zwischen Seele und Leib (Leib-Seele-Dualismus), und es ergeben sich in Folge daraus bestimmte philosophische und emotionale Probleme; hier auch wird die Grundlage dafür gelegt, Liebe und Sexualität streng zu trennen und die Sexualität in einen privaten Körper zu verlegen. Andererseits ist die Seele in dieser Vorstellung Sitz eines "steuernden Zentrums", das die nun in der Seele verorteten Leidenschaften, darunter wesentlich die Liebe, lenken und zügeln soll.

Damit erst entsteht also die konzeptionelle Möglichkeit, das Individuum für die es umgreifenden Atmosphären verantwortlich zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen als schuldhaftes Subjekt.

Ob dieser erste Prozess der Einhegung ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert mit einer weiteren Patriarchalisierung der Gesellschaft einhergeht, ist eine spannende Frage. Der Sprachwissenschafter Harald Haarmann vermutet, dass sich in der frühen griechischen Antike noch viele soziale Elemente der ursprünglich frauenfreundlichen neolithischen Kultur des "Alten Europa" (Marija Gimbutas) erhalten hatten.

Diese kulturellen Innovationen der griechischen Kultur werden vom frühen Christentum noch nicht durchgängig übernommen, die Sünde gilt hier noch nicht überall als individuelles Verschulden, sondern als fremde Macht.

Das Mittelalter war teilweise - wohl auch regionsspezifisch - von relativ großen Freizügigkeiten geprägt. Keinesfalls existiert in dieser Epoche die Vorstellung des Haushalts im heutigen Sinn. Ehe und Liebe wurden als unvereinbar betrachtet, manche von den Katharern beeinflusste Positionen gingen davon aus, dass eine Frau einen Liebhaber außerhalb der Ehe haben muss, wenn sie wirklich Liebe erfahren will (so Andreas Capellanus in "De Amore"). Sexualität wurde teilweise relativ ungezwungen auch außerhalb ehelicher Verbindungen gelebt. Der Historiker Hubertus Lutterbach argumentiert, dass die repressive Sexualmoral der Kirche, die sie erst relativ spät in dieser Periode durchsetzen konnte, nicht auf das Christentum selbst, sondern vielmehr auf rigide Sexualvorstellungen westeuropäischer vorchristlicher Kulturen zurückgeht, die darin Eingang gefunden haben.



Der Wert inniger Liebe

In der Epoche des entstehenden Kapitalismus war die weitergehende Einhegung der Liebe eine Vorbedingung zur fortschreitenden Unterdrückung der Frauen und der Etablierung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin. Dabei wurde nicht direkt auf griechische Philosophie zurückgegriffen. Allerdings kann man das Denken und Fühlen der Neuzeit, das bis heute andauert, als eine Zuspitzung und restlose Verwirklichung der "Innenraumhypothese" der Antike deuten. Die Seele ist heute durch das Bewusstsein ersetzt worden. Gefühle gelten als Eigentum, als etwas Privates.

Der bürgerliche Haushalt versucht dann, wie oben gesagt, drei an sich widersprüchliche Elemente zusammenzuführen: Die Wirtschaftsgemeinschaft, die auf Dauer ausgelegt sein muss; die Liebe als absolute emotionale Erfüllung mit und in einem einzigen Menschen; und die Sexualität als damit strikt gekoppelt.

Um diese Institution durchsetzen und legitimieren zu können, brauchte es die Vorarbeit der "Innenraumhypothese". So erst wird das Überfließende der Liebe zum individuellen moralischen Defekt, zur Untreue und zum Seitensprung. Und es braucht die reale Zurichtung der Menschen zu sich selbst disziplinierenden Wesen, die ihre Gefühle kontrollieren oder zu unterdrücken versuchen, oder auch, wie Eva Illouz in "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus" beschreibt, mit Hilfe psychologischer Kategorien objektivieren, standardisieren und so auf sanfte Art entwirklichen.

Soweit der historische Abriss. Wenn man die heutige Gesellschaftsstruktur betrachtet, kann man erkennen, dass sich in der monogamen Zweierbeziehung, die den Haushalt konstituieren soll, Logiken des Marktes widerspiegeln. Das gilt insbesondere für das Verständnis von Liebe. Es fällt ins Auge, dass Liebe zwar an sich als etwas Teilbares und durch Teilung Vermehrbares wahrgenommen wird; so nimmt man gemeinhin nicht an, dass die Elternliebe schwächer wird durch Vermehrung der Kinder oder die "platonische" Liebe durch Vermehrung der Freunde. Doch gerade im Bereich der in der heutigen Gesellschaft einzig legitimen intimen Beziehung, "der Beziehung" schlechthin, gilt das Gegenteil.

Die innige, leidenschaftliche Liebe ist nur dann etwas "wert", wenn sie nur mir gilt. Damit ist sie vor allem negativ bestimmt, ähnlich wie das Privateigentum auch. Es zählt nicht vorrangig, was mir diese Liebe positiv entgegenbringt und dass sie mich als Individuum bestätigt, indem zwei Menschen eine nur ihnen eigene Geschichte entfalten. Zuerst einmal muss sie vielmehr ausschließlich sein.

Wie kann man das verstehen? Vielleicht über unsere Rolle im weiteren Zusammenhang von Marktwirtschaft, kapitalistischer Arbeitswelt und der von Konkurrenz geprägten Öffentlichkeit? Der Haushalt sollte ja der Hort der Intimität sein, der vor Konkurrenz und emotionaler Kälte geschützte Ort, wo Geborgenheit entstehen kann, das gefühlvoll Vertraute gelebt werden darf. Während das Individuum am Markt grundsätzlich ebenso wenig zählt wie in der Arbeitswelt, sollte es im Haushalt seine volle Bestätigung erhalten durch Verbindung mit der "einen, einzigen und wahren Liebe", die eben nur ihm gilt und niemandem anderen gelten darf, um diese Vorstellung nicht zu gefährden.



Erosion der Monogamie

Damit ist nicht gesagt, dass monogame Zweierbeziehungen an sich diesen Logiken folgen müssen. Tatsächlich zeigt ein Blick auf statistische Untersuchungen, dass sich die Liebe und die Monogamie im Leben vieler Menschen nicht gut vertragen. Die durchschnittliche Dauer von Beziehungen ist deutlich gesunken, man spricht von "serieller Monogamie". Im Schnitt haben 30-Jährige in unserer Kultur knapp vier solcher eigentlich als lebenslang und als "einzig wahre Liebe" konzipierte Beziehungen hinter sich. Die Rede vom "Lebensabschnittspartner" gibt wieder, welche Prozesse hier nicht zuletzt wirken.

Befragungen deuten zudem darauf hin, dass vielleicht die Hälfte aller dem Anschein nach monogamen Beziehungen eigentlich nicht monogam sind. Dabei kann man freilich nur das messen, was die Mononorm unter Seitensprung versteht, nicht die Ebene inniger Leidenschaft und tiefer Verbundenheit, die wohl auch des Öfteren aus der monogamen Zweierbeziehung hinaus- und auf so genannte Freundschaften übergreift. Dies gilt aber gemeinhin nicht als "Beziehung" oder "Liebe".

Man könnte vielleicht auch Pornographie, die laut Erhebungen von etwa einem Drittel der Erwachsenen konsumiert wird, knapp drei Viertel davon Männer, unter die Symptome der Brüchigkeit bisheriger Vorstellung von monogamer Zweierbeziehung einreihen. Sie überschreitet zwar nicht die Mononorm, weil sie einen privatistischen, allein das vereinzelte Individuum ansprechenden Charakter hat und zudem fiktional ist. Klar ist auch, dass sich Herrschaftsverhältnisse und normierte Sexualität darin ausdrücken - ebenso wie im "realen" Sexleben. Die dabei angesprochenen und vermarkteten - also erneut eingehegten - sexuellen Bedürfnisse werden jedoch offenbar in der monogamen Form der Beziehung nicht gestillt.

Auf ähnliche Weise könnte man wohl die weite Verbreitung mononormativer Liebesfilme verstehen. Denn woraus sollte sich das starke Interesse für diese Darstellungen speisen, wenn nicht aus einer gewissen Unzulänglichkeit der realen mononormierten Liebesbeziehungen?

Es ist nicht verwunderlich, dass viele Menschen ihre Liebesbeziehungen angesichts dieser Realität wohl immer mehr als ein eher vertragliches Verhältnis erleben. Die nicht-eheliche Zweierbeziehung ist in dem Sinn eigentlich nur eine informelle Art von Ehe. Man definiert sich als monogam, weil es einfacher zu sein scheint, man muss nicht Beziehungsstile, gar Beziehungen mit weiteren Menschen besprechen und aushandeln, man erspart sich vielleicht auch Schwierigkeiten wie die Eifersucht. Die "wahre Liebe" wird zur bloßen Partnerschaft und die Entzauberung der Welt, die schon von den antiken Griechen begonnen worden ist, erreicht ihren betrüblichen, unerfüllten Schlusspunkt.

Dennoch wird die monogame Zweierbeziehung im Gegensatz dazu auch mit überbordenden Ansprüchen aufgeladen, die sozusagen nur die Kehrseite der nüchternen Partnerschaft darstellen. Dann gilt sie quasi als einzige Erfüllung des Lebens überhaupt und muss sexuelle und tiefere emotionale Befriedigung perfekt und dauerhaft garantieren. Daran scheitert man wohl zwangsweise.



Polyamore Strömungen

Diese Veränderungen haben viel mit der Entwicklung des Kapitalismus zu tun. Während in den 1960er Jahren Arbeit und Freizeit, Haushalt und Betrieb, die Geschlechter, Politik und Privatheit rigide getrennt erschienen, kam es ab den 1970er Jahren zunehmend zu einer Verwischung dieser Grenzen. Daran waren wesentlich auch soziale Bewegungen beteiligt, die ein Leben mit mehr Entfaltungsmöglichkeiten und Kreativität anstrebten: zuerst die 1968er mit ihren Ausläufern bis zum Ende der 1970er Jahre, dann vor allem ab den 1980er Jahren auch queere und feministische Strömungen.

Während die Arbeitsverhältnisse entsprechend komplex, flüssig und entgrenzt wurden, veränderten sich die Beziehungsweisen in eine ähnliche Richtung. Der Haushalt als Wirtschaftsgemeinschaft hat nicht mehr die zentrale Rolle wie noch vor Jahrzehnten. Patchwork-families, WGs und Singles haben die Landschaft möglicher Haushaltsformen bereichert. Sexualität wird auch ideologisch nicht mehr notwendig auf Liebesbeziehungen eingeschränkt. Und es entstehen polyamore Strömungen.

Als polyamor bezeichnen sich Menschen, die eine verantwortungsvolle Nicht-Monogamie praktizieren oder praktizieren wollen. Im Unterschied zur "freien Liebe" der 1960er Jahre betont Polyamorie den Stellenwert von Konsens, Verbindlichkeit und Solidarität. Formen des Swingens werden manchmal ebenfalls als polyamor bezeichnet, andere möchten sie gern davon ausschließen. Häufig wird mehr das Moment der Liebe gegenüber von Sexualität im engeren Sinn betont.

Ein wichtiges Anliegen der polyamoren Bewegungen, die in den letzten Jahren ansteigendes Medieninteresse erfahren - was eine wachsende Zahl von Publikationen widerspiegelt -, ist auch das Hinterfragen der strikten Grenzziehungen zwischen Liebe, Sex und Freundschaft. Es wird betont, dass Beziehungen ihre je eigene Form finden sollen, jenseits gesellschaftlicher Normen. Damit könnte möglicherweise auch die Liebe als eine den Menschen umgreifende Atmosphäre wieder mehr Spielraum erhalten. Vielleicht ist so auch ein Schritt gesetzt, die für die kapitalistische Arbeitsdisziplin so wichtige Einhegung der Gefühle, darunter der Liebe, etwas aufzuweichen und Formen intensiver Kollektivität zu entwickeln.

In der Tat ist der Übergang zwischen Liebe und Freundschaft, wenn man die meist von Männern gepflogenen "thematischen Freundschaften" (Hermann Schmitz) im Sinn der Polit-, Tennis- und Studienfreunde einmal beiseite lässt, ein gradueller. Gerade dieser bloß graduelle Übergang macht im Sinne der monogamen Paarbeziehung einen Marker, eine Kodierung nötig, wenn Ausschließlichkeit der Liebe symbolisch gewährleistet sein soll. So wird der Sex erst durch die Monogamie zum Zeichen von dem, was Liebe heißt und Intimität. Denn wie es im Herzen zugeht, weiß man positivistisch nie so recht, wer mit wem ins Bett geht, eher.

In der Praxis entstehen durch diese Verschiebungen von Praktiken und Konzepten der intensiven geschlechtlichen Beziehung vielfältige Liebesverhältnisse, die man nicht mehr so einfach beschreiben kann wie die monogame Zweierbeziehung. Während in dieser das Entweder-Oder-Prinzip gilt, eine Null-Eins-Logik, entwickeln polyamore Beziehungen mehr eine inklusive Struktur, ein Sowohl-als-Auch. Das Entweder-Oder-Prinzip der Monogamie gilt nicht nur zwischen "der einen Liebe" und den "Freundschaften", sondern auch zu vergangenen "Beziehungen" hin, die folglich in der Regel aus den engeren Kontakten gestrichen werden. Die monogame Familie organisiert sich in einer von polyamoren Strukturen sehr verschiedenen Weise.

Für viele der neuen Formen von Verbundenheit fehlen die Begriffe, weshalb manche polyamore Menschen ihre Beziehungen zum Beispiel mit Buchstaben symbolisieren. Auch die Gefühle ändern sich, sodass es auch hier zu Wortneuschöpfungen kommt. "Frubbelig" soll zum Beispiel die Mitfreude bezeichnen, die ein Mensch empfinden kann, wenn die Liebespartnerin oder der Liebespartner einen weiteren Menschen liebt.

Eifersucht wird mitunter als willkommene Gelegenheit aufgefasst, mehr über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Jedenfalls wird dazu ermuntert, Eifersucht genauer in Augenschein zu nehmen, um sich nicht ihren potenziell destruktiven Auswirkungen auszuliefern. Tatsächlich kann man Eifersucht in recht verschiedene Gefühle zerlegen. Eine Komponente hat mit der Sehnsucht zu tun, als Individuum bestätigt zu werden, und zwar auf eine Weise, wie sie die Marktwirtschaft hervorbringt: dass nämlich jemand ausschließlich mit mir bestimmte Dinge tut, "intim ist" oder nur mir gegenüber bestimmte Gefühle hegt. Wo diese Sehnsucht sich bedroht meint, also eine spezifische Form von Verlustangst auftritt, entsteht Eifersucht. Andere Formen der Eifersucht sind dagegen eher ein Ausdruck von Neid, etwa auf größere Freiheit des geliebten Menschen. Der Neid kann aus verdrängten Wünschen entspringen, die auch gelebt und geliebt werden wollen. Oder auf einen Mangel an Aufmerksamkeit seitens des Partners oder der Partnerin reagieren. Je nach Färbung der Eifersucht ist eine andere Umgangsweise damit angezeigt.

Für polyamore Beziehungen sind, so wird allenthalben in der Literatur dazu betont, Konsens, Verbindlichkeit und ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit sowie Bereitschaft, sich mit sich und den Geliebten auseinanderzusetzen, grundlegende Voraussetzungen. Diese entstehen freilich auch erst durch das polyvalente Lieben, das, wie Karoline Boehm beschreibt, dementsprechend immer auch ein "Poly-Werden" darstellt und keinen fixen Endpunkt markiert.

Die Erfahrungen polyamor lebender Menschen zeigen, dass sich Familienstrukturen, aber auch die Struktur von Freundschaftsnetzen und eben Liebesverhältnissen sowie die Formen der Sexualität sehr stark verändern können. Es können sich etwa dauerhafte Dreier- oder Viererbeziehungen, die dann auch gemeinsame Sorge für Kinder übernehmen, ebenso entwickeln wie weitläufige sexuelle Netzwerke, die wie "tribes" wirken, die Grenzen zwischen "Familie" und "Freundschaft" verwischen und also auch die Art der Sorge um Kinder grundlegend verändern können.



Polyamorie und Kapitalismus

Am Ende dieses kleinen Rundgangs durch die Geschichte der Einhegung der Liebe und der Versuche, ihr wieder mehr Spielraum zuzugestehen - auf eine Art, die sich sicherlich von den alten, vor-patriarchalen Formen unterscheidet - stellt sich die Frage, was man davon halten soll. Ich würde meinen, dass sich eine Veränderung hin zu mehr Schenken, Teilen und Beitragen im Alltag von Menschen wohl auch auf die Liebesverhältnisse auswirken würde und damit auch auf die Frage, was Freundschaft und was Familie ist.

Man kann sogar die Frage stellen, ob die Festigkeit des Privateigentums sozusagen der Antithese zu Schenken, Teilen und Beitragen, nicht auch der Sozialisation in eben den monogamen Zweierbeziehungen und der damit verbundenen Art von Haushalt geschuldet ist, die ja eigentlich nur die Kehrseite der Marktwirtschaft bilden und historisch auch immer so definiert worden sind: nie als Alternative zum Kapitalismus, sondern nur als parzieller Rückzugsraum davon und immanentes Gegengewicht dazu.

Zuspitzen lässt sich dies zur These, dass polyamore Liebesverhältnisse mit dem Kapitalismus tendenziell unverträglich sind und einen Beitrag zu seiner Überwindung darstellen, aus vier Gründen.

• Erstens: Polyamorie kann nicht auf der Basis von Konkurrenz, Eigentumsdenken und Tauschlogik funktionieren.

• Zweitens: Polyamorie kann im Gegenteil wesentlich nur auf der Grundlage von Mitfreude und der Förderung der Entfaltung jedes Einzelnen gedeihen, auf der Basis von Konsens, Verbindlichkeit, Solidarität, Verantwortlichkeit.

• Drittens: Polyamorie erlaubt keine Kompensation von Versagungserfahrungen der Warengesellschaft innerhalb der Formen dieser Gesellschaft, also durch privateigentümliche, ausschließende Beziehungen; stattdessen entstehen intime Netzwerke.

• Viertens: Polyamorie impliziert die Enthegung von Gefühlen und verändert damit tendenziell die disziplinierte und konsumifizierte Gefühlskultur des Kapitalismus.

Die Wohnformen zu verändern, hat, glaube ich, nicht so weitreichende Folgen wie die Veränderung der Liebesverhältnisse. Vielleicht ist die Frage der Wohnform sogar eher zweitrangig, wenn man es nicht von den je individuellen Bedürfnissen her betrachtet, sondern von der Perspektive gesellschaftlicher Transformation aus. Eine Kommune kann sehr rigide und repressiv sein, man denke bloß an die Otto-Mühl-Kommune. Klassische bürgerliche Wohnformen dagegen können mit einem weiten Netzwerk sexueller Freundschaften einhergehen oder einer langfristigen Dreierbeziehung Raum bieten.

Allerdings stellt sich perspektivisch unter polyamoren Gesichtspunkten durchaus die Frage neuer nicht auf Blutsverwandtschaft beruhender Formen der Gemeinschaftlichkeit, die Geborgenheit herstellen; nicht nur, aber vor allem auch in Hinblick auf die Sorge um die Kinder. Deren emotionale Sicherheit darf nicht durch die möglichen Wechselfälle der leidenschaftlichen Liebe aufs Spiel gesetzt werden. Dabei kommt aus der polyamoren Dynamik heraus auch alternativen Wohnformen potenziell eine wichtige Rolle zu.

Das alles bedeutet übrigens nicht, dass Polyamorie schon "die" Alternative darstellt. In der Praxis ist sie zum Beispiel ziemlich exklusiv und vor allem unter weißen Menschen mit hohem Bildungsgrad und halbwegs befriedigenden Arbeitsverhältnissen konzentriert (auch wenn manche empirische Untersuchungen das zu relativieren scheinen). Dennoch illustriert dieser Ist-Zustand, dass offenbar Menschen mit relativ hoher ökonomischer Sicherheit und Befriedigung in der Arbeit dann auch eher den - oft nur scheinbaren - Schutzraum der Monogamie in Frage stellen und sowohl die Lust auf als auch die Möglichkeit für Neues haben.

Wichtig ist dabei immer auch zu betonen, dass polyamore Menschen nicht per se "emanzipatorischer" sind als monogam lebende, obgleich sich ein Teil durchaus als politisch und emanzipatorisch versteht, wie das ja auch für monogam lebende Menschen oder für queere Aktivist_innen und für einen Teil schwuler, lesbischer, trans-, inter- und pansexueller Menschen gilt. Liebesweisen sind nicht eine Frage bloßen Willens, sie sind immer auch gesellschaftlich bestimmt, wie gerade die soziale Exklusivität der real-existierenden Polyamorie illustriert. Freilich ergibt sich eine Alternative auch in den Liebesverhältnissen nicht "wie von selbst". So betrachtet macht es Sinn, ist vielleicht sogar sehr wichtig, sich nicht zuletzt Gedanken über die eigenen Liebeserfahrungen zu machen, über die Art, wie Liebe konzipiert und gelebt wird.

Und um einem letzten möglichen Missverständnis vorzubeugen: Aus dieser Sichtweise ergibt sich, dass es darum geht, Liebesnormen überhaupt aufzulösen. Polyamorie ist daher keine neue Norm, sondern nur möglicher Begriff für eine Entnormierung. Dabei muss man zwischen der individuellen Ebene unterscheiden, wo Menschen entweder polyamor leben oder nicht, und der Ebene der gesellschaftlichen Perspektive, die Vielfalt ins Zentrum stellen sollte. Auf dieser zweiten Ebene ist Polyamorie nur ein mögliches Wort für eine gleichberechtigte Vielfalt an Liebesverhältnissen, von zölibatär, monogam bis individuell polyamor, von hetero-, bi- und homo- bis asexuell.


(*) Vortrag beim Symposium "Schenken, Teilen und Beitragen" in Wien, Dezember 2013


Ich danke allen, die mir kritisches Feedback auf frühere Fassungen dieser Überlegungen gegeben haben: Lorenz, Dieter, Markus, Fuzzi, Friederike, Niko, Franz, Uli, Georg und Iris. Besonders danke ich Isabelle, Su und Utta. Ohne Iris Frey hätte ich den Einstieg in die relevante Literatur nicht gefunden.



Zitierte Literatur

Karoline Boehm (2012): "Praktiken der Polyamorie. Über offene Beziehungen, intime Netzwerke und den Wandel emotionaler Stile", Veröff. Europäische Ethnologie, Uni Wien.

Marija Gimbutas (1991): "The Civilization of the Godess: The World of Old Europe", Harper.

Harald Haarmann (2012): "Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas", C.H. Beck.

Eva Illouz (2006): "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004", Suhrkamp.

Hubertus Lutterbach (1999): "Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts", Böhlau-Verlag.

Hermann Schmitz (1992): "Leib und Seele in der abendländischen Philosophie", a.a.O.

H. Schmitz (1992): "Sexus und Eros bei Ludwig Klages". In: Hermann Gausebeck und Gerhard Risch, Hg.: "Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik", Junfermann.

H. Schmitz (1993): "Die Liebe", Bouvier.

Zu Andreas Capellanus siehe Thomas Schroedter und Christina Vetter (2010): "Polyamory. Eine Erinnerung", Schmetterling-Verlag.

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Keimform und gesellschaftliche Transformation

von Stefan Meretz

Der analytische Begriff der "Keimform" hat eine gewisse Karriere hinter sich, und wie bei so manchen Karrieren ist nach einer Weile nicht mehr so recht klar, was damit eigentlich gemeint ist. Eine Klärung sei versucht.

Das Keimform-Konzept will die Frage beantworten, wie eine neue gesellschaftliche Form in der Entwicklung entstehen und sich schließlich durchsetzen kann. Das traditionelle Transformationskonzept des Marxismus-Leninismus versuchte den Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik zu lösen, indem eine Klasse geleitet durch eine Avantgarde die Macht ergreift. Historisch konnten auf diese Weise zwar die Notwendigkeiten der Warenproduktion etabliert werden (etwa in Russland nach der Revolution), eine kommunistische Produktionsweise ließ sich so jedoch nicht durchsetzen. Das Keimform-Konzept hingegen betrachtet die Spaltung in Ökonomie und Politik, von Warenproduktion und gesellschaftlicher Steuerung, selbst als das Problem. Es kann nicht darum gehen, die Ökonomie mittels der Politik zu verändern, sondern darum, eine neue gesellschaftliche Form durchzusetzen, in der lokale Produktion und gesellschaftliche Zwecksetzung nicht mehr auseinanderfallen. Was ist der Unterschied?

Gesellschaft

Gesellschaft ist der Vermittlungszusammenhang, in dem wir vorsorgend unsere Lebensbedingungen herstellen. Dazu gehören alle Tätigkeiten, die die Menschen für notwendig erachten. Ökonomie ist ein Sonderbereich in der Gesellschaft, in dem bestimmte Güter und Dienste in einer bestimmten, vom Rest der Gesellschaft getrennten Form der Vermittlung produziert werden. Diese Form ist die der getrennten Produktion von Waren, die getauscht werden. Wert, Markt, Staat usw. sind abgeleitete Formen dieser Sondervermittlung, in der etwa ein Drittel der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten erledigt werden. Die anderen zwei Drittel der nötigen Tätigkeiten werden nicht-ökonomisch durch personale Vermittlung der Menschen selbst geschaffen. Gesellschaftliche Transformation heißt, die Sphärenspaltung aufzuheben und nicht, die Ökonomie in der Spaltung mittels der abgespaltenen Politik zu modifizieren.

Ausgangspunkt des Keimform-Ansatzes ist die Gesellschaft, nicht die abgespaltene Ökonomie, ist ein unreduziertes Verständnis der schlichten Tatsache, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen selbst herstellen. Das gilt für alle Lebensbedingungen, soziale wie stoffliche, und für alle Epochen. Das begründet auch die Notwendigkeit einer Geschichtsphilosophie. Diese fragt danach, wie die unterschiedlichen historischen Formen, die Lebensbedingungen vorsorgend herzustellen, auseinander hervorgehen. Denn dass sie zusammenhängen, bestreiten auch jene nicht, die eine Geschichtsphilosophie ablehnen.

Die Ablehnung einer Geschichtsphilosophie rührt vermutlich aus der unreflektierten Gleichsetzung mit einem Geschichtsautomatismus. Geschichte verläuft jedoch nicht automatisch, sondern sie wird von den Menschen gemacht. Dieses Machen ist jedoch nicht beliebig, sondern das Tun der jeweiligen AkteurInnen hängt von den bereits entwickelten historischen Möglichkeiten wie auch Begrenzungen ab. Der Keimform-Ansatz beantwortet die Frage, ob denn heute die Möglichkeiten für eine freie Gesellschaft vorhanden sind, mit einem Ja. Eine Garantie, ob diese Möglichkeiten auch ergriffen werden und zum Erfolg führen, gibt es dennoch nicht.

Fünf Schritte

Die Transformation zu einer freien Gesellschaft lässt sich in fünf Schritten denken. Mit diesen fünf Schritten soll begriffen werden, wie in einem betrachteten System qualitativ Neues aus einem vorherrschenden Alten entstehen und sich schließlich durchsetzen kann. Es handelt sich eigentlich um ein retrospektives Verfahren, bei dem das "Ergebnis" des Entwicklungsprozesses bekannt ist und den Ausgangspunkt bildet, um den Werdens- und Durchsetzungsprozess zu rekonstruieren. Für die hier diskutierte Frage versetzen wir uns gedanklich an die Stelle des abgeschlossenen Transformationsprozesses, um die fünf Schritte dorthin zu rekonstruieren. Wir nehmen also an, wir kennen die Elementarform einer neuen Vergesellschaftung (vgl. dazu den Artikel "Keimform und Elementarform").

1. Keimform
Etwas Neues entsteht zuerst immer in Nischenbereichen der Gesellschaft. Als Keimform wird nun nicht die konkrete Nischenerscheinung bezeichnet, sondern nur das soziale Prinzip, das sie verkörpert. Im hier betrachteten Fall ist das die Form der Herstellung der Lebensbedingungen, die keinen Tausch erfordert, also keine Warenproduktion ist. Dafür hat sich der Begriff der Peer-Commons verbreitet, es gibt aber auch andere Bezeichnungen (etwa commons-basierte Peer-Produktion). Die Keimform als neues soziales Prinzip der Re-/Produktion kann sich in verschiedener Gestalt zeigen. Das muss auch so sein, hat sie doch allgemeinen Charakter. Das soziale Prinzip ist also nicht wie noch im Kapitalismus begrenzt auf einen Sonderbereich der Gesellschaft - jenen, den man Ökonomie nennt -, sondern Realisationen der Keimform (kurz: Keimformen im Plural) zeigen sich überall in der Gesellschaft. Das empirische Faktum, dass neue Commons in allen Bereichen entstehen, wo Menschen gemeinschaftlich Lebensbedingungen schöpfen, ist ein starker Indikator für ihre Potenz zur gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerung. Aber dazu kommt es nur, wenn eine zweite Bedingungen hinzutritt: die Krise des alten Prinzips.

2. Krise
Solange das alte soziale Prinzip - Warenproduktion in einer ökonomischen Sondersphäre plus Politik plus Restproduktion in der nichtökonomischen, abgespaltenen Sphäre - funktioniert, jedenfalls im Sinne der Erhaltung der Systemkohärenz, gibt es keinen Grund, dass sich ein neues soziales Prinzip durchsetzt. Geht die Kohärenz aufgrund von Krisen verloren, so können die Keimformen eine neue Rolle spielen. Die Multi-Krise des globalen Kapitalismus ist handgreiflich, ihre Verlaufsformen unbekannt.

3. Funktionswechsel
Die Keimformen machen nun einen Funktionswechsel durch. Dieser Schritt ist der eigentlich interessante und der für das Denken herausfordernde. Ohne Dialektik ist hier kein Durchblick möglich. Funktionswechsel heißt, dass die Keimformen ihren Nischenstatus schrittweise verlieren und zur überlebensrelevanten Dimension in der alten Form der Systemerhaltung werden. Gleichzeitig gehen sie nicht in der alten Form der Warenproduktion auf, sondern erhalten ihr qualitativ andersartiges soziales Prinzip aufrecht, weil sie sonst nicht funktionieren würden. Ihre doppelte Funktionalität besteht also in der Gleichzeitigkeit von Nutzbarkeit für das Alte und Inkompatibilität zur sozialen Logik des Alten.

Unfruchtbar sind Diskussionen, die entweder die völlige Inkompatibilität zur alten Warenlogik fordern oder ihr völliges Aufgehen in der Warenproduktion bereits für ausgemacht halten. Es kann nicht anders sein, als dass die konkreten Realisationen des neuen Prinzips stets beide Momente enthalten: Sie können ihre neue Funktion zum Vorteil der alten Logik nur erfüllen, weil sie diese nicht sind, weil sie aufgrund ihrer qualitativ anderen sozialen Funktionsweise produktive und innovative Quellen erschließen, die der normalen Warenlogik verschlossen sind. Sonst würden sie nicht gebraucht werden, doch der Kapitalismus kann nicht mehr ohne sie existieren.

Mehr noch: Die neuen Möglichkeiten werden nicht nur von außen aus den Nischenbereichen in das Zentrum hineingetragen, sondern auch das Kapital als Zentrum der Warenproduktion entdeckt und entwickelt die neue soziale Logik in den eigenen Mauern. Es importiert damit auch jene Formen, die der Kapitalverwertung nicht mehr bedürfen und sie in den Schranken der Verwertung bereits überschreiten. Der Forscher Michel Bauwens spricht vom "vernetzten Kapital", das sich aufgrund der Konkurrenz zur offenen Kooperation mit Akteuren außerhalb der Warenproduktion genötigt sieht. Für sie gilt: Offenheit schlägt Geschlossenheit. Wer offen ist, kann mehr Wissen und menschliche Ressourcen an sich ziehen als diejenigen, die sich zwar gerne einseitig das Wissen aneignen wollen, aber die Ergebnisse wegschließen und proprietär vermarkten.

Aber auch in den Kernbereichen der Warenproduktion werden immer mehr Formen der (limitierten) Offenheit, Beteiligung und Selbstgestaltung der Arbeit eingeführt, die gleichwohl - und das macht ihre Widersprüchlichkeit aus - unter den Imperativen der Verwertbarkeit stehen. Wer aber hier nur die (auto-)repressive Seite der Entwicklung wahrnimmt, übersieht, dass das Kapital damit gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Warenform schafft: jene Individualitäten, die sich ohne fremde Logik auf eigener Grundlage unbeschränkt entfalten könnten. Das Kapital schafft mit den "Produktivkräfte(n) und gesellschaftlichen Beziehungen" als "verschiedene(n) Seiten des gesellschaftlichen Individuums" jene "materiellen Bedingungen, um sie [die bornierte kapitalistische Produktionsweise, SM] in die Luft zu sprengen", formuliert Marx zugespitzt (Grundrisse, 602).

4. Dominanzwechsel
"Bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen" (ebd., 601), dann kommen jene Seiten des Widerspruchs zur Geltung, die bisher sich nur in den Schranken der fremden Logik der Verwertung entwickeln konnten, und es kommen jene Peer-Commons zur Geltung, die sich bislang der alten Marktlogik unterordnen mussten, und es kommt jene Selbstentfaltung der Individuen zur Geltung, die sich bislang im heftigen Widerspruch zur Selbstverwertung beschränken lassen musste. Wie der Dominanzwechsel, der qualitative Umschlag zur Durchsetzung einer globalen Peer-Commons-Produktion verläuft, kann niemand voraussagen, noch ihn überhaupt garantieren. Die Potenz zur globalen Vergesellschaftung durch globale Produktivkräfte jenseits der Warenform ist eben gleichzeitig die Potenz zur globalen Zerstörung der Überlebensgrundlagen der Menschheit.

5. Umstrukturierung
Haben sich einmal die polyzentrisch strukturierten, stigmergisch vermittelten Peer-Commons (vgl. Kasten) durchgesetzt und hat sich die gesamte Gesellschaft nach diesem Prinzip umstrukturiert, wird es schwerfallen, den nächsten Generationen den Irrwitz der Warenproduktion auch nur ansatzweise verständlich zumachen. Wird einmal gemeinschaftlich vernetzt und bedürfnisorientiert alles geschaffen, was Menschen brauchen und wünschen, und dies auch noch in einer Weise, mit der nicht die Zukunft irreversibel zerstört wird, dann kann niemand mehr verstehen, warum vor die Bedürfnisse das Geld gesetzt wurde und warum die Menschen eine Umweginstitution wie den Markt brauchten, um die Verteilung von künstlich verknappten Befriedigungsmitteln zu bewerkstelligen. Jede Normalität ist eine historisch-spezifische. In einer freien Gesellschaft wird der Freiheitsimperativ überall greifen. Freiheit bedeutet, durch nichts anderes mehr bestimmt zu sein als durch sich selbst, Freiheit ist universelle Selbstbestimmung.

Die fünf Schritte beschreiben nicht notwendig eine zeitliche Abfolge, sondern geben die logischen Komponenten einer qualitativen Transformation eines ganzen Systems an. Der Dominanzwechsel kann zwar logisch und damit auch zeitlich nicht vor dem Funktionswechsel stattfinden, aber das Auftreten von Keimformen, die Krise des alten Systems und der Funktionswechsel können einander durchaus zeitlich durchdringen. So sind Keimformen als konkrete Realisationen eines neuen sozialen Prinzips in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft unterschiedlich weit entfaltet. Nicht zufällig traten Formen der Peer-Commons zuerst im Kontext von Immaterialgütern (Software, Wissen, Kultur etc.) auf, die mit geringem Aufwand kopierbar sind. Aber weil es sich um ein verallgemeinerbares neues soziales Prinzip der Re-/Produktion handelte, um die Keimform einer neuen Produktionsweise, weiteten sich die Peer-Commons auch auf den Bereich der stofflichen Güter aus.

Machtfragen

Der Keimform-Ansatz bietet ein analytisches Repertoire zum Verstehen konkreter Situationen. Für unsere Situation ist der Begriff der doppelten Funktionalität zentral (siehe Kasten). Er vermeidet Dichotomisierungen und bleibt scharf für das Wahrnehmen der Widersprüche. Einer der meist geäußerten Einwände gegen den Keimform-Ansatz ist die "Machtfrage". Dabei gibt es sie nicht, "die" Machtfrage, sondern es gibt sie nur im Plural: Machtfragen.

Die wesentliche Handlungsmacht der Privilegierten beruht auf dem Funktionieren der alten Waren- und Geldlogik und der Aneignung der Ergebnisse fremder Arbeit. Wenn diese Logik und damit auch die Aneignung und Ausbeutung nicht mehr funktionieren, nutzen auch Gewaltapparate nicht mehr viel. Wenn der Sold nicht mehr fließt oder Geld keine existenzsichernde Funktion mehr hat, lösen sich Gewaltapparate auf. Die wesentliche Macht ist dann die Handlungsmacht derjenigen, die auf neue Weise die Lebensbedingungen herstellen.

Keine Frage: Zerfallende Regimes ziehen auch immer viele Menschen mit in den Untergang. Und auch die Wiederentstehung archaischer Formen von Herrschafts- und Gewaltstrukturen (etwa der Islamismus) angesichts der zurückgehenden Integrationskraft zerfallender "normaler" kapitalistischer Warenproduktion bedroht kooperativ-solidarische Formen der Produktion von Lebensbedingungen. Das ist jedoch kein Prozess, der notwendig mit dem Entstehen von Keimformen zu tun hat, und er lässt sich auch heute schon kaum noch aufhalten in der alten Form der "nachholenden Modernisierung". Hier gibt es keine einfachen Antworten.

