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STREIFZÜGE/035: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 62, Herbst 2014


Streifzüge Nummer 62, Herbst 2014
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALTSVERZEICHNIS

Tomasz Konicz: Oligarchie und Staatszerfall. Ein kurzer Blick auf Ursachen und weitere Entfaltung des Ukraine-Konflikts

Franz Schandl: Democrazy!
Verächtliche Widerreden zu einem Form- und Glaubensprinzip

Emmerich Nyikos: Freedom and Democracy oder: Über die Obsoletheit der Privatperspektive im Bereich der Gesellschaft

Peter Klein: Die wahre Demokratie

Alfred Fresin: Die Volksherrschaft und ihre Wahlen.
Ein paar Anmerkungen zur Demokratie

Ewgeniy Kasakow: "Wenn erst mal alle Betroffenen mitentscheiden ..."
Zur Kritik einer beliebten linken Phrase

Franz Schandl: Freie Meinung? Freier Wille?
Eintragungen zum bürgerlichen Subjekt der Selbstbeherrschung

Home Stories: mit Beiträgen von Martin Scheuringer, Franz Schandl und Severin Heilmann

Meinhard Creydt: Fetisch Vielheit. Pluralität als Problem

Andreas Exner: Wo entstehen die neuen Menschen?
Über Keimformen post-kapitalistischer Subjektivitäten

Andreas Exner und Isabelle Schützenberger: Die souverän ernährte Stadt?
Potenziale und Grenzen des urbanen Gärtnerns (Teil II)

Dieter Braeg: Roboter und Refaschisten.
Arbeit in der Science-Fiction (Teil II)

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Rückkopplungen: Roger Behrens
Immaterial World: Stefan Meretz

Rubrik 2000 abwärts
Lorenz Glatz (L.G.)

Rezension
Julian Bierwirth (J.B.) zu Michael Barthel & Benjamin Jung: Völkischer Antikapitalismus. Eine Einführung in die Kapitalismuskritik von rechts

Martin Scheuringer (M.S.) zu Martin Gilens, Benjamin I. Page: Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens

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Einlauf

von Franz Schandl

Normal ist, dass das, was heute normal ist, in oft gar nicht so ferner Zukunft als völlig verrückt erscheint. Die Demokratie wird einstmals dechiffriert sein als die Formation, in der die Nötigung sich als Freiheit aufspielte. Und in historischen Seminaren wird man beraten, warum sich das die Leute gefallen lassen haben. So zumindest die Prognose.

Ob wir uns mit unserer harschen Attacke auf die Demokratie nicht ins Abseits schießen? Kann sein, aber was soll's. Erstens sind wir sowieso dort und zweitens werden auch die gesellschaftlichen Verhältnisse immer abseitiger. Wir sitzen im Out und sehen den Gespensterschlachten der Politik zu. Den Mund halten wir allerdings nicht.

Nicht nur democrazy erscheint die Demokratie, sondern zusehends auch als Dämokratie, eine Geisterherrschaft, die ganz bleiern über der Gesellschaft liegt und Perspektiven verstellt, weil sie stets falsche Fährten legt. Uns geht es darum, gerade auch in diesem verminten Feld Tabus zu brechen. Wir wollen also in Frage stellen, was in Frage zu stellen ist, aber nicht in Frage gestellt werden darf. Außerdem kann so wieder einmal sehr kenntlich gemacht werden, dass wir dezidiert keine Vertreter eines "lebendigen Linksliberalismus" (Robert Misik) sind. Nie und nimmer. Hier nicht verwechselt zu werden, ist uns ein inhaltliches, aber auch ein emotionales Anliegen.

Kann man wirklich gegen Demokratie und Diktatur sein? Man kann, denn wir sind. Eben deswegen, weil. Darüber mehr in dieser Ausgabe, die nicht die letzte sein wird. Die Herausgabe der Streifzüge für 2015 ist gesichert. Dank an alle, die dies ermöglich(t)en. Was aber niemanden von diversen Schöpfungen und Schenkungen abhalten sollte, im Gegenteil...