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Doppelte Funktionalität

Jede Tätigkeit in den herrschenden Formen reproduziert eben diese Formen. Durch Teilhabe an der Warenproduktion wird nicht nur die eigene, sondern auch die Existenz des Systems bestätigt. Das ist die doppelte Funktionalität, der alle unterliegen. Tätigkeiten im Kontext der Peer-Commons brechen diesen Nexus auf. Sie reproduzieren nun nicht mehr die dominante soziale Form der Warenproduktion, obwohl sie im Ergebnis zu dieser beitragen, sondern sie reproduzieren die neue soziale Form der Peer-Commons, die inkompatibel zur Warenform ist. Während also die soziale Form inkompatibel bleibt, können die Ergebnisse durchaus kompatibel zur Marktlogik in den Warenzyklus eingehen (etwa als kostenlose Ressource). Die Inkompatibilität der Sozialform hingegen ermöglicht neues Handeln und neue Erfahrungen jenseits der Verwertung. Die "freie Entwicklung der Individualitäten" (Marx, Grundrisse, 601) ist das Neue.



Notwendig und automatisch

Der Schock des Untergangs des Realsozialismus hat in der Linken zur vehementen Ablehnung von Geschichtsphilosophie geführt. Tatsächlich wähnte man sich im Staatssozialismus auf der Seite der Geschichte und mochte die Notwendigkeit der Aufhebung einer Gesellschaftsformation durch eine folgende aus Legitimationsgründen als Automatismus ausgeben. Was jedoch notwendig ist, folgt noch lange nicht automatisch. Es sind die Menschen, die ihre Geschichte machen, kein Mechanismus außerhalb. Eine Notwendigkeit kann nur auf der Grundlage ihres Menschseins gründen. Aber wie das? Es sind die menschlichen Bedürfnisse nach freier und unbeschränkter Entfaltung ihrer Potenzen, die am Ende alle beschränkenden Regimes hinweg räumen. Und das kapitalistische Regime haben wir uns bis zum Schluss aufgehoben. Ob es gelingt, ist ungewiss.



Peer-Commons

Commons sind gemeinschaftlich hergestellte und gepflegte Güter. Dabei geht es vor allem um das Commoning, das heißt die sozial selbstgeregelte Commons-Praxis. Peer bedeutet "gleichrangig" und verweist auf die Peer-Produktion, also eine Produktionsform, an der sich alle gleichrangig beteiligen können. Merkmale der Peer-Commons sind:
(1) Beitragen statt Tauschen,
(2) Besitz statt Eigentum,
(3) Selbstentfaltung statt Selbstverwertung und
(4) Selbstorganisation statt Fremdbestimmung.



Polyzentrisch und stigmergisch

Braucht es die Indirektion des Marktes und die Vermittlung über das Geld, um Produziertes und Gebrauchtes zusammen zu bringen? Nein, es geht auch anders, und ein Zentralplan ist dafür nicht erforderlich. Für zwei zentrale Funktionen des Geldes gibt es Alternativen. Die informationelle Funktion kann durch Stigmergie abgelöst werden. Stigmergie ist Selbstauswahl anhand von "Zeichen" (Stigmata). Ein roter Link in Wikipedia z.B. signalisiert, dass hier ein Artikel fehlt. Kenne ich mich gut zum Stichwort aus, klicke ich auf den Link und schreibe den Artikel. Stigmergie funktioniert mit sehr vielen Menschen mit unterschiedlichen produktiven Bedürfnissen, etwa einer ganzen Gesellschaft. Dann findet jede Aufgabe auch ihre Lösung. Das funktioniert nicht nur mit Einzelnen, sondern auch mit Projekten, zum Beispiel mit Commons. Die koordinierend-verteilende Funktion des Geldes kann durch polyzentrische Selbstorganisation abgelöst werden. Um viele Commons-Projekte zu verbinden, eignen sich Netzwerkstrukturen. In diesen bilden sich spezialisierte Zentren heraus, die Koordinationsaufgaben übernehmen. Polyzentrisch und stigmergisch - und alles selbstorganisiert.



Sinnlich-vital und produktiv

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, und wenn man die Menschen nicht zwingt, tun sie freiwillig nichts mehr. Die so ausgedrückte Inhumanität der kapitalistischen Kernlogik unterstellt, dass Menschen nur konsumtive, sinnlich-vitale Bedürfnisse haben, Essen und Sex. Das ist Unsinn. Tatsächlich ist das Bestreben, über die eigenen Lebensbedingungen verfügen zu können, ein produktives Bedürfnis. Ich kann am besten darüber verfügen, wenn ich an ihrer Herstellung beteiligt bin. Im Kapitalismus ist diese Teilhabe über die Lohnarbeit möglich. Deren Entfremdung trennt viele Menschen von ihren eigenen produktiven Bedürfnissen, sodass viele sogar über sich selbst sagen: Wenn man mich nicht zwingt, mach ich nichts. Einmal befreit von Entfremdung und Zwängen finden fast alle heraus: Die Entfaltung meiner persönlichen Möglichkeiten ist eine unglaublich produktive Angelegenheit. Je besser ich meine produktiven Bedürfnisse umsetzen kann, desto schöner auch die Befriedigung meiner sinnlich-vitalen.



Exklusions- und Inklusionslogik

Der Kapitalismus ist eine riesige Separationsmaschine mit dem Privateigentum im Zentrum. Das Privateigentum kodiert eine soziale Beziehung, in der die Eigentümer die Nichteigentümer von der Verfügung über eine Sache ausschließen. Die Exklusionslogik wird dynamisch, wenn es um Produktionsmittel geht. Dieses Eigentum ist dazu da, aus Geld mehr Geld zu machen. Dynamisch müssen jene von der Verfügung über die produzierten Waren ausgeschlossen werden, die kein monetäres Äquivalent hergeben können. Die Exklusionslogik schreibt sich auf allen Ebenen fort und in alle Beziehungen ein. Ihre Alternative ist die Inklusionslogik. Sie muss bewusst organisiert und strukturell verankert werden. Commons können nur erfolgreich sein, wenn sich genug Menschen beteiligen. Inklusion heißt hier: einladen, integrieren, kooperieren, wertschätzen, verbinden. Sie gegen die nahegelegte Exklusionslogik durchzusetzen, kostet Kraft, sie zu verallgemeinern, enthält die Potenz, eine ganze Gesellschaft danach zu bauen.

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Immaterial World

Keimform und Elementarform

von Stefan Meretz

Die Begriffe Keimform und Elementarform werden gerne in eins gesetzt, so etwa von Robert Kurz in dem Buch "Geld ohne Wert" (Kap. 3, S. 57-67). Er verwirft beide Begriffe grundsätzlich. Das "Problem des methodologischen Individualismus ..., hier in seiner historischen Dimension" sieht er hier gegeben. Der methodologische Individualismus erklärt Gesamtphänomene aus der Bewegung von Einzelentitäten, also etwa die Ökonomie aus dem Handeln der nutzenmaximierenden Individuen (homo oeconomicus). Um zu klären, ob die Kritik berechtigt ist, sei die von Kurz eingeebnete Differenz zwischen Elementarform und Keimform erhellt.

Die Elementarform ist eine logische Ausgangsabstraktion, die im Verlauf der Analyse ihrer Widersprüche differenziert und konkretisiert wird, was zu neuen Begriffen führt. Karl Marx hat das mit der Ware für die kapitalistische Gesellschaft vollzogen. Aus deren widersprüchlicher Bewegung entwickelt er die Begriffe Gebrauchswert, Tauschwert, Geld, Lohnarbeit, Kapital etc. Am Ende kehrt die Analyse zum Ausgangspunkt zurück und bestätigt die Ware als konkret-allgemeinen Begriff, der nun inhaltlich gefüllt ist. Entscheidend ist, dass die Ware ohne den gesamten Vermittlungszusammenhang des Kapitalismus, in dem sie steht, nicht verständlich ist. Gleichzeitig verschwindet sie auch nicht völlig darin, sondern behält ihren elementaren, das Gesamte konstituierenden Charakter: Kein Kapitalismus ohne Ware und umgekehrt.

Der Begriff Keimform hingegen bezieht sich nicht auf die Stellung eines konstitutiven Elements im konstituierten Gesamt, sondern auf einen historischen Entwicklungsprozess. Hier ist die Frage nicht, was das Ganze logisch erzeugt, sondern wie ein Resultat zeitlich entsteht. In diesem zeitlichen Entstehungsprozess ändern sich alle Komponenten über mehrere Schritte, jeweils für sich und in ihrem Verhältnis zueinander. Diese qualitativen Übergänge gilt es zu verstehen. Entwickelt sich etwa die Keimform zur relevanten Entwicklungsdimension, verliert sich ihr Keimform-Charakter zunehmend in dem Maße, wie sich ihre doppelte Funktionalität zu entfalten beginnt: Sie wird zur relevanten Entwicklungsdimension für das "alte" Gesamte und geht dennoch nicht darin auf, sondern bleibt in ihrer eigenen Logik inkompatibel zum Ganzen. Entfaltet sie sich weiter, so kommt es zu einem erneuten Umschlag, mit dem sich die Erhaltungslogik des Gesamten so umbaut, dass diese nun nach der Logik des Neuen funktioniert. Die frühere Keimform hat sich in die neue Systemlogik transformiert. Die neue Systemlogik könnte nun wiederum auf konstituierende Elementarformen analysiert werden.

Elementarform und Keimform sind folglich nicht das Gleiche. Die logische Konstitution eines Gegenstands kann nicht umstandslos auf seine historische Konstituierung übertragen werden. Wer also etwa die Ware als Keimform bereits im antiken Griechenland identifiziert und sie mit der Ware als Elementarform im entfalteten Kapitalismus gleichsetzt, der begeht einen kategorialen Fehler. Die Ware ist im Vollsinne des Begriffs nur Ware in der Totalität, der sie angehört: dem Kapitalismus.

Diesen Aspekt hebt auch Kurz hervor, und darin ist ihm in seiner Kritik an traditionellen Ansätzen zuzustimmen: "Die Kategorien werden ­... sowohl strukturell als auch historisch 'dekontextualisiert' verstanden, also falsch". Es sei ein "Anachronismus, die Logik dieser basalen 'einfachen' Formen [Ware und Geld, SM], die nur unter der Voraussetzung des Kapitalverhältnisses existiert, ... auf vormoderne, nicht-kapitalistische Verhältnisse zu übertragen, wobei der kapitalistische Kontext erst ein 'Modell' ermöglicht, das zuvor gar nicht denkbar war". Kurz plädiert für "ein dialektisches Totalitäts-Verständnis", welches "einem positivistischen 'Modell'-Verständnis des methodologischen Individualismus unversöhnlich gegenübersteht". Dieses würde tatsächlich, so ist Kurz zuzustimmen, den inneren logisch-konstitutiven (Elementarform) wie historisch-konstituierenden Zusammenhang von Momenten und Totalität aufrecht erhalten, anstatt ihn wie im Modelldenken auseinanderzureißen. Dort ergibt sich das Ganze aus der Aggregation der Teile, wobei das Ganze wie auch die Teile inhaltlich keine innere Verbindung haben (etwa der Kapitalismus mit der antiken "Ware").

Doch wo bleibt die konstruktive und differenzierte Nutzung von Keimform und Elementarform als Begriffe eines dialektischen Totalitäts-Verständnisses, die sich einer zukünftigen freien Gesellschaft zuwendet? Kurz ist nach seinem gescheiterten Versuch mit dem Artikel "Antiökonomie und Antipolitik" (vgl. "Vergebliche Suche nach Keimformen" in diesem Heft) nie wieder darauf zurückgekommen und hat fortan all jene denunziert, die genau dies versuchten. So nimmt es nicht wunder, dass er beide Begriffe in eins setzt, um sie gemeinsam als Ausdruck des methodischen Individualismus und des Modelldenkens schlechthin zu verwerfen und als Teil seiner eigenen Vergangenheit zu entsorgen.

Die "Abwehr" ist gleichwohl verständlich und in wertkritischen Kreisen üblich. Ernsthaft als Herausforderung angenommen, stünden zwei theoretische Aufgaben auf der Agenda. Erstens wirft der Keimform-Begriff die Frage nach der Genese des Kapitalismus auf. Der Kapitalismus müsste als besondere Form innerhalb einer gesamtmenschlichen Entwicklung begriffen werden, womit eine ebenso abgewehrte Auseinandersetzung mit einer positiven Geschichtsphilosophie anstünde. So schwimmt der Kapitalismus als schwarzes Ungeheuer im unbestimmten Meer der Geschichte.

Zweitens würde eine konstruktive Nutzung der Elementarform-Kategorie die Frage nach einem anderen konstitutiven Zusammenhang von Momenten und Totalität jenseits des Kapitalismus aufwerfen. Indem aber bis in die Erkenntnistheorie hinein die Begriffe als isolierte Angehörige allein dem Kapitalismus zugeschrieben werden, wird diese Potenz abgeschnitten. Ein übergreifendes Allgemeines gibt es nicht oder bleibt völlig unbestimmt.

Es ist klar, dass eine konstruktive Nutzung von Keimform und Elementarform nicht trivial ist und auch neue Kontroversen hervorruft (vgl. "Wie der Kapitalismus entstand" in diesem Heft). Doch genau das sind die Auseinandersetzungen, die wir brauchen und die uns voranbringen.

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Vergebliche Suche nach Keimformen

von Ulrich Weiß

Kann der Bruch zwischen der kapitalistischen Gesellschaftsformation und der Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation zugleich als Übergang gedacht werden? Seinen weitestgehenden Versuch in diese Richtung unternahm Robert Kurz in Antiökonomie und Antipolitik (1997). Er spricht von Keimformen einer neuen Vergesellschaftung - innerhalb der heutigen kapitalistischen Gesellschaft noch marginalen, aber prinzipiell verallgemeinerbaren Entkopplungen von der herrschenden Warenproduktion. Kurz gab diesen Versuch wieder auf, ohne die eigenen Vorstellungen und die angewandte Methode ausdrücklich zu kritisieren. Für die heutige Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus ist es sinnvoll, das nachzuholen.

Einverständnisse

Zum sozialökonomischen Charakter des Realsozialismus und zum historischen Materialismus schreibt Kurz: "Das Marx'sche Schema von der Rolle der Produktivkräfte wurde ... nur hinsichtlich der Binnengeschichte des warenproduzierenden Systems mobilisiert, nicht jedoch bezüglich der Aufhebung dieses Systems selbst." Es sei der "Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ... von Anfang an der innere Motor der kapitalistischen Entwicklung selbst, ­... ohne dessen basale Form selber antasten zu können". Dieser Widerspruch führe "erst am Ende der systemischen Entwicklungsgeschichte zur absoluten Systemkrise und an die Schwelle der Aufhebung". Der Marxismus verstand "den Marx'schen Begriff der Transformation" nur in einer "schwachen" Version und blieb "in der unausgeschöpften Entwicklungsgeschichte der Moderne gefangen" (59). Der Arbeiterbewegung und dem realen Sozialismus entsprach "keine nicht-bürgerliche, nicht-warenförmige soziale Existenzform" (55).

Eine Kapitalismuskritik führe nicht an sozialökonomische Keimformen einer Transformation heran, wenn sie sich positiv auf folgende historische Bewegungen bzw. Denkweisen beziehe:

• Genossenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts bzw. Alternativbewegung der frühen 1980er Jahre;

• Annahme einer Polarität von staatsökonomischem Politizismus und kleinbürgerlichem Klitschensozialismus;

• Linker Scheinradikalismus, der nicht nach Keimform einer Vergesellschaftung jenseits der Warenproduktion fragt;

• Linksradikale, die die basale Formbestimmtheit ignorieren, auf die aufklärerische Subjekt-Emphase "der Klasse" bzw. "des Klassenkampfs" oder jakobinisch-bürgerlichen Revolutions-Politizismus ausweichen;

• Anarchisten, die an unaufgehobenen Vermittlungsformen des warenproduzierenden Systems kleben, an bürgerlicher Subjektivität, an Proudhon mit tendenziell antisemitischer Kritik des zinstragenden Kapitals;

• Pariser Kommune von 1870 und Anarchisten des spanischen Bürgerkriegs ohne jegliche Idee einer nicht-warenförmigen Reproduktion;

• Nachlaßverwalter der Kritischen Theorie, die in vermittlungsunfähiger Paralyse verharren und das Problem des Übergangs im Schwebezustand esoterischer Reflexion belassen (56f.).

Die Aufhebung der fetischistischen Wertform, so Kurz, schließe die Negationen sowohl der erscheinenden Verkehrsform des Geldes ein wie auch der erscheinenden Form des kapitalistischen Gebrauchswerts. Erst Theorie und Praxis der Keimformen setzten "einen formulierbaren Anfang der sozialen Emanzipation" (53). Eine angenommene Aufhebung des Kapitalismus bei gleichzeitiger Ablehnung einer Keimform sozialökonomischer Reproduktion jenseits des Werts sei dagegen "zwangsläufig mit einem etatistischen Verständnis der Umwälzung 'von oben' verbunden, d.h. vom zentralen archimedischen Punkt der Macht aus" (63).

Eine Keimform sei kein äußerer territorialer, sondern ein innerer sozialer Raum, in dem Menschen mitten im kapitalistischen Territorium einen Teil ihrer Reproduktion den kapitalistischen Zumutungen entreißen. Kapitalistisch produzierte Mikroelektronik und Solartechnik würden für nichtkapitalistische Reproduktionsformen eingesetzt. Es gehe nicht um "romantisches" Aussteigertum der 70er/80er Jahre. In die kapitalistische Vergesellschaftungsform werde von innen her eine Bresche geschlagen. Die Keimformen hätten die Potenz zur Verallgemeinerung, zum Überwinden der kapitalistische Reproduktion überhaupt. Diese "starke" Transformation benötige keinen zentralen, unmittelbar gesamtgesellschaftlichen Hebel. Es handele sich hinsichtlich der Gesamtgesellschaft um eine Bewegungsform und nicht um einen zentralen Akt der Umwälzung (65).

Die Verwertung von Wert, tendenziell nicht mehr fähig, die Gesellschaft materiell zu tragen, bringt v.a. durch den Zwang zur Produktion relativen Mehrwertes die Mikroelektronik hervor. Diese ist Kurz' zentrale Kategorie der heutigen Revolution der Produktivkräfte.

Kritik

Es gelte, "die Partei der mikroelektronischen Produktivkräfte gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu ergreifen". Allerdings sei die "konkrete Erscheinung der mikroelektronischen Produktivkräfte ­... auch der stofflichen Gestalt nach eine kapitalistische, die zusammen mit ihrer gesellschaftlichen Form aufzuheben" (62) sei. Im Gegensatz zu dieser Aussage wird der mikroelektronischen (sachlichen) Produktivkraft selbst eine emanzipatorische Kraft unterstellt. Er zeigt nicht, welche Umformung sie in den Keimformen erfährt bzw. wie sie in diesen in neuer sozialer und gegenständlicher Qualität geschaffen wird. Die Produktivkräfte werden gefasst als den agierenden Individuen gegenüberstehende sachliche Gegebenheiten. Die Mikroelektronik selbst hat quasi den Kommunismus im Leib. Das "Wesen dieser neuen Produktivkräfte" sei "um ihrer selbst willen" gegen die kapitalistisch geprägte "konkrete Erscheinung der mikroelektronischen Produktivkräfte" zur Geltung zu bringen. Wesen vs. Erscheinung! So sei der "destruktive Gebrauchswert der kapitalistischen Produktions- und Konsumstruktur aufzuheben, ... die kapitalistischen Artefakte auszusortieren" (62f.). Mit dieser Art, eine Aufhebungsperspektive zu erkennen, gerät Kurz in eine subjektlose mechanistische Logik und zugleich in ein voluntaristisches Sollen und Müssen.

Subjektlose Aufhebung des Kapitalismus

Kurz' Stärke ist die wertkritische Darstellung der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise und deren Zumutungen für die Individuen als Folgen der "fetischistischen Reproduktions- und Verkehrsform selber" (69). So weit - so richtig. Wie aber die Reproduktion jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse so ist auch die Konstitution von Keimformen aktives Handeln, getragen von subjektiven Entscheidungen jener Menschen, deren auch geistige Einbindung in die alte Reproduktions- und Verkehrsform die Wertkritik ansonsten nachweist. Wie ist aber prokommunistisches Handeln vereinbar mit der totalen kapitalistischen Einbindung? Kann das erstere aus letzterem hervorgehen, kann die Bildung von Keimformen tatsächlich als "Konkretisierung der Wertkritik" (58) verstanden werden?

In Kurz' Keimformtext kommen handelnde Individuen zunächst nicht vor oder nur in der von der Gegenständlichkeit getrennten Figur der leidenden Menschen bzw. derjenigen, die entsprechend einem Sollen und Müssen die ihnen sozusagen äußerliche Mikroelektronik zu ihrer eigentlichen kommunistischen Bestimmung verhelfen.

Über das dementsprechende Können der Individuen - offenkundig eine neue Erscheinung - wird nichts gesagt. Die Motive, solche Wege aus dem Kapitalismus zu beschreiten, werden nur aus der Grundsituation der geknechteten, lohnarbeitenden Individuen hergeleitet, dem Leiden, das die gesamte bürgerliche Epoche durchzieht, also aus der allgemeinen, von der Wertkritik dargestellten innerkapitalistischen Logik. Diese führt aber nur in den Kapitalismus hinein und nicht hinaus. Das Reich der Freiheit wird von der Wertkritik, wenn überhaupt, nur als das abstrakte Andere des Kapitalismus behandelt, als etwas, über das man nur sagen könne, dass es eben Nicht-Kapitalismus ist - eine einfache, eine abstrakte Negation. Woher also kommt ein Handeln, das wertfreie Räume begründet, woher die Keimformen?

Die immer schon geknechteten, erniedrigten Individuen treffen endlich auf die mikroelektronischen Produktivkräfte. Diese sind bei Kurz das einzige neue innerkapitalistisch-historische Element. Es ist keine Rede von einer Entwicklung der agierenden Individuen selbst, die diese sachlichen Produktivkräfte hervorbringen. Kommunismus ist so nur zu "denken", indem man den sachlichen Produktivkräften selbst einen kommunistischen Charakter, einen Heiligen Geist zurechnet.

Noch einmal: Kritisiert wird nicht die richtige Einsicht, dass im Zusammenhang mit der mikroelektronischen Revolution die Lohnarbeit, die unverzichtbare Grundlage der kapitalistischen Produktion, "abgeschmolzen" und die Wertverwertung zusammenbrechen wird. Thema ist das positive Setzen einer möglichen Alternative, wie es sich aus dem Alten heraus entwickelt. Kurz schreibt das dem Wesen einer Technik zu, nicht der Entwicklung der handelnden Individuen.

Kapitalismus - ein schwarzes Loch

Kurz' Bestimmungen von Keimformen ergeben sich zunächst logisch aus der Wertkritik: Es könnten nur solche sozialen Räume sein, die sich jenseits der Warenförmigkeit konstituieren. Demzufolge stellte auch die sozialistische Warenproduktion keinen Weg aus dem Kapitalismus dar. Es gehe um solche Assoziationen, in denen entsprechend den Bedürfnissen der beteiligten Akteure nützliche Dinge produziert werden. Das ist richtig, doch nicht hinreichend. Sonst könnten auch vormoderne Selbstversorgungsgemeinschaften Keimformen des Kommunismus sein. Das schließt Kurz aus. Der erreichte Grad der Vergesellschaftung kann in Keimformen nicht zurückgenommen, er muss in einer anderen Form aufgehoben werden. Wenn aber Kurz' Gemeinschaften zunächst nur für sich selbst produzieren und nicht zur allgemeinen Verfügung, sind sie zum Produktentausch mit anderen Assoziationen gezwungen. Sie müssten letztlich - der Wertkritiker weiß das eigentlich - für den Tausch arbeiten und damit die "ganze Scheiße" wieder herstellen: nützliche Dinge als Waren produzieren, arbeiten für Äquivalent, Geld, Kapitalismus. Diese Keimformen sind keine.

Davon abgesehen, wie kommen nun bei Kurz die Menschen zum Keimform-Handeln? Im Gegensatz zu Marx' Revolutionstheorie weiß die Wertkritik, dass die Menschen sich diese Fähigkeiten nicht in den innerkapitalistischen gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen aneignen. Wie und wo bewirken dann Menschen, dass "die mikroelektronische Revolution [nicht nur - UW] zur Produktivkraft der Krise für das warenproduzierende System, ... [sondern] auch zur Produktivkraft der sozialen Emanzipation von den fetischistischen Formen des Werts" (59f.) wird? Wie eignen sie sich die Fähigkeiten dazu an? Kein Wort dazu. Wie auch, ist für Kurz doch die ganze bürgerliche Epoche nichts weiter als eine geschlossene Veranstaltung zur Verunmöglichung der Aufhebung des Kapitalismus.

Marx machte etwa mit den Kategorien formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital die Verbindung zwischen den Entwicklungen der Arbeitsmittel und der Maschinerie, dem Charakter der Arbeit und den subjektiven Fähigkeiten der Produzenten (Verarmung/Entfaltung) erkennbar. Hier ist im Zusammenhang mit der Entwicklung mikroelektronischer Produktivkräfte tatsächlich etwas zu entdecken, nicht aber das An-Sich-Kommunistische von Gegenständen. Der Marx des Maschinenkapitels der Grundrisse sagt Kurz nichts. Wie zu Maria der Herr, so kommt in Kurz' Text der Kommunismus plötzlich zum Menschen in Gestalt der Mikroelektronik.

Kurz kann sich auch 1997 mittels der Keimform-Idee nicht über die totale Bezogenheit seines kritischen Denkens auf die innerkapitalistische Logik erheben und stürzt sich schließlich wieder in sein unwiderstehliches kapitalistisch-schwarzes Loch.

Methodenkritik

Von welcher entfalteten sozialen Formation kann etwas eine Keimform sein? Soll die Keimform-Kategorie nicht leer bleiben, muss man über eine solche Bestimmung des sogenannten Reichs der Freiheit verfügen, die über die Aussage hinausgeht, dass es kein kapitalistisches ist. Solchen Bezug stellt Kurz auch in seinem Anti-Artikel nicht her. Er bleibt bei der einfachen Negation hängen, damit beim Alten, und gibt die Frage nach Keimformen auf.

Es ist schon ein kühnes Unterfangen, etwas Bestimmtes über eine Gesellschaft zu sagen, die es noch nicht gibt. Dies nicht zu tun, bedeutet selbst genau das zu tun, was Kurz über die "'orthodoxen' Nachlaßverwalter der Kritischen Theorie" schreibt, hinsichtlich der Aufhebung des Kapitalismus, "im Zustand einer vermittlungsunfähigen Paralyse [zu] verharren, ... das Problem im Schwebezustand ... zu belassen und jeden anzupinkeln, der darüber hinausgehen will" (57).

Keine Geschichtsphilosophie?

Man kann über die nicht vorhandene, aber mögliche Gesellschaft nur dann begründet sprechen, wenn man die Begrenzung auf die innerkapitalistische Logik zugunsten einer weltgeschichtlichen Sicht aufhebt. Marx behauptete, er verfüge über keine Geschichtsphilosophie, habe nur die innere Logik der kapitalistischen Produktionsweise aufgedeckt. Und doch spricht er auch als reifer Theoretiker von progressiven Gesellschaftsformationen (1859, 9). Friedrich Engels sah dessen Geschichtsmaterialismus als zweite große Entdeckung an (1883, 335f.).

Marx interessierte an der Binnengeschichte einer Formation wie an formationsübergreifenden Entwicklungen die geschichtliche Entfaltung der allgemeinen menschlichen Potenz. Es geht um die allgemeine Fähigkeit der Menschen, ihre eigenen Existenzvoraussetzungen - materiell-natürliche, soziale, entsprechende individuelle Fähigkeiten - zu schaffen und damit sich selbst. Hinsichtlich der Form, in der das geschieht, unterscheidet er die menschliche Vorgeschichte von der eigentlich menschlichen Geschichte. Im sogenannten Reich der Notwendigkeit - den Kapitalismus eingeschlossen - ist die Entwicklung der Zivilisation, die sich ausweitende allgemeine Handlungsfähigkeit unvermeidbar mit ihrem Gegenteil behaftet: Geschlechter- und Klassenspaltungen, Unterdrückung, Vernichtung. Die Menschen sind hier den Mitteln ihrer eigenen Vergesellschaftung wie einer äußeren natürlichen Macht unterworfen. Auf einem bestimmten Entwicklungsniveau ist der Übergang ins sogenannte Reich der Freiheit möglich. Dies könnte die Not der bisherigen Gegensätzlichkeit der Entwicklung wenden. Marx' Geschichtsmaterialismus macht jene Ereignisse und Entwicklungen sozialer Räume, Stände, Klassen, Institutionen, sachlicher Produktivkräfte und menschlicher Fähigkeiten erkennbar, die durch alle Brüche hindurch in Richtung dieser eigentlichen Geschichte wirken. In dieser Geschichtsphilosophie wird die innerkapitalistische Entwicklung zum Moment der weltgeschichtlichen. Es wird erkennbar, wie in diesem die unverzichtbaren Voraussetzungen für das Reich der Freiheit und eben dessen Keimformen entstehen.

Im Bestreben, mittels der Wertkritik die Besonderheit der kapitalistischen Formation zu erfassen, deren innere Logik sowohl als eine nicht vor- als auch als eine nicht nachkapitalistische zu bestimmen, reißt Kurz die Formationen auseinander. Sie stehen bezugslos nebeneinander, gehen nicht auseinander hervor, nicht ineinander über. Wie neugeboren "erben" die Menschen allenfalls das Katastrophale der vorhergehenden Epoche. Wetternd gegen die Marx'sche angeblich "deterministische Abfolge von 'immer fortschrittlicheren' Gesellschaftsformationen", bleibt als übergreifendes Band nur, dass "der menschliche Geist nie stillsteht" (58) - ein Idealismus, der, will er wirklich mal Geschichte denken, grober Materialismus wird.

Kapitalismus ist für Kurz eine immer schon lässliche Erscheinung ohne jeglichen zivilisatorischen Fortschritt. Durch Gewalt und Willkür installiert, reihen sich in ihm nur Katastrophen aneinander. Einzig die Mikroelektronik kommt aus der kommunistischen Zukunft daher und sammelt auf unerklärliche Weise die Leute in Keimformen. Konsequent folgt Kurz' gescheitertem Keimform-Ausflug das Schwarzbuch des Kapitalismus (1999), eine kapitalistische Sintflut ohne mikroelektronische Arche. Der Versuch, eine den Kapitalismus überschreitende Entwicklung zu denken, ist beendet.

Das Ende als möglichen Anfang denken?

In Marx' Grundrissen durchdringen sich eine tief begründete Geschichtsphilosophie und die Kritik der Politischen Ökonomie. In (vorzeitiger) Erwartung einer Revolution stellt er Fragen, die heute relevant sind: Wie sind Bruch und Kontinuität beim Übergang in eine freie Gesellschaft zu fassen? Welche Elemente der neuen Gesellschaft entstehen schon in der alten, sind in dieser zwar funktional, stehen aber zugleich in unauflösbarem Gegensatz zu ihr? Er antizipiert heute erlebbare Entwicklungen. Zwei Dinge fallen im Spätkapitalismus zusammen:

1) Die auf die Verwertung von Wert gegründete Produktionsweise wird zur miserablen Grundlage der Gesellschaft. Mit dem Übergang zur automatisierten Produktion vernichtet diese ihre eigene Grundlage - die Lohnarbeit. Der Kapitalismus verliert seine transitorische Notwendigkeit, gerät in seine Endkrise. Letzteres Argument macht auch die Wertkritik stark. Eine Idee von einer Transformation hat sie nicht.

2) Durch diese Entwicklung muss und kann schließlich der gesellschaftliche Reichtum nicht mehr an der Masse verausgabter menschlicher Arbeitskraft gemessen werden, können ProduzentInnen nicht mehr gemäß des Wertes ihrer verausgabten Arbeitskraft daran teilhaben. Erstmalig kann die Entfaltung der schöpferischen menschlichen Fähigkeiten zum Kriterium menschlichen Reichtums werden, zum unmittelbaren Ziel und Inhalt der Produktion.

In Marx' sonstiger Revolutionstheorie eignen sich die Proletarier im Klassenkampf die Fähigkeit und die Macht an, die bourgeoise Herrschaft zu stürzen und mittels ihrer Diktatur die neue Produktions- und Lebensweise zu etablieren. In den Grundrissen fällt die Entwicklung der Wert- und Mehrwertproduktion, die mit der eigenen Grundlage auch die innerkapitalistische Geschichtsmächtigkeit des Proletariats zerstört, direkt mit einer solchen Entfaltung von menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten zusammen, die die Menschen dazu befähigen, eine neue Form von Produktion und Vergesellschaftung zu konstituieren. Durch spätkapitalistische Änderungen im Charakter der Arbeit werden die bürgerlichen Individuen zu potentiellen Akteuren einer neuen Vergesellschaftungsform. Die kapitalistische Produktionsweise, richtiger: die Kritik daran vom geschichtsphilosophisch begründeten Standpunkt ihrer Aufhebung, treibt nun an einen Bruch heran: Das wissenschaftlich, kooperativ, künstlerisch und spielerisch fähige und zugleich durch die Erwerbstätigkeit beständig begrenzte, erniedrigte bürgerliche Individuum kann nunmehr mit der alten Produktionsweise brechen und eine neue Entwicklung in Gang setzen. Die Mensch heit ist inzwischen sozusagen dieser von Marx logisch begründeten Möglichkeit des Kommunismus entgegengewachsen.

Produktion muss nicht mehr durch offenen oder stummen Zwang der Ökonomie vorangetrieben werden. Sie kann getragen werden vom Bedürfnis nach schöpferischer Tätigkeit von Individuen, die sich frei assoziieren. Die sich in den Keimformen schon zeigende freie Tätigkeit ist eben zugleich gerichtet auf die Herstellung nützlicher Produkte zum allgemeinen Gebrauch wie auf die Entfaltung der je eigenen Individualität der Akteure selbst. Deren Verallgemeinerung wäre die Konstitution einer Gesellschaft, in der gilt: "Jeder nach seinen [produktiven Bedürfnissen und] Fähigkeiten, jedem nach seinen [konsumtiven] Bedürfnissen." (Marx 1875, 21, Einfügungen: UW)

Grober Materialismus

Bei Kurz haben Gegenstände, die Mikroelektronik, ein kommunistisches Wesen. Diese müssten durch einen äußerlichen Akt von ihrer kapitalistischen Erscheinung befreit werden. Genau das ist eine Variante des "grobe[n] Materialismus der Ökonomen, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Menschen und die Bestimmungen, die die Sachen erhalten, als unter diese Verhältnisse subsumiert, als natürliche Eigenschaften der Dinge zu betrachten, [es] ist ein ebenso grober Idealismus, ja Fetischismus, der den Dingen gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente Bestimmungen zuschreibt und sie so mystifiziert" (Marx 1858, 588).

Marx verfiel auch in solches Denken, so wenn er etwa schreibt: Auf einer gewissen Entwicklungsstufe "schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg" (1844, 409). Allerdings wird bei Marx nicht einer kommunistischen Gegenständlichkeit die kapitalistische Äußerlichkeit, sondern auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte wird etwa die "letzte Knechtsgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der andren Seite, ... abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals" (1858, 641f.).

Wer "häutet" wen ab? Die agierenden Individuen sich selbst, und zwar indem sie sich in einer neuen sozialen Form assoziieren und in einem Prozess sich selbst als gesellschaftliche Individuen neu konstituierend auch die ihren Bedürfnissen entsprechenden Produkte, Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse neu schaffen.

Die kapitalistisch produzierte Mikroelektronik ist nicht in ihrem nur unter kapitalistischer Erscheinung versteckten Wesen kommunistisch, sondern unter den herrschenden Verhältnissen "auch der stofflichen Gestalt nach eine kapitalistische" Technik, die nur "zusammen mit ihrer gesellschaftlichen Form aufzuheben" ist (62). Marx leitet in der Deutschen Ideologie (1846) die Lohnarbeit nicht aus dem Privateigentum ab, sondern das Privateigentum aus der entfremdeten Arbeit. So ist auch nicht eine Gegenständlichkeit von der kapitalistischen sozialen Form in dem Sinne zu befreien, dass "abgehäutet" das Kommunistische übrig bliebe. Die neuen sachlichen Produktivkräfte sind vielmehr in und mit neuen Formen der Tätigkeit neu zu schaffen. Der Kommunismus ist auch logisch so zu entwickeln, wie er auch in der Wirklichkeit nur entstehen kann - als Bewegung und Resultat freier Tätigkeiten.

Keimformen und ihre Voraussetzungen

Wir unterscheiden zwischen den historisch entstehenden Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus und den Keimformen der neuen Vergesellschaftung. Zu den Voraussetzungen des Entstehens von Keimformen gehören jene von Marx antizipierten und heute erlebbaren schöpferischen Eigenschaften von Individuen, die das Kapital unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution in seiner Jagd nach relativem Mehrwert unbedingt benötigt - dies auch um den Preis seiner eigenen Auszehrung.

Auf dieser Grundlage können sich Individuen Keimformen einer neuen Vergesellschaftung schaffen und sich selbst neue soziale Räume. In diesen stellen sie in einer Tätigkeit, die ihnen selbst Bedürfnis ist und die ihre Individualität frei entfaltet, die von ihnen gewollten Produkte und sozialen Beziehungen her. In solch bewusster Tätigkeit, und nicht vermittelt etwa durch einen staatlichen Plan und/oder gar durch Geld, antizipieren sie eine neue Gesellschaftlichkeit.