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Oligarchie und Staatszerfall

Ein kurzer Blick auf Ursachen und weitere Entfaltung des Ukraine-Konflikts

von Tomasz Konicz

Winter is coming - und in der Ukraine wird er ungeachtet aller konkreten Witterungsbedingungen sehr hart ausfallen. Zwar ließ der scheidende EU-Kommissionspräsident Barrosso Ende Oktober anlässlich der vorläufigen Einigung zwischen der Ukraine und Russland über künftige Gaslieferungen verlauten, dass nun "niemand in Europa mehr frieren" müsse, doch die Realität zwischen Lviv und Lugansk wird sich kaum dieser Beschwörungsformel fügen.

Wohl hat Kiew auch rund eine Million Tonnen Steinkohle aus Südafrika, größtenteils auf Kredit, erworben, die dem geschundenen Land über die kalte Jahreszeit helfen sollen. Aber angesichts der dennoch zu erwartenden Engpässe bei der Energieversorgung hat die Regierung in Kiew die vorgeschriebenen Raumtemperaturen in den Plattenbauten der Ukraine auf 16 Grad Celsius absenken lassen. Diese Energiekrise resultiert nicht nur aus der Unwilligkeit des aufständischen Donezker Kohlereviers, den Rest des auf Westkurs gebrachten Landes mit Kohle zu versorgen, sondern bei den monatelangen schweren Kämpfen ist in den abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk auch ein Teil der Förderkapazitäten und der industriellen Infrastruktur zerstört worden, mittels derer das zerrissene Bürgerkriegsland mit dem für die Heizperiode unabdingbaren Energieträger Steinkohle hätte versorgt werden können: Die Mehrzahl der Kohlebergwerke im Donezkbecken hat ihren Betrieb aufgrund der Verwüstungen einstellen müssen, während das Schienennetz durch zahlreiche Sprengungen und Sabotageakte stark beschädigt ist. Da polnische Steinkohle aus dem schlesischen Industrierevier sich zur Verfeuerung in den ukrainischen Kraftwerken nicht eignet, musste Kiew den Energieträger aus der südlichen Hemisphäre importieren - bei einem Transportweg von 10.000 Kilometern.


Die ukrainische Oligarchie und ihre militärische Transformation

Dieser Winter dürfte somit der ohnehin im freien Fall befindlichen ukrainischen Volkswirtschaft den Todesstoß versetzen sowie den bereits eingeleiteten Desintegrationsprozess des ukrainischen Staates weiter befördern. Der Anschein einer Stabilisierung des politischen Systems, der im Gefolge der Parlamentswahlen aufkam, dürfte im Verlauf der kommenden Monate einer erneuten inneren wie äußeren Eskalation weichen. Die Oligarchen des Landes haben es noch einmal vermocht, mit Unterstützung des Westens ihre Parteien und Seilschaften in das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, zu hieven. Die in der Bevölkerung weit verbreitete Hoffnung auf eine Besserung der verzweifelten sozioökonomischen Lage der Ukraine, die sich durch die Westintegration des osteuropäischen Landes einstellen soll, ermöglichte erst den Durchmarsch der prowestlichen oligarchischen Kräfte, wie des Blocks Petro Poroschenko und der Volksfront Arseni Jazenjuks, in der viele aus der Timoschenko-Partei Vaterland übergelaufene Politunternehmer nun ein neues Betätigungsfeld fanden. Sobald die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine enttäuscht werden wird, dürften die rechtsextremen Parteien und Gruppierungen, die bereits das politische Klima des Landes vergiftet haben, ihre Chance bekommen und zu ergreifen trachten.