Eine solche Bestimmung von Keimformen entwickelt Kurz nicht. Ähnlich dem ML bleibt auch er im groben Materialismus, in der Hoffnung auf einen prokommunistischen Fetisch, stecken. Das von Marx in den Grundrissen charakterisierte spätbürgerliche Individuum - die genannten historischen Bedingungen vorausgesetzt - das ist der menschliche "Punkt", in dem sich der Kampf zwischen der innerkapitalistischen Logik und der des Reichs der Freiheit abspielt. Dieses bürgerliche Individuum ist sowohl der historische wie logische Endpunkt der progressiven Zeit und der Elendsgeschichte der kapitalistischen Formation als auch zugleich der nunmehr gewonnene Ausgangspunkt des Reichs der Freiheit.

Es sind die Modifikationen der Arbeit, der Produktionsmittel und der Formverhältnisse der Reichtumsproduktion in der spätkapitalistischen mikroelektronischen industriellen Revolution zu befragen: Inwiefern entstehen hier Voraussetzungen einer Produktionsweise, die die "Aufhebung ... des unmittelbaren Charakters der lebendigen Arbeit als bloß einzelner oder als bloß innerlich oder bloß äußerlich allgemeiner" bedeutet, einer Produktionsweise, in der durch das "Setzen der Tätigkeit der Individuen als unmittelbar allgemeiner oder gesellschaftlicher, ..." nicht, wie Marx weiter schreibt, "den gegenständlichen Momenten der Produktion diese Form der Entfremdung abgestreift" wird (1858, 722f.), sondern in der mit dieser Tätigkeit auch die gegenständlichen Momente der Produktion in neuer Form neu geschaffen werden. Die Individuen werden im zerstörerischen Spätkapitalismus nicht nur vor die Herausforderung gestellt, dass sie, um die eigene Existenz und damit die menschliche Zivilisation zu erhalten, diese Momente der Produktion nicht nur neu setzen müssen, und zwar "als Eigentum, als der organische gesellschaftliche Leib, worin die Individuen sich reproduzieren als Einzelne, aber als gesellschaftliche Einzelne" (ebd., 723) - sie entwickeln dazu auch die Fähigkeiten und die entsprechenden Bedürfnisse und bringen diese bereits in Keimformen zur Geltung.

Kurz' Abgesang

Die widersprüchliche Existenz und die emanzipatorischen Potenzen des spätbürgerlichen Individuums macht Kurz nicht zum Ausgangspunkt seiner Entwicklungen, sondern den Fetisch eines An-sich-Kommunismus der Mikroelektronik. Um aber doch vom Handeln zu reden, beschwört er am Ende des Textes solche soziale Aktivitäten, die er anfangs als innerkapitalistische bestimmt hat. Er kommt zu einem einzigen Anti, Müssen, Sollen und Lob des Avantgardismus. Um allen möglichen Widerständen, die immer vom Negierten geprägt sind, doch einen potentiellen Antikapitalismus zuzusprechen, verfällt er in Voluntarismus, in Zukunftskonstruktionen und in theoriefernen Eklektizismus: Eine Elite braucht einen gesamtgesellschaftlichen Plan; es müsse die "Theorie der Planung ... der realen Entkoppelungsbewegung vorausgreifen, weil diese möglicherweise sehr schnell in die Zwangslage versetzt werde, die Transformation nicht in kleinen Schritten, sondern in großen Schüben organisieren zu müssen. (...) Erst die Einheit von Krisentheorie, Entkoppelungstheorie und Planungstheorie" könne "eine kohärente anti-ökonomische Begriffsbildung entwickeln" (95); es gelte, bei deren Neubestimmung "mit grundsätzlich veränderten Inhalten und Formen das zu leisten, was die alte Arbeiterbewegung ... auf ihre Weise auch geleistet hat" (96f.). Die Übergangsgesellschaft des alten Marxismus ist wieder da.

Kurz setzt nun auf die Kämpfe innerhalb der Lohnarbeit: "Wir dürfen nicht vergessen, wie schwierig einst die Vermittlung des 'Marxismus' als kritische Theorie mit den ... sozialen Bewegungsformen der Lohnarbeiter ... seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war ... wie reichhaltig in diesem Kontext auch die Debatte um die 'Übergänge', um das 'Herankommen' an die soziale Umwälzung." (97) Es sei "eine der Schwächen der bisherigen Alternativbewegung und der Ansätze des 'Dritten Sektors', dass sie sich kaum oder gar nicht auf die weiterlaufenden Kämpfe innerhalb der Lohnarbeit beziehen können" (97). Wenn dagegen "Sektoren einer autonomen, emanzipatorischen Reproduktion greifbar sind, ist es möglich, den system-immanenten sozialen Kampf völlig rücksichtslos und in Bezug auf das Schicksal der famosen Marktwirtschaft nihilistisch zu führen" (98).

Er hofft auf Grundeinkommen, einen notwendigen "gesellschaftlichen Zeitfonds für die Tätigkeit in entkoppelten, autonomen Sektoren der Reproduktion" (98). So werde das angeblich "neue Paradigma gesellschaftlich herausgearbeitet und in der gewerkschaftlichen Debatte ebenso präsent sein wie in den Arbeitslosen- und Selbsthilfebewegungen" (99). Nötig sei eine systematische sozialökologische Enthüllungs- und Aufhebungs-Politik (101) und als das "soziale Kampfmittel der Zukunft ... die kybernetische Subversion" (104).

In einem Keimformtext Anbiederung an Bewegungen, die der Wertkritiker Kurz als inner- und prokapitalistische kennt! Das wurde nicht honoriert. Kurz bekämpfte von nun an jeden Keimformgedanken. Schade. Die Wertkritik, wenn sie sich der Transformationsfrage wirklich stellte, könnte zum kritischen Selbstverständnis nicht nur der Commons-Bewegung beitragen, sondern zur Einsicht der in sich zerrissenen spätbürgerlichen Individuen in ihre gegensätzlichen Rollen als Re-ProduzentInnen der kapitalistischen Verhältnisse und zugleich als potentielle BegründerInnen einer neuen freien Gesellschaft.



Literatur

Engels, Friedrich (1883): Das Begräbnis von Karl Marx, in: MEW 19 (1973), Berlin: Dietz.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969): Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 6, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Kurz, Robert (1997): Antiökonomie und Antipolitik, in: krisis, Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 19, Bad Honnef: Horlemann, S. 51-105.

Kurz, Robert (1999): Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt/Main: Eichborn.

Marx, Karl (1844): Kritische Randglossen zu dem Artikel "Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen", in: MEW 1 (1976), Berlin: Dietz.

Marx, Karl (1858): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42 (1983), Berlin: Dietz.

Marx, Karl (1859): Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 13 (1971), Berlin: Dietz.

Marx, Karl (1875): Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19 (1973), Berlin: Dietz.

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1846): Die deutsche Ideologie, in: MEW 3 (1969), Berlin: Dietz.

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Kein Form!

Wir haben nichts zu erfüllen, außer uns selbst

von Franz Schandl

Form? Was ist das? Und muss alles, was sich gestaltet, einer Form und, mit ihr eng verbunden, einer Norm entsprechen? Wenn auch einer gänzlich anderen? So hege ich Skepsis gegenüber der Darstellung der freien Assoziation als Form oder Logik, Ordnung oder Produktionsweise. Umwälzung meint Entstrukturierung, nicht die Installation neuer Formgesetze. Transformation ist kein Formierungskonzept, sondern eine Entformierung. Auch der Begriff Normalität verweist doch nur darauf, dass Lebensäußerungen sich innerhalb bestimmter Normen zu vollziehen haben. Selbst wenn es weiterhin Gewöhnliches, Ungewöhnliches und Außergewöhnliches geben wird, heißt das doch nicht, dass Norm und Form konstituierend sind, dass gar ein neues Gesellschaftssystem vorliegt.

Form als Formprinzip habe ich immer als eine inhaltliche Vorgabe gesehen, deren spezifischer Inhalt aber als allgemeine unhintergehbare und selbstverständliche Realkategorie auftritt. Wir sind hier nun auf philosophischem Terrain und gefragt werden muss, ob die Trennung von Form und Inhalt mehr ist als eine theoretische Hypothese. Die Form ist verdichteter Inhalt und der Inhalt auseinander-gelegte Form. So ist es wohl in Zeiten des Kapitals. Doch von ewiger Gültigkeit und Dauer möchte ich nicht reden. Indes ist nicht auszuschließen, dass, solange wir im Kapitalismus leben, Emanzipation stets auch als Form auftreten muss, will sie auf dem feindlichen Terrain Bestand haben. So gibt es keine Antipolitik ohne Politik, keine Antiökonomie ohne Ökonomie, keine Antiideologie ohne Ideologie. Das ist nun keineswegs zu affirmieren, sondern lediglich zu konstatieren. Dieser dialektische Widerspruch war trotz seines transzendentalen Anspruchs bis dato im Käfig der Immanenz gefangen, und doch ist jener einer, der nach Auflösung schreit, nicht nach seliger oder gar ewiger Betätigung.

Meinem Unbehagen habe ich zumindest auf der terminologischen Ebene Luft gemacht, indem ich den Transformationsbegriff durch den der Transvolution bereicherte. Diese ist ja ganz anders als die selige Revolution (ein Terminus, der vieldeutiger nicht sein könnte) nicht an einem Wiederkehren interessiert, sondern benennt eindeutig ein jenseitiges Gestalten. Damit ist freilich auch noch nichts gelöst, aber zumindest angedeutet, wo die Probleme liegen. Eine weiter Ausgestaltung der Kategorie wäre wohl vorteilhaft.

Vielleicht ist es auch nur ein sprachliches Problem, aber eigentlich vermute ich mehr dahinter, wenn ich ganz streng auf die Wortwahl achte, die verschiedene Ansätze so mit sich transportieren. So stellt sich für mich die Frage, ob es nicht besser wäre, von Elementen oder Enormitäten statt von Keimformen zu reden. Auch diese bilden Neues im Alten oder Gutes im Schlechten, Richtiges im Falschen ab, allerdings vermitteln sie nicht diese Gewissheit, die der Keimformbegriff nahelegt. Wenn sich die Keime entfalten, hört man ja mitunter das Gras wachsen. Das Pflanzliche und das Natürliche, es schwingt hier zweifellos mit und es hat mich schon bei "Antiökonomie und Antipolitik", Robert Kurzens programmatischem Artikel in krisis 19 unruhig gemacht. Es geht aufwärts und voran und die neue Zeit zieht auch gleich mit.

Zugegeben, das sind alles verlockende Gedanken, und doch bin ich mir nicht sicher, ob die Lockung nicht eine Blendung ist, der geschichtsphilosophische Impetus samt Hegelschem Faszinosum (sei es positiv oder negativ) sich nicht selbst als Motivation setzt und so meint, die Mankos der Wertkritik, die vielfach korrekt beschrieben werden, in einem geschichtsphilosophischen Turbohegel-Vollwaschgang überwinden zu können. Der alte Fortschritt, ja die Entwicklung selbst kommen sodann wieder zu Ehren. Bestimmte Akzente des Daseins werden hurtig als Aspekte des Neuen inauguriert. Die Defizite der klassischen Wertkritik sind nicht verschwunden, wenn man sie teleologisch auf einen Zeitpfeil setzt und somit aufheizt.

Der Kommunismus kann sich aus dem Kapitalismus entwickeln, was aber nicht heißt, dass dieser dessen unbedingt notwendiger Vorgänger zu sein hat, dass jener sich aus diesem entwickeln muss. Diese Dialektik ist keine zwingende, im Gegenteil, sie entpuppte sich stets als Avantgarde desselben, nicht als Alternative dazu. Geschichte kennt keine Naturgesetze, ihr Verlauf ist nicht vorherbestimmt. Und selbstverständlich ist dieser Verlauf nur ein Vorlauf, also Vorgeschichte gewesen zu dem, was einmal erst Geschichte werden soll. Keineswegs muss der Kommunismus dem Kapitalismus folgen, selbst wenn dieser zusammenbricht, nicht. Dass aber die Herrschaft des Kapitals (wie jede Herrschaft) weg muss, darüber diskutieren wir nicht. Indes liegt mir inzwischen doch mehr an den Vorstellungen und Handlungen; Intervention und Experiment sind mir näher. Die Perspektiven der Kritik stehen in meinem Fokus.

Geschichte hingegen gibt es immer nur a posteriori, nie a priori. Was einmal wird, wird sich erst weisen, es ist nicht bereits ausgewiesen. Keimformen geben Hinweise, aber sie liefern keine Gründe. Also auch keine Begründungen, sie sind lediglich Hilfsmittel. Geschichtsphilosophie erscheint mir, wenn überhaupt, nur sinnvoll als eine retrospektive Veranstaltung. Problematisch ist die Geschichte nicht nur als Automatismus, sondern auch bereits als die Konstruktion einer Logik des Aufstiegs. Es ist nicht ganz einfach, denn stets können Momente der Verbesserung und der Verschlechterung benannt werden. Diese wären freilich jeweils zu relativieren und zu gewichten.

Aufzupassen gilt es, dass man mit geschichtsphilosophischen Mutmaßungen nicht implizit das ehemals Durchgesetzte legitimiert, sei es als notwendig oder auch bloß als möglich. Das erscheint mir ein recht immanenter und schon gar kein fröhlicher Gedanke. Was gewesen ist, hat nicht sein müssen!

Selbstverständlich ist das Vergangene nicht zu ändern, aber daraus ist nicht zu schließen, dass es oft oder immer unmöglich gewesen wäre, auch andere Verhältnisse zu etablieren, die mehr als Variationen gewesen wären. Wir haben nichts zu erfüllen, außer uns selbst.

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Dass nichts bleibt, wie es ist...

von Annette Schlemm

Dass nichts bleibt, wie es ist..." - dies ist eines der größten philosophischen Rätsel mit ungemein politischem Hintergrund. Den Beschleunigungswahn der technischen "Revolutionen" erlebt jeder Mensch unserer Zeit. Aber viele von uns haben auch schon erlebt, dass sich staatliche Institutionen und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse grundlegend verändern können. Und einige erwarten - möglichst bald - den nächsten Wandel, bei dem wir uns von unnötigen ökonomischen Beschränkungen, wie dem Kapitalakkumulationszwang und auch anderen Herrschaftsformen endgültig befreien.

Dass viele Menschen diesen Wandel erstreben und aktiv auf ihn hinarbeiten, mag Grund genug für die Hoffnung auf ein Gelingen sein. Da es den Menschen aber eigen ist, nachzudenken über das, was sie tun, begleiten immer auch Überlegungen zum möglichen Ablauf des Geschehens die Taten. Dann spielen Erwartungen hinein, die sich aus Grundüberzeugungen über den typischen Ablauf von geschichtlichen Entwicklungen und Brüchen speisen. Diese bilden dann die "Geschichtsphilosophie". Auch jene, die annehmen, dass es in der Geschichte keinen "roten Faden" gebe, an dem sich die Aufeinanderfolge der gesellschaftlichen Formen in einer gewissen Ordnung aneinander reiht, vertreten damit ihre Geschichtsphilosophie des nicht vorhandenen inneren Zusammenhangs. Diese Position bestreitet mit Vehemenz, dass die Geschichte der Menschheit durch so etwas wie eine innere Logik bestimmt wird.



... weil Vernunft in der Geschichte ist

Eine Konzeption, die von einer inneren Logik der Entwicklung ausgeht, ist wohl am deutlichsten in der Hegel'schen Geschichtsphilosophie verkörpert. Sie geht davon aus, "dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei" (HW 12: 21). Hegel behauptet, dass er nicht mit dieser Voraussetzung an das Studium der Geschichte gegangen sei, sondern dass es sich "erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben [habe], dass es vernünftig in ihr zugegangen sei" (ebd.: 22). Allerdings darf man auch nicht unvernünftig in die Geschichte schauen, um Vernunft in ihr zu entdecken. Wir wissen, dass Hegel die Weltgeschichte als Geschichte eines Geistes erklärt, und wer sich unter diesem Geist jetzt so etwas wie ein Schlossgespenst vorstellen würde, ginge tatsächlich unvernünftig an dieses Thema heran. Der weltgeschichtliche Geist ist bei Hegel jene Einheit, ohne die alles sinnlos wäre, in der sich der Sinn erfüllt (so ähnlich beschrieb sein Schüler Rosenkranz den Geistbegriff im Bereich der Religionsphilosophie, vgl. Rosenkranz in HW 2: 536). Ob also ein Sinn der Menschheitsgeschichte erfüllt wird, etwa damit, dass alle Verhältnisse umgeworfen werden, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx MEW 1: 385), wird an uns selbst liegen. Damit auch, ob Hegel letztlich doch Recht hat.

Man kann davon ausgehen, dass Hegel davon ausging, dass dieser Zustand erreicht wird (soweit er ihn zu seiner Zeit fassen konnte). Ein Gedicht aus seinen letzten Lebenstagen zeigt, dass er durchaus der Meinung war, dass dazu noch einiges zu tun war und wie er dazu stand: "Und käm's, wie's: längst mich drängt, doch loszuschlagen..." (zitiert in Beyer 1988: 77).

Warum war er davon überzeugt, dass in der Weltgeschichte letztlich doch Vernunft steckt? In seinen Vorlesungen zur Weltgeschichte zeigt er, wie sich menschliche Gemeinschaften mehr und mehr aus allen vorherigen Abhängigkeiten befreien. Dabei lässt er kein Schema walten, sondern überdeutlich erweist er territorialen und historischen Besonderheiten seine Reverenz. Der Aufschwung der germanischen Völker etwa unterscheidet sich von den Anfangen der griechischen und römischen Kultur für Hegel dadurch, dass sich ihre Kultur weniger aus einem vorangegangenen welthistorischen Volke speist (HW 12: 413f.).

Den "roten Faden", der sich in dem wechselvollen Ablauf der menschlichen Geschichte ablesen lässt, findet Hegel im "Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" (ebd.: 32). Freiheit ist dabei nicht nur eine wohlfeile Losung, sondern meint inhaltlich, dass die Menschen ihre Abhängigkeiten erkennen und bewusst selbst gestalten können. Interessant ist, dass dieses Kriterium sogar gilt, wenn die Umstände des Lebens absolut unbefriedigend sind. Denn es geht um das "Bewusstsein der Freiheit", also das immer stärkere Bewusstsein dessen, dass die Gemeinschaft mit anderen nicht als Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, "sondern als eine Erweiterung derselben angesehen" wird (HW 2: 65).

Dabei verweist diese Tendenzbestimmung auf einen Horizont. Hegel nennt das auch "Endzweck" der Weltgeschichte. Dieser Endzweck, dieser Horizont ist die Verwirklichung aller nur möglichen Freiheit, die Beseitigung aller vorhandenen oder noch denkbaren Abhängigkeiten, die unfrei machen. Auf der letzten Seite seiner weltgeschichtlichen Vorlesungen schildert er als bisherigen Höhepunkt der Bewegung hin zu mehr "Bewusstsein der Freiheit" die deutschen Verhältnisse. Er schreibt dazu: "bis hierher ist das Bewusstsein gekommen..." (HW 12: 539), und das lässt offen, ob er gemeint hat, dass das Ende der Geschichte erreicht sei. Nach dem Kriterium, das er entwickelt hat, dem Bewusstsein der Freiheit, geht es immer dann weiter, wenn neue Beschränkungen dieser Freiheit erkannt werden.

Wir sehen dagegen deutlich: Der Horizont ist noch nicht erreicht, er zeigt uns die Möglichkeiten. Das was nur "der Möglichkeit nach" bestimmt ist, heißt bei Hegel "an sich". Indem wir dem Horizont näher kommen, wird das, was erst nur an sich ist, verwirklicht (vgl. HW 12: 33). Die menschliche Existenzweise unterscheidet sich nun nach Hegel von derjenigen anderer Naturwesen dadurch, dass menschliche Kulturen in ihrer Veränderungsfähigkeit nicht nur beliebige Wechsel ihrer Form vollziehen, sondern dass sie sich hin zum Besseren orientieren, einen "Trieb zur Perfektibilität" haben (ebd.: 74). Was das Bessere ist, ist zuerst einmal "ein ganz Unbestimmtes" (ebd.: 75). Das Einzige, was sich davon sagen lässt, ist, dass es das Prinzip der Freiheitlichkeit zur Existenz bringen muss.

Dabei ist es Hegel durchaus bewusst, dass nicht alles, was historisch geschieht, sich in Richtung dieser Tendenz bewegt. Viele Reiche gehen unter, manches hat auch bloß eine "faule Existenz" (ebd.: 53). Aber er geht davon aus, dass vieles davon als Unvollkommenes einen Keim des Vollkommenen als Trieb in sich hat (ebd.: 78). Im Unvollkommenen gärt der Widerspruch zwischen ihm und seinem Gegenteil, dem Vollkommenen. Hier (und nicht in der vorzeitigen Historisierung der Hegel'schen Logik) ist die Stelle, an der sich Hegels Dialektik auch historisch zeigt. Was getan wird, wenn wir versuchen "Keimformen" einer nachkapitalistischen Gesellschaft zu antizipieren und zu praktizieren, das schreibt Hegel in substantivierter Form dem Geist zu, wobei "der Geist, indem er sich objektiviert und dieses sein Sein denkt, einerseits die Bestimmtheit seines Seins zerstört, andrerseits das Allgemeine desselben erfasst und dadurch seinem Prinzip eine neue Bestimmung gibt" (HW 12: 104).

Als Akteure eines solchen Geistes denken wir also unser Sein, d.h. wir analysieren den Kapitalismus. Wir zerstören damit seine Bestimmtheit, denn wir erkennen die kapitalistischen Verhältnisse als historische, das heißt, als begonnene und endende Verhältnisse. Zu einem neuen Prinzip für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse kommen wir dadurch, dass wir das Allgemeine der gesellschaftlichen Verhältnisse neu fassen.


Bedingungs- und Möglichkeitsanalyse versus Kritik der Wirklichkeit am Maßstab des Wesens

Dabei können wir auf die Idee kommen, dass das Allgemeine selbst schon das neue Prinzip darstellt. Was bedeutet das? Wir können diesen Gedanken und seine Kritik bei Marx nachvollziehen. In seinen frühen Schriften betont er den allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, den er in ihrer "freie[n] bewusste[n] Tätigkeit" (MEW 40: 516) sieht. An diesem Gattungscharakter misst er dann die vorgefundene Art zu arbeiten und findet sie "entfremdet". Er begründet die Besonderheit des menschlichen Gattungscharakters explizit durch den Vergleich mit dem Tierreich: Der Mensch tritt demnach seinem Produkt frei gegenüber (d.h. er hat ein bewusstes Verhalten dazu), während das, was das Tier tut, "unmittelbar zu seinem physischen Leib" gehört (ebd.: 517). Diese Art Bewusstheit und Freiheit kennzeichnet natürlich jede menschliche Arbeit zu jeder Zeit - sogar die Arbeit eines Sklaven -; der Gattungscharakter ist eine überhistorische Bestimmung. Wie sollte nun diese überhistorische Allgemeinheit zielführend in der menschlichen Geschichte sein, wenn sie doch sowieso immer vorhanden ist? Wieso sollte das überhistorische Wesen, das in allen Erscheinungsformen vorhanden ist, das Entstehen neuer Erscheinungsformen anleiten?

Marx und Engels kritisieren kurze Zeit später diese Vorstellung als eine von "den Philosophen": "Die Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der Arbeit subsumiert werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen 'der Mensch' vorgestellt, und den ganzen, von uns entwickelten Prozess als den Entwicklungsprozess 'des Menschen' gefasst, sodass den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe 'der Mensch' untergeschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde." (MEW 3: 69) Gleichzeitig entwickeln sie den Gedanken, dass "die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen" (ebd.: 68), aber sie begründen dies nicht mit einem allgemeinen historischen Schema, sondern damit, dass die Produktivkräfte selbst einen dementsprechenden Entwicklungsstand erreicht hätten.

Dies ist eine andere Konzeption. Es geht um die Analyse von Bedingungen und Möglichkeiten. Das Wort Möglichkeit bedeutet zuerst einmal, dass das Mögliche nicht unmöglich ist und sich nicht widerspricht. Dies wird bei Hegel "formelle Möglichkeit" genannt (HW 6: 202f.). Darüber hinaus kennt Hegel die Form einer Möglichkeit, die sich als "Möglichkeit eines Anderen" zeigt - das ist die Bedingung (HW 8: 287). Eine Bedingung ist etwas Unmittelbares, das aufgehoben wird, wenn etwas anderes verwirklicht wird. Die Bedingungen sind die Scharniere, die zwischen wechselnden Zuständen, d.h. auch zwischen Gesellschaftsformen vermitteln. "Wenn wir die Bedingungen einer Sache betrachten, so erscheinen diese als etwas ganz Unbefangenes. In der Tat enthält aber solche unmittelbare Wirklichkeit den Keim zu etwas ganz anderem in sich. Dieses Andere ist zunächst nur ein Mögliches, welche Form sich dann aber aufhebt und in Wirklichkeit übersetzt." (Ebd.) Wenn die Bedingungen und Umstände nicht beim Denken konkret festgelegt, sondern in der abstrakten Schwebe gehalten werden, ist vielerlei (formell) möglich. Wenn jedoch eine Gesamtheit von Bedingungen vorhanden ist, die die Existenz einer Sache bedingen, so ist die Existenz dieser Sache real möglich. Alles, was existiert, ist "nach Möglichkeit", d.h. seine Bedingungen sind gegeben und es ist "in Möglichkeit", d.h. die Bedingungen können sich ändern und etwas anderes kann in Existenz treten (vgl. Bloch PH: 238). Genau dies ist der "Trick" der natürlichen Evolution (vgl. Schlemm 1996). Alles, was existiert, verändert im Laufe seiner eigenen Existenzweise die eigenen Existenzbedingungen. Dies ist der eigentliche Grund dafür, "dass nichts bleibt, wie es ist".



Allgemeine Evolutionsprinzipien

Die Art und Weise, wie nichts bleibt, wie es ist, hängt natürlich von der konkreten Sache ab, die sich verändert oder entwickelt. Aus der Analyse von Entwicklungsprozessen in der Natur lassen sich allgemeine Prinzipien leichter ableiten als aus der um ein Vielfaches komplexeren menschlichen Geschichte. Sie dürfen nicht kurzschlüssig auf diese übertragen werden, aber ein Blick darauf könnte heuristisch produktiv sein. Gerade dass wir als Menschen bewusst über unsere Entwicklungsmöglichkeiten nachdenken und aktiv am Hervorbringen neuer Möglichkeiten arbeiten, ist ein zusätzlicher Entwicklungsfaktor in der menschlichen Entwicklung. Einige der schon aus der Natur ableitbaren Prinzipien (aus Schlemm 1996: 201ff., 183) sind z.B.:

• Veränderungen, die innerhalb der "alten" Grundqualität bleiben, sind ab einem bestimmten Zeitpunkt "kontraproduktiv", sie verstärken Mangelsituationen. Dies liegt daran, dass die verstärkte Anwendung der "alten" Wechselwirkungen die Bedingungen/Ressourcen nur noch schneller verbraucht.

• Keime für Neues entstehen im Allgemeinen in isolierten Gebieten (wo sie nicht gleich wieder ausgemittelt werden) und an unerwarteten Stellen (außerhalb der Wirkungsmechanismen der bisherigen Zusammenhänge).

• Innere Plastizität und geeignete äußere Vielfalt sind für den "Sprung" ins Neue, Höhere unerlässlich.

• Im Fall der Konkurrenz zwischen verschiedenen Varianten des möglichen Neuen setzen sich die Formen des Neuen durch, die sich zuerst durch genügende Wechselbeziehungen ausreichend stabilisieren können.

• Im "Qualitätssprung" verändern sich die Komponenten sowie die Funktions- und Verhaltensweisen, und ihre Kombination wird neu organisiert. Insofern siegt nicht etwa ein Stärkerer, sondern es findet eine Ko-Evolution der neuen Teile des Ganzen statt. Auf der neuen Ebene verändern sich auch die Evolutionsprinzipien ("Evolution der Evolution").

Die "Evolution der Evolution" ist damit verbunden, dass auf jedem Strukturniveau der Materie, dem physischen, dem biotischen und schließlich auch dem gesellschaftlichen neue Faktoren wirken, deren Wechselbeziehungen die Struktur konstituieren und deren Veränderungen die Entwicklung bestimmen. Ob die eben angegebenen Prinzipien allgemein genug sind, um für alle, also auch die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse sinngemäß zu gelten, muss natürlich untersucht werden. Das gilt auch für den methodischen Fünfschritt, den Klaus Holzkamp für die Analyse der Entwicklung des Psychischen verwendet hat (Holzkamp 1983: 78ff), wobei er von einer strukturniveau-übergreifenden Geltung ausgeht (vgl. ebd.: 424). Er gibt aber auch deutlich zu bedenken: "Mit der Heraushebung der allgemeinen Prinzipien [...] der Entwicklung ist weder 'normativ' ausgesagt, dass ein solcher Entwicklungsprozess stattfinden muss, noch ist behauptet, dass die eine [...] Entwicklungsprogression tatsächlich überall stattgefunden hat bzw. stattfinden wird, sondern es soll lediglich fassbar gemacht werden, nach welchen Prinzipien die [...] Entwicklung, sofern sie stattfindet, begriffen werden muss, was auch das Begreifen der Bedingungen der Stagnation bzw. des Verfalls [...] einschließt." (Ebd.: 184)



Die virtuelle Eule der Minerva

In der Geschichte geht es nicht bloß stufenförmig aufwärts, sondern die historischen Prozesse sind eher mit sich weitläufig verzweigenden Strukturen zu vergleichen, bei denen viele Zweige abbrechen. Bei der Evolution des Lebens auf der Erde ist lediglich ein Prozent der Arten, die einmal entstanden waren, übrig geblieben. Wie kann man in so einer verästelten Struktur überhaupt einen roten Faden finden wollen?

Wenn eine Ameise vom Baumstamm aus los läuft, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf einem bestimmten Blatt ganz außen an der Krone des Baumes ankommt? Sehr gering. Betrachten wir den Weg aber mal anders herum: Wir setzen die Ameise gedanklich auf das Zielblatt und schauen dann zurück und finden mit Sicherheit einen Weg, der von ihrem ersten Ausgangspunkt am Baumstamm über die großen Baumäste hin zu den feineren Verzweigungen bis hin zu dem bestimmten Zielblatt führt.

Bei Hegel wird die Philosophie nicht mit einer solchen Ameise, sondern mit der' Eule der Minerva verglichen, die "erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" (HW 7: 28) beginnt. Wer Hegel jemals selbst gelesen hat, weiß auch, dass für Hegel die Entwicklung nicht tatsächlich in seiner Gegenwart endet. Für ihn ist Amerika das Land der Zukunft, aber "als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an; denn wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist, und mit dem, was ist" (HW 12: 114). Die Philosophie erscheint "erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat" (ebd.). Vom Ende eines Entwicklungsprozesses aus gesehen, lässt sich der Weg von seinen Anfangen her ziemlich eindeutig rekonstruieren. Dies vollzieht auch Klaus Holzkamp, wenn er mit dem methodischen Fünfschritt die Entwicklung der Psyche im Verlauf der biotischen Evolution nachvollzieht. Wir haben schließlich eine hoch entwickelte Form der Psyche, und von diesem Standpunkt aus lässt sich fragen, welche Voraussetzungen jeweils in früheren Stadien unter welchen Bedingungen zu welchen weiteren Veränderungen und Qualitätssprüngen geführt haben.

Wenn es uns nun um die Keimformen einer möglichen neuen Gesellschaftsform geht, die weiter voran schreitet auf dem Weg zur Verwirklichung von Freiheit, so nutzen wir die menschliche Fähigkeit zur Antizipation. Wir stellen uns gedanklich, also "virtuell" auf den Standpunkt einer weiter fortgeschrittenen Entwicklung und schauen von daher zurück auf die Gegenwart und ihre Möglichkeiten und Bedingungen.

Eine Bedingungsanalyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt uns, dass das menschliche Handeln in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, also den kapitalistischen, "die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (MEW 23: 530). Das ist nicht neu, neu ist aber das Ausmaß der Zerstörungen. Die Herausforderung besteht darin, dass neue und freiere gesellschaftliche Verhältnisse entwickelt werden müssen unter Umweltbedingungen, die angesichts der weltweiten Zerstörung der fruchtbaren Bodenfläche und des Klimawandels dem menschlichen Tun nicht förderlich entgegen kommen, sondern große Anstrengungen zur einfachen Reproduktion erfordern werden. Es kann natürlich auch ganz anders kommen. Es braucht keine kosmische Katastrophe, um Endzeitszenarien für die Menschheit auf der Erde zu Verwirklichen. Mögliche Entwicklungspfade, die vor uns liegen, können wir noch beeinflussen. je länger wir warten, desto mehr progressive Wege werden verschüttet werden. Deshalb kommt es darauf an, jene Keimformen einer neuen Lebens- und Produktionsweise, die wir vom virtuellen Standpunkt einer besseren Zukunft her entdecken können, zu stärken. Die Fähigkeit zur Antizipation und zur Hoffnung gehört zu den produktiven Potentialen, die ebenfalls als Bedingungen in den Prozess eingehen. "Hoffnung ist keine Zuversicht, sondern ein Aufruf an uns Menschen, die wir doch an der Front des Weltprozesses stehen." (Bloch 1974: 97)



Literatur

Beyer, Wilhelm Raimund: Hegel und das Kreuzberger Völklein, in: Hegel: Natur und Geist. Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 14, Red. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond, Bochum 1988, S. 77-87.

Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.

Bloch, Ernst (1974): "Die Welt bis zur Kenntlichkeit verändern." Gespräch mit Ernst Blech, in: Münster, Arno: Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1974, S. 20-100.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (H W): Hegel Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.

Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/New York: Campus 1983.

Marx, Karl, Engels, Friedrich Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Berlin: Dietz-Verlag 198

Rosenkranz, Karl (HW 2): Rosenkranz' Bericht über das Fragment vom göttlichen Dreieck. In: Jenaer Schriften. Hegel Werke Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 534-539.

Schlemm, Annette (1996): Dass nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung. Band I: Kosmos und Leben, Münster: LIT-Verlag.

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Keimformen und Konvivialität

von Andrea Vetter

Wie stellen wir uns eine freiere Gesellschaft vor? Welche Dinge brauchen wir dort - Open-Source-Traktoren, Mikrovergaser, Rennautos oder Komposttoiletten? Tragen diese Dinge, wenn es sie heute schon gibt, vielleicht sogar den Keim für eine freiere Gesellschaft in sich? Eine freiere, künftige Gesellschaft wird nicht plötzlich über Nacht entstehen, sondern kann sich nur durch das Ausprobieren von anderen gesellschaftlichen Praktiken im Zusammenspiel mit anderen (von Menschen hergestellten) Dingen langsam herausbilden (Habermann 2009, Gibson-Graham 2008). Wie aber wird diese Gesellschaft, wie werden ihre Dinge aussehen? Vielleicht ist es sinnvoll, sich dafür intuitiv auf die Suche zu begeben nach Dingen, die es jetzt schon gibt und die für eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus brauchbar sein könnten.

Möglichkeit eins

Der junge Mann lächelt breit in die Kamera. Voller Stolz erklärt Marcin Jakubowski die Funktionsweise der Open Source Ecology. Sein Traum ist es, 50 Open-Source-Landmaschinen herzustellen, "ein Startpaket für eine kleine Zivilisation" namens "Global Village Construction Set". Ziegelpresse, Windrad, Traktor und viele andere technische Geräte werden gerade auf seiner Farm in Missouri, USA, von Freiwilligen gebaut, die Pläne dazu mal mehr oder weniger vollständig im Netz dokumentiert. Das Spendenaufkommen für das Projekt liegt bei hundertausenden Dollar, Jakubowski ist ein guter Verkäufer. Open Source Ecology ist in aller Munde, wenn es um alternative zukunftsträchtige Technikmodelle geht, auch in der Blogosphäre im deutschsprachigen Raum. Eine Keimform?

Warum ist es hilfreich, über "Dinge" für eine freiere Gesellschaft nachzudenken, was ist darunter zu verstehen? Dinge können natürlich alle möglichen unbelebten Objekte sein: Steine und Sandkörner oder Holzscheite. Die allermeisten Dinge, die uns heute umgeben, sind aber von Menschen sehr stark bearbeitet (Sie können sich beim Lesen gerne als Test kurz umschauen). Das bedeutet, dass diese Dinge nicht einfach gegeben sind, sondern sich in ihnen ein spezifisches Zusammenspiel von Materiellem und Sozialem ver-ding-licht - Soziales wie das Wissen der Ingenieurin oder ein bestimmter Fertigungsablauf in einer Fabrik, Materielles wie Rohöl oder Erze oder die Maschine, die den Stoff in Form fräst. Dinge wie ein Traktor oder ein Tisch sind selbst sozio-technische Netzwerke, die wiederum mit ihrer Umwelt agieren, und zu bestimmten Nutzungsweisen einladen und andere erschweren (Test: Versuchen Sie mal, ihren Drehstuhl als Leiter zu benutzen) (Latour 2008). Welche dieser Dinge können nun aber Teile von Keimformen sein?

Möglichkeit zwei

Ein kleines Erdgeschoss-Ladengeschäft in Berlin-Kreuzberg. Der "Weltraum" ist der zentrale Ort der lokalen Transition-Town-Initiative. Joachim Betzl, Kompostologe, schneidet mit einem scharfen Klappmesser Löcher in die Seite einer Großküchen-Konservendose. 14 Menschen zwischen 15 und 75 schauen ihm interessiert zu. Betzl erklärt, wie die Dose zur äußeren Hülle eines Mikro-Holzvergasers werden kann. Das Gerät wird nur aus Abfall - alten Weißblechdosen - hergestellt. Mit gesammeltem Holz bestückt, kann man auf der größeren Variante durchaus eine Suppe kochen. Das zu Holzkohle eingebrannte Holz dient nachher als wertvoller Zusatzstoff beim Kompostieren. Eine Keimform?

Wenn wir über brauchbare Dinge für eine freiere Gesellschaft nachdenken, dann ist es wichtig, zu sagen, was "freiere Gesellschaft" hier heißen soll. Ich meine damit eine Gesellschaft, die lebende und künftige Menschen (mit ihren je eigenen Vorstellungen vom guten Leben) und alle andere Lebewesen (seien es Tiere oder Pflanzen in ihrem Daseinswunsch) respektiert und die Regeln ihres Zusammenlebens (auf lokaler und globaler Ebene) immer wieder möglichst hierarchiearm gemeinsam überprüft und festlegt. Und was bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man ein Ding für eine freiere Gesellschaft "brauche" oder es "brauchbar" sei? "Brauchbar" bezeichnet schlicht ein Ding, das jemandem nützt, ohne dabei massiv anderen Lebewesen zu schaden.

Möglichkeit drei

Ein Foto von einem kleinen schnittigen Rennwagen auf einer Bühne - eine Produktpräsentation. Wikispeed ist das erste Auto, das in einer netzwerkbasierten Peer-to-Peer-Produktionsweise hergestellt worden ist, mit extrem kurzen Innovationszyklen. Ein Vorzeigeprojekt der neuen Commons-Bewegung. Die ersten Prototypen fahren bereits auf US-amerikanischen Straßen. Der Gründer von Wikispeed weist stolz darauf hin, dass das Auto nur 1,5 Liter verbraucht und irre schnell fahren kann. Stauraum für Gepäck, Sitzplätze für mehrere Mitfahrer oder einen Kindersitz sucht man allerdings vergeblich. Aber die Baupläne sind ja Open Source - einem Wikispeed-Kombi-Modell stünde prinzipiell also nichts im Wege. Eine Keimform?

Verschiedene Eigenschaften des Kapitalismus wie Privateigentum und instrumentelles Denken blockieren Möglichkeiten für eine freiere Gesellschaft. Das bedeutet also, dass eine Keimform nur dann Keimform sein kann, wenn sie sich bestimmten Funktionsweisen des Kapitalismus verweigert. Daraus ergeben sich nun aber zwei Fragen: 1. Welche Funktionsweisen sind das? Und 2. Reicht das für die Definition von Keimformen aus bzw. ist jede nicht-kapitalistische Wirtschaftsform gleich brauchbar für eine freiere Gesellschaft?

Möglichkeit vier

Eine junge Frau mit leicht gequältem Gesichtsausdruck fährt sich über den Bauch. Sie steht auf einem Permakultur-Selbst-Versorger-Hof in der Lausitz, neben einem kleinen Häuschen auf Stelzen. "Ich find' das ja vom Kopf her eine gute Sache, aber ich kann in den ersten Tagen einfach nicht ...", sagt sie. Ihr Körper verweigert die Mitarbeit, sich auf dem Kompostklo vollständig zu entleeren. Dazu braucht es Eingewöhnung, Übung. Klappt es dann, sorgt ein Kompostklo dafür, dass die menschlichen Ausscheidungen direkt wieder zu Humus weiterverarbeitet werden können - dazu braucht es keine größere Infrastruktur, kein Geld, nur etwas Holz und Erde. Eine Keimform?

Widerständige Dinge

Welchen Funktionsweisen kapitalistischen Wirtschaftens verweigern sich nun bestimmte Dinge wie ein Open-Source-Traktor oder ein Mikrovergaser? Basierend auf den Gedanken von u.a. J.K. Gibson-Graham soll an dieser Stelle betont werden, dass "der Kapitalismus" kein monolithisches System ist, sondern selbst von einer Vielfalt von existierenden Wirtschaftsformen profitiert, die auch in der jetzigen Ökonomie schon da sind (sonst könnte es auch überhaupt keine Keimformen geben). Und es gibt ganz verschiedene widerständige Praktiken, die sich einer kapitalistischen Verwertungslogik auf verschiedene Arten entziehen können.

Da sind zunächst das Global Village Construction Set und Wikispeed - Beispiele für Peer-to-Peer-Produktion von physischen Gütern, die häufig als Keimform genannt wird. Im Wesentlichen verweigert sich die P2P-Produktion der Funktionsweise des privaten Eigentums an Wissen, denn die Baupläne dieser Dinge sind nicht patentiert, sondern quelloffen zugänglich. Ein einzelnes hergestelltes Ding selbst (ein Traktor oder ein Rennauto) könnte zwar durchaus zur Ware werden, nicht aber das Wissen darüber, wie man ein solches Ding herstellt.

Wie sieht es dagegen mit einem Mikrovergaser oder einem Kompostklo aus? Beide Dinge werden in Kontexten der Permakultur entwickelt. Permakultur ist eine in den 1970er Jahren entstandene Art ursprünglich des Land- und Gartenbaus, mittlerweile aber auch der Projektplanung im Allgemeinen, die letztlich auf der Tiefenökologie beruht. Diese spirituelle Position ist es, die eine gewisse Widerständigkeit gegen Kommodifizierung bietet. Denn dem Kapitalismus eigen ist eine Flachheit der Welt: Alle Objekte, ob lebend oder tot, sind ihm gleich und prinzipiell handelbar. Permakulturelles Denken dagegen folgt nicht einem instrumentellen Naturverständnis und folgt nicht der Profitlogik. Dinge, die entwickelt werden, werden meist für den Eigengebrauch genutzt, und das oberste Prinzip ist die Achtung lokaler ökologischer Kreisläufe und der bedächtige und behutsame Eingriff darin.

Allen oben genannten Möglichkeitsräumen wohnen also an ganz bestimmten Stellen bestimmte Widerständigkeiten gegen kapitalistische Verwertung inne, von denen augenblicklich nicht unbedingt gesagt werden kann, wie weitreichend diese noch werden können. Sind sie "damit aber alle gleich brauchbar für eine freiere Gesellschaft?

Konvivialität

Der Querdenker Ivan Illich hat dafür vor über 40 Jahren in seinem Buch "Tools for Conviviality" einen Vorschlag gemacht: Er schlug vor, als Kompass für die gesellschaftliche Wünschbarkeit bestimmter Dinge (statt Dinge sagte er "tools") die Kategorie der Konvivialität heranzuziehen. Konvivialität ist für ihn das "Gegenteil der industriellen Produktivität", und sie meint konkret eine Eigenschaft der Lebensfreundlichkeit und des Gerne-miteinander-Seins und auch des Aufeinander-bezogen-, Aufeinander-angewiesen-Seins, kurz: freudige und sensible Kooperation. Konvivialität ist damit letztlich eine ethische Kategorie. Und solche ethischen Kategorien können durchaus nützlich sein, wenn es um die Bestimmung von Keimformen geht. Denn notwendigerweise ist die endgültige Form in einem Keim zwar angelegt, aber noch nicht Vollständig ausgeprägt. Selbst für Gärtner ist es bisweilen schwierig, nur anhand der beiden Keimblättchen, die am Pflanzenstängel als Erste sprießen, die Pflanzenart auszumachen. Denn Keimblätter sehen sich verteufelt ähnlich. Wir können also abwarten, wozu sich ein solcher Keimling entwickelt, und dann lässt sich ex post feststellen, ob es sich überhaupt um die Keimform für eine freiere Gesellschaft gehandelt hat oder nicht.

Aufbauend auf Kriterien, die potentielle Keimform-Projekte selbst entwickeln, um ihrer Arbeit ethische Leitlinien zu geben, und den Ideen von Illich, bieten sich fünf Dimensionen an, die die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit eines Dinges näher bestimmen können: Gesundheit, Gerechtigkeit, Autonomie, Ressourcenintensität und Beziehungsfähigkeit. Jede dieser Dimensionen hat natürlich auch verschiedene Ebenen im zeitlichen Verlauf der Lebensdauer und in der Einbettung eines Dings, die betrachtet werden müssen: 1. Infrastruktur, 2. Herstellung, 3. Nutzung.

Diese Dimensionen sind keinesfalls vollständig, sondern lediglich ein erster Vorschlag, um über die ethischen Implikationen sprechen zu können. Anhand dieser Dimensionen ist es interessant, nochmal auf den Open-Source-Traktor und den Mikrovergaser, das Wikispeed-Auto und das Kompostklo zurückzukommen. An alle diese Projekte lassen sich viele Fragen stellen:

Beziehungsfähigkeit: Fördert ein Ding Konkurrenz oder Kooperation? Verbindet oder trennt es Menschen? Ist es vielfältig einsetzbar? Bedarfsorientiert? Ist es netzwerkbasiert oder nur monetär vermittelt? Welche Hierarchien erfordert es? Ist es einseitig gerichtet oder wechselseitig nutzbar?

Gerechtigkeit: Was würde passieren, wenn alle Menschen auf der Welt dieses Ding hätten? Ist es geschlechtergerecht, für Männer und Frauen gleichermaßen nutzbar? Ist der Umgang damit einfach zu erlernen? Wie kann das Wissen zur Herstellung oder Nutzung erworben werden - kostet es Geld, muss man einer bestimmten Elite angehören? Ist es patentiert oder offen zugänglich? Wo ist es offen zugänglich? Wer hat Zugang zu diesen Orten?

Autonomie: Macht das Gerät abhängig von ExpertInnen? Ist es einfach zu reparieren, oder ist der Verschleiß eingebaut? Kostet es viel Geld? Ist es anschlussfähig oder nicht erweiterbar? Ist es für den lokal angepassten Gebrauch einfach veränderbar? Ist es autonom nutzbar oder infrastrukturell gebunden? Ist es zeitsparend oder zeitaufwändig - für wen und auf welcher Ebene?

Gesundheit: Fördert das Ding die Gesundheit oder führt es zu Krankheit und Tod vieler Menschen? Macht es den Boden fruchtbarer, das Wasser und die Luft sauberer oder vergiftet es sie? Sorgt es für den Erhalt von Tierarten oder rottet es Arten aus? Ist seine Funktionsweise bekannt, oder birgt es nicht erforschte Risiken?

Ressourcenintensität: Funktioniert das Ding effizient? Sind seine Materialien nachwachsend? Ist es multifunktional oder eindimensional? Nutzt es lokale Rohstoffe? Ist es so gebaut, dass die Materialien recycelt werden können? Nutzt es natürliche Funktionsweisen oder arbeitet es gegen sie? Benötigt es für den Betrieb erneuerbare Energien wie Wind- oder Solarkraft, Muskelkraft von Mensch und Tier oder funktioniert es nur mit fossilen Energieträgern?

Ergänzende Konzepte

Die Diskussionen um Keimform und um Konvivialität können sich gegenseitig befruchten. Denn ein Keimform-Begriff, der sich nur auf Aspekte wie die Überwindung des Privateigentums an Wissen bezieht, greift zu kurz. Wikispeed ist dafür ein gutes Beispiel: Das Projekt ist zwar hinsichtlich vieler Faktoren begrüßenswert und "besser" als die herkömmliche Autoindustrie, das Ding, das am Ende steht, ist aber immer noch ein Auto - eine lebensgefährliche, verschmutzende, ressourcenverschwendende, teure und sozial ausschließende Art sich fortzubewegen, wie es André Gorz (2009) in seinem Aufsatz so schön beschrieben hat. Kurz: Es ist ein Ding, das keine Antwort darauf gibt, wie Mobilität in einer freieren Gesellschaft organisiert werden könnte.

Umgekehrt läuft ein Konvivialitätsbegriff ohne Kapitalismuskritik Gefahr, die systemischen Ursachen dafür auszublenden, dass sich viele brauchbare Alternativen so schwer oder gar nicht durchsetzen. Es muss an dieser Stelle eine offene Frage bleiben, ob tendenziell konviviale Dinge immer auch einer oder mehreren Funktionsweisen des Kapitalismus Widerstände entgegensetzen - dafür bräuchte es mehr Gedanken, als in diesen Essay passen. Am Beispiel der Permakultur zeigt sich jedoch, dass die dort entwickelten Dinge sehr schnell warenförmig werden können, wenn sie die Sphäre des Eigenbaus Verlassen. Deshalb wären diese Projekte sicherlich eher Keimformen (und im Übrigen auch eher konvivial!), wenn das Wissen, das sie generieren, prinzipiell quelloffen wäre.

Das Prinzip der Konvivialität mit seinen Verschiedenen Dimensionen könnte ein hilfreicher Kompass für Menschen sein, die in Projekten arbeiten, in denen tendenziell Keimformen entstehen. Denn dieser Kompass macht deutlich, dass P2P-Projekte zwar punktuell über den Kapitalismus hinausführen können, aber nicht notwendig zu einer freieren Gesellschaft. Denn der Kapitalismus ist nicht die einzige Gesellschaftsform, die Menschen unterdrückt.



Literatur

Gibson-Graham, J.K. (2008): Diverse Economies: Performative Practices for "Other Worlds", Progress in Human Geography 32 S. 613-632.

Gorz, André (2009): Die gesellschaftliche Ideologie des Autos, in: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt, S. 52-64.

Habermann, Friederike (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag, Sulzbach: Helmer.

Illich, Ivan (1975): Selbstbegrenzung. [Tools for Conviviality] Reinbek: Rowohlt.

Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Wie der Kapitalismus entstand

Und was uns das über die Entstehungsvoraussetzungen der nächsten Gesellschaft lehrt

von Christian Siefkes

Die US-amerikanische Historikerin Ellen Meiksins Wood befasst sich in ihrem sehr lesenswerten Buch The Origin of Capitalism: A Langer View (London: Verso, 2002, Seitenangaben nachfolgend in Klammern) mit der Frage nach der Entstehung des Kapitalismus. Ihre Antwort ist dabei sowohl originell als auch plausibel, weshalb sie eine nähere Betrachtung verdient. Im Folgenden sollen zunächst Woods - im deutschsprachigen Raum bislang wenig diskutierte - Erkenntnisse vorgestellt werden. Anschließend erörtere ich kurz, wie weit ihre Rekonstruktion dem Keimform-Modell geschichtlicher Entwicklungen entspricht, wobei ich einige für die Keimformtheorie problematische Differenzen sehe. Dreht man Woods Analyse der Entstehungsvoraussetzungen des Kapitalismus um, erkennt man Merkmale, die eine Produktionsweise aufweisen muss, um nicht zwangsläufig wieder beim kapitalistischen Modell zu landen - das Thema des letzten Teils dieses Artikels.

Provokant ist das Buch, weil es die verbreitete Annahme, der Kapitalismus sei eine "natürliche" und unvermeidliche Produktionsweise, negiert. In der Mainstream-Sicht entspricht der Kapitalismus der menschlichen Natur. Er musste sich daher entwickeln, sobald die ihm entgegenstehenden Hindernisse beseitigt waren. Oft werden frühere Gesellschaften als Proto-Kapitalismen aufgefasst, die das kapitalistische Modell nur noch nicht vollständig umsetzen konnten. Marxist_innen weisen die Natürlichkeit des Kapitalismus zurück, sehen ihn aber oft als notwendige Etappe in der Menschheitsgeschichte an. Die Geschichte wird hier als logische Abfolge von Produktionsweisen gesehen, die im Dreischritt Feudalismus - Kapitalismus - Kommunismus münden soll. Jede spätere Produktionsweise wird dabei als "höher" oder "besser" als die vorigen aufgefasst. Wood will von alledem nichts wissen, sie hält den Kapitalismus nicht für "natürlich" und betont, dass seine Entwicklung aus dem Feudalismus heraus keineswegs zwingend, sondern Ergebnis historischer Zufälle war.

Wood benennt zunächst einige spezifische Merkmale des Kapitalismus (2f):

• Die Menschen hängen vom Markt ab, um ihre Lebensmittel zu erwerben, in anderen Worten: um zu überleben.

• Ebenso brauchen Produktionseinheiten (Firmen) den Markt, um die nötigen Produktionsmittel zu erwerben und die hergestellten Waren zu verkaufen.

• Aneignung/Bereicherung erfolgt über Marktmechanismen wie den Kauf von Arbeitskraft, nicht über außerökonomische Mechanismen wie unmittelbaren Zwang (anders als bei direkten Abhängigkeitsverhältnissen, etwa im Feudalismus).

• Alle sind vom Markt abhängig und daher gezwungen, sich den Marktgesetzen zumindest so weit zu unterwerfen, dass ihr weiteres Überleben (ob als Mensch oder Firma) gesichert ist. Alle werden also gezwungen, gegen andere zu konkurrieren, da sie sich nur so auf dem Markt durchsetzen können. Firmen sind zudem zur Profitmaximierung gezwungen, da sie nur so Investoren gewinnen und halten können.

• Der Konkurrenzzwang erfordert ein permanentes Streben nach Steigerung der Produktivität, etwa durch technische oder organisatorische Innovationen. Wer dies besser macht als andere, gewinnt einen temporären Vorteil; wer es schlechter macht oder sich dem Innovationsstreben ganz verweigert, geht unter.

• Das Ziel jede_r Kapitalist_in (und damit, wenn man so will, des Kapitalismus selbst) ist die möglichst rasche Vermehrung des eingesetzten Kapitals - die Kapitalist_in als Privatperson mag andere Ziele haben, aber als Unternehmer_in muss sie so handeln, um ihre Investoren zufriedenzustellen. Die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungenen Menschen haben in der Regel andere Ziele, dienen aber zwangsläufig dem Ziel der Kapitalvermehrung.

Woods Frage ist nun: Wie kam es überhaupt dazu, dass diese sehr spezifische Art der gesellschaftlichen Reproduktion entstanden ist und sich innerhalb weniger Jahrhunderte über fast die ganze Erde ausbreiten konnte? Sie kritisiert (3f), dass die meisten Darstellungen der Entstehung des Kapitalismus zirkulär sind. Sie setzen den "Geist des Kapitalismus" - den Drang zur Gewinnmaximierung - ebenso voraus wie eine allgemeine Tendenz zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Dabei sind dies zwei spezifische Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise, die anderen Gesellschaften fremd sind. Eine Erklärung der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus muss also auch erklären, wie dieser Drang und diese Tendenz entstanden und warum sie sich so rasch verbreiten konnten.



Wo und wie entstand dieses seltsame System?

Wood betont, dass der "Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus" nicht als allgemein westeuropäisches Phänomen aufgefasst werden kann. Der Feudalismus entwickelte sich in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise, und nur eine davon - nämlich die englische - führte zum Kapitalismus (73). Das entscheidende Moment in der Entstehung des Kapitalismus sieht sie in der Durchsetzung von Eigentums- und Produktionsverhältnissen, die die Marktteilnahme zum Zwang machten und damit die Produzierenden dem kapitalistischen Bewegungsgesetz - der Notwendigkeit, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen - unterwarfen (76).

Diese spezifischen Verhältnisse entwickelten sich nicht in der Stadt, sondern auf dem Land, und zwar im England des 16. Jahrhunderts. Auch vorher und anderswo wurden die direkten Produzent_innen (auf dem Land Bauernfamilien) durch eine privilegierte Klasse (im Feudalismus die Grundherren) ausgebeutet, doch fand dies mittels außerökonomischer Mittel statt, durch Androhung von direktem Zwang. Im absolutistischen Frankreich gab es etwa eine Klasse von Amtsinhabern, deren Ämter das Recht zur Erhebung von Abgaben und Steuern mit sich brachten. Der Zugang zu solchen lukrativen Ämtern wurde durch gute Beziehungen ermöglicht oder direkt gekauft; wer die Steuern verweigerte, dem drohte die Staatsgewalt. Zugleich hatten die Bauern jedoch dauerhafte Rechte an ihren Produktionsmitteln, also in erster Linie dem von ihnen bebauten Land - sie durften es vielleicht nicht ohne Zustimmung verlassen, konnten aber auch nicht vertrieben werden.

Im England des 16. Jahrhunderts änderte sich das. Dieser Entwicklung war ein Machtkampf zwischen dem englischen König und den Grundherren und Stadtregierungen vorausgegangen, bei dem letztere den Kürzeren gezogen hatten. Dadurch hatte die Monarchie im Unterschied zu anderen europäischen Staaten eine ungewöhnlich starke Position bekommen, die den einzelnen Grundherren kaum Macht zur außerökonomischen Bereicherung durch Steuern oder Fronarbeit ließ. Zugleich war ein besonders hoher Anteil des Bodens formales Eigentum einer relativ kleinen Klasse von Grundherren. Es wurde von Pächtern bewirtschaftet, die nur temporäre Besitzrechte an dem bearbeiteten Land erhielten. Dagegen hatten in Frankreich und anderen Ländern die Bauern zumindest per Gewohnheitsrecht dauerhafte Rechte an ihrem Land und konnten nicht einfach vertrieben werden (98ff).

Auch in England hatte bis dahin Gewohnheits- und teils auch geschriebenes Recht die Bedeutung dieser Eigentumsverhältnisse eingeschränkt: Land wurde in der Regel für sehr lange Zeiträume verpachtet, die Höhe der Pacht blieb dabei unverändert und war durch Gewohnheit oder Gesetze beschränkt. Doch nachdem die Machtkonzentration bei der Krone es den Grundherren unmöglich machte, durch direkten Zwang mehr Abgaben aus ihren Pächtern herauszupressen, blieb ihnen nur die Erhöhung der Pacht zur Bereicherung. Ab dem 16. Jahrhundert machten sie zunehmend von dieser wirtschaftlichen Macht Gebrauch. Nachdem einige der Grundherren mit der Praxis begonnen hatten, die verlangten Mieten so weit zu erhöhen, wie der Markt es hergab, weckte dies die Begehrlichkeiten anderer Grundherren, so dass die Praxis immer weiter um sich griff.

Konnte ein Pächter die höhere Pacht nicht zahlen, konnte der Grundherr ihn vor die Tür setzen und das Land an jemand anders vermieten. Die Pächter und potenziellen Pächter wurden so gezwungen, gegeneinander zu konkurrieren und dabei möglichst effizient zu arbeiten. Die Pächter waren somit die Ersten, die - nicht aus eigenem Antrieb, sondern unter dem Zwang der Verhältnisse - lernen mussten, wie Kapitalisten zu denken und sich um Innovationen zur Erhöhung der Erträge bei gleichbleibendem Aufwand oder zur Verringerung des Aufwands bei gleichbleibenden Erträgen zu bemühen (100f).

Hier sieht Wood den Ausgangspunkt des Kapitalismus, da die Ausbeutung erstmals auf wirtschaftlichem Wege stattfand, durch nominell frei ausgehandelte Verträge zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel - den Grundherren - und den eigentumslosen direkten Produzenten. Anders als im Feudalismus herrscht hier kein direktes, offenes Gewaltverhältnis mehr, sondern es ist ihre Eigentumslosigkeit, die die direkten Produzenten zwingt, ihre Arbeitskraft oder einen Teil ihrer Erträge an die Eigentümer abzutreten, um im Gegenzug Zugang zu den Produktionsmitteln zu erhalten (95f).


Ausbreitung der Lohnarbeit - der Markt wird allgemeiner Zwang, die Commons werden zerstört

Die Farmer, die sich an die Anforderungen der Konkurrenz nicht schnell genug anpassten, verloren mit dem gepachteten Land die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern, und vergrößerten die Masse der Eigentumslosen. Einige fanden ein Auskommen als Angestellte ihrer Nachfolger oder anderer erfolgreicher Pächter. Zuvor war Lohnarbeit in der Landwirtschaft selten gewesen. In der Regel bearbeiteten die Pächter ihr Land selbst, unterstützt durch ihre Familien. Durch den beginnenden Einsatz Von Lohnarbeit konnten die erfolgreichen Farmer größere Flächen bearbeiten als zuvor. Die insgesamt erforderliche Arbeit sank durch die zunehmende Konzentration und von der Konkurrenz erzwungene Produktivkraftsteigerungen. Die dadurch steigende Zahl der Eigentumslosen, die auf dem Land nicht mehr "gebraucht" wurden, schuf die Voraussetzungen für die Entstehung des englischen Industriekapitalismus (103).

Während in nichtkapitalistischen Gesellschaften Märkte immer nur eine Nebenrolle etwa für die Versorgung mit Luxusgütern spielen, wird der Markt erst mit dem Kapitalismus zur zentralen Instanz für alle. Wer kein Eigentum hat, muss versuchen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um sich die benötigten Lebensmittel kaufen zu können. Wer selbst nicht benötigtes Eigentum hat und es nicht einfach ungenutzt lassen will, muss Versuchen, es über den Markt zu Vermehren, was irgendeine Form der Beteiligung an kapitalistischen Unternehmen erfordert. Die Unternehmen müssen Arbeitskraft und andere benötigte Produktionsmittel auf dem Markt einkaufen und die hergestellten Waren verkaufen. Dadurch sind alle den Marktgesetzen unterwerfen, ob sie wollen oder nicht: Sie müssen sich gegen die Konkurrenz durchsetzen, was voraussetzt, ebenso produktiv oder nach Möglichkeit produktiver zu wirtschaften. Das Streben nach möglichst weitgehender Entwicklung der Produktivkräfte ist dem Kapitalismus deshalb inhärent. In nichtkapitalistischen Gesellschaften war die Produktionsweise hingegen eher statisch - niemand hatte Anlass, systematisch nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, während im Kapitalismus alle permanent dazu gezwungen sind (97).

Dieses Streben nach Produktivitäts-Steigerungen wurde im englischen Agrarsektor sowohl für Grundherren als auch für Pächter rasch zum Schlüsselprinzip, das unter dem Begriff improvement verhandelt wurde. Das Wort gewann dabei erst später seine heute allgemeine Bedeutung "Verbesserung", es leitet sich von derselben Wurzel wie "Profit" ab und bedeutete "profitable(r) machen" (106). Improvement beinhaltete somit auch das Streben nach Profitmaximierung. Wer weniger profitabel war, blieb im Konkurrenzkampf gegen andere Pächter auf der Strecke. Später sorgte die Notwendigkeit, Investoren zu gewinnen und bei der Stange zu halten und genug finanzielle Mittel für Neuinvestitionen anzusammeln, dafür, dass die Maximierung der Profite im Kapitalismus nie freiwilliges Ziel, sondern Pflicht war.

Möglichkeiten zum improvement boten nicht nur verbesserte Werkzeuge (wie Pflüge mit Rädern) und Anbautechniken (wie Fruchtfolge), sondern auch "Optimierungen" der Eigentumsrechte. Allmenden (gemeinschaftlich genutzte Weiden) und traditionelle "Jedermanns"-Rechte etwa zum Sammeln von Feuerholz und nach der Ernte übrig gebliebenem Getreide wurden als "rückschrittliche" Verwertungshindernisse betrachtet, die es zu beseitigen galt. Dieses Programm wurde vom 16. bis zum l9. Jahrhundert äußerst erfolgreich umgesetzt und als "Einhegung der Allmenden" (enclosure of the commons) bekannt. Da aber viele Menschen auf diese Allmende-Gebiete und Jedermanns-Rechte für ihren Lebensunterhalt angewiesen waren, schuf ihre Zerstörung eine zunehmende Zahl von Eigentumslosen. Diese zogen zunächst als Vagabunden durchs Land, standen dem sich verbreitenden Kapitalismus aber auch als Arbeitskräfte zur Verfügung (107f).

Anfangs leistete die Monarchie diesen Einhegungen noch ansatzweise Widerstand, allein schon weil die Vertriebenen die öffentliche Ordnung bedrohten. Mit der bürgerlichen "Glorious Revolution" Ende des 17. Jahrhunderts war es damit vorbei. Im 18. und 19. Jahrhundert erließ das durch die Revolution gestärkte Parlament eine Reihe von Gesetzen, die weitere Einhegungen vornahmen und die traditionellen Commons-Rechte annullierten (109).

Die Abhängigkeit der englischen Pächter vom Markt war also die Ursache für die Entstehung eines eigentumslosen Proletariats. Sie selbst waren nicht zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen, aber sie mussten die für ihre Reproduktion erforderlichen Mittel (insbesondere Land) auf dem Markt kaufen oder mieten, und das setzte die kapitalistische Dynamik in Gang. Der massenhafte Einsatz von Lohnarbeit kam erst später als Resultat dieser Entwicklungen (131).

Den Vertriebenen blieb oft nur die Abwanderung in die Städte, wo sie zum Proletariat wurden. Besonders groß war der. Zuwachs in London, das rasch zur größten Stadt Europas wurde. Landesweit verdoppelte sich zwischen 1500 und 1700 die Anzahl der Stadtbewohner_innen relativ zur Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen nahm sie sogar noch mehr zu, da die steigende Produktivität der englischen Agrikultur ein deutlich schnelleres Bevölkerungswachstum ermöglichte als in den anderen europäischen Staaten. So schuf der ursprüngliche englische Agrarkapitalismus die Voraussetzungen für den städtischen Industriekapitalismus (132f).

In London und anderen britischen Städten entstanden erstmals Massenmärkte für günstige, allgemein benötigte Güter. Die vorkapitalistischen Märkte hatten sich zumeist auf Luxusprodukte und den Austausch von Überschüssen konzentriert, da die meisten Menschen Selbstversorger waren oder durch nichtmarktförmige Beziehungen versorgt wurden (z.B. feudale Grundherren durch Abgaben der ihnen hörigen Bauern). In den Städten war keine Selbstversorgung möglich; die dorthin abgewanderten Massen mussten Lebensmittel und Textilien einkaufen.

Vorkapitalistische Händler hatten oft wenig Konkurrenz gehabt - sie kauften an einem Ort billig und verkauften anderswo teurer, profitierten also von der Fragmentierung der Märkte. Nicht selten waren sie durch Monopolprivilegien vor Konkurrenz geschützt, in anderen Fällen beschränkten die Schwierigkeiten des überregionalen Handels die Konkurrenz. Dagegen zwang die räumliche Konzentration der städtischen Märkte alle, die hier erfolgreich verkaufen wollten, in direkte Konkurrenz zueinander. Nur wer auf Effizienz achtete und die sich bietenden Möglichkeiten zum improvement ausnutzte, konnte langfristig bestehen. So sorgte die Verstädterung dafür, dass die in der Landwirtschaft entstandenen kapitalistischen Bewegungsgesetze - Konkurrenzkampf, Streben nach Produktivitätssteigerungen und Profitmaximierung - auf immer weitere Bereiche der Produktion Übergriffen (134).

Im Unterschied zu früheren Gesellschaften sind die Käufer_innen im Kapitalismus auf den Markt angewiesen, um ihr Überleben zu sichern. Sie können nicht nur, sie müssen auch kaufen. Neu war auch, dass die meisten Käufer nur über bescheidene Mittel verfügten und sparsam sein mussten, da der Verkauf der eigenen Arbeitskraft ihre einzige Einnahmequelle war. Um erfolgreich zu sein, mussten die Produzenten diese massenhafte Nachfrage nach günstigen Alltagsprodukten befriedigen. Entsprechend wichtig war es, möglichst effizient und preisgünstig zu produzieren, um die Konkurrenz abzuhängen, und das war in Fabriken eher möglich als in kleinen Betrieben. Zugleich stellten die in die Städte vertriebenen, eigentumslosen Massen erstmals ein großes Potenzial günstig mietbarer Arbeitskräfte dar, das eine auf den Massenmarkt ausgerichtete Produktion in Fabriken überhaupt erst möglich machte. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England beginnende "industrielle Revolution" war die logische Konsequenz (138ff).



Der Kapitalismus expandiert in alle Welt

Bei der Produktion für die lokalen urbanen Märkte blieb es nicht. Der britische Kapitalismus begann - Verstärkt ab dem 18. Jahrhundert - den Weltmarkt einzubeziehen, sowohl als Abnehmer fertiger Waren als auch als Rohstofflieferant. Auch ein neues Bankensystem entstand, das auf die Unterstützung kapitalistischer Firmen und Handelsbeziehungen ausgerichtet war (135f). Gleichzeitig zwang der von Großbritannien ausgehende Druck die Staaten, mit denen es in politischen oder Handelsbeziehungen stand, sich gemäß dem englischen Vorbild umzuorientieren und selbst kapitalistisch(er) zu werden. Für die anderen europäischen Staaten war dies schon deshalb nötig, um gegen England als potenziellen militärischen Konkurrenten nicht den Kürzeren zu ziehen. Und die Kolonien und Übersee-Handelspartner wurden als Käufer und Rohstofflieferanten unmittelbar in den kapitalistischen Prozess eingebunden (142f, 175).

In Irland praktizierte England ab dem 16. Jahrhundert eine Kolonialisierungspolitik, die auch für die Übersee-Kolonien typisch wurde. Der Formen des heimischen Kapitalismus wurden exportiert - zunächst Agrarkapitalismus mit vom Markt abhängigen Pächtern -, wobei insbesondere die höheren Positionen meist mit Engländern besetzt wurden. Die Kolonien sollten dabei nicht zu Konkurrenten auf dem Weltmarkt ausgebaut werden, sondern von England abhängig bleiben. Als Irland im 17. Jahrhundert "zu erfolgreich" zu werden drohte, erließ die englische Regierung restriktive Gesetze, die seine weitere Entwicklung ausbremsten. Ähnliche Methoden wurden später in den Übersee-Kolonien angewandt - nicht nur von England, sondern auch von den anderen sich kapitalisierenden europäischen Kolonialstaaten. Zum festen Programm gehörte die Enteignung der Einheimischen und die Zerstörung ihrer traditionellen, oft commons- und subsistenzorientierten Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Stattdessen wurde die Bevölkerung zur Marktkonkurrenz gezwungen, auch durch Besteuerung und Handelsbeziehungen (153ff).

Was wäre ohne England passiert? Gab es nicht auch im Rest Europas unabhängige Entwicklungen, die ebenfalls zum Kapitalismus geführt hätten? Wood betrachtet die Situation außerhalb Englands und kommt zu dem Schluss, dass es dafür keine Anzeichen gibt. Die kapitalistischen Bewegungsgesetze finden sich weder in den unabhängigen Stadtstaaten Italiens noch in bedeutenden Handelsnationen wie Holland, Zentralstaaten wie Frankreich oder den frühen Kolonialreichen Spanien und Portugal. Überall dominierten weiterhin Formen der außerökonomischen Bereicherung (735, 148ff).



Entstand der Kapitalismus aus einer Keimform?

Woods Rekonstruktion der Kapitalismusentstehung ist eine Weiterentwicklung und Präzisierung von Marx' Darstellung der "sogenannten ursprünglichen Akkumulation" im Kapital (Bd. 1, Kap. 24). Kernelemente ihrer Erklärung - Enteignung der Landbevölkerung von Grund und Boden, Entstehung der kapitalistischen Pächter, Pressung der Enteigneten in die Lohnarbeit durch Mangel an Alternativen sowie Zwangsgesetze, Entwicklung des städtischen Industriekapitalismus als Konsequenz der Umbrüche auf dem Land - finden sich bereits bei Marx. Bei ihm bleibt allerdings offen, was genau diese Kettenreaktion auslöste. Wood liefert die Erklärung nach: die für den späten englischen Feudalismus charakteristische Trennung von ökonomischer Macht (Landbesitz) bei den Grundherren und politischer Macht bei der Monarch_in.

Wood macht auch deutlich und plausibel, dass sich diese Entwicklung zunächst nur in einem Land (Großbritannien) vollzog und der Kapitalismus von dort seinen Siegeszug in alle Welt antrat, während Marx die Entwicklungen anderswo nicht weiter thematisiert. Eine denkbare Alternative wäre, dass in anderen europäischen Ländern unabhängig von der englischen Situation ähnliche Entwicklungen stattfanden, weil die "Zeit reif war" für den Kapitalismus oder weil der Feudalismus den Keim der Gesellschaft, die ihn ablösen sollte, schon in sich trug und sich zwangsläufig zum Kapitalismus weiterentwickeln musste. Wood weist solche geschichtsphilosophischen Annahmen einer logischen Abfolge von Gesellschaftsformen, der zufolge eine (mutmaßlich "weniger entwickelte" oder "niedrigere") Gesellschaftsform zwangsläufig in eine bestimmte andere ("entwickeltere" oder "höhere") Gesellschaft übergehen muss, vehement zurück. Ihrer Meinung nach ist der Kapitalismus vielmehr kontingent - es gab auch ganz andere Gesellschaftsformen, die sich aus dem Feudalismus heraus entwickeln konnten (wie sie etwa anhand des französischen absolutistischen Staats zeigt) und dass der Kapitalismus überhaupt entstand, hing von den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen im England des 16. Jahrhunderts ab.

Wie gut passt Woods Rekonstruktion der Kapitalismusentstehung zur Keimformtheorie, die Thema dieses Hefts ist (vgl. den Artikel "Keimform und gesellschaftliche Transformation")? Ziel der Theorie ist, zu verstehen, wie etwas qualitativ Neues im Rahmen einer existierenden Gesellschaftsform entstehen und weit genug gedeihen kann, um diese schließlich abzulösen.

Versucht man, die beschriebenen fünf Schritte (Keimform-Entstehung, Krise, Funktionswechsel, Dominanzwechsel und Umstrukturierung) der Darstellung bei Wood zuzuordnen, ergeben sich einige Schwierigkeiten. Als Keimform (1) lässt sich gut der von Wood beschriebene "englische Agrarkapitalismus" des 16. Jahrhunderts erkennen, in dem die Grundherren ihr Land zu Marktpreisen vermieten und die Pächter in ein Konkurrenzverhältnis untereinander zwingen. Wesentliche Elemente des Kapitalismus sind hier bereits vorhanden (Produzenten sind auf den Markt angewiesen, konkurrieren gegeneinander, müssen daher möglichst effizient produzieren), auch wenn andere Elemente (Lohnarbeit, Überleben der Menschen hängt vom Markt ab) noch weitgehend fehlen.