Die ukrainische Oligarchie konnte ihre politischen Machtpositionen im Endeffekt in einer neuen Konfiguration zumindest zeitweilig behaupten. Diese entzieht sich aber einem simplen Ost-West-Schema, denn es waren auch ostukrainische Oligarchen, die sich auf die Seite der prowestlichen Kräfte schlugen. Prominentestes Beispiel hierfür ist Rinat Achmetow, mit einem geschätzten Privatvermögen von 12 Milliarden US-Dollar reichster Mann der Ukraine und Eigentümer des Metinvest-Konzerns. Rund 300.000 Lohnabhängige arbeiten in Achmetows Industriekonglomerat. Noch Mitte 2014 versuchte Achmetow vergeblich, "seine" Arbeiterschaft für den Kampf gegen die ostukrainischen Separatisten bei Kundgebungen und Aufmärschen zu mobilisieren. Nun muss der einstige "König des Donbass" im Exil in Kiew residieren.

Neben Achmetow und dem zum Präsidenten gewählten "Schokoladenkönig" Petro Poroschenko, der praktischerweise auch einen Medienkonzern mitsamt TV- und Radiosendern sein Eigen nennt, spielt der Oligarch Igor Kolomoisky (geschätztes Privatvermögen: zwischen drei und 6,5 Milliarden US-Dollar) eine zentrale Rolle bei dem Kampf Kiews gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ostukraine. Kolomoisky, der seinen Wohnsitz in der Schweiz hat, wurde schon im März 2014 vom ukrainischen Übergangspräsidenten Olexandr Turtschynow zum Gouverneur des ostukrainischen Oblast Dnipropetrowsk ernannt, um sogleich mit dem Aufbau des "Bataillon Dnipr" - seiner privat finanzierten Miliz - die militärische Absicherung dieser Industrieregion zu forcieren. "Gehälter zwischen 1.000 Dollar für Soldaten bis zu 5.000 Dollar für einen Kommandeur machen den Dienst attraktiv", erklärte ein Verwaltungsangestellter gegenüber ukrainischen Medien.

Somit durchläuft das oligarchische System der Ukraine krisen- und kriegsbedingt eine "militärische" Transformation. Generell gelten die ukrainischen Oligarchen als die wichtigsten Förderer des grassierenden Milizwesens und der daraus resultierenden Militarisierung der Innenpolitik in der Ukraine. Es reicht nicht mehr, sich Parteien und Politiker zu kaufen. Jeder Oligarch, der auch künftig einen Machtfaktor bilden will, legt sich nun eine Söldnertruppe zu: Achmetow finanziert laut Tagesspiegel genauso eine Miliz wie die umtriebige Julia Timoschenko, deren bewaffneter Formation sich Mitte 2014 an die 8.000 Mann angeschlossen haben sollen. Die prowestliche "Revolution" des Euro-Maidan, die angeblich mit der Korruption und Oligarchenherrschaft brechen wollte, hat somit im Endeffekt bloß zu deren Brutalisierung und Militarisierung geführt, in deren Gefolge die ukrainische Staatlichkeit in Auflösung überzugehen droht. Die Ukraine könnte sich - spätestens mit dem nächsten Krisenschub - zu einem "Failed State" entwickeln, in dem verschiedene Oligarchengruppen und -truppen ihre Machtkämpfe austragen.

Dabei stellte schon die Herausbildung des instabilen oligarchischen Systems in der Ukraine die Folge eines Zusammenbruchs dar: der Implosion der Sowjetunion und des real existierenden Sozialismus osteuropäischer Prägung. Die Mehrheit der Oligarchen entstammte der staatssozialistischen Nomenklatura, der Schicht von Funktionsträgern im Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparat, die im Zuge der desaströsen Systemtransformation in brutalen und mitunter recht blutigen Machtkämpfen eine wilde Privatisierung des Staatsvermögens ausfocht. Die Symbolfigur dieser chaotischen Transformationsperiode stellt der erste ukrainische Präsident Leonid Kutchma dar, während dessen Präsidentschaft (1994 bis 2005) das gegenwärtig in der Krise verwildernde oligarchische System der Ukraine seine Ausformung erhielt.