Auch die Krise (2) ist erkennbar, doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Bei Wood ist die Krise der englischen Grundherren (der Verlust ihrer politischen Macht) der Auslöser für die Entstehung der Keimform. Bei Meretz kommt die Keimform dagegen unabhängig von der Krise zur Welt, diese erleichtert ihr nur die weitere Verbreitung.

Dementsprechend ist der Funktionswechsel (3), bei der das Neue zum wichtigen Element im alten System wird (aber diesem noch untergeordnet bleibt), bei Wood kaum zu erkennen. Sollte er in der Sorge aller Beteiligten - Grundherren wie Pächter - um improvement, um die möglichst effiziente Verwertung ihres (ggf. nur gepachteten) Eigentums liegen? Wohl kaum, denn hier agieren alle Beteiligten bereits als Kapitalisten (also gemäß der neuen Logik), auch wenn die Grundherren nur aufgrund ihrer privilegierten Position im alten System in diese Lage geraten sind. Eine Unterordnung unter den Feudalismus ist nicht feststellbar, auch wenn Feudalherren zu den Nutznießern dieser Entwicklung gehören.

Als Schritt 4 (Dominanzwechsel) kann die Ausweitung der kapitalistischen Produktion in immer weitere Lebensbereiche und parallel dazu in immer mehr Länder angesehen werden, bei der eine zunehmende Zahl von Menschen in Lohnarbeitsverhältnisse gezwängt wird und traditionelle commons- oder subsistenzorientierte Lebensweisen zerstört werden. Der Umstrukturierung des Gesamtprozesses (5) zuzuordnen ist die Beseitigung anachronistisch gewordener feudaler Strukturen - als frühes Element etwa die "Glorious Revolution", bei der die Macht der Monarch_in zugunsten eines von Grundherren und wohlhabenden Bürgern besetzten Parlaments eingeschränkt wurde. Allerdings besagt dies nicht allzu viel, da diese beiden Momente logischerweise in jedem Umbruchsprozess auftreten müssen, der sich nicht schlagartig, sondern Schritt für Schritt vollzieht.

Mit Theorie der Keimformen in weiterem Sinne kann die Einsicht gemeint sein, dass gesellschaftliche Umbrüche nicht über Nacht "vom Himmel fallen" und sich nicht auf einen einzelnen politischen Akt (sei es eine Revolution oder ein Parlamentsbeschluss) reduzieren lassen, sondern aus bescheiden wirkenden Anfängen - Keimformen - hervorgehen, die erst nach und nach größer und wirkmächtiger werden. In diesem Sinne ist auch der Kapitalismus aus einer Keimform entstanden. Die Angemessenheit von Meretz' spezifischem Fünfschritt-Modell für den von Wood beschriebenen Prozess scheint hingegen fragwürdig. Zumindest die Reihenfolge der ersten beiden Schritte - muss die Keimform der Krise stets vorausgehen und unabhängig von dieser entstehen? - und die Trennung von Schritt 3 und 4 in zwei separate "qualitative Sprünge" sind zu überdenken.


Was wir über die Entstehungs-Voraussetzungen des "Postkapitalismus" lernen können

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, egal wie gut wir sie Verstehen, doch kann ein besseres Verständnis der Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft eröffnen. Daher lohnt es sich, Woods Buch unter der Fragestellung zu betrachten, welche Lehren sich aus den beschriebenen Prozessen für die Entwicklung der nächsten, postkapitalistischen Gesellschaft ziehen lassen.

Zunächst kann ihre Absage an geschichtsphilosophische Vorstellungen ernüchternd wirken, der zufolge sich der Kapitalismus keineswegs zwingend aus dem Feudalismus heraus entwickeln musste, sondern es auch ganz anders hätte kommen können. Wenn seine Entstehung von ganz spezifischen Voraussetzungen abhing, die nur zufällig im 16. Jahrhundert in einem damals eher unbedeutenden Land auftraten, heißt das dann nicht, dass sein Abtreten aus der Weltgeschichte und seine Ablösung durch ein hoffentlich besseres Modell ebenso zufällig sind? Dass die Menschheit womöglich noch für sehr lange Zeit im kapitalistischen Verwertungskreislauf festsitzen könnte?

Gesagt ist dies freilich nicht, da der Kapitalismus aufgrund seiner Tendenz, alle verfügbaren Ressourcen für den Markt zu erschließen und die Produktivkräfte bis aufs Äußerste weiterzuentwickeln, immense Dynamiken freisetzt. Feudalismus und andere vorkapitalistische Gesellschaften waren dagegen eher statisch. Diese Tendenz führt immer wieder zu Krisen, Not und Umweltzerstörung und lässt jede Hoffnung auf einen "gezähmten", harmonischen Kapitalismus zur Illusion werden. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass ihn dies über seine Grenzen hinaustreiben und zwangsläufig eine andere, nichtkapitalistische Produktionsweise herbeiführen müsste. Zwar hat die Produktivkraftexplosion die theoretische Möglichkeit einer Gesellschaft geschaffen, in der die Re/produktion bedürfnisorientiert zum Wohle aller erfolgt, ohne irgendjemand viel Arbeit abzuverlangen. Ob diese Möglichkeit aber eines Tages Realität wird, hängt vom Handeln der Menschen ab und kann nur aufgrund der kapitalistischen Dynamiken keineswegs postuliert werden - im Gegenteil wird es ja gerade deren Überwindung erfordern.

Woods Buch gibt aber auch Hinweise dazu, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit diese Überwindung grundsätzlich gelingen kann. Sie benennt die spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung. Relevant ist hier insbesondere die Trennung der politischen von der wirtschaftlichen Sphäre; die Notwendigkeit, auf dem Markt gegen andere zu konkurrieren, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern; und schließlich die Entstehung einer Klasse von eigentumslosen Proletarier_innen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben und deshalb gezwungen sind, sich den Befehlen eines Kapitalisten, der ihnen Lohn verspricht, zu unterwerfen. Wo diese Bedingungen herrschen, ist damit zu rechnen, dass sich die kapitalistische Logik - oder etwas ihr sehr Ähnliches - immer wieder reproduzieren wird. Gesellschaftliche Prozesse haben nur dann eine Chance, zur Basis einer besseren, postkapitalistischen Produktions- und Lebensweise zu werden, wenn sie diese Bedingungen überwinden. Das bedeutet:

1. Aufhebung der Sphärentrennung von Politik, Wirtschaft (Produktion) und privatem Haushalt (Reproduktion). Die gesellschaftliche Re/produktion wird stattdessen als Gesamtprozess gestaltet.

2. Die Menschen konkurrieren nicht miteinander, wenn es ums Überleben oder die allgemein übliche gesellschaftliche Teilhabe geht. Das heißt auch (aber nicht nur), dass niemand auf den Markt angewiesen ist, um die eigene Existenz zu sichern. Denn es gibt keine bedeutenden Märkte ohne Konkurrenz, wohl aber Konkurrenz ohne Markt.

3. Niemand muss sich den Vorgaben anderer unterwerfen, sondern die Menschen begegnen sich auf Augenhöhe. Wichtig ist dies nicht nur zur Abgrenzung von kapitalistischen Firmen, in denen die Lohnabhängigen den Vorgaben des Managements folgen müssen, sondern auch um einen Rückfall in persönliche Abhängigkeitsverhältnisse - wie sie für den Feudalismus und viele andere vorkapitalistische Gesellschaften charakteristisch waren - zu vermeiden.

Nur gesellschaftliche Entwicklungen, die diese drei Merkmale aufweisen, haben eine Chance, den Kapitalismus grundsätzlich zu überwinden, ohne selbst wieder ähnlich problematische Effekte hervorzubringen. Das bedeutet eine klare Absage an den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und andere "marktsozialistische" Ansätze. Problematisch sind aber auch Vorschläge, die den Markt ablehnen, die Menschen aber weiterhin in Konkurrenzverhältnisse zur Lebenssicherung zwingen, wie möglicherweise bei "Parecon" der Fall (vgl. meine Diskussion mit Michael Albert in der Contraste vom Mai 2013, online: keimform.de/2013/parecon-versus-peer-produktion-2/).

Die Aufhebung der Sphärentrennung spielt in vielen linken Debatten kaum eine Rolle. Stattdessen wird die Umgestaltung des politischen Systems oder der Wirtschaft oder von beiden, aber als separate Sphären betrachtet; die Reproduktionssphäre kommt dabei außerhalb feministischer Ansätze selten in den Blick. Wie wir gesehen haben, war aber gerade die Sphärentrennung die entscheidende Voraussetzung, die den Kapitalismus überhaupt erst möglich gemacht hat - ohne ihre Aufhebung ist ein radikaler Bruch daher nicht möglich.

Andererseits bedeuten diese Merkmale, dass eine absolute Demonetarisierung (Schwerpunkt der Streifzüge 54), ein völliger Verzicht auf die Verwendung von Geld und Verrechnung, zwar einen möglichen Weg darstellt, aber nicht unbedingt den einzigen. Die Herausforderung ist, die gesellschaftliche Re/produktion als Gesamtprozess zu gestalten, in dem sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen und nicht gegeneinander konkurrieren müssen. Gelingt dies, ist es weniger wichtig und wohl auch von der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, ob ein utopisches "alles für alle, und zwar umsonst!" gilt oder ob noch Verrechnungseinheiten ("Geld") den Zugang zu einzelnen Gütern bestimmen. Voraussetzung ist dabei allerdings, dass niemand aufgrund Von Geldmangel um den eigenen Lebensunterhalt oder die üblichen gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bangen muss und dass Preise nicht über den Markt (also über Konkurrenz) ermittelt werden. Die Hürden sind also hoch, ähnlich wie sie auch für die geldfreie Perspektive hoch sind, doch ist es gut zu wissen, dass unterschiedliche Ansätze zum Ziel führen mögen. Und für die Evaluation, welche Ansätze grundsätzlich aufgehen können und welche nicht, sollten diese aus Woods Erkenntnissen extrahierten Anforderungen jedenfalls hilfreich sein.

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Hausprojekte als Organisationsformen des Prekariats

Oder: Privateigentum, Kollektivhäuser und der Commonismus

von Georg Merseburger

Der Text berichtet aus einer Leipziger Perspektive von Erfahrungen mit Hausprojekten. Er möchte aufzeigen, wie Hausprojekte zugleich Teil neoliberaler Stadtentwicklung und Bausteine einer commonistischen Perspektive sein können - und auch, wo die Bruchlinien verlaufen. Dazu blickt er auf eine mittelgroße, in letzter Zeit des Öfteren medial gehypte ostdeutsche Stadt: Leipzig.


Leipzig - Glanz und Elend der creative industries

Gießereien und Spinnereien, all jene großen Fabriken, die einst den Leipziger Westen prägten, sind lange geschlossen. Neue Fabriken haben sich am Rande der Stadt angesiedelt, Porsche und BMW produzieren lieber in der Nähe der Autobahn. Zurück blieben die leerstehenden Räume der alten Industrien. Doch sie blieben nur eine Zeit lang leer. Wo die Spinnerei war, sind Kunsträume entstanden; in alten Fabrikgebäuden haben sich Umsonstläden und selbstorganisierte Konzerträume festgesetzt; auf Industriebrachen sind Stadthäuser entstanden. Gerade das Durcheinander ist prägend für die creative City, die zu sein Leipzig gern behauptet. Wer diesem Hype nicht aufsitzen und sich nicht auf die Betrachtung der jetzt bunt gemalten Fassaden beschränken will, sieht dahinter eine widersprüchliche Gemengelage: Das kreative Leipzig ist Teil und Ausdruck neoliberaler Wirtschaftsweisen.

Die creative industries sind dabei von der seltsamen Gleichzeitigkeit zweier Extreme geprägt: Sie sind auf gewisse Weise zugleich enorm gemeinschaftlich und in höchstem Maße individualistisch. Diese Wirtschaftsweise ist sozial, weil ihre Produktion in Netzwerken stattfindet - ja sich unter Umständen allein auf die Produktion des Sozialen richtet, etwa in der Werbeindustrie, die auf die Schaffung von Kunden-Communities abzielt. Diese produktiven Netzwerke ziehen sich durch die Stadtteile des aufstrebenden Leipziger Westens. Sie sind zu finden als Galerienrundgänge, als Stadtteilfest, als Vernetzungstreffen und als Unternehmerinnenstammtisch. Sie sind eine Form kollektiver Organisierung, weil nur im Netzwerk und durch das Netzwerk die einzelne Prekäre ihre Verwertung umsetzen kann - und sie sind zugleich Ort extremer Konkurrenz, weil das Abschöpfen des Gewinns letzten Endes privat erfolgt. Im Kern der creative industries mit ihren Netzwerken sind zugleich die radikalsten Formen individualistischer Beschäftigungsverhältnisse zu finden: Jede Form der Individualität kann zum Bestandteil der Selbstvermarktung werden. Das, was die Einzelnen dabei verdienen, ist letztlich ihre Privatsache. Am Ende des Tages muss jede selbst ihre Miete bezahlen. Und wer neben dem Kreativjob nachts noch bei Amazon oder einem der anderen Logistikdienstleister jobben geht, tut das allein. Denn auch wenn viele formal selbständige Kleinunternehmer sind, sind sie doch in dem Sinne Proletarier, weil sie keine Produktionsmittel besitzen und damit darauf angewiesen sind, sich auf die Bedingungen des Marktes einzulassen.

Im Unterschied zum Proletariat hat das Prekariat keine allen gemeinsame Fabrik mehr. Die Fabriken waren für das Proletariat nicht nur ein Ort der Ausbeutung, sondern auch ein Ort der widerständigen Organisierung. Die Fabrik als Organisationsort des Proletariats ist weggefallen. Was bleibt, sind die Netzwerke, ist der Stadtteil als Lebenswelt, den die Prekären teilen. Wie das Proletariat die Fabriken als Organisationsform nutzte, indem es die erzwungene Gemeinsamkeit am Arbeitsplatz in eine oppositionelle wandelte, in demselben Sinn gilt es, die Selbstorganisationsprozesse im Stadtteil zu begreifen.

Ich möchte dabei auf die Hausprojekteszene blicken, die in den letzten Jahren eine recht stürmische Entwicklung im Leipziger Westen genommen hat. Mittlerweile sind es - je nach Zählung - durchaus 40 bis 50 Häuser, die sich als selbstverwaltet verstehen. Diese Szene bietet Ansätze, Gemeinsamkeiten in der Lebenswelt des Stadtteils zu schaffen, die für prekäre Lebensweisen Relevanz hat. Zugleich ist sie auch elementarer Bestandteil der oben beschriebenen Produktionsnetzwerke. Gerade, weil sie beides ist, kann sie sich so stürmisch entwickeln - und gerade deshalb zeigt sich ihre Relevanz als mögliche politische Organisationsform. Vielleicht sind diese existierenden Strukturen im Stadtteil (Häuser, Nachbarschaftsgärten, Netzwerke) einer der wenigen verbleibenden Orte, sich in der creative city zu organisieren.



Hausprojekte

Von Seiten der Hausprojekte gilt es zu begreifen, dass durch die Szene ein Riss verläuft. Der ist manchmal schwer zu sehen, da nach außen hin die Ähnlichkeiten überwiegen: Sowohl Kollektivhäuser, die auf Privateigentümer verzichten, als auch "Hausprojekte", die auf gewinnbringende Vermietung abzielen, haben oft buntgesprühte Fassaden, unkonventionelle Wohnungsschnitte und experimentelle Architekturen.

Da wird eine Grenzziehung nötig, wie es ein Zusammenhang politischer Hausprojekte unlängst in einem Leserbrief an das lokale Stadtmagazin formulierte: "Es geht nicht darum, das Privileg preiswerten Wohnraum: für uns oder eine kleine Gruppe ähnlich Gesinnter zu behalten - es geht darum, eine Stadt für alle anzustreben." Damit grenzen sich die Hausprojekte von Eigenheimen und Formen der Zwischennutzung ab. Als Grundsätze benennen sie (kollektivratleipzig.blogsport.de/texte/selbstverstaendnis-kollektivhaeuser):

• Gleichberechtigung aller BewohnerInnen

• gemeinschaftliches, kollektives Eigentum (an den Häusern)

• eine Nutzung, die sich nicht am Geld orientiert, sondern Menschen mit geringen finanziellen Mitteln Zugang ermöglicht

• Schaffung einer solidarischen Infrastruktur zwischen den Häusern und Unterstützung neuer Gruppen.

Die kollektiv organisierten Hausprojekte grenzen sich damit zum einen von solchen Projekten ab, die sich als neue Form des Investments begreifen. Nun ist das nichts unbedingt Neues. Vor allem in Westeuropa gibt es eine ganze Tradition gemeinschaftlicher Wohnprojekte. Auch diese gehen von den Bedürfnissen der BewohnerInnen aus. Zumindest der erste und manchmal auch der zweite Punkt der obigen Forderungsliste wird schon lange in solchen gemeinschaftlichen Wohnprojekten verwirklicht. Damit lassen sich gemeinschaftliche Wohnprojekte als eine Form von Commons beschreiben. Die anderen Punkte sind hingegen selten verwirklicht. Wohnprojekte haben in der Regel eine klare Trennung zwischen der Wohngemeinschaft und dem Außen. Nur selten sind ihre Eigentumsformen darauf angelegt, Privateigentum bewusst zu vermeiden und die Selbstbestimmung über die Gründergeneration hinaus weiterzugeben. Nach außen ist die Idee gemeinschaftlichen Wohnens vielseitig anschlussfähig. Mancherorts wird Gemeinschaftswohnen staatlich gefördert im Rahmen von Programmen wie "Neues Wohnen - Beratung und Kooperation für mehr Lebensqualität im Alter" (www.kompetenznetzwerk-wohnen.de), weil die Nebeneffekte des gemeinschaftlichen Wohnens (soziale Bindung, Pflegearbeit, Kinderbetreuung ...) dabei helfen, Staatsausgaben zu sparen. In dieser Form ist die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens die zeitgemäße Fortentwicklung der Ehe. Auch die Ehe war schon zumindest von der Idee her ein kleiner Sektor solidarischer Kooperation inmitten einer kapitalistischen Ökonomie. Hier wie dort stehen die unterschiedlichen Funktionsprinzipien jedoch nicht im Gegensatz zueinander - sie ergänzen sich. Der solidarische Sektor ermöglicht erst das Funktionieren auf dem Markt oder federt seine Folgen ab. Das kann praktisch und hilfreich sein, hat aber noch nicht viel damit zu tun, als Keimform einer solidarischen Gesellschaft zu dienen. Was die obigen Hausprojekte (die sich darum oft gerade nicht Wohnprojekte nennen) von Wohnprojekten unterscheidet, ist, dass sie diese Komplementarität in Frage stellen. Zumindest in den obigen Forderungen überschreiten sie nicht nur ihre Rolle als Wohnraum, sondern auch die eigene Grenzziehung zwischen Innen und Außen.

Damit ein solches Selbstverständnis, jenseits einfacher Rechtsformenänderungen, mit Leben gefüllt werden kann, wäre ein Ansetzen auf vielen Ebenen nötig. Für Hausprojekte könnte das heißen:

1. Die Gruppe nach außen zu öffnen. Ein Hausprojekt wird dann zur Spielwiese für Privilegierte, wenn der Einstieg mit hohen finanziellen Hürden verbunden ist. Der Zustieg muss finanziell für alle möglich sein, insbesondere auch ALG2-EmpfängerInnen. Teure Genossenschaftsanteile stehen dem entgegen. Privateigentum am Haus oder an einzelnen Wohnungen schafft zwangsläufig neue Hierarchien, weil Menschen, die im Nachhinein als UntermieterInnen zusteigen, im Zweifelsfall die gestiegene Durchschnittsmiete des Viertels mitbezahlen. Gentrifizierung light. Ein erprobtes Modell, diese Hierarchien zu Verhindern, hat das "Mietshäuser-Syndikat" entwickelt, dem mittlerweile auch in Leipzig einige Hausgruppen angehören.

2. Natürlich kann eine HausbewohnerInnengruppe nicht beliebig groß werden, schlicht, weil die Zahl der Räume beschränkt ist. Irgendwo wird sich jede Gruppe abschließen müssen. Das fertige Haus muss daher in irgendeiner Weise den gemeinsam geschaffenen Reichtum nach außen zugänglich machen. Das kann in Form eines finanziellen Solidartransfers geschehen, wie ihn das Mietshäuser-Syndikat eingeführt hat, mit dem neue Hausinitiativen unterstützt werden. Das kann etwa in Form öffentlicher Räume passieren, wie sie erfreulicherweise im Erdgeschoss einer ganzen Reihe von Leipziger Hausprojekten zu finden sind. Wenn diese Räume nicht als Einnahmequelle dienen, sondern der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, ist damit eine weitere Ebene der Vergesellschaftung beschrieben.

3. Schließlich gilt es - und das ist wohl der schwierigste und zugleich spannendste Ansatz - die Hausprojekte selbst nach innen für soziale Fragen zu öffnen, als Ausgangspunkt für Selbstorganisation. Das bezieht Formen der Alltagssolidarität wie finanzielle Unterstützung im Alltag und gegenseitige Kinderbetreuung ein. Genau in solchen Alltagsstrukturen wäre Raum, der wirtschaftlichen Vereinzelung im Prekariat entgegenzutreten. "Keiner geht allein zum Amt" ist seit einiger Zeit ein beliebter Slogan. Hausprojekte bieten die Voraussetzung dafür, dass wirklich niemand allein dorthin muss - einfach, weil recht kurzfristig immer jemand ansprechbar ist, der mitkommen kann. Hier wäre auch der Raum, um die sehr individuellen Schikanen der Jobcenter oder lokaler Arbeitgeber zu thematisieren und ihnen eine passgenaue Antwort zu geben. Diese Art individualistisch-kollektiver Organisationsformen ist für klassische Gewerkschaften viel zu kleinteilig. Hausprojekte könnten hier Ansatzpunkte sein. Das geht natürlich nur, wenn Hausprojekte jenseits des gemeinsamen Wohnens auch zu Orten werden, wo sich Menschen über ihre sozialen Verhältnisse austauschen, sich davon ausgehend kundig machen und genau diese Verhältnisse zum Gegenstand politischer Aktionen machen. Diesen Fragen widmet sich etwa die in Leipziger Hausprojekten verwurzelte autonome Erwerbsloseninitiative, die die "soziale Frage in kollektiven Strukturen" stellen will: "Wir wollen uns über Geld- und Ämterfragen in Hausprojekten austauschen: welche Auswirkungen haben ALG2, prekäre Selbständigkeit und Ähnliches auf selbstorganisierte Strukturen? Welche Ansprüche haben wir und wie können wir sie durchsetzen?"

Die Aktiven in Hausprojekten stehen oft unter enormem finanziellen Druck. Die Auseinandersetzungen um ALG2, Bafög und Kindergeld müssen deshalb integraler Bestandteil jeder selbstverwalteten Struktur werden.

Die Stadt Leipzig mit ihrem Immobilienmarkt bot in den vergangenen Jahren auch Gruppen mit sehr wenig Geld die Möglichkeit, Häuser zu kaufen. Das hat einen gewissen Hype erzeugt. Damit einher geht die Gefahr, die Ideologie des Kaufens zu stärken. In manchen Situationen mag ein Hauskauf die richtige Taktik sein, tatsächlich kann es in weiten Teilen Ostdeutschlands angesichts niedriger Hauspreise und rechter Hegemonie die einzig angebrachte Taktik sein, für alternative Lebensformen Raum zu finden. Darin besteht aber die Gefahr, den Gedanken stark zu machen, der manchmal in der Szene kursiert, dass "im Grunde jeder Häuser kaufen kann". Das stimmt insofern, als das Mietshäuser-Syndikat und andere politische Modelle tatsächlich den Zugang zur Gruppe nicht über Geld regeln. Arme haben in diesen Hausgruppen exakt die gleichen Partizipationsmöglichkeiten wie Reiche. Dennoch birgt der Ansatz zwei Gefahren.

Einmal die Gefahr, zu übersehen, dass allein der Gedanke, ein Haus kaufend zu übernehmen, heute einen Mittelklassenstandpunkt darstellt. Menschen, die ihr Leben lang nie viel Geld hatten, wird der Gedanke, Teil einer Gruppe zu werden, die ein Haus einfach kauft, utopisch vorkommen, selbst wenn etwa das Mietshäuser-Syndikat Wege eröffnet, auch Arme zu integrieren. Jenseits dieser kaum zu überschätzenden psychischen Barriere steht natürlich die finanzielle. Wenn der Begriff "Prekariat" sich nicht nur auf eine zwar finanziell arme, doch gut vernetzte Szene beziehen soll, sondern gerade jene Formen von Prekarität mit in den Blick nimmt, wie sie etwa illegalisierte MigrantInnen erleben, dann ist klar, dass die Fokussierung auf den Kauf von Häusern an deren Möglichkeiten vorbeigeht.

Damit geht die zweite Gefahr einher: Wo Hauskauf als einzig mögliches Mittel erscheint, werden unter Umständen andere Strategien delegitimiert. So kann sich der Kampf um selbstverwaltete Wohnräume für Flüchtlinge kaum auf das Studieren von Hausverkaufsannoncen der einschlägigen Immobilienportale beschränken. Es ist ein, politischer Kampf, der darum darauf bestehen muss, Räume zur Verfügung gestellt zu bekommen. Auch in Bezug auf soziale Zentren kann es notwendig sein, sich nicht auf Kauf einzulassen. Für die Bewegung um das "Ungdomshuset" in Kopenhagen in den Jahren 2007/08 etwa War es wichtig, an einem Moment der Auseinandersetzung nicht auf das Angebot der Stadt einzugehen, ein Haus für den normalen Marktwert zu kaufen. Der Kauf hätte auf Jahrzehnte die Selbstverwaltung in den Räumen behindert und letztlich eine Rekommerzialisierung der Angebote erzwungen, einfach, weil die geforderte Summe so hoch war. Die Ungdomshuset-Bewegung bestand dagegen darauf, dass selbstverwaltete öffentliche Jugendräume auch eine öffentliche Aufgabe sind und das Haus kostenlos von der Stadt übergeben werden müsse, So wurde deutlich, dass der letztlich erfolgreiche Einsatz für das Jugendhaus auch ein Kampf um die Stadt für alle ist. Jede Gruppe, die ein Haus kauft, muss sich bewusst sein, dass dies nur ein möglicher Weg ist und auch andere Strategien richtig sein können.

Das gilt zum Beispiel für mögliche Koalitionen mit MieterInnen. Selbstverwaltete Hausprojekte können auch in MieterInnenkämpfen eine wichtige Rolle spielen. Wenn etwa eine städtische Wohnungsbaugesellschaft Teile ihres Häuserbestands privatisiert, können selbstverwaltete Hausprojekte ein Modell sein, mit dem MieterInnen gegen die Alternativlosigkeit der Privatisierung argumentieren können. So wurde etwa die Freiburger Bewegung gegen den Verkauf der städtischen Immobiliengesellschaft in Teilen vom dortigen Mietshäuser-Syndikat getragen.


Vom Privat- zum Kollektiveigentum und von da zum Commonismus

Die erwähnten Ansätze sind nur einige der Möglichkeiten über die bloße Selbstverwaltung der Häuser hinauszugehen. Sie können Schritte sein, aus den isolierten glücklichen Inseln der Häuser einen Archipel der Selbstorganisation zu entwickeln. Vom Privat- zum Kollektiveigentum und von da zur Haus-Allmende. Gelernte DDR-BürgerInnen mögen jetzt ausrufen: Das hatten wir ja schon! Und richtig: Zu DDR-Zeiten wurde der größte Teil der Leipziger Häuser vom "Volkseigenen" Betrieb der VEB Gebäudewirtschaft Leipzig (GWL) verwaltet und bewirtschaftet. Auch hier ging es um die Überwindung des Privateigentums an Häusern. Im Unterschied zur staatlich gelenkten kommunalen Wohnungsverwaltung wäre eine solche Allmende jedoch gerade kein zentral organisierter staatlicher Sektor. Sie besteht als dezentrales Netzwerk aus den autonom koordinierten Aktivitäten der je Selbstverwalteten Häuser und ihrer BewohnerInnen - und kann genau darum jene altbekannten Probleme der Entfremdung überwinden. Sie kann damit nicht nur günstigem Wohnen Raum bieten, sondern jenen darüber hinausgehenden Ansätzen, sich solidarisch zu organisieren.

Hausprojekte sind Moment der kollektiven Selbstorganisierung, um sich bessere Lebensverhältnisse zu schaffen. Aber nur dann, wenn sich diese Strukturen nicht aufs gemeinsame Wohnen beschränken und selbst nach außen öffnen, sind sie auch Teil einer politischen Emanzipationsbewegung. Erst dann, wenn sie als Anknüpfungspunkte für politische Kämpfe die engen Grenzen der selbstorganisierten Gemeinschaften wieder überschreiten, können sie auch ökonomische Grundlage einer verallgemeinerten Selbstverwaltung sein.



Schluss

Hausprojekte können Teil einer kooperativen städtischen Infrastruktur sein. Als solche spielen sie eine wichtige Rolle als Organisationsorte des Prekariats. Denn erst dann, wenn sich die Prekären auf solidarische Strukturen im Alltag verlassen können, können sie Kraft entwickeln, sich nicht mehr auf jede Zumutung in den individualistischen Beschäftigungsverhältnissen einzulassen. Dann müssen auch die Netzwerke nicht von jener unerbittlichen Konkurrenz geprägt sein, die unter der bunten Fassade der creative city zu finden ist. So können sich vielleicht die positiven Seiten der neuen Produktionsweisen entfalten - Selbstbestimmung nicht als individualistische Selbst-Vermarktung, sondern als Entwicklung in einem kollektiven Prozess.



Weiterlesen

Hausprojekte in Leipzig: kolleletivratleipzig.blogsport.de
Mietshäuser-Syndikat: www.syndikat.org

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Ich wohne anders

Wie möchte ich eigentlich mein Leben leben? Diese mir sehr wichtige Frage umfasst viele Aspekte und einer davon ist mein Wohnumfeld. Ich wohne seit einem guten Jahr in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt, und mein Alltagsleben hat sich dadurch ziemlich verändert. Es ist vor allem reicher geworden; reicher an (geschütztem) Raum, an Möglichkeiten und Lernerfahrungen und reicher an Begegnungen. Ich habe hier einen Raum für Entwicklung und Reflexion gefunden, und der intensive Kontakt zu Menschen gibt mir Stabilität und Halt. Was uns verbindet, ist eine ökologisch und sozial nachhaltige Lebensvision, wir wollen gemeinsam gut wohnen.

Was das gute Wohnen ausmacht? Unsere Wohnungen sind tendenziell kleiner als in anderen Neubauten, dafür haben wir große Gemeinschaftsräume, die im übertragenen wie im Wortsinne Raum für Begegnung, Spaß und Freude miteinander bieten. Sie bilden das bunte, vielfältige Herz des Projekts, denn dort wird getanzt, meditiert, gesungen, musiziert, getagt, geplant, diskutiert, Filme geschaut, gespielt, gegessen und gefeiert.

Wir nutzen und kümmern uns gemeinsam um viele unserer Ressourcen. Das beginnt bei Haushaltsgegenständen im Ausleihregal, geht über den Verschenketisch und den Kleidertausch hin zu Gemeinschafts-KFZ, Werkraum, Bibliothek und natürlich den großen Garten. Dadurch gibt es eine Menge zu tun, denn die Selbstverwaltung der Genossenschaft und die, Organisation des gemeinsamen Lebens wollen gemeistert werden. Freiwilligkeit, persönliches Interesse, Motivation und Fähigkeiten sind dabei die Prinzipien, die wir zu verfolgen versuchen.

Ein bekanntes Phänomen hier ist das "Zeitloch", denn so ein Gang zur Waschküche oder zum Kompost kann schon mal eine gute halbe Stunde dauern oder in einem gemeinsamen Abendessen enden. Die Möglichkeiten, auf Menschen zu treffen, Freude und Leid zu teilen, sich auszutauschen oder Unterstützung zu erfahren, sind vielfältig und groß. Hier lerne ich immer wieder aufs Neue, dass die Gemeinschaft, die ich mir wünsche, nicht automatisch entsteht und zu mir kommt, sondern ich muss sie aktiv mitgestalten, damit sie sich mir erschließt. Sobald ich das tue, beschenkt und bereichert sie mich ungemein. Denn mein Alltag hier ist erfüllt mit vertrauensvollen Begegnungen mit mir wichtigen Menschen.

Ich mache mir trotzdem keine Illusionen. Wir erleben hier beide Seiten, sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen und Widersprüche unserer Gemeinschaft. Ich erkenne in vielem, was wir hier tun und wie wir hier leben, einen anderen Stil, eine andere Qualität, miteinander umzugehen, als es "da draußen" stattfindet. Es gibt hier mehr Bereitschaft zu Auseinandersetzungen mit uns selbst. Es geht nicht nur um Können und Haben. Es geht auch um Freiwilligkeit, Motivation, Lust, Freude. "Viel ist möglich, wenig muss" - so wird manchmal unser Zusammenleben charakterisiert. Deswegen passiert allerdings vielfach auch weniger, als ich mir wünsche. Es scheint, als sei vielen nicht klar, über welches Potential wir verfügen. Unsere Prozesse sind sehr langsam, da bremst das Kollektiv dann die Kreativität und den Mut einzelner aus.

Unsere Heterogenität ist mir sehr wichtig, und sie ist häufig sehr bereichernd, aber die rechte Balance zu finden, ist schwierig. Ich empfinde uns häufig als sehr konservativ, geradezu ängstlich vor der eigenen Courage. Es gibt (zu) wenig gemeinsame Reflexion über unsere Möglichkeiten innerhalb der Bewohnerschaft, aber auch in der uns umgebenden Gesellschaft, Veränderungen anzustoßen. Denn so gern wir es wären, wir sind kein Abbild dieser Gesellschaft, sondern eine kleine Nische. Eine kleine Nische mit dem Potential, Impulse zu geben. Es ist nicht das Paradies, aber der beste mir momentan mögliche Ort zu wohnen und innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu leben.

Sarah Scholz

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Landnahme

Auch mich hat das Mapping-Fieber gepackt. Mapping, so nennt man das Erfassen von Geodaten in der Community von OpenStreetMap (OSM).

Am Anfang reizten vor allem die weißen Flecken. Unbekanntes Terrain für die Community, das erschlossen werden will. Also hinaus in die Welt und Daten sammeln, Wissen befreien und damit bislang so vernachlässigten Aktivitäten wie Radfahren und Spazierengehen eine übergeordnete Bedeutung geben. Sinnstiftung für das, was ohnehin schon Spaß macht, dem Alltag aber bislang immer nur abgerungen werden konnte als so genannte "Freizeit". Außerdem ist Mappen eine wunderbare Beschäftigung für mehrere Personen - ob zu zweit oder in der Gruppe, es macht gemeinsam einfach noch mehr Freude. Einer setzt die Wegpunkte, der oder die andere hält per Audio, Foto oder mit Stift und Zettel fest, was in die Karte für diese Stelle eingetragen werden soll. Das alles wird später beim Eintragen noch einmal durchgesprochen, das HowTo wird zu Rate gezogen - sah unser Weg wirklich auch so aus? Und wie nennt man Gestrüpp zwischen den Feldern? Was wie lästige Arbeit klingt, ist aufregende Vertiefung des Gesehenen, Rekapitulation des gemeinsam Erlebten.

Das Fieber, der Suchtfaktor kommt dann von ganz alleine. Das Mappen beginnt mit einem Weg, der noch nicht in der Karte verzeichnet ist. Doch diesen Weg kreuzen andere - auch sie wollen in jeder Hinsicht erfahren werden. So kommt jedes Mal ein Puzzlestück hinzu, und die Neugier auf die angrenzenden Wege und Gebiete wächst. Die Entdeckungsreisen werden gezielt geplant, um Lücken zu schließen. Und jedes Mal sehen wir etwas Neues - einen Teich, ein Wasserhäuschen, eine Brücke. War das schon immer hier? Ich bemerke es erst jetzt, wo es gilt, die Karte zu vervollständigen. Nichts ist unwichtig und erstaunlicherweise gibt es für das alles ein Wertepaar, mit dem es eingetragen werden kann.

Durch das Einzeichnen verändert sich auch meine Sicht auf die Umgebung. Denn mit dem Aufzeichnen und Protokollieren der zurückgelegten Wege ist es ja nicht getan. Meine Punktwolke soll Spuren hinterlassen in der Karte. Ich zeichne also eine Linie entlang der aufgezeichneten Punkte und erinnere mich: Dies war der Feldweg, der so breit und matschig war. Und dieser Punkt bedeutet: Jägersteig. Im OSM-Wiki finde ich Erklärungen und Beispiele, die mir helfen, meine Wahrnehmungen zu ordnen. Mit diesen Kategorien im Kopf sehe ich beim nächsten Ausflug genauer hin, weiß, worauf ich achten muss, um meine Erfahrungen in der Karte korrekt dargestellt zu sehen. Eine Bank ist eine Bank, doch sie kann auch mit oder ohne Lehne sein, aus Holz oder Plastik. Wofür ist das wichtig? Ich weiß es nicht, aber es könnte doch sein, dass irgendwann einmal jemand genau das wissen möchte.

Das HowTo des OSM-Wiki wird zur Quelle des Staunens, was es alles gibt und was für Diskussionen vermeintlich einfache Tatsachen auslösen können. Stromleitungen mappen - ja klar, denn es gibt sie ja schließlich. Aber wie? Was ist wichtig? Voltzahl? Anzahl der Adern in einer Leitung? Was zunächst übertrieben klingt, hat doch seine Berechtigung, und ich lerne einiges über die überirdische Stromversorgung in unserem Lande. Noch mehr darüber erfahre ich bei einem kleinen Mappertreffen im Norden, wo ich jemanden kennenlerne, der sich auf Verteilerkasten spezialisiert hat. Auch eine Sicht der Welt. Außerdem zeigt er uns, wie Google Maps vergiftete Informationen in seine Karten einbaut, um Lizenzverstöße ahnden zu können. Wie verrückt ist das denn? Da werden bewusst Fehler in eine Karte eingebaut, um das Geschäftsmodell zu schützen - wehe dem, der gerade in diesem Abschnitt eine Adresse sucht.

All die kleinen Straßen und Dörfer, die Feldwege, das große Waldstück haben wir durch das Mappen entdeckt, erfasst und begriffen - und dadurch für uns in Besitz genommen. Natürlich glaubte ich vorher, meine nähere Umgebung zu kennen, aber sie dann in der freien Weltkarte abgebildet zu sehen, macht mich doch so stolz und froh, als hätte ich sie selber erschaffen. In Besitz nehmen durch Teilen - das ist meine wichtigste OSM-Erfahrung. Heute weiß ich wohl: Nicht fürs Rendering - also die Darstellung in der Karte - mappen wir, sondern um zukünftige Karten zu ermöglichen, die ganz andere als geographische Fragen beantworten können sollen. Es gibt so Viele Details am Wegesrand, die Auskunft geben über die Beschaffenheit meiner Umwelt, die ich für OSM und über OSM wieder für mich erschließe. Zum Beispiel Schilder, die bisher immer unbeachtet blieben wie etwa die für das in hessischen Wäldern vorherrschende Privateigentum! Aber auch die kleinen grünen Schilder, die dem Rettungsdienst als Anfahrtspunkte dienen. Wer weiß schon, dass es diese sinnreiche Einrichtung gibt?

Es gibt so viele unterschiedliche Weltanschauungen, und OSM hat Platz für jede: Was wichtig ist, entscheidet der Nutzer mit seinen je eigenen Fragestellungen an die Umwelt. Wo ist der nächste Briefkasten? Welche Stadt hat wo ihre historischen Stolpersteine? Ist dieser Weg geeignet für Rollstuhlfahrer? Wie gut ist die Straßenausleuchtung in diesem Viertel? Je detaillierter die bei OSM hinterlegten Informationen sind, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich für deren Nutzung. Denn es ist unsere Umgebung, unsere Infrastruktur, unsere Welt. Der erste Schritt, sie uns wieder anzueignen, besteht darin, freie Karten zu ermöglichen.

Barbara Grün

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Keimformen, Wünsche und Zufallsfunde

Einem lieben Wunsch kann leicht passieren, dass er etwas findet, was er zu schnell für das Gesuchte hält. Columbus glaubte bis an sein Lebensende daran, 1492 den Seeweg nach China (das damals zu "Indien" zählte) entdeckt zu haben, obwohl er auf einem ganz anderen Kontinent gelandet war. Manchmal ist es sicherer, auf unerwartete oder gar unerwünschte Entdeckungen zu setzen.

Zwei ganz normale VWL-Professoren (Ralf Reichwald/Frank Piller, Interaktive Wertschöpfung, Wiesbaden 2006) entdeckten z.B. vor sieben Jahren etwas Neues, was sie in ihrer gewohnten wertfixierten Sprache "interaktive Wertschöpfung" nannten. Sie hatten routinemäßig betriebswirtschaftliche Modelle untersucht und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass es tatsächlich etwas Neues zu beobachten gab, das mit der klassischen BWL nicht zu erklären war: "Die interaktive Wertschöpfung ergänzt die beiden klassischen Koordinationsformen (Hierarchie und Markt) durch einen dritten Weg: das Organisationsprinzip einer 'commons-based-peer-production'. Diese Organisation des Wertschöpfungsprozesses verlangt eigene Organisationsprinzipien und Kompetenzen der Akteure. Beispiele bilden die Selbstselektion und Selbstorganisation von Aufgaben durch (hoch) spezialisierte Akteure, deren Motivation vor allem die (eigene) Nutzung der kooperativ geschaffenen Leistungen ist. Hinzu kommt jedoch eine Vielzahl weiterer sozialer, intrinsischer und extrinsischer Motive." (S. 314)

Auch in der aktuellen Keimformdebatte sind mir die Entdeckungen am liebsten, die nicht durch eine allzu präformierte Sicht zustande kommen; Keimformen also, die auf den ersten Blick kaum als solche zu erkennen sind. Keimformen, die in der Mitte oder am progressiven Rand des alten Systems entstehen und dann empirisch nachweisen müssen, dass sie eventuell die Potenz haben, auch über die Logik des bestehenden Systems hinauszugehen.

Zum Beispiel das Geschäftsmodell "Flatrate" oder "all inclusive": Diese beiden erfolgreichen Geschäftsmodelle der letzten 10 Jahre sind vollständig kapitalistisch kalkuliert: Sie sollen Kunden anlocken und Marktanteile vergrößern (müssen sich also "rechnen"), beinhalten aber eine Logik, die durchaus im Widerspruch zum ehernen Äquivalenztausch-Prinzip unserer Geld-Logik steht. Sie erlauben in einem begrenzten Rahmen (der natürlich zuvor mit Geld dem Geltungsbereich der Geldlogik abgekauft wurde) nach eigenen Bedürfnissen zu leben - ohne sich auf die Matrix des Wertes zu beziehen.

Wenn die Unternehmer und Manager der Geldlogik eines können (müssen), dann ist es das: Rechnen. Und wenn dabei das Geschäftsmodell Flatrate oder "all inclusive" erfolgreich wird, ist das nicht nur kein Nachteil, sondern in der Form der "Nachfrage" ein Beweis dafür, dass das Neue tatsächlich (massenhaft) verstanden und gewollt wird. Offensichtlich ist es nicht nur denkbar, sondern empirisch feststellbar, dass Menschen auch ohne monetäre Fremdbestimmung mit (hier erst einmal temporär) freien Gütern vernünftig umgehen können.

Ein Hotelier auf Mallorca sagte mir in einem Interview, er glaube an "all inclusive" und gehe davon aus, dass es sich in nächster Zeit weiter durchsetzen werde. Es zeige, dass sich seine Kunden spätestens am dritten Tag daran gewöhnt hätten, nach ihren Bedürfnissen zu leben. Spätestens dann würden sie aufhören, sich die teuersten Speisen und Getränke vom Buffet zu nehmen und die pauschal bezahlten Ansprüche nach dem alten Nachkriegsmotto auszunutzen: lieber den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt! Sie würden dann tatsächlich nur das und soviel davon nehmen, wie sie gerade Lust hätten - so wie alle anderen Lebewesen auf der Erde.

Uli Frank

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Der Hass auf Homosexuelle

Thesen zur Kritik der bürgerlichen Sexualitäten

von der AG Sexualität der Gruppen gegen Kapital und Nation

Natur, Gesellschaft, Individuum

1. Homo-, Bi- und Heterosexualität sind nicht biologisch bestimmt. Alle Forschungsversuche, die einen Beweis für eine biologische Ursache von Homosexualität liefern wollten, haben sich bemüht, statistische Zusammenhänge zwischen sexueller Neigung und Körpermerkmalen zu finden. Vergrößerte Ohrläppchen, Hodenbeschaffenheit, Gehirnbesonderheiten, DNS-Sequenzen etc. müssten jedoch, selbst wenn innerhalb der untersuchten Gruppe eine Überschneidung bestünde, nicht unbedingt deren Ursache sein. Ein Beweis muss den inhaltlichen Zusammenhang aufzeigen, welcher als statistische Korrelation unmöglich zu erbringen ist. Die Wissenschaft ist bis heute unfähig geblieben, auch nur erste Anhaltspunkte zu liefern, dass sich das sexuelle Begehren aus der Biologie ergibt. Es wird ihr auch nicht gelingen, denn das menschliche Sexualverhalten ist nicht biologisch determiniert; mit nebulösen Hinweisen, das Verhalten sei zu 20, 30, 50 oder 70 Prozent genetisch determiniert, der Rest sei irgendwie Sozialisation, illustrieren entsprechende Wissenschaftler_innen nur den unwissenschaftlichen Charakter ihrer Ausführungen.

2. Die Natur liefert wohl die materiellen Voraussetzungen von menschlicher Sexualität (Körper mit Nerven, Gehirn, Flüssigkeiten usw.), die jeweilige Gesellschaft aber die Bedingungen, unter denen sie stattfindet (in Form der politischen Herrschaft mit ihren Gesetzen und Verordnungen, aber auch als durchgesetzte Vorstellungen, Erwartungen und Sehnsüchte im menschlichen Miteinander, ebenso in Form von Wissen über Sexualität und in den Spielzeugen, Hilfs- und Anregungsmitteln). Die Inhalte und Formen des Sexuellen jedoch - also das, was alle daran interessant finden - entstehen aus dem Denken und Fühlen der Einzelnen, die diese Voraussetzungen und Bedingungen mit eigenen Vorstellungen aufladen, verinnerlichen, übersetzen und interpretieren. Die Menschen gehen geistig-tätig mit der Welt um und sind nicht einfach Wirkung einer Ursache.

3. Das "Natur"-Argument halten viele für so einleuchtend, weil ihnen ihr eigenes sexuelles Begehren als etwas erscheint, was sie nicht ändern können. Falls sich ihre sexuelle Orientierung im Laufe ihres Lebens dann doch einmal Verändert, meinen sie in der neuen Form zumeist ihre ureigenste, zuvor unterdrückte, wahre sexuelle Identität zu entdecken. Gerade weil der moderne Mensch in Liebe und Sexualität sein wahres Wesen ausdrücken will und seine Identität darin findet zu sein, wer er ist (und nicht fremdbestimmt), soll seine Sexualität und sein Verlieben eben auch ganz seins sein. Den langen Weg, den jedes bürgerliche Subjekt von seiner Geburt bis zur Entwicklung explizit sexueller Phantasien und Praktiken zurücklegt; die Fülle von Erfahrungen und Entscheidungen; all die sinnigen und unsinnigen Gedanken und Gefühle der Menschen zu ihrem Begehren, den Objekten ihres Begehrens und deren Verhalten - all das erscheint so dem Menschen wie ein langer Weg zu sich selbst und ist rückblickend sinnvoll in die eigene Geschichte eingeordnet. Der Prozess erlischt im Resultat.

4. Politischen Anklang bei der Schwulenbewegung hat die sexuelle Vererbungslehre dadurch gefunden, dass sich damit gegen Therapie- und Bestrafungskonzepte kämpfen lässt - und alle fundamentalistischen Christenmenschen sich dann die Frage gefallen lassen müssen, warum der Herrgott die Schwulen und Lesben so geschaffen hat, wenn er sie denn hasst. Die Vorstellung der Sünde setzt eben den freien Willen Voraus, gegen Gottes Gebote verstoßen zu können. Wenn Homosexualität vererbt ist, dann kann sie keine Sünde sein. Das Argument ist aber defensiv, oft hilflos, immer dumm und gefährlich und hat im schlimmsten Fall brutale Konsequenzen. Defensiv, weil die Homosexuellen als determinierte Tröpfe vorgestellt werden, die vielleicht ja anders wollen würden, wenn sie nur könnten - anstatt zu sagen, dass es Lust bereitet und auch keinen Schaden anrichtet. Hilflos, weil längst Ideologien entwickelt wurden, um den Widerspruch zwischen göttlicher Schöpfung und angeblich natürlicher Homosexualität zu überbrücken ("besondere Prüfung", "wir lieben Homosexuelle, aber hassen ihren sündigen Lebensstil" etc.). Ein rechter Moralist wird sich von "schwulen" Schwänen nicht von seinem Hass auf Homos abbringen lassen. Dumm und gefährlich, weil es einem Biologismus das Wort redet, der alles von der Arbeitslosigkeit bis zum Zungenkuss aus der Abfolge von Aminosäuren erklärt und damit von Menschen gemachte Verhältnisse zu unveränderlicher Natur (v)erklärt. Es hat im schlimmsten Fall brutale Konsequenzen; denn wenn Homosexualität als Übel betrachtet wird, das durch die Natur hervorgerufen wird, kann dies auch zur Konsequenz haben, alle Homosexuellen und sonstigen "Abweichler" mindestens auszugrenzen und zu ächten - wenn nicht zu vernichten.

"Ursachenforschung" oder: Wo kommen bloß die Heteros her?

5. Die Menschen machen ihre Sexualität selbst - aber sie machen sie nicht aus freien Stücken: Sie können nicht einfach durch Beschluss auslöschen, was ihnen mit und ohne ihren Beschluss widerfahren ist und was sie aus ihren Erlebnissen bewusst und nicht-bewusst gemacht haben. Weil die Psychoanalyse einmal versprochen hatte, genau solche Mechanismen aufzuzeigen und handhabbar zu machen, suchten viele Homosexuelle in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren "Heilung" bei ihrem Therapeuten. Die Psychoanalyse hatte sich - nur in teilweisem Einklang mit ihrem Begründer - bezüglich der Homosexualität für Jahrzehnte zu einer reinen Hetero-Norm-Durchsetzungstherapie entwickelt. Dabei wurden die albernsten widersprüchlichen psychologischen Theorien über familiäre Bedingtheit von Homosexualität hervorgebracht. Heute ist die vorherrschende Meinung in der Psychologie, Homosexualität sei "multifaktoriell" verursacht, und sie gibt damit wenigstens zu Protokoll, dass sie auch keine Ahnung hat, woher die Homos (und die Heteros) denn nun kommen.

6. Was nicht weiter schlimm ist - die Frage nach der Ursache oder den Ursachen von Homosexualität ist nämlich blöd. Sie ist fast immer Auftakt zur Pathologisierung oder Verfolgung und macht letztlich Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender zur erklärenswerten Anomalie - anstatt grundsätzlich zu fragen, woher denn das Konzept kommt, ausgerechnet an primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen eines Menschen festzumachen, ob er_sie als Sexual- und Liebespartner_in in Betracht kommt. Denn auch wenn die Beschaffenheit des Körperbaus, die Körperbehaarung und das Vorhandensein eines Penis oder einer Vagina sexuell mehr oder weniger reizvoll sein können: a) Gibt das biologische Geschlecht zu sehr vielen dieser Fragen gerade mal eine Wahrscheinlichkeit an, da Männer und Frauen und Trans*- und Inter*sexuelle glücklicherweise nicht so einheitlich sind, wie die gängigen normativen Vorstellungen behaupten und ist b) die sexuelle Besetzung von körperlichen Attributen nicht unabhängig von den Gedanken und Vorstellungen, die mensch sich darüber macht. Im Übrigen gehen die gängigen Konzepte immer wieder davon aus, dass Liebe und sexuelle Anziehung eigentlich zusammenfallen sollen und müssen. Das ist aber gar nicht so.

7. Homo- und Heterosexualität sind zwei einander entgegengesetzte Konsequenzen aus dem herrschenden Geschlechter-Verhältnis, nämlich nur eins der beiden anerkannten Geschlechter zu begehren. Daran ist nichts logisch, aber auch nichts weiter verwerflich. Zwar bedeutet es erstmal, einen größeren Teil der Weltbevölkerung von vornherein nicht sexuell und amourös interessant zu finden. Wäre das die einzige Folge der ganzen sexuellen Identitätshuberei, so würde man wie bei Menschen, die keinen Spinat mögen, die Schultern zucken und sich maximal wundern, warum Geschmäcker so verschieden sein können. Aber die Verhältnisse sind nicht so: Sexuelle Identität ist keineswegs nur ein verfestigtes Geschmacksurteil, sondern eine handfeste Sortierung mit einer blutigen Geschichte und brutalen aktuellen Konsequenzen.

Konstruktion und Verfolgung von Homosexualitäten

8. Homosexuelle Handlungen gibt es, seit es sexuelle Handlungen gibt, wann immer mensch das datieren will. Homo-, Bi- und Heterosexualität als fest umrissene, alle anderen Formen des Begehrens ausschließende Konzepte, die weit über die Frage hinausgehen, mit wem mensch Strohmatte oder Bett teilen mag, sondern das innerste und eigentliche Wesen des jeweiligen Menschen ausmachen sollen, sind hingegen ein Produkt der entwickelten und durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vorher war eine gleichgeschlechtliche Handlung geheiligt, akzeptiert, ignoriert, verdammt und/oder verfolgt, aber es war eben dies: eine Handlung. Das Sichfestsetzen der sexuellen Tätigkeit, diese Konsolidation des eigenen Handelns zu einer kategorialen und sachlichen Gewalt über Menschen, die ihrer Kontrolle entwächst, eventuell ihre Erwartungen durchkreuzt und Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente der geschichtlichen Entwicklung von der "Sünde" zur "Perversion", von jemandem, der die "Sünde Sodoms" begeht, zu einem Menschen, der "homosexuell" ist. Die Identifikation bestimmter Sexualpraktiken, Eigenschaften und Verhaltensweisen mit Homo- und Heterosexualität folgt auf dem Fuße.

9. Es würde zu weit führen, hier eine Geschichte des gleichgeschlechtlichen Begehrens durch die verschiedenen vorkapitalistischen Produktionsweisen und vor- und frühbürgerlichen Herrschaftsformen zu versuchen. Das Zusammenspiel von Herrschaftsinteressen und -konkurrenzen, durchgesetzter Sittlichkeit (inklusive Religion), Stabilisierung der jeweiligen Geschlechterverhältnisse und Kämpfen zwischen und innerhalb der jeweiligen Klassen um den Reichtum der Gesellschaften und ihrer Verlängerung in die verschiedensten Bereiche entzieht sich in der Allgemeinheit der systematischen Bestimmung. Was aber ein Blick in die Geschichte von sexuellen Handlungen immerhin leistet, ist dies: Er widerlegt das fromme Gerücht, in früheren naturverbundeneren Zeiten hätten die Menschen sich immer nur so sexuell betätigt, wie es sich das moderne konservative und faschistische Pack wünscht, und die heutige "Sittenverderbnis" sei ein Produkt moderner Entfremdung von den "Naturgesetzen". Die Apologeten einer Vergangenheit, die es nie gab, wird mensch damit zwar nicht treffen, andere Leute aber mögen ins Denken kommen.

10. Freilich besteht kein Grund, diese Zeiten schwärmerisch zu idealisieren: Dass in der europäischen Antike für freie erwachsene Männer alle denkbaren Körperöffnungen aller anderen Menschen zur sexuellen Befriedigung zur Verfügung standen, ist keine vom Identitätszwang befreite Sexualität, also jenes freie Spiel der Lüste, das vernünftig wäre, sondern ein patriarchales Gewaltverhältnis gewesen. Nicht anders verhält es sich mit irgendwelchen Initiationsriten bei "den" Germanen oder sonstwo, und selbst wo bei den Native Americans dritte und vierte soziale Geschlechter die Möglichkeit boten, sich nicht vom biologischen Geschlecht festlegen zu lassen, welche Rolle mensch in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu spielen hatte, war dies ja nicht das Heraustreten aus den Zuordnungen. Sexuelle Befreiung kann ihre Ziele nicht in der Vergangenheit finden.

11. Dass das Bürgertum seinen politischen Aufstieg nicht nur politisch, (a-)religiös und ökonomisch legitimierte, sondern auch sittlich; und dass alle Formen der Sexualität, die nicht auf die monogame, lebenslängliche, romantische Zweierbeziehung mit Kinderwunsch hinausliefen, gleichermaßen die Dekadenz des Adels wie die Animalität der unteren Klassen zeigten und somit den Herrschaftsanspruch der Bourgeoisie illustrierten, ist nur das eine. Mit der Durchsetzung der Konkurrenz aller um den gesellschaftlichen Reichtum als eines ökonomischen Prinzips wurde gleichzeitig ein "Normalmaß" für Konkurrenzsubjekte durchgesetzt: "weiß", männlich, gesund, heterosexuell, Staatsbürger mit gewisser Bildung und eigenen Rücklagen. Der Kampf aller möglichen Gruppen um gleichberechtigte Teilnahme an dieser Konkurrenz und Anerkennung als vollwertige Staatsbürger_innen mag dies in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften etwas aufgeweicht haben, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich ein wenig verschoben haben. Die traditionelle Fassung des Ideals eines erfolgreichen bürgerlichen Konkurrenzsubjekts, das sich weder von Gefühlen noch von seiner Lust beherrschen lasse, mit der falschen Vorstellung, die richtige Haltung sei eine Erfolgsgarantie, ist weiterhin gültig und ist höchstens leicht modifiziert worden.

12. Die Furcht, von den Angehörigen der produzierenden Klassen könnte es zu wenige geben, weil sie sich der Erzeugung zukünftiger Untertanen und Arbeitskräfte verweigerten, hat viele Herrschaften bewegt, gerade dann, wenn sich die Lebensumstände der unteren Klassen verschlechterten. Darum sind auch schon vorbürgerliche Herrschaften - und zwar ganz unabhängig von den sexuellen Vorlieben der jeweiligen Führungsfiguren - auf die Idee gekommen, das sexuelle und reproduktive Verhalten zu steuern. Dass dabei nicht nur Kindertötung, sondern auch Abtreibung und Verhütungswissen, und sogar "unproduktives" Sexualverhalten in den Fokus der Herrschaft gerieten und verfemt und verboten wurden, war folgerichtig. Dass die bürgerliche Herrschaft hier noch ganz anders und deutlich totalitärer zuschlug, weil sie die Bevölkerung als zu bewirtschaftende Ressource der Kapitalvermehrung entdeckte und als notwendigen Pfeiler der Herrschaftssicherung noch ganz anders in Beschlag nahm, kann kaum verwundern, ebenso wenig wie die vielfältigen ideologischen Radikalisierungen, die nicht immer funktional waren.

13. In früheren Tagen betrachtete der bürgerliche Staat Sexualität als potentielle Gefahr für die Gesellschaft. Er forderte Unterordnung, Verzicht, Bescheidenheit und Unterwerfung. Da passte eine Sexualität, die "nur" auf Lust aus war und keine Arbeitskräfte, Untertanen und Soldaten zu versprechen schien, nicht recht ins moralische System. Entsprechend ging der Staat dagegen vor und ließ nur eine einzige alternativlose Weise zu, die Sexualität sozial anerkannt und staatsdienlich auszuüben: die Ehe. Dass er in ihr und ihrer Verlängerung, der Familie, seine Keimzelle sieht, sich dauernd Sorgen macht, dass das bedingungslose Für-Einander-Einstehen aufgrund von Liebe und Verwandtschaft aufgefressen wird von jener Konkurrenz, die es nötig macht - das hat sich auch in jüngsten Tagen nicht geändert.

Neue Rolle der (Homo-)Sexualitäten

14. Heute aber hat der moderne bürgerliche Staat Sexualität als eine weitere Tröstungsquelle akzeptieren gelernt. Er will Bürger_innen, ja notfalls sogar Bürger_innen, die ihr Leben als Chance zur Selbstverwirklichung sehen, auch zur sexuellen. Geändert hat sich darüber auch sein Blick auf jene Bürger_innen, die er vorgestern noch im Verdacht hatte, die öffentliche Ordnung zu gefährden, Jugendliche zu verführen und generell Manneskraft, weibliche Fügsamkeit und soldatische Tugenden zu schwächen, und die er gestern herablassend ausgrenzte, weil sie sich ja nur um ihr Vergnügen kümmerten und sich genau den sittlichen Pflichten entzögen, auf die es ihm ankam. Er traut ihnen nunmehr das zu, was er früher noch bezweifelte - und so hat der "bindungsscheue Schwule" der gleichgeschlechtlichen Bedarfsgemeinschaft mit wechselseitiger Unterhaltsverpflichtung nach Hartz IV Platz gemacht. Das hat dann auch zur Verschiebung der Argumentation geführt: Die Staatsagenten haben es aufgegeben, Schwulen generell Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, wo diese doch dauernd darum kämpfen, füreinander Verantwortung übernehmen zu dürfen. Jetzt geht das Ressentiment eher so: Schwule seien zur Verantwortungsübernahme für kleinere Menschen sittlich-moralisch per se nicht in der Lage, sondern benutzten Kinder nur zur Selbstverwirklichung - bekanntlich ganz anders als die heterosexuellen Eltern, die ja nur ans Große und Ganze denken, wenn sie Nachwuchs produzieren.

15. Vorangegangen war dem, dass ab Mitte der 1960er Jahre die westlichen Staaten die Regulierung der Sexualität ihrer Bürger nicht aufgaben, sondern nach neuen Prinzipien gestalten. Danach nahm die polizeiliche Überwachung und Verfolgung der Homosexualität stark ab und hörte dann irgendwann, spätestens in den 1990er Jahren, auf. Dadurch wurde erst eine öffentlich sichtbare schwule und auch lesbische Subkultur ermöglicht, die noch ganz davon lebte, ein "Gegenentwurf zu den sexualmoralischen Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, und die ein Maß an Befreiung ermöglichte, von dem Veteran_innen noch heute sehnsuchtsvoll berichten. Sie war aber zugleich eine Illustration der Tatsache, wie sehr auch die Aufstände und Übertretungen noch den Konventionen gehorchen, gegen die sie sich subjektiv richten: Denn das in den 1970ern entworfene Modell z.B. des Schwulen nahm immer wieder Bezug auf die Klischees der bürgerlichen Gesellschaft.

16. Genau diese Subkulturen wurden in West- und Nordeuropa, Kanada, Australien und Neuseeland - nicht aber in den USA - nach dem Auftauchen von AIDS in den 1980er Jahren wichtige Juniorpartner des Staates beim Kampf um die Volksgesundheit und zugleich auch zu Vermittlern bürgerlicher Normen in den Rest der schwulen Szene hinein. Heute sind viele verbliebene Schwulenorganisationen weit entfernt von jeglicher Kritik an der Gesellschaft, um deren vollständige Anerkennung ihrer Liebes- und Lebensweisen sie so hartnäckig kämpfen. Die lesbische Subkultur hat sich dagegen im Rahmen der feministischen Bewegung entwickelt und ist so angepasst und unangepasst wie diese; sie ist deutlich weniger Adressatin sexualpädagogischer Bemühungen des Staates.

17. Unbestritten ist das Leben von Schwulen und Lesben in westlichen Staaten heute sehr viel einfacher als noch vor ein paar Jahren. Nach wie vor aber sind Hetero- und Homosexualität Sortierungen, aus denen eine Menge Leid und Gewalt folgen. Wenn das Pochen auf diese Identitäten die Massen ergreift, werden sie selbst eine materielle Gewalt - auch gegen die, die sie nicht teilen.

Die neue Toleranz...

18. Jenseits der Bilderbuchmalereien in Hochglanzbroschüren gibt es noch eine wirkliche Welt voller Ignoranz, Projektion und auch noch immer direktem und deutlichem Hass und Ekel. Die heterosexuelle Vorannahme verunsichert auch heute noch Homosexuelle in modernen westlichen Gesellschaften und zwar nicht erst, wenn Schwule und Lesben zusammengeschlagen werden. Dass homosexuelle Jugendliche sich häufiger selbst töten und verletzen, ist unbestritten. Die permanente, gar nicht immer bös gemeinte oder absichtliche Zurückweisung und Ausgrenzung "Anders"liebender und -vögelnder bringt so ihre Macken und Merkwürdigkeiten hervor, genau wie, wenn auch anders, das heterosexuelle Geschlechts- und Liebesleben und homosexuelle Versuche, es zu imitieren, ihre brutalen Konsequenzen habe. Es gibt keine befreite Sexualität in repressiven Verhältnissen.

19. Wie jede Gruppe eignet sich auch die Gruppe der Homosexuellen zur Projektion. Mit scheinbar positiven Urteilen, wie z.B. dass sie kreativer (Schwule) oder durchsetzungsstärker (Lesben) als ihre Geschlechtsgenoss_innen seien, können viele Betroffene vielleicht besser leben als mit anderen Attributen, mit denen sie belegt werden - ein Ideal, dem mensch zu entsprechen hat, ist damit aber aufgestellt. Wie leicht die Verwandlung scheinbar positiver oder neutraler Zuschreibungen in negative funktioniert, wenn eine Gruppe erst einmal als "anders" definiert ist, kann mensch an den verschiedensten Gruppen durchdeklinieren; auch Komplimente können in ein Anderssein einsperren, das mensch sich nicht ausgesucht hat und auch nicht aussuchen wollte.

20. Männer und Frauen müssen auch in westlichen Staaten häufig um ihre Gesundheit fürchten, wenn sie als "schwul" bzw. "lesbisch" bezeichnet werden. Ekel wird beiden entgegengebracht - im Umgang mit lesbischen Frauen kommt noch stärker eine Ignoranz etwa in Form der Einordnung als vorübergehende Phase hinzu. Das hat seine dumme Logik: Wo Sexualität in erster Linie als Eiertanz um den Schwanz begriffen wird und nur erfolgreicher Steckkontakt als wirklicher Sex gilt, da zählt alles andere nichts und wird nicht als bedrohlich empfunden. Anders als durch phallische Selbstüberschätzung lässt sich die Furcht vor der "Verführungskraft" schwuler Sexualität nicht erklären. Auch die relative Gelassenheit vieler Heteromänner gegenüber lesbischer Sexualität mag daher rühren - die freilich nur so lange währt, wie die männliche Verfügungsgewalt über weibliche Körper nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Dann schlägt sie häufig in brutale Gewalt ("correctional rape") um.

21. Der Heterror beginnt früh. "Schwul" ist z.B. bei Kindern und Jugendlichen erst einmal alles, was irgendwie doof ist und nicht funktioniert - und gilt als mit das Schlimmste, was einem Jungen überhaupt nachgesagt werden kann. Aber Schwul-Sein ist mehr als nur "doof": Das Schlimmste an der männlichen Homosexualität scheint immer noch zu sein, dass sich dort Männer ficken lassen. Denn das wird gewöhnlich Frauen zugeschrieben und ist insoweit eine Verletzung der Geschlechterrollen. Und "gefickt zu werden", mittlerweile Ausdruck dafür, mit jemandem etwas zu tun, was der nicht wollen kann, das ist eben das Aufgeben der Herrschaftsposition, das Zum-Objekt-Werden. Daran auch noch Spaß zu haben und nicht der coole, kontrollierte und kontrollierende Mann zu sein, das widerspricht dem saublöden Männlichkeitsideal nicht nur der meisten männlich sozialisierten Menschen. Diesem Ideal zu entsprechen erfordert einiges an Durchhaltevermögen und Opferbereitschaft - und diejenigen, die damit brechen, können als Bedrohung empfunden werden: Eben weil sie die Möglichkeit des Andersseins verkörpern, wo mann sich mit solcher Mühe zugerichtet hat. Deshalb haben Schwule von der blöden Anmache bis zum Zusammengeschlagen-Werden einiges durchzumachen.

22. "Lesbisch" als Schimpfwort wird zwar unseres Wissens nicht als Synonym für "scheiße" gebraucht, doch z.B. in der Schule als "Lesbe" verschrien zu sein, ist beleidigend gemeint und isoliert die Person in der Regel. Händchenhalten unter Mädchen wird zwar in westlichen Ländern anders betrachtet als unter Jungs. Aber werden aus "spielenden Mädchen" irgendwann "Lesben", trifft sie ebenfalls körperliche Gewalt und auf jeden Fall eine Menge Verachtung. Diese Ablehnung hängt - entsprechend dem Geschlechterbild - auch damit zusammen, dass sich einerseits in den Augen der Macker lesbische Frauen der männlichen Verfügungsgewalt als Sexualobjekte entziehen, andererseits damit, dass lesbische Frauen ihre Funktion und Rolle als Frau und Mutter, die in den Augen eines Großteils der Gesellschaft ihre eigentliche Aufgabe wäre, prinzipiell nicht erfüllen.

23. Und täuschen wir uns nicht: Dass das traditionelle Geschlechterverhältnis, zu dessen Stabilisierung der Hass auf Homosexuelle dient, für Frauen - um es vorsichtig zu formulieren - in der Regel ein schlechtes Geschäft ist, heißt weder, dass alle Frauen scharfsichtige Kritikerinnen dieser Verhältnisse wären, noch dass sie deswegen nicht homosexuellenfeindlich sein könnten. Genau wie viele Männer sich als "Männer" zurichten und zugerichtet werden, finden sich viele Frauen nicht einfach nur damit ab, was diese Gesellschaft so von "Frauen" erwartet, sondern internalisieren und verteidigen das nicht minder bescheuerte bürgerliche Weiblichkeitsideal. Die Sprecherposition als "Mutter und Frau", die die Werte der Familie verteidigt und Kinder und Jugendliche beschützen will, hat immer wieder Frauen in die Sprecherposition antihomosexueller Bewegungen gebracht. Egal ob in der russischen Duma oder auf den Straßen Frankreichs sind auch Frauen kräftig mit dabei, gegen Homosexuelle und ihre Rechte zu kämpfen. Wobei interessanterweise auch hier häufig der Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Schwulen und ihrer Gleichberechtigung, insbesondere bei der Adoption, liegt.

24. Die rechtliche Anerkennung bis hin zu einem gewissen Wohlwollen des Staates hat der Homosexualität für Viele nichts an Bedrohlichkeit genommen. Gerade weil Homosexualität heute eine Option ist, die nicht mehr vollständige Verfemung und Ächtung mit sich bringt, haben religiöse Knaller_innen aller Schattierungen im Bündnis mit Konservativen und Faschist_innen die Gefahr einer "seuchenartigen Ausbreitung" von Homosexualität und eines Verfalls der klaren Geschlechtergrenzen erkannt. Die faszinierte Angstlust, die hinter solchen Sorgen lauert, und die implizite Aussage über die Trostlosigkeit des ehelichen heterosexuellen Geschlechtslebens soll uns nicht interessieren. Dennoch geht fehl, wer hier nur psychische Mechanismen und nicht auch Ideologie am Werke sieht. Die Damen und Herren sind nicht "homophob", sie leiden nicht unter einer Angstzwangs"störung", auch wenn ihnen ihr eigener Hass unwillkürlich und ihr Abscheu - na klar - "natürlich" vorkommt. Ihr Verhalten ist gelernt und verdankt sich ihren politischen und sittlichen Überzeugungen.

... und ihre Feinde: Hass auf Homosexuelle, global

25. Kein Zufall ist es, dass die Attacken auf homosexuelle Emanzipation zumeist im Namen der "Familienwerte" geführt werden. Hier sind Homosexuelle nicht nur Sinnbilder der Erosion der "Keimzelle des Staates", sondern darin und damit auch eine Bedrohung für einen Solidarverband, der, weil auf "Blut" und "Abstammung" beruhend, unhinterfragbar sein soll, dessen Mitglieder bedingungslos "ja" zueinander sagen, sich nicht als kalkulierende Konkurrenzsubjekte zueinander verhalten, sondern vielmehr kräftig Opfer füreinander bringen, wenn sie gemeinsam durch dick und dünn gehen. Die zumeist repressive und häufig kleinlich-gehässige, oftmals auch neidisch-konkurrenzerfüllte Realität, die die staatliche Indienstnahme des privaten Lebens für Staat und Kapital zeitigt, tut der Attraktivität dieses Ideals wenig Abbruch. Dass nun ausgerechnet Homosexualität als Angriff auf diese "Blutsbandenbildung" angesehen wird, hat mit den realen Homosexuellen nicht allzuviel zu tun. Diese stehen - egal wie gut sie sich mit ihren Eltern und Geschwistern verstehen oder selbst eine Familie gründen wollen - symbolhaft für Leute, die keine Opfer bringen und sich keine traditionellen Verpflichtungen aufhalsen lassen, nur ihren Spaß haben (wollen), sie stehen für Individualisierung und Marktnonkonformität, für Entscheidungen und Kalkulationen über Formen des Zusammenlebens. Es wäre untersuchenswert, ob der Furor gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans- und Intersexuelle dort stärker ist, wo die Familie das wesentliche soziale Sicherungssystem darstellt.

26. Weltweit ist zum Optimismus in Sachen Emanzipation kaum Anlass vorhanden. In vielen, nicht nur islamischen, Staaten wird homosexuelle Emanzipation als Zersetzung und Zerstörung der Nation gesehen - und entsprechend Homosexuelle als Gefahr behandelt, verfolgt und bestraft. Diese Regimes haben materiell ihren Bürger_innen wenig bis nichts zu bieten, oft nicht einmal die schäbige Möglichkeit, sich für fremden Reichtum krummzuschuften. Entsprechend scharf sind diese Nationen auf die nationalistische Selbstunterwerfung ihrer Staatsbürger_innen und bekämpfen den westlichen "Individualismus"; das heißt, das freche Märchen, im Kapitalismus gehe es dauernd nur um das Streben nach individuellem Glück, wird als Bedrohung der Aufopferung für Staat und Glauben gegeißelt. Die Schwulen - weniger die Lesben - werden heute als Repräsentanten dieses Modells verfolgt: Zerstörer der traditionellen Werte, Familien-, Ehe- und Nachwuchsverweigerer, Schwacher der männlichen Kampfkraft für Nation und/oder Umma.

27. In vielen Ex-Kolonien wird Homosexualität als Produkt des Kolonialismus dargestellt. Homosexuelles Verhalten lässt sich in diesen Gesellschaften zwar fast immer auch schon vor der europäischen Kolonialisierung nachweisen, z.T. besungen und gepriesen, z.T. auch einfach als selbstverständliche Durchgangsphase vor allem männlicher Sexualität verschwiegen. Die dortigen Schwulen und Lesben haben aber das Pech, als Symbole für koloniales Erbe, westliche Dekadenz und vor allem fehlende reproduktive Pflichterfüllung herhalten zu müssen. Parallelen zu der ekligen Scheiße, die die europäischen Nationen bereits im 19. Jahrhundert auf, mit, durch und gegen ihre(r) Bevölkerung aufgehäuft haben, sind kein Zufall. Und im Gegensatz zur Kapitalakkumulation, die nicht gelingt und in der Masse auch gar nicht gelingen kann, brauchen sie bei der moralischen Volksertüchtigung nicht zu befürchten, in der Konkurrenz zu unterliegen - höchstens, dass die imperialistischen Länder hin und wieder ihren Unwillen über mangelnde Botmäßigkeit in Form von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen kleiden. Und dabei haben auch Länder, die vor 30 Jahren selber noch Schwule in den Knast gesteckt haben, die Homofrage als imperialistischen Einmischungstitel entdeckt.

28. Aber warum in die Ferne schweifen, wo die Scheiße liegt so nah. Auch innenpolitisch werden Fragen der "Integration" von Migrant_innen nun des Öfteren mit der Homofrage verbunden. Ein_e Rassist_in, der/die sonst an nichts weniger interessiert sein könnte als an Homophobie und hier und da auch mal selbst einen Spruch gegen Schwule und Lesben macht, fühlt sich nun bemüßigt, Homophobie auf einmal an allen möglichen Ecken und Enden auszumachen - aber ausschließlich in der migrantischen Community. Andere wiederum machen sich große Sorgen, dass die ja so repressiven, dafür aber fruchtbareren Migrant_innen am Ende die tolerante, aber durch Homosexualität und Gender-Mainstreaming geschwächte westliche Gesellschaft übernehmen, und plädieren - selbstverständlich im Namen der Freiheit - für ein ordentliches konservatives Moralprogramm. Dass die Pfaffen und die Popen in Süd- und Osteuropa versuchen, auf dem Rücken von Homo-, Trans- und Intersexuellen ihren Einfluss festzuschreiben - am liebsten gekleidet in pseudokapitalismuskritisches Gewäsch - kommt noch hinzu. Glaube also keine_r, es gebe eine unaufhaltbare, unumkehrbare und stabile Entwicklung in Richtung von auch nur Toleranz oder Akzeptanz, geschweige denn Vernunft.

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2000 Zeichen abwärts

Dazugehören

Auf dem Bahnsteig vor der Abfahrt meines Zuges: Menschentrauben vor den Waggontüren, vor mir steigen gerade Großeltern mit Enkerln und junger Frau die Stufen hinauf. Opa und Gepäck sind schon im Zug, Oma schiebt die Kinder gestresst vor sich her, ruft laut die Sitzplatznummern aus, obwohl Opa schon an Ort und Stelle Koffer und Kinder platziert hat. "Na, die via Plätz san unsare, mia ghörn alle zam!", höre ich von drinnen. Die junge Frau steht noch mit traurigem Blick im Gang dicht neben Oma. Ist sie die Schwiegertochter? Oder das Kindermädchen? Sie hat die schwarzen Haare straff zu einem Zopf gebunden; ist von zarter, ja schmächtiger Statur, trägt eine unauffällige dunkle Hose und ein helles T-Shirt sowie eine Tasche um den Arm. Warum redet sie nicht mit der älteren Frau, obwohl sie sich so an sie drängt? Hatten sie gerade Streit? Plötzlich sehe ich ihre Hand in die Umhängetasche der Oma greifen. In meinem Kopf legt sich ein Schalter um, ich reagiere auf einmal schnell wie sonst nie; rufe über den Kopf der jungen Frau hinweg: "Achtung, Ihre Tasche!"

Die junge Frau zieht ihre Hand zurück, schüttelt heftig den Kopf und sagt leise: "Nein, ich nix habe." Oma greift nach ihrer Tasche: "Oje, die ist wirklich offen. Ich mach sie doch sonst immer zu." Sie findet ihre dicke, rote Geldbörse, zieht sie heraus: "Gottseidank, nichts ist passiert! Danke, dass Sie mich gewarnt haben", sagt sie an mich gerichtet. Die junge Frau schaut noch verschreckter drein als eben noch. Ich ergreife meinen Koffer, erklettere die Stufen, steige ein, blicke mich um: sie ist weg. "Achtung eine Durchsage: Passen Sie auf Ihre Handtaschen auf. Es befinden sich Taschendiebe im Bahnhofsbereich", dröhnt es aus dem Lautsprecher.

Die Familie erzählt im Abteil lauthals und mehrmals von dem erfolgreich verhinderten Diebstahl. Alle haben ihre Plätze dort eingenommen, wo sie hingehören. Der Zug fährt ab. Die junge Frau bleibt draußen. Alles in Ordnung. Ja, in der Ordnung, wo Geld das Um und Auf ist. Da gehören eben Leute wie die junge Frau als Diebe mit dazu. Oder als Sträfling oder als Bettlerin.

H. S.

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Dead Men Working

Lauter Simulanten

von Maria Wölflingseder

Als Simulant bezeichnet zu werden, ist nicht gerade schmeichelhaft. Aber mit geschärftem Blick fallt auf, dass an allen Ecken und Enden immer mehr und immer heftiger simuliert wird, dass die Menschen offenbar unter großem inneren und äußeren Druck einen Perfektionismus im Täuschen und Tarnen entwickelt haben. Wir sind ständig am Beabsichtigen, am Herumschrauben an unserer Karriere, an unserem Image, an unserer Marke, vor allem am Immerzu-etwas-scheinen-Müssen. Wir simulieren aber nicht nur aktiv, sondern wir werden quasi auch simuliert: Immer öfter schwant mir, unser Dasein sei zu dem von Laborratten und Versuchskaninchen umfunktioniert worden.

Als Simulant wird jemand bezeichnet, der etwas - besonders eine Krankheit - simuliert. simulieren heißt nachahmen, vortäuschen, sich verstellen; in der Fachsprache auch: Sachverhalte und Vorgänge mit technischen oder (natur-)wissenschaftlichen Mitteln modellhaft nachbilden, in den Grundzügen wirklichkeitsgetreu nachahmen - insbesondere zu Übungs- und Erkenntniszwecken.

Eine der bedeutendsten Simulieranstalten sind die Zwangskurse für Erwerbsarbeitslose. Je weniger bezahlte Arbeit es gibt, desto hemmungsloser wird Arbeit simuliert. Da es mitnichten um das Wohl der Menschen geht, sondern um die grandiose Performance des AMS - insbesondere im Vergleich zu den übrigen Ländern in Europa und der Welt -, werden die Unverwertbaren bis ein halbes Jahr vor der Pension regelmäßig zu Bewerbungstrainings und Jobcoachings zwangsverpflichtet. Österreich sei Europameister im Minimieren der Arbeitslosen, wird an jedem Monatsersten hinausposaunt.

Die Überzähligen, die Nicht-Subjekte (also auch die sogenannten Asylwerber) werden in besondere "Labors" eingewiesen. Aber auch alle anderen - Kinder, Jugendliche und Erwachsene - sind nicht ausgenommen vom ständigen Gelenkt-, Überwacht- und Beurteilt-Werden und vom Abgreifen und Verwerten ihrer Daten. Eine regelrechte Verdschungelcampisierung des Lebens! - Ranking von allem und jedem wurde zum Fetisch erhoben. Die dazugehörigen Methoden und Vokabeln sind die Zauberformeln der Moderne: etwa "Nation Brands Index" - kurz "NBI". Konkurrenz in jeder Hinsicht, auf allen Ebenen, in jeder Lebenslage.

Eine rare Bemerkung ließ mich aufhorchen: "Der tägliche Wutanfall" von Hermann Schlösser in der Wiener Zeitung extra (14./15. Dezember 2013). Es geht um den "aggressiven Grundton" auf den "das derzeitige Leben gestimmt" ist. "Nicht Heiterkeit und Freundlichkeit bestimmen die Atmosphäre, sondern der Zorn in all seinen Spielarten: vom mühsam unterdrückten Groll bis zum offen ausbrechenden Hass." Ja, Angespanntheit und Gereiztheit, Reserviertheit und Misstrauen haben die Oberhand gewonnen über entspannte Verspieltheit im Umgang miteinander. Hat der Schalk im Nacken endgültig den Geist aufgegeben? Die meisten Menschen machen einen Eindruck, als ob sie unter großem Druck stünden, als ob sie einen Härtetest im Labor zu bestehen hätten. Wen wundert es da, wenn selbst Kleinkinder von null bis vier Jahren immer öfter Antidepressiva bekommen?

Merkwürdig, obwohl in den letzten hundertfünfzig Jahren Sitten, Normen und Konventionen immer mehr gelockert wurden - wir können heute in weiten Bereichen tun und lassen, was uns beliebt, - sind wir, auch wenn es um persönliche Beziehungen geht, mehr denn je am Simulieren. Unser Verhalten ist gleichförmig, klinisch, wie programmiert. Sinnlichkeit wird immer mehr in Labors, in kostenpflichtige Seminare mit Körperarbeit aller Art ausgelagert. Lebendiges, Phantasievolles, Unberechenbares, sich Einlassen, sich Hingeben verschwinden immer mehr. Berechnung schleicht sich überall ein. Menschen machen einander zum Objekt, das auf passende Kriterien hin überprüft oder zurechtgezimmert wird. Wie singt die norwegische Schlagersängerin Wencke Myhre im Lied "Eingeliebt, ausgeliebt" (2010): "... ich hab ihn entdeckt, durchgecheckt, hab in ihm den Mann geweckt, hab ihn instruiert, inspiriert, hab ihn emanzipiert, ich hab ihn belehrt und bekehrt, Gott und die Frauen erklärt, hab ihn missioniert, kultiviert, als Mann perfektioniert."

Der Paar- und Beziehungsberater Michael Mary kritisiert im Interview mit Gerald Schmickl den Glauben an generelle Machbarkeiten: "Es ist ein tragisches Moment, ... dass man glaubt, man könnte Glück 'machen' oder glückliche Beziehungen 'gestalten' - alles soll jetzt durch die richtigen Strategien und Techniken produziert werden. Letztlich kommt bei diesen Life-Management-Versuchen aber nur eine zunehmende Verelendung heraus." (Wiener Zeitung extra, 23./24. März 2013)

Noch mulmiger wird's, wenn man sich den Real-Life-Weltsimulator vor Augen führt, in dem wir alle sitzen, den unabschätzbaren Wirkungen all der technischen Errungenschaften ohne Umwelt- und Menschzertifikat ausgesetzt. Wie werden die Menschenratten auf Radioaktivität und Gentechnik, auf elektromagnetische Strahlung oder auf die 68 Millionen chemischen Verbindungen - von denen zahlreiche über Luft, Wasser, Nahrung, Kleidung und Gebrauchsgegenstände in den Körper geraten - reagieren? Der Arzt John Diamond schreibt im Buch "Der Körper lügt nicht", in dem es um die einfache Methode geht, mittels kinesiologischen Muskeltests den Körper Schwächendes festzustellen (Freiburg 1983): "Im Grunde genommen sind wir Versuchsobjekte, nur die Ergebnisse liegen noch nicht vor." - Ebenfalls hervorragende "Labors" sind die im Dauersmog blickdicht gewordenen chinesischen Großstädte, in denen das schädigende Konzentrat 23 Mal höher ist als der WHO-Grenzwert. Wer eines der zahlreichen Geschäfte betritt, in denen Kleidung, Schuhe, Taschen, Spielwaren made in Fernost aus 100 Prozent Plastik angeboten werden, dem verschlägt es auch hierzulande ob der stark riechenden Ausgasungen den Atem. Wir sind weltflächendeckend zu "Forschungsmaterial" geworden. Nicht-kontaminierte Vergleichsgruppen gibt es bald keine mehr.

Über all diesem nie da gewesenen Destruktionsgetümmel schwebt eine Meta-Simulation. Vorhandene Kritik hin oder her, letztlich wird so getan, als ob wir noch zu retten wären - auch wenn wir so weiter tun wie bisher. Nicht nur Genies täte es gut, anstatt das Leben simulierend zu vergeuden, zur Besinnung zu kommen: "Es braucht viel Zeit, ein Genie zu sein, man muss so viel herumsitzen und nichts tun, wirklich nichts tun." Gertrude Stein (Schriftstellerin 1874-1956).

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Stufen der Subjektivierung

von Meinhard Creydt

Die kapitalistische Ökonomie nimmt auf menschliche Sinne und Fähigkeiten letztlich keine Rücksicht. Zugleich sollen die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft sich als Subjekte auffassen und ihr eigenes Leben führen. Damit werden verschiedene Varianten einer "Interiorisierung der Exteriorität" (Bourdieu, 147) fällig. Keine Würde ohne Bürde. Die damit notwendig verbundenen Verkehrungen sind das Thema dieses Artikels.

In der Konsumsphäre erscheint dem Individuum der bürgerliche Reichtum als imposante Warensammlung. Sie gilt als eine Welt von Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Befriedigung von Bedürfnissen. Wenn man von den Schranken seiner Zahlungsfähigkeit absieht, erscheint der Kunde als Souverän, umworben von Angeboten. Sie gleichen dann einer "reifen Frucht, welche ebenso sehr selbst entgegenkommt, als sie genommen wird" (Hegel 3, 271). Der Konsum sorgt für eine Erhöhung des Individuums. "Die gesamte Gesellschaft ist in ihrer Nähe, wohlwollend und heilbringend. Aufmerksam. Sie denkt an Sie, persönlich. Wie kann dabei ein Unwohlsein bestehen bleiben? Welche Undankbarkeit." (Lefebvre, 151)

In der Sphäre der Arbeit erscheinen die geforderten Leistungen als Möglichkeit, zu zeigen, was in einem steckt und wozu man fähig ist. In der subjektivierenden Herangehensweise stehen nicht die gesellschaftlich abschaffbaren oder minimierbaren Zumutungen kapitalistischer Erwerbsarbeit im Vordergrund der Aufmerksamkeit, sondern die quasi sportliche Herausforderung, die eigene Tüchtigkeit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. In den Hintergrund rücken die Arbeitsbelastung. Ebenso der Zwang, Arbeit zu suchen und anzunehmen, bei jenen, die nicht über andere Quellen des Lebensunterhalts verfügen. Groß geschrieben werden die Gelegenheit und das Angebot, die eigene Nützlichkeit und Brauchbarkeit demonstrieren zu können.

Im Horizont eines Gerechtigkeitsbewusstseins erscheinen die Arbeitseinkommen oder die auf Märkten erzielbaren Preise als Entsprechung zur Leistung, also als Anerkennung der Anstrengung des Subjekts. Es meint insofern, zu seinem Recht zu kommen und Gerechtigkeit walten zu sehen. Die Bewusstseinsform "Gerechtigkeit" orientiert die Aufmerksamkeit auf die (Verteilungs-)Frage, wer Zumutungen mehr oder weniger als andere ausgesetzt ist, nicht auf die Frage, was gesellschaftliche Ursachen für diese Zumutungen sind und wie sie sich überwinden lassen.

Das Individuum übernimmt für sich selbst "Verantwortung". Sein Vertrauen gilt mittlerweile gerade in ökonomisch turbulenten Zeiten primär weder der Ökonomie noch dem Betrieb, sondern den eigenen Kompetenzen. Meinungsumfragen zeigen regelmäßig düstere Ansichten über die allgemeine Lage und vergleichsweise optimistische Bewertungen der persönlichen Situation. Das moderne bürgerliche Subjekt trainiert die "Coolness", sich nur auf sich selbst verlassen zu können. Im Zentrum einer "qualitativen Befragung von Vertrauensleuten, Betriebs- und Personalräten aus Produktion und Dienstleistung" (Detje, Kawalec, Menz u.a., 78ff) steht "das Selbstbewusstsein, mit den eigenen Kompetenzen auch andernorts unterkommen zu können. Sicherheit geben auch die Familie, soziale Netzwerke und auch Ersparnisse. Und wenn es hart auf hart kommen sollte, ist man immer noch in der Lage, den eigenen Lebensstil veränderten Verhältnissen anzupassen, im Zweifelsfall Genügsamkeit an den Tag zu legen."



Umgekehrte Teleologie

Im pragmatischen Verständnis des Geschäfts- und Erwerbslebens erscheinen dessen Momente (Geld, Lohnarbeit, "Arbeitsplatz" u.a.) als Mittel der Individuen. Die dem Nutzen gemäß Handelnden "bedienen sich ­... der Verhältnisse, in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen Interessenkalküls, ihre Heteronomie das Medium ihrer Disposition als autonome Utilitaristen, ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie." (Prodoehl, 131) Wir haben es hier mit "dem Elend jenes sog. Realismus" zu tun, "der, indem er die Verhältnisse für sich beansprucht, ihnen verfallt" (Werner Hofmann).

Die Selbstauffassung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als ihr Leben führende Subjekte verdankt sich einer Verkehrung: Die Form des freien Entschlusses wird einem von ihr materialiter unterschiedenen Prozess und Inhalt übergestülpt. "Nicht nur durch seine Pläne lässt sich der Alltagsmensch lenken. In der Mehrheit der Fälle muss er sich der Logik der Dinge überlassen, seine Pläne zeitweilig oder endgültig aufgeben, er muss sich von den Ereignissen treiben lassen. Möglicherweise kann er dem von ihm unabhängig sich dahinwälzenden Strom der Ereignisse etwas hinzufügen, während er selber letzten Endes 'Mitgestalter' dieser ihm entgegenwirkenden Tendenz ist. Dieses passive 'Machen' verfügt über eine eigenartige 'Reflexivität'. Der Mensch hat das Gefühl, als würde das, was er eben macht, sein eigen, und er fasst das Endergebnis, das sich aus den Dingen ergibt, nachträglich als sein eigenes, gewolltes Ziel auf. In diesem Prozess stellt der Mensch nachträglich die Ziele eines früher zustandegekommenen Ergebnisses bereit. Seine Mitwirkung ist ein setzender Akt, wodurch gleichzeitig Ziele untergeschoben werden. Das durch Praxis gelenkte Bewusstsein arbeitet also mit einer umgekehrten Teleologie. Nicht die im Vornhinein festgelegten Ziele werden verwirklicht, sondern der Prozess des 'Machens' bringt den Zweck hervor. Diese umgekehrte Reihenfolge funktioniert freilich meist unbewusst. Die Selbsttäuschung, das System der spontanen Ziele ist das falsche Bewusstsein der Notwendigkeit, so dass der Mensch als seines erkennen kann, was er unter dem Druck äußeren Zwanges vollbringt." (Almási, 207)

Die Zumutungen der kapitalistischen Erwerbsarbeit erscheinen als Durststrecke, die zu bewältigen ist um eines vom Individuum angestrebten Ziels willen. Die anderen Imperativen gehorchende kapitalistische Erwerbsarbeit wird als den Individuen letzten Endes dienlich verstanden, als Schaffung von Arbeitsplätzen für die Arbeitenden. Die abverlangten Leistungen gelten aufgrund der durch das Arbeitsentgelt möglichen Konsumchancen als eine Veranstaltung, in der die Arbeitenden letztlich auf ihre Kosten kommen.

Die kapitalistische Erwerbsarbeit versuchen die Arbeitenden - soweit irgend möglich - als Chance aufzufassen, bestimmte konkrete Fähigkeiten, Sinne und subjektive Interessen unterzubringen. Um die Arbeit aushalten und durchstehen zu können, bedarf es oft einer Uminterpretation, Nebenattribute der jeweiligen Erwerbsarbeit werden nun für den Arbeitenden wichtig, damit er an ihr subjektiv ein Interesse findet. "Die Besondrung der Arbeit, die gesellschaftliche Auseinanderlegung derselben in eine Totalität besondrer Zweige (erscheint) auf seiten des Individuums so, dass seine eigene geistige und natürliche Besonderheit sich zugleich die Gestalt einer gesellschaftlichen Besonderheit gibt." (Marx Grundrisse, 911)

Genüsse, die dem Individuum nötig sind, insofern sie ihm erlauben, die Belastungen und Zumutungen durchzustehen, (miss-)versteht es als Ziel, für das sich jene Belastungen und Zumutungen schlussendlich doch lohnen. Die Arbeitenden müssen sich selbst für die Erbringung der Arbeitsleistung motivieren und auf irgendeine Weise einen subjektiven Zweck finden und als individuell wesentlich empfinden, für den sie die Arbeit erbringen. Wo das Aversive an der Arbeit dominiert, heißt Subjektivierung nun, sich mit der Arbeit Geld dafür zu verschaffen, die Arbeit vergessen zu können. Der Arbeiter "bedarf dringend einer Aufheiterung, er muss etwas haben, das ihm die Mühe der Mühe wert, die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich macht" (MEW 2, 331). Engels' Thema an dieser Stelle ist der Alkohol.



Fremdbeschuldigung und Selbstbezichtigung

In dem Maße, wie all diese Subjektivierung dem Individuum nicht oder nicht ausreichend gelingt, betätigt es sich als Subjekt, das andere als Schuldige ausmacht. Sie seien dafür verantwortlich, dass es nicht zeigen kann, was in ihm steckt, und dafür, dass das ihm gerechterweise Zukommende nicht zufließt (sondern jenen, die es sich nicht "verdient" haben). Das sich so betroffen fühlende Individuum kommt in volle Fahrt unter Subjektsegeln, indem es Verstöße gegen die Gerechtigkeit und unlauteren Wettbewerb beklagt, aufgrund derer es sich nicht als Nutznießer dessen verstehen kann, was ihm - wenn alles gerecht ablaufen würde - zustünde.

Nicht mehr die spezifischen Ursachen für die kapitalistischen Strukturen des Geschäfts- und Erwerbslebens erscheinen, sondern eine unspezifische Außenwelt. In der Vorstellung von ihr vermischen sich so disparate Momente wie das schlechte Wetter, Krankheiten und gesellschaftsformationsspezifische Phänomene. Diese "Außenwelt" erscheint vom Standpunkt der subjektiven Innenwelt als ein Konglomerat von Problemen. Das Individuum avanciert zum tüchtigen Subjekt, wenn es sich auf die Zumutungen der Welt "realistisch" einstellt und die Maxime "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangemessene Kleidung" ausweitet.

Die Versubjektivierung umfasst einen Umgang mit der "Außenwelt", der das Sich-Einfinden ins Gegebene einerseits als Tribut auffasst, den man der Realität nun einmal zu zollen hat. Andererseits gilt dieser Tribut als Bedingung für die Existenz der "trotz allem" möglichen Subjektivität. Als großes "Trotzdem" nimmt sie die Außenwelt als Abhebungshintergrund für das eigene Gelingen und als Ansporn, an positiver Aufmerksamkeit für sich selbst nicht nachzulassen. Man hat es "von außen" schwer genug. Da heißt es, subjektive Gegenkräfte zu mobilisieren, nicht gegen irgend etwas in der Außenwelt, sondern dafür, es mit ihr aushalten zu können und an positiver Selbstsorge es nicht fehlen zu lassen. Zu den anderen Varianten, sich als Subjekt aufzufassen, gesellt sich das defensive Bemühen des Individuums, sich selbst als Subjekt zu bewähren. Immerhin lässt es in seiner Aufmerksamkeit für sich, in seiner Selbstfürsorge und in seinem Beistand gegenüber sich selbst nicht nach. All dies ermöglicht, den objektiv deprimierenden Belastungen und Anforderungen gegenüber wenigstens dergestalt Subjekt zu sein, dass man sich von ihnen nicht "unterkriegen" lässt.

Die positive Assimilation der eigenen individuellen Existenz in der Welt fasst sich nach Möglichkeit zusammen in einem individuellen Gesamtkunstwerk, das sich Charakter oder Lebensstil nennt. Die Subjektivierung beinhaltet hier die imaginäre Transformation der Gegensätze und Schranken, in denen das Individuum in der Welt steht, zu Grenzen, die mit denjenigen seines Charakters identisch sein sollen. Was man in der Welt ist, möchte man in dieser Form der Subjektivierung als zu seinem Charakter oder Lebensstil passend oder ihm entsprechend, als dessen Ausdruck oder Attribut sich zurechtlegen. Die Beschränkung gilt dann als Kompetenz und Zuständigkeit.

Ein erstes Problem ergibt sich, insoweit das Individuum keinen prägnanten Charakter zu entwickeln vermag, es ihm an persönlicher Assimilation des Gegebenen mangelt und es "farblos" bleibt. Das Individuum vermag dann im Extrem so recht niemand anderen und auch sich selbst nicht von seiner Persönlichkeit zu überzeugen. Ohnehin ist das, was dem einen Individuum recht ist, dem anderen Individuum billig. Die Eindrehung in die jeweilige Partikularität und deren Ausstellung als Charakter trifft auf andere ebenso zustande gekommene, aber inhaltlich anders ausfallende Charaktere. Daraus folgt ein zweites Problem des Individuums, das die Subjektivitätsform "Charakter" betrifft. Insofern jedem Charakter qua Selbstabrundung ein Moment von Allgemeinheit oder ein Überschuss über die Partikularität eigen ist, fallt es nicht schwer, wenigstens am jeweils anderen Charakter das Stilisierte und Angemaßte mit mehr oder minder Scharfsinn aufzuspüren. Ähnlich bei der Selbstbescheidung. Was dem einen als realistische Bescheidenheit und als gekonnter Minimalismus, der aus wenigem viel macht, erscheint, gilt dem anderen als Armutsverwaltung und deren Beschönigung. Was dem einen als Arbeitsamkeit erscheint und als positiver Charakterzug gilt, mutet dem anderen als Strebertum an. So ist für unendliche Zerwürfnisse zwischen den verschiedenen Charakteren gesorgt.

Bleibt trotz aller subjektiven Aufbereitung und kreativen Interpretation die eigene Existenz frustrierend, so muss dies keine Infragestellung der Subjektivierung nach sich ziehen, sondern kann gerade auf ihrer Grundlage zu einer neuen Stufe der Subjektivierung motivieren. Man muss das Ziel des Charakters und des Lebensstils nicht fallen lassen, wenn die Bemühungen in dieser Perspektive subjektiv nicht befriedigen, sondern kann aus Ursachen, die außerhalb des Bereichs der eigenen Einwirkungsmöglichkeiten liegen, aber die eigene Person betreffen, sich an der Entfaltung des optimalen Charakters gehindert sehen.



Der Umgang mit sich

Ein neues Feld eröffnet sich der Subjektivität im Umgang mit den eigenen Charakterdefiziten und mit dem eigenen Mangel an Selbstbewusstsein. Für sie könne man nichts. Sie seien nicht durch bloße Anstrengung und guten Willen zu überwinden. Vielmehr sehe man sich selbst und vor allem andere zu einem guten Umgang mit diesen Grenzen aufgerufen. Oder zu langwieriger therapeutischer Arbeit. Die die eigene Psyche betreffenden Mängel werden dafür verantwortlich gemacht, dass das Individuum nicht so könne, wie es wolle und wie es ihm eigentlich entspreche.

Das Ideal des Subjekts, das Individuum möge mit allem umgehen und alles verdauen können, und die Annahme, dies bilde die hinreichende Bedingung für seinen Erfolg, dieses Ideal und diese Annahme kommen nun ex negativo ins Spiel. Das Individuum teilt sich in zwei Gestalten - das defiziente Sorgenkind und das Subjekt, das sich zu dessen Problemen verhält. Subjekt sein heißt nun, sich um seine Probleme, Defizite oder Symptome zu kümmern. Der Leidende nimmt sich dazu Zeit und verlangt seiner sozialen Umwelt Rücksicht und Unterstützung ab. Hier bietet sich vielerlei Anlass für Spekulationen, für Ärger und für Vorwürfe des Inhalts, wie gut man Subjekt sein könne bei angemessener Rücksicht und Hilfe durch andere. Umgekehrt wacht "die Gesellschaft" darüber, ob der Leidende die Auszeit, die zu nehmen er sich berechtigt sieht, auch recht "produktiv" nutzt, um an "seinen" Problemen zu arbeiten.

Zur Subjektivierung gehört die Interpretation der "Defizite" der eigenen Subjektivität als Resultat mangelnder Ausstattung des Individuums mit Eltern, die es an einem für das spezielle Subjekt und seinen Charakter förderlichen emotionalen und geistigen Biotop hatten fehlen lassen. In der Fahndung nach entsprechendem elterlichen Fehlverhalten und Defiziten geht es immer um einzelne Individuen, deren Handeln oder Nichthandeln mit allgemeinen Strukturen der Gesellschaft wenig zu tun habe. Die Subjektivierung wird zur Substantivierung. Die Mängel der individuellen Ausstattung führen nur insofern über die Grenzen des Individuums hinaus, als die Erklärung andere Individuen in den Blick nimmt - die Eltern. Deren problematisches Handeln, das verantwortlich sei für die heutige eigene Misere, missrät zu etwas, das entweder zu einer unendlichen Weitergabe des Staffelstabes der Ursache (von den Eltern auf die Großeltern, Urgroßeltern usf.) führt oder sich letztlich aus sich selbst heraus erklärt. Und das meint Substanz: Sie führt alles auf sich zurück und ist Ursache ihrer selbst.

In Schuld- und Schamgefühlen hält das Individuum daran fest, dass seine Existenz in der Welt seinen defizienten Eigenschaften als Subjekt entspricht und die materialiter beklagenswerten Ergebnisse nichts über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagen, sondern über individuelles Versagen. Dem Druck, ein starkes Subjekt zu sein, dem das Individuum unterliegt, kann es auch bei realiter schwachen Subjektkompetenzen nachkommen. Allerdings dann so, dass es nicht ein reales Vermögen ins Spiel bringt. Vielmehr kehrt das Subjekt nun die Vorstellung vom Subjekt gegen sich selbst. So kann es sich wenigstens ex negativo in der (Selbst-)Anklage als Subjekt fühlen, "In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren." (Nietzsche I, 537) Es "übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht gibt" (ebd., 542). Wir haben es mit "dem Triumph des Asketen über sich selber" zu tun und mit seinem "dabei nach innen gewendeten Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet" (ebd., 1086).

Seinen Schuld- und Schamgefühlen sowie seinen Versagens- und Versäumnisängsten versucht das Individuum als Subjekt durch eine Uminterpretation seiner Wirklichkeit zu entgehen. Bei gehörigen Anstrengungen zur imaginären Transformation des dem Subjekt gegenüber Heteronomen in die ebenso eigensinnige wie selbstwertdienliche Vorstellung des Individuums vermag es sein Selbstbild, ein Subjekt zu sein, vorerst noch zu retten. Es legt sich die objektive Realität nun nicht mehr unter intersubjektiven, sondern unter sehr subjektiven Kriterien als Entsprechung zu seinen Vorstellungen zurecht. Diese Abweichung von gesellschaftlich gängigen Auffassungen kann zunächst die partikulare und idiosynkratische Manier bilden, in der das jeweilige Individuum die Anforderungen an es und seinen vergleichsweise problematischen Stand in der Konkurrenz sich so übersetzt und zu eigen macht, dass es kein Hindernis für das Mittun findet. Zugleich ist mit dieser Abweichung von intersubjektiv geteilten Interpretationen immer die Möglichkeit einer Trennung oder gar Entgegensetzung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem realistischen Bewusstsein von der Wirklichkeit angelegt. Das Extrem der Subjektivierung bildet jene Eindrehung des Selbstbewusstsein und des individuellen Bewusstseins, die es nicht dabei bewenden lässt, die Realität durch ein anderes Bewusstsein von ihr anzuerkennen. Die beliebte Manier des wirklichen oder vermeintlichen Nonkonformisten, sich seine problematische Lage dadurch schönzureden, dass er, "wenn er auch nicht frei sei, doch durch seine unbestreitbare Eigenheit für alle Leiden entschädigt werde" (MEW 3, 296), führt unter besonderen Bedingungen auf eine abschüssige Bahn. Im psychisch problematischen "Fall" vermag das Individuum nur Subjekt zu sein, indem es die Kohärenz seines individuellen Bewusstseins auf Kosten der Teilhabe am intersubjektiv verständlichen Austausch gewinnt. Das nun hauptseitig partikular-idiosynkratische Bewusstsein und Selbstbewusstsein kann sich von dem gesellschaftlich vorfindlichen, allgemeine Verkehrsfähigkeit erlaubenden Bewusstsein objektiv nur in engen Grenzen emanzipieren. In der psychisch kranken Subjektivität erscheint das störende Sichgeltendmachen des allgemein verbindlichen Bewusstseins im privaten Bewusstsein als Resultat mangelnder subjektiver Anstrengung. Diese Interpretation verleitet zu gesteigertem Aufwand an Eindrehung der nun sehr eigenen Subjektivität in sich. Der Wahn bildet einen Selbstheilungsversuch, der Entlastung von der Störung des verwilderten Subjektivismus durch die Außenwelt verspricht - um den Preis der weiteren Entwirklichung des Individuums.



Literatur

Almási, Miklós: Die Phänomenologie des Scheins. Die Seinsweise der gesellschaftlichen Scheinformen, Budapest 1977.

Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankf. M. 1979.

Detje, Richard; Kawalec, Sandra; Menz, Wolfgang u. a.: "Wir können uns wehren - wir tun es nicht": Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, H. 95, Frankf. M. 2013.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke, hg. u. Moldenhauer, Eva; Michel, Karl Markus, Frankf. M. 1970.

Lefebvre, Henri: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankf. M. 1972.

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin DDR 1974.

Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, Ed. Schlechta, Darmstadt 1997.

Prodoehl, Hans Gerd: Theorie des Alltags, Berlin 1983.

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Rezens

Lisa Mittendrein: Solidarität ist alles, was uns bleibt. Solidarische Ökonomie in der griechischen Krise.
AG SPAK Materialien der AG SPAK - M275, 2013, 206 S., ca. 16 Euro

Menschenmassen und die Gewalt der Polizei, der Armee, von Militanten und Milizen. Die wehenden Fahnen der Nation. Rufe nach der "internationalen Gemeinschaft". Arbeit, Freiheit und Demokratie! Weg mit den korrupten Politikern! So gut leben wie im Westen! So zirka sieht Revolution im Fernsehen aus.

Lisa Mittendrein gräbt da in einer unprätentiösen Untersuchung ein Stück tiefer. Sie fragt am Beispiel Griechenlands, ob sich da nicht auch Alternativen zum Kapitalismus abzeichnen. Ihr Interesse gilt der "Solidarischen Ökonomie in der griechischen Krise". Deren bunten und widersprüchlichen Projekten und Experimenten liege ein Menschenbild zugrunde, das "im Widerspruch zum rationalen, egoistischen 'homo oeconomicus' der orthodoxen Ökonomie" steht und als "zentrale Handlungslogiken ... Kooperation, Solidarität, Gemeinwohlorientierung und das Streben nach Glück" habe.

Das Gewimmel der konkreten Erscheinungen des Solidarischen und Alternativen strebt die Autorin dann aber mithilfe von Luise Gubitzers sehr horizontalem Sektorenmodell der Gesamtwirtschaft als Teile der gegebenen staatlich-ökonomischen Ordnung zu erfassen. Diese avanciert so unversehens zu einer grundsätzlich über der Ökonomie und Krise stehenden Struktur, in der kapitalistische Praktiken von solchen, die "darüber hinaus weisen", überwunden werden können. Eine Sicht, die dem Begriff Alternative viel von seiner Schärfe nimmt.

Informativ und klar strukturiert sind jedoch die Angaben über die Krisenentwicklung in Griechenland: Wie sie damit begann, dass "die Märkte" den Glauben an die Fähigkeit des griechischen Staats, seine Schulden zu tilgen, verloren, und wie seitdem Zug um Zug große Teile der "unrentablen" Ökonomie lahmgelegt und in einer schaurigen Folge von Grausamkeiten große Teile der Bevölkerung pauperisiert wurden. Deutlich, wenn auch nicht klar ausgesprochen, wird auch, dass der politisch-ökonomische Kampf gegen das Personal von Politik und Ökonomie erfolglos blieb, ja zum Teil ins faschistische Fahrwasser geraten ist. Die großen Streiks der Gewerkschaften, die Massendemonstrationen, die Besetzungen von zentralen Plätzen in den Städten und die Straßenschlachten mit der Polizei um die Verhinderung von Entlassungen, Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, Streichungen von sozialen Leistungen usw. usf. konnten nichts ausrichten.

Schuld daran ist nach der Diktion des Berichts die Übermacht der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF und ihrer Kollaborateure im Land bei der Durchsetzung ihrer "falschen Politik". Der vorausgesetzte Glaube, dass die Alternative zu deren Maßnahmen bloß in einer anderen Gestaltung von Politik, Staat und Geld/Kapital machbar ist, zeigt leider wieder den zu kurzen Horizont. - Den Staaten bleibt nicht viel anderes übrig, als für Bankenrettung und verzweifelte "Konjunkturbelebung" mit Staatsschulden die ultimative Blase aufzublähen. Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens, die maximale Vermehrung investierten Gelds, gelingt nicht mehr durch weitere Steigerung der Masse produktiver Arbeit und den Absatz auf den Märkten. Solche Arbeit nimmt dank gigantischer Produktivität ab und nicht mehr zu. Höchstprofite macht man eher noch mit Wetten auf Wetten auf Spekulationen mit dem Glauben auf hoffentlich künftig doch noch einmal eintretende reale Verwertung. Nicht mehr die Arbeit schafft und verwertet Kapital, sondern eher schöpfen Glaube und Hoffnung mit spekulativen Blasen immer noch notdürftig wachsende Geldmengen, aus denen auch die Arbeit finanziert wird. Bis Glaubenszweifel die Blasen platzen, Nationalökonomien untergehen, die kapitalistische Weltwirtschaft tiefer in die Krise schlittern lassen. (Als "secular stagnation" sickert das derzeit auch in die Mainstream-Ökonomie ein: streifzuege.org/2014/aufwachen-im-blasenland) Über die Möglichkeit global-realer Kapitalverwertung und eine einigermaßen stabile Weltordnung mit den Mitteln der Geldbeziehung ist dieses System hinweg. Das Denken von Lisa Mittendrein und ihres Umfeld in Attac bedauerlicherweise noch nicht.

Das verhindert aber nicht - und das ist schlicht anzuerkennen - die ermutigenden und aufschlussreichen Beobachtungen der Autorin, wie sich aus den großen politischen Widerstandsaktionen, vor allem aus der monatelangen Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen, ein starker Impuls für einen Nachdenk- und Diskussionsprozess und für Experimente und Initiativen der Selbsthilfe und Selbstorganisation entwickelt hat. Sie richtet auch den Blick darauf, wie aus der Not eine neue Wahrnehmung dessen entstehen kann, was denn gutes Leben ist, wie sich Praktiken von Kommunikation, gegenseitiger Hilfe und Inanspruchnahme dessen, was eins zum Leben braucht, z.b. Grund und Boden, entwickeln und mit der Macht des Staats in fantasievoller Weise zu konfrontieren beginnen. Die "Erotik des Informellen" (Kai Ehlers) wirkt, hält die Dinge in Bewegung und macht an den Grenzen des alten Denkens und der alten Ordnung hoffentlich nicht halt. Mittendrein zitiert einen Interviewpartner, der "glaubt, dass Profit Beziehungen schlecht macht, er macht sie nicht-menschlich. Also gefallt vielen Menschen die Idee, das Geld loszuwerden und menschlicher zu sein."

Vom letzten Satz allerdings distanziert sich die Autorin ausdrücklich. Sie sieht nicht den Widerspruch zwischen Mitmenschlichkeit und dem Verhältnis von "Tauschgegnern", das im Geld als dem unpersönlichsten aller möglichen menschlichen Verhältnisse (Max Weber) konstituiert wird. Das gehört zur grundlegenden Schwäche des Buchs, das theoretisch über die Idee der Wiedereinbettung der "entbetteten Markt-Wirtschaft" in die Gesellschaft (in Anlehnung an Karl Polyani) nicht hinauskommt. Bloß die Intention der Autorin und die Logik des Themas treiben den Text immer wieder über seine Grenzen.

L.G.

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"Arbeit in die Kalahari!"?*

von Stephan Hochleithner

Entwicklungsarbeit in Afrika zu leisten erscheint oft schwierig und eine nicht geringe Zahl an Projekten scheitert - doch woran? Am "Unwillen" der zu Entwickelnden? Ihrer "Faulheit", dem geringen Interesse, eine "ordentliche Arbeitsmoral" zu entwickeln? Lange Zeit wurde ein solches Verhalten im Rahmen von Rassenlehre und anderer Paradigmen einer "Mentalität der Afrikaner" zugeschrieben, eine Annahme, die mittlerweile mehrfach und eindeutig widerlegt wurde. Bestehen geblieben sind Eindrücke aus der Praxis von EntwicklungsarbeiterInnen und damit die Frage danach, wie Arbeit und Entwicklung zusammenhängen.

Die Post-Development-Theory entlarvte die Idee unilinearer sozialer Entwicklung - verkürzt gesagt - als evolutionistisch und teleologisch und Entwicklungszusammenarbeit bzw. -hilfe als Maske sich ausbreitender Westlich-europäischer Hegemonie über die Welt. Diese fundierte Kritik mündete bislang allerdings lediglich in Adaptionen bereits bekannter Strategien. Nachhaltige Entwicklung, also ein Vorgehen, das den Fortbestand der eingerichteten Projekte und der angestrebten Veränderungen auch nach Abzug der SpenderInnen und NGOs aus den Gebieten des globalen Südens gewährleisten soll, trat an die Stelle des direkten und brachialen Implementierens Westlicher Systeme. Ein arbeitskritischer Zugang dechiffriert jedoch auch diese heute oft angewandte Form von Entwicklung als paternalistisches Fördern kapitalistischer Expansion, die nicht nur das Konzept von Lohnarbeit, sondern das europäische Konzept Arbeit zu implementieren sucht. Dabei stoßen westliche ProtagonistInnen immer wieder auf strukturellen Widerstand in der Form, wie Tätigkeiten in nicht-europäischen Gesellschaften organisiert sind.

Das Beispiel der ‡Khomani verdeutlicht, wie das vor sich geht. Sie leben am Rande der Kalahari-Wüste im südlichen Afrika und bezeichnen sich selbst als Buschleute, also mit einem früher meist abschätzig verwendetem Begriff, weshalb sie offiziell als eine ethnische Gruppe der San bezeichnet werden. Wahrscheinlich gehörten die ‡Khomani zu jenen San-Gemeinschaften, die im Laufe der Jahrhunderte durch Einwanderung und Besetzung aus älteren Siedlungsgebieten immer weiter nach Norden bis in die Kalahari abgedrängt wurden. Als gesichert kann jedenfalls angenommen werden, dass sie seit etlichen Generationen im heutigen Grenzgebiet der Staaten Botswana, Namibia und Südafrika gelebt hatten, als im Jahre 1931 eben dort der Kgalagadi (damals noch Kalahari Gemsbok) National Park gegründet wurde.

Während die ‡Khomani anfangs teilweise für Hilfsarbeiten eingesetzt und dafür von den Betreibenden des Parks mit bestimmten Lebensmitteln, Tabak und Alkohol versorgt wurden, begann man sie wenig später sukzessive in die Nähe des Hauptquartiers der Parkverwaltung, in Twee Rivieren, zwangsumzusiedeln. In den 1970er Jahren wurde ihnen schließlich endgültig jedes Recht verwehrt, ihren traditionellen Lebensstil weiterzuführen, indem man ihnen Zugang zum Land des Parks verweigerte. Wo die ‡Khomani bis dahin ihre Kultur(en) gelebt, wo sie sich zuvor durch Jagen und Sammeln ernährt und darüber hinaus Arbeiten für ansässige europäische LandwirtInnen verrichtet hatten, galt nun das Paradigma europäischer Dichotomien: Natur und Menschen vertragen sich nicht.

Für die ‡Khomani begann eine Odyssee durch das Südafrika der Apartheid. Endlich landeten einige Familien als DarstellerInnen einer "Bushmann-Show" im südafrikanischen Touristenressort Kagga Kamma. Als die Gruppe 1995 den südafrikanischen Anwalt Roger Chennells kennenlernte, formierte sie sich hinter dem Klan-Ältesten Regopstaan Kruiper und ihrem Sprecher Petrus Vaalbooi: Sie strengte eine Landrechtsklage über 400.000 Hektar Parkland gegen die südafrikanische Regierung an, die schließlich außergerichtlich geregelt wurde. 2002 fand in einer feierlichen Zeremonie die Übergabe von Land an die Gemeinschaft der ‡Khomani statt. Der ‡ Khomani - und der Mier-Gemeinschaft wurden insgesamt 57.903 Hektar Land als Eigentum zugesprochen und gleichzeitig an die Parkbetreibenden verpachtet, wodurch die Nutzung des Landes durch die Vorschriften des Park-Management-Plans eingeschränkt ist und nicht zur Jagd genutzt werden darf. Davon fielen etwa 25.000 Hektar den ‡Khomani zu. Für 80.000 Hektar Parkland wurden der Klägergemeinschaft touristische Nutzungsrechte zuerkannt und die ‡Khomani erhielten darüber hinaus das symbolische und kulturelle Nutzungsrecht über etwa 480.000 Hektar.

Die ‡Khomani werden "entwickelt"

Während die ‡Khomani selbst mit dem Ergebnis der außergerichtlichen Einigung nur mäßig zufrieden waren, betrachteten es viele Außenstehende als Erfolg, und sofort wurden Entwicklungsprogramme von NGOs und SpenderInnenorganisationen implementiert. Neben einigen wenigen Bildungsprogrammen und wissenschaftlichen Untersuchungen drehte und dreht sich das Gros der Projekte um Auf- und Ausbau von Einkommensquellen durch die Fremdenverkehrsindustrie. So wurde auf dem zur touristischen Nutzung frei gegebenen Parkland eine Lodge errichtet, die - als teure Unterkunft für hauptsächlich wohlhabende (Westliche) TouristInnen - Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen soll. Während ein ‡Khomani als Führer für Wildnistouren in der Lodge angestellt ist und einige ‡Khomani Frauen in der Küche und als Zimmermädchen arbeiten, finden Gruppen von ca. je 20 San in Zwei-Wochen-Schichten Arbeit im Schaudorf nahe der Lodge. Dort stellen sie traditionelles Leben für die Gäste der Lodge nach, erhalten Verpflegung und Unterkunft (außerhalb des Schaudorfes) sowie eine kleine Entschädigung als Vergütung für ihre "Repräsentation". Zusätzlich stellen sie Souvenirs, wie Pfeile, Bögen und vor allem Ketten, her, die sie an die BesucherInnen zu verkaufen versuchen.

Da nur wenige der ‡Khomani Lohnarbeit in und um die Lodge finden (auch in der Wäscherei am Parkeingang und für den Park selbst arbeiten San), haben einige Familien kleine Stände an der Straße, die zum Park führt, errichtet, an denen sie ebenfalls selbst hergestellte Souvenirs feil bieten. Der seltene Gewinn aus diesen Straßenverkäufen wird jedoch meist sofort im nicht weit entfernten Laden in Alkohol umgesetzt.

Neben jenen ‡Khomani, die sich selbst zu den so genannten "traditionellen Buschleuten" zählen, scharen sich auch einige andere um den "politischen Führer" Petrus Vaalbooi. Sie werden von den Angehörigen der Traditionalisten-Fraktion als "Westliche" oder "Verwestlichte" Buschleute bezeichnet und versuchen einerseits ihr Auskommen durch (rare) Lohnarbeit zu bestreiten und andererseits Viehzucht auf dem restituierten Land außerhalb des Parks zu betreiben. Auch letzteres gestaltet sich schwierig, da auf diesen Farmen zwar kleine Herden Ziegen, Schafe und Rinder gehalten werden, die Betreibenden jedoch nicht über Geld verfügen, das notwendig wäre, um etwa Zäune zu errichten bzw. in Stand zu setzen, Impfungen und andere tiermedizinische Behandlungen durchzuführen oder Fahrzeuge zu unterhalten. Der Ertrag aus den Farmen reicht kaum, um die Familien der Bauern und Bäuerinnen zu ernähren, geschweige denn, um daraus ein auskömmliches Einkommen zu erzielen.

Das Scheitern der Entwicklungsprojekte in der ‡Khomani-Gemeinschaft wird von den wohlwollenden Beobachterinnen der historischen Marginalisierung zugeschrieben und von den weniger wohlwollenden darauf zurückgeführt, dass Buschleute generell schlicht "dumm, stur und faul" seien. Letzteres wird vor allem mit der durchaus hohen Zahl an Diebstählen und der immer gegenwärtigen Gewalt untermauert. Hinzu kommen die hohe Rate an AnalphabetInnen und der generell sehr niedrige Stand an westlicher Bildung. Doch vor allem trägt dazu bei, dass ‡Khomani dazu tendieren, zu spät oder gar nicht an ihren Arbeitsplätzen zu erscheinen oder diese frühzeitig oder scheinbar ohne Grund zu verlassen und generell keine "Arbeitsmoral" an den Tag zu legen. Und genau hier liegen Dreh- und Angelpunkt von westlicher (Fehl-)Interpretation und der Naturalisierung europäischer Vorstellungen: Arbeit ist eben kein universelles Konzept!

Arbeit in die Kalahari!

Durch das Einfrieden des von den ‡Khomani genutzten Landes im Rahmen der Einrichtung des Kgalagadi Transfrontier Parks fand ein Prozess statt, den Karl Marx ursprüngliche Akkumulation nannte. Durch die Enteignung von zuvor gemeinschaftlich genutztem Land, so Marx, werden die Produzierenden von ihren Produktionsmitteln getrennt und Kapital geschaffen. Zwar wurde das Land der ‡Khomani durch die Einfriedung zu Zwecken des Naturschutzes nicht in Privateigentum umgewandelt - wie es bei den insbesondere von Karl Polanyi in diesem Kontext besprochenen Enclosures in England ab dem 16. Jahrhundert der Fall war - doch die ‡Khomani wurden ihrer ideellen und materiellen Lebensgrundlage beraubt. Der Staat (als Wahrer der Kapitalsicherheit) verwandelte das Land in öffentlichen Besitz, auf den der Staat nur selektiv privaten Zugriff gewährt, zum Beispiel Benützungsentgelt zahlenden TouristInnen und anderen profit- oder zumindest umsatzgenerierenden Unternehmungen. Dadurch wurde zum einen Eigentum als System von Zugang und Ausschluss implementiert, ein Konzept, das zum Prinzip der Nutzungsorientierung in der Gesellschaft der San in Opposition steht. Zum anderen wurde so den ‡Khomani das traditionelle Nutzen unmöglich gemacht, zumal viele von ihnen bis zu ihrer "Naturalisierung" im Zuge der außergerichtlichen Einigung staatenlos, also nicht einmal StaatsbürgerInnen Südafrikas, waren.

Der Grundlage ihrer traditionellen Lebensweise beraubt, blieb den ‡Khomani nichts außer ihrer Arbeitskraft, die sie fortan verkaufen mussten - ob als LagerarbeiterInnen in Johannesburg oder als SchaustellerInnen in Kagga Kamma. Das ist freilich nichts Neues, denn im Zuge der Ausbreitung des Kapitalismus seit seinen Anfängen und insbesondere durch Kolonialismus und Neo-Kolonialismus stand die Einfriedung von gemeinschaftlichem Land immer am Beginn der Kapitalakkumulation. Doch was bei den ‡Khomani noch hinzu kommt und den falschen Eindruck, sie wären faul, dumm und stur, erwecken oder verstärken könnte, ist die Art und Weise, wie Aktivitäten in der Gesellschaft der ‡Khomani organisiert sind.

Während das europäische Konzept Arbeit alle menschlichen Aktivitäten mittels dreier Dichotomien in produktive / nicht-produktive, anstrengende / nichtanstrengende und unfreiwillige / freiwillige Tätigkeiten unterteilt, ist diese Einteilung in der Gesellschaft der San schlicht nicht strukturell verankert, insbesondere nicht der (geschaffene) Gegensatz zwischen produktiv und nicht-produktiv. Arbeit ergibt sich in europäischen bzw. Westlichen oder Verwestlichten (und durchaus auch anderen) Gesellschaften aus eben diesen Dichotomien als Kombination der erstgenannten Prämissen: Arbeit ist, was produktiv und anstrengend ist und/oder unfreiwillig verrichtet wird.

Die Art und Weise, wie Tätigkeiten in der Gesellschaft der San traditionell organisiert sind, steht dazu in gewissen Teilen in Kontrast. Freilich haben der Begriff Arbeit sowie das Konzept und die Dichotomien dahinter bereits Eingang in den Alltag der ‡Khomani gefunden, jedoch noch nicht in die gesellschaftlichen Strukturen. So werden Tätigkeiten weiterhin tendenziell nicht anhand von Gegensätzen und besonders nicht anhand eines (materiellen) Wertes ihrer Ergebnisse strukturiert.

Die Entwicklungsprojekte, die auf die Restitution des Landes an die ‡Khomani folgend implementiert wurden, trugen mit ihrem Fokus auf die Etablierung von Lohnarbeit also immens dazu bei, das traditionelle Wirtschaftssystem der San zu zerstören - was freilich Folgen für das gesamte soziale System hat. "Kulturelle" Projekte, wie ein Museum oder die Förderung von San-Kunst, erscheinen in diesem Licht ebenso sinnlos wie destruktiv: Gesellschaftliche Besonderheiten - wie bestimmte Rituale, darstellende Kunst oder zum Beispiel die berühmten Fertigkeiten im Spurenlesen - sind keine Resultate zielgerichteter Anstrengungen im Sinne eines "Buschmann-Brandings". Sie sind integraler Teil der Gesellschaft und somit auch untrennbar mit dem Modus der Tätigkeitsorganisation verbunden sowie endlich mit der Art und Weise der Nutzung von Land.

Zweifelsohne ist es (auch) für die ‡Khomani unmöglich, sich der Globalisierung mit all ihren Facetten zu entziehen, obgleich dies manche ProtagonistInnen, vor allem in der traditionellen Fraktion der Gruppe, fordern. Eine Rückkehr zu einer Lebensweise, wie sie vor der Einfriedung durch den Nationalpark gepflegt wurde, erscheint in diesem Zusammenhang unmöglich und das Streben danach restaurativ. Dennoch wird den ‡Khomani, auch und besonders durch Entwicklungsprojekte, die Möglichkeit verweigert, selbst darüber zu entscheiden, wie sie der Globalisierung begegnen wollen. Während der Kapitalismus den Globus beinahe vollständig erobert hat, dringt er nun weniger in die Breite, sondern immer aggressiver in die Tiefe vor, wozu das Konzept von Entwicklung und alle damit verbundenen Unternehmungen massiv beitragen. Die gesellschaftlichen Charakteristika der San werden der Arbeitslogik und dem Wertesystem des Kapitalismus unterworfen und dadurch nivelliert. Das Recht auf Selbstbestimmung der San wird durch Entwicklungsprojekte untergraben und mittels eines altbekannten Scheinaltruismus zur Farce. "Arbeit in die Kalahari!", könnte das Motto dieser Entwicklungs-Kampagne lauten, die erfolgreich dabei ist, die Kultur der ‡Khomani auszulöschen.

(*) Der Text basiert auf dem Vortrag "Faul, dumm und stur"? Arbeit und Entwicklung in Afrika, gehalten im Rahmen einer Veranstaltung des ÖIE in Villach, 2013.

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Rückkopplungen

Artpop

von Roger Behrens

Lady Gaga - schon der Name gilt als Programm: Eine verrückte, durchgeknallte, tolle, irre, wilde Frau, die sich trotzdem als ehrbare, vornehme Dame anreden lässt. Charakterisieren soll das die Doppelfigur von vermeintlich reflexiver Selbstironie und ironischer Selbstreflexion, nach der die Maske des Stars geformt ist: Eine starke Persönlichkeit, die mit jeder Bewegung, jeder Geste und jeder Performance, so sehr sich darin auch Verzweiflung, Erbärmlichkeit und Selbsterniedrigung spiegeln mögen, zu einer noch stärkeren Persönlichkeit mutiert. So ist bereits der Name eine Verkleidung, beflügelt durch krude Aufstiegsphantasien: schon Ende des 19. Jahrhunderts bevorzugten weibliche Angestellte unterer Schichten als "Lady" angesprochen zu werden; in der popkulturell restringierten Alltagssprache hat sich mithin in einer absonderlichen Dynamik von Ab- und Aufwertung durchgesetzt, die auf den reizenden, tanzenden, begehrlichen etc. Körper reduzierte Frau als "Lady" zu titulieren; die Anrede "Lady" verleiht der Prostituierten in ihrem würdelosen Job wenigstens die Illusion von Würde. Auch der Name Lady Gaga ist solche soziale Mimikry, und mehr noch: als Etikett einer fixen Idee des lebendigen Stars, als Emblem einer zur Künstlerin stilisierten Figur fungiert der Name überdies als perfektionierte Strategie der Mode, Schein und Sein, Subjekt und Objekt wie ein Vexierbild changieren zu lassen.

Insofern ist der Name tatsächlich Programm, nämlich Vorschrift. Und das Gesamtpaket, das die 1986 geborene US-Amerikanerin Stefani Germanotta als Lady Gaga zu verkörpern sich zum Beruf gemacht hat, ist gleich ein ganzes Bündel an Vorschriften, die, wie bei popkulturindustriellen Produktionen dieser Größenordnung üblich, nichts dem Zufall überlassen und strikt der Logik des Marktes folgen. So war es schon mit Marilyn Monroe, James Dean und Elvis Presley, so war es auch mit Jannis Joplin und Jimi Hendrix, so war es mit Pink Floyd und den Sex Pistols. So war es schließlich mit Michael Jackson, Madonna, Metallica und Nirvana, mit Pink und Eminem, mit Britney Spears und Christina Aguilera. Und so ist es nun mit Lady Gaga. Das Neue an ihr ist indes: dass nichts neu ist - und eben das permanent hysterisch überboten wird. Aus der kulturökonomisch bewährten Gleichung "famous for being famous" macht Lady Gaga die hypertrophe Masche "famous for being famous for being famous for being famous ..." - sozusagen ein popsymbolischer Leerlauf, die hektische Hamsterradversion von Gertrud Steins bedächtig-meditativem Mantra "Rose is a rose is a rose is a rose" ("Sacred Emily", 1913). Selbstverständlich hieß das Debüt-Album von 2008 "The Fame". Dass das Time-Magazin Lady Gaga 2010 zur wichtigsten Künstlerin der Welt wählte, erscheint dann nur noch als reine Formsache.

Was vor einem halben Jahrhundert als Pop Art begann, kulminiert nun im "Artpop". So heißt das neue Album von Lady Gaga, erschienen im November 2013. Fünfzehn Songs sind zu hören, die das Management schon im Vorwege als "wahnsinnig großartige Aufnahmen" anpries; tatsächlich ist die Musik brillanter Durchschnitt, gefällige Konsens-Tanzmusik, gut und aufwändig produziert (u. a. mit im Team: David Guetta und Will.i.am). Die Songs heißen "Aura" oder "Sexxx Dreams" oder "Swine" oder "Fashion!" oder "Dope". Und zum Schluss gibt es auch noch brav "Applause". Inhaltlich wird mit vermeintlich brisanten Themen kokettiert: hier ein bisschen Genderkritik, dort ein bisschen Konsumkritik, manchmal auch beides zusammen plus dem obligaten, allgemeinen Toleranz-Credo, ohne das kein einziger Auftritt über die Bühne geht: "Lasst sie machen, was sie will!" hatte Lady Gaga gerade neulich Miley Cyrus mit deren Nacktaufnahmen verteidigt.

Die Musik schafft einen Raum, in dem Fans und Feuilleton in immer wieder anderen Kostümen, aber stets derselben Rolle, einen Spleen nach dem anderen vorgeführt bekommen: Ein Kleid aus rohem Fleisch, ein angemalter Schnurbart, Straps und Mieder, eine obskure Perücke etc. Wie die Musik einen einfallslosen Strom an Einfällen bietet, so sind auch die Videos als bilderarme Bilderflut gestaltet: unzählige Schnitte, unzählige Variationen des Immergleichen. Die Produktionen waren schon High Definition, als es High Definition noch gar nicht gab. Die Bühne solcher in jedem Detail hochauflösenden wie hochaufgelösten Inszenierungen ist virtuell unbegrenzt (selbst wenn es wie im Clip zu "Telephone" ein Gefängnis ist) und schafft zugleich die Imagination konkreter, "realer", greifbarer und gelebter Unmittelbarkeit (und wieder: selbst wenn es wie im Clip zu "Telephone" ein Gefängnis ist). "Showbusiness" bekommt bei Lady Gaga eine wirkliche Bedeutung: das "Große Geschäft" der Pop Art wird in der surrealbanalen Verdrehung des Artpop zur totalen Ökonomie des Zeigens, des Vorführens. Indes: die Welt, die hier vorgeführt wird, ist kein sozialer Gegenentwurf mehr, wie ihn die Popkultur bisher in allen möglichen Versionen von subversiv bis reaktionär und naiv anbot, sondern ein affirmativer Idiotismus, eine hyperventilierende Feier des Pseudoindividuums.

Pop Art war als der letzte Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen, Avantgarde; als revolutionäres Projekt löste sie sich in einer Pluralität von Kulturen und Subkulturen auf, die zumindest temporär die Illusion vermittelten, dass dem Kapitalismus mit seiner eigenen Logik ein Schnippchen geschlagen werden könne: das versprach Pop als Lebensweise, als Lifestyle. Im Produkt Lady Gaga erscheint der Kapitalismus selbst als letzte Avantgarde; es ist der Fetischcharakter der Ware ohne jedes Geheimnis. Lady Gaga repräsentiert keine Lebensweise mehr, keinen Lifestyle, keinen Stil - das Produkt Lady Gaga ist nur noch der reine Ausdruck, Reklame für die Reklame: ein Mythos ohne Mythologie. Was als Artpop firmiert, ist keine Kunst, kein Pop, und vor allem ist Lady Gaga keine Ikone.

Brüskiert oder begeistert wird immer wieder darauf hingewiesen, wie gut Lady Gaga das postmodern genannte Spiel mit Oberflächlichkeit beherrscht. Ihre ästhetischen Strategien müssten jenseits von Fake und Authentizität, jenseits des Schönen oder Erhabenen, jenseits von Fakten und Fiktionen verstanden werden. Tatsächlich ist das aber kein Spiel, keine Ästhetik der Freiheit, sondern eine Überreizung des Obszönen, Ordinären, Pornografischen. Und streng genommen ist das nicht einmal auf den Begriff einer Ästhetik zu bringen: Hier geht es nicht um Geschmacksurteile, geschweige denn um Erkenntnis und Wahrheitsgehalt, sondern um das bloße Wohlgefallen. Aber Wohlgefallen nicht an dem ohnehin Gefälligen, sondern am Abstoßenden, Widerwärtigen, Entwürdigenden. Was Herbert Marcuse vor fünfzig Jahren in seinem "One-dimensional Man" als "repressive Entsublimierung" bezeichnete, ist hier unumwunden zum Prinzip einer Pseudoästhetik erhoben: eine auf Hochglanz gebrachte Gewaltverherrlichung.

Was den Pop einst in seinen subversiven Bemühungen vom Mainstream unterschied, war der Bruch mit der affirmativen Ästhetik, die Anstrengung, den ideologischen Schein des Ästhetizismus zu durchbrechen; Subversion hieß dabei: Irritation der Hör- und Sehgewohnheiten, Verunsicherung des Gewöhnten wie Gewöhnlichen, bisweilen sogar physisch provozierende Musik und schockierende Bilder.

Pop bewegte sich damit immer schon jenseits des modernen Gebots, die gute Kunst, das authentische Kunstwerk, wäre durch ein ausgewogenes, im Material vermitteltes Verhältnis von Form und Technik bestimmt beziehungsweise bestimmbar. In den postmodernen achtziger Jahren entwickelte sich dies in zwei scheinbar ähnliche, faktisch aber diametral entgegengesetzte Richtungen: Formal-ästhetisch versuchte der Punk, der Postpunk, Hardcore etc., auch HipHop zum Teil, New Wave sowieso tendenziell die Strategien der Subversion zu erweitern, zu Verstärken, zu verfeinern, zu verdichten, kurzum: zu radikalisieren; gleichzeitig übersteigerte sich Rock, Hardrock und schließlich Metal latent in einen technizistischen Brutalismus ("schneller, lauter, härter"). Das generierte eine Bilderordnung, die mit kalkulierter Menschenverachtung allenthalben kokettierte (insbesondere Sexismus). Lady Gaga übernimmt diese Bilderordnung, verzichtet allerdings auf die akustische Brutalität (die freilich für das Gesamtkonzept von Metal - von Heavy Metal bis Black Metal 4 wichtig war und ist); stattdessen wird die technologisch aufpolierte Brutalität mit konventioneller Musik auf ein verträgliches Reiz-Reaktions-Niveau gedrosselt.

Vom Prinzip her ist das ein Grundmechanismus der modernen Spektakelkultur, die schon im 19. Jahrhundert entsteht und sich im 20. Jahrhundert als Kulturindustrie, schließlich bis zur postmodernen Kulmination dann als Pop fortsetzt. Mit dem visuellen Konzept knüpft Lady Gaga genau hier an: dass Jeff Koons, der mit Porno-Kitsch als Künstler berühmt wurde, das Cover des "Artpop"-Albums gestaltete, ist dabei ebenso konsequent wie die Musikvideos unter der Regie von Jonas Äkerlund, der bezeichnenderweise Anfang der Achtziger Schlagzeuger der Metalband Bathory war; berühmt wurde er dann 1997 mit dem Video zu "Smack My Bitch Up" von The Prodigy. Für Lady Gaga drehte er "Paparazzi" und "Telephone". Der FAZ, die ihn als "Enfant terrible" goutiert, soll er gesagt haben: "Mir geht es immer darum, etwas möglichst stark auszudrücken, und wenn ich Gewalt zeigen möchte, mache ich es eben so gewalttätig, wie ich kann." Und: "Sobald ich mitbekomme, dass eines meiner Videos diskutiert wird, denke ich: Mein Job ist getan." (FAZ, 28.2.2012)

Das sind auch die Grundsätze Lady Gagas wie überhaupt das Credo der Creative Industries: Dass der Job getan ist, wenn das Produkt nur für genügend Aufmerksamkeit sorgte, verweist die Ökonomie des Zeigens zurück auf die kruden Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie der Arbeit. Und auch das ist Programm: das Produkt Lady Gaga funktioniert ja nur, wenn die Rolle Lady Gaga funktioniert, wenn genügend Images ins System eingespeist werden können, sodass ein medialer Konsens hergestellt werden kann, der sich über ein Sammelsurium von Berichten, Informationen und Skandalmeldungen selbst reproduziert.

Überdies bleibt das Programm allerdings bescheiden, reicht kaum in den Alltag hinein, ist höchstens ein bisschen Freizeit und Entertainment. Nicht einmal Stefani Germanotta lebt im "House of Gaga", sondern in der trostlosen, konservativen Normalität, bestehend aus Familie, Beziehung, Arbeit und noch einmal Arbeit. Art und Pop gibt es da wenig.

P.S. - Zum Weiterlesen: Dirk Stederoth, "Kulturindustrie und Musik. Willkommen im 'Haus of Gaga", in: Zeitschrift für kritische Theorie, 34/35, 2012, S. 69 ff.: Er stellt heraus, inwiefern Lady Gagas Bezeichnung ihrer Fans als "Little Monsters" - sie selbst nennt sich "Mother Monster" - auf eine Seminararbeit aus ihrer Zeit als Art-School-Studentin zurückgeht, in der sie sich mit Montaignes Essay "Über ein missgeborenes Kind" (engl. "Of a Monstrous Child") beschäftigt: Stefani Germanotta hatte hier im vom Gewohnten, also von der Normalität abweichenden Monster eine Gestalt gefunden, die sie nicht nur wie Montaigne als Gott gewollt und naturgemäß interpretiert, sondern darüberhinaus als "Prodigy", das heißt als "Wunderkind" (Vgl. ebd. S. 72 f.). Des weiteren bietet Stederoth eine luzide Kritik der im Fall von Lady Gaga freilich vorhersehbaren Feuilleton-Deutung ihrer Musikperformance als "Gesamtkunst-Werk" oder "soziale Skulptur"; polemisch bemerkt Stederoth, dass der Zusammenhang zwischen Lady Gaga und Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks oder Beuys' Idee der sozialen Plastik "ungefähr dem Zusammenhang zwischen einem Smiley und einem wirklichen Lächeln einer Person entspricht" (ebd. S. 78). - Zum Schluss zitiert Stederoth Adorno, der über den Jitterbug-Tanz 1941 in "On Popular Music" schreibt: "To become transformed into an insect, man needs that energy which might possibly achieve his transformation into a man." So hätte auch Stefani Germanotta ihre Kreativität, mit der sie sich in das Monster Lady Gaga verwandelt hat, nutzen können, um sich in einen Menschen zu verwandeln (vgl. ebd. s. 81).

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Auslauf

Ende der Vorgeschichte

von Petra Ziegler

Die Aussicht war wohl blendend. Vor gut einem Vierteljahrhundert rief Francis Fukuyama in Anlehnung an (einen allerdings stark von Alexandre Kojevèves Interpretation überfärbten) Hegel das "Ende der Geschichte" aus. Mit Marktwirtschaft und liberaler Demokratie gemäß westlichem Vorbild als "final form of human government" sah er die Gesellschaft an ihrem Höhe- und Schlusspunkt angelangt. So ganz daneben lag er damit nicht. Da hatte etwas seinen Zenit erreicht, eher schon überschritten.

Seither ging es denn auch mit wachsender Rasanz abwärts. Da mögen Phasen regional boomenden Wachstums, begleitet und induziert Von börsianischem Fieberwahn den zerbröselnden Untergrund eine Zeit lang verdecken, verhindern können sie seine Erosion nicht. Was sich da zu spätkapitalistischer Scheinblüte entfaltet, lässt jedenfalls alle Zeichen von "Vernunft" vermissen. Es ist der Ungeist, wie er zu sich kommt.

So wie wir wider bessere Einsicht fortschreiten in der Vernichtung der Lebensgrundlagen, opfern wir, was an Errungenschaften der kapitalistischen Dynamik eben erst mühsam abgerungen wurde. Der selbstzerstörerische Trend scheint unaufhaltsam, ein blindes Dahinstolpern, noch nicht einmal Tanz am Abgrund. Unsere "zweite Natur" droht uns zu erschlagen.

"Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses", schreibt Karl Marx im Vorwort zur "Kritik der Politischen Ökonomie" (MEW 13, 9), im Sinn "eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus" und sieht mit dem Ende dieser Formation die "Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" abgeschlossen.

Nicht die historische Entstehung des Kapitalismus stand im Zentrum seiner Analyse, vielmehr die logische Entwicklung des Kapitals aus seinen eigenen Gesetzen. Wenn Marx dabei mit dem Kapital (als "sich selbst verwertendem Wert") ein "automatisches Subjekt" unterstellt, dann verweist er uns damit auf die spezifische, die einzigartige Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus, die gegenüber den Individuen eine quasiunabhängige Existenz annimmt und sie quasi-objektiven Zwängen unterwirft. Damit identifiziert er "kein konkretes, bewusstes gesellschaftliches Subjekt (etwa das Proletariat), das sich selbst historisch entfalte und ... vollkommenes Selbstbewusstsein erlange", geschweige denn einen "Weltgeist" - das Marxsche Subjekt, wiewohl selbstreflexiv, bleibt blind. (Vgl. Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, 122ff) Einmal in Gang gebracht erweist sich die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion als maßlos. Angetrieben vom Zwang zur Produktivkraftentwicklung kommt sie aus sich heraus zu keinem guten Ende und führt - an ihre eigenen Grenzen gestoßen - nur immer weiter in rücksichtslose Zerstörung.

Wenn wir uns nicht abfinden wollen mit Verhältnissen, die die Menschen unterdrücken, ausbeuten, verblöden und in jeder erdenklichen Hinsicht einengen, wenn wir nicht in Resignation und Barbarei versinken wollen, dann müssen wir uns von Wert und Warenform und ihren strukturellen Imperativen befreien. Eine Assoziation freier Menschen - soviel lässt sich mit Bestimmtheit sagen - muss ohne Formprinzip und immanenter Logik auskommen, will sie ihr Miteinander bewusst und aus freien Stücken gestalten.

Marx freilich sah die materiellen Bedingungen zur Lösung dieser Aufgabe zugleich mit den Produktivkräften "im Schoß der alten Gesellschaft" heranwachsen. Selbst wenn wir ihm in diesem Optimismus folgen, dürfen wir das enge Zeitfenster nicht übersehen, ehe diese vollends in Destruktivkräfte umschlagen. Die Frage, ob der Kapitalismus als Durchgangsstadium der Geschichte vermeidbar gewesen wäre, ist dann vielleicht irgendwann beliebter philosophischer Zeitvertreib.

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AutorInnen

AG Sexualität der Gruppen gegen Kapital und Nation.
Mehr Infos: gegen-kapital-und-nation.org

Roger Behrens, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Autor von Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit (2000). www.meinhard-creydt.de

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, von 2003 bis 2011 Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Dzt. u.a. bei social-innouation.org aktiv.

Uli Frank, alter 68er und pensionierter Lehrer aus dem Ruhrgebiet. www.unverdient.de und www.unverdienbar.de

Lorenz Glatz, Streifzüge.

Barbara Grün, 1957. Apothekerin & wiss. Dokumentarin, verbringt den bezahlten Teil ihres Lebens in einer kleinen Landapotheke in der Rhön.

Stephan Hochleithner, geb. 1984. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, Dissertant an der ETH Zürich.

Stefan Meretz, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Georg Merseburger lebt in Leipzig. Ist aktiv in der dortigen Szene selbstorganisierter Projekte und bewegt sich zwischen autonomen Alltagsbewegungen und angewandter Theorie.

Franz Schandl, Streifzüge.

Annette Schlemm, 1961. Physikerin und Philosophin, lebt in Jena und betreibt das Virtuelle "Philosophenstübchen" auf www.philosophicunm.de

Sarah Scholz, 1984, studierte Spanisch, Geschichte, Politikwissenschaften und Genossenschaftswesen. Sie stolperte gegen Ende ihres Studiums über die Commons. Lebt in einem Wohnprojekt in Bonn und beteiligt sich dort an Commons-Projekten.

Hedwig Seyr, lebt seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Donau: zuletzt in Wien und in Bratislava, wo sie siebzehn Jahre Deutsch unterrichtet hat.

Christian Siefkes, lebt als Softwareentwickler und Autor in Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Beitragen statt tauschen (2008), Freie Quellen oder wie die Produktion zur Nebensache wurde im Sammelband Etwas fehlt (2013). Koautor des Gemeinschaftsblogs keimform.de zum emanzipatorischen Potenzial commonsbasierter Peer-Produktion.

Andrea Vetter, 1981, Kulturanthropologin, lebt in Berlin. Promoviert zu konvivialer Technik. Erfahrungen als Redakteurin, Lektorin, Dozentin, Projektmanagerin, Mutter. Beschäftigt sich mit Postwachstum, Feminismus und dem guten Leben, u.a. bei Attac und in der Degrowth-Bewegung.

Ulrich Weiß, 1948; trieb Leistungssport in Thüringen und in Leipzig Philosophie; dann in Berlin-Ost sehr staatsnah; seit 1990 Kapitalismuspraktikum; in Diskussionsgruppen Wege aus dem Kapitalismus suchend; in Gemeinschaft von drei Generationen; fasziniert von suchenden Leuten. "Traforat" der Streifzüge.

Maria Wölflingseder, Streifzüge.

Petra Ziegler, Streifzüge.

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IMPRESSUM

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Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
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Quelle:
Streifzüge Nr. 60, Frühling 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2014