Charakteristisch ist hierbei die Unfähigkeit des ukrainischen Staates, seiner Funktion als "ideeller Gesamtkapitalist" - der auch mal Kapitalfraktionen in ihre Schranken weisen könnte, wenn ihr Treiben die Stabilität des Gesamtsystems gefährdet - nachzukommen. Niemals haben die staatlichen Strukturen in der Ukraine jene Eigenständigkeit erlangen können, die den Staat tatsächlich als Machtfaktor agieren lassen könnte. Stattdessen verkam der Staat zur "Beute" von oligarchischen Seilschaften und Klans. Diejenigen Oligarchen, die den Staatsapparat kontrollierten, setzten ihn zur Durchsetzung ihrer Interessen ein, etwa um missliebige Konkurrenten auszuschalten.

Die Machtmittel des Staates wurden somit routinemäßig für "außerstaatliche", vom Interesse der jeweils den Staatsapparat okkupierenden Oligarchenfraktion diktierte Zwecke instrumentalisiert. Die meisten Posten und Pöstchen im Staatssektor, die infolge der schlechten Wirtschaftslage zu den seltenen krisenfesten Einnahmequellen zählen, wurden so zwischen Seilschaften und Rackets verteilt, die diese "Beute" möglichst gut verwerten wollten.

Die Ukraine zählte folglich schon vor dem aktuellen Krisenausbruch laut Transparency International zu den korruptesten Staaten der Welt, - auf gleicher Höhe mit Failed States wie der Zentralafrikanischen Republik und Syrien. Dieser Umstand erklärt auch, wieso die formellen Strukturen des ukrainischen Sicherheitsapparats vielerorts so schnell kollabierten, um der Milizbildung Platz zu schaffen: Viele Polizisten und Offiziere waren darauf konzentriert, in den von ihnen "eroberten" Pöstchen möglichst effektiv Geld zu scheffeln - der Krisenausbruch, die Notwendigkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Milizen, hat diese "Staatsdiener" schlicht überfordert.


Der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Ukraine

Die "Verwilderung" des ukrainischen Staates setzte somit schon weit vor der aktuellen, wirtschaftlich bedingten Krise der ukrainischen Staatlichkeit ein. Die Ukraine verfügte seit der Systemtransformation niemals über ein hinreichendes ökonomisches Fundament, das nur durch Steuereinnahmen aus ausreichend breit dimensionierter Kapitalverwertung in der Warenproduktion zu gewinnen wäre. Die kurze Wirtschaftsgeschichte der unabhängigen Ukraine besteht hingegen in einer - von Stagnationsphasen und schuldenfinanzierter Blasenbildung unterbrochenen - Aneinanderreihung von Katastrophen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzten ein gewaltiger Wirtschaftseinbruch und eine massive Pauperisierungswelle ein, die sogar die sozioökonomischen Erschütterungen in Russland übertraf.

Eine Folge dieses Kollapses der staatssozialistischen Modernisierungsstrategie ist auch die wirtschaftliche Ost-West-Spaltung der Ukraine. Die westlichen und "proeuropäischen" Regionen des Landes stellen dessen innere Peripherie dar, die sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion niemals auch nur annähernd erholt hat. Der Westen ist durch Deindustrialisierung, Verelendung, infrastrukturellen Zerfall und hohe Arbeitslosigkeit geprägt. Ohne Übertreibung kann hier von einer Region wirtschaftlich "verbrannter Erde", von einem ökonomischen Zusammenbruchsgebiet gesprochen werden. Als ein Beispiel dieser ökonomischen Spaltung kann das BIP pro Kopf in der Region Dnipropetrowsk und Lwiw dienen: In Dnipropetrowsk liegt es laut dem Blog Querschüsse bei 4.748 Dollar, in Lwiw bei 2.312 Dollar. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass auch die ostukrainische Restindustrie nur noch von ihrem "sowjetischen Erbe" zehrt und nach rund zwei Dekaden Oligarchenherrschaft hoffnungslos veraltet und marode ist.

Nahezu die gesamten 90er Jahre über befand sich die Ukraine in einer Rezession mit zuweilen zweistelligen Kontraktionsraten (1992 bis 1996). Erst ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts setzte ein Wirtschaftswachstum ein, das durch die globalen Schuldenblasen, den Immobilienboom in den USA und Westeuropa und die daraus resultierenden Defizitkonjunkturen sowie eine auch in der Ukraine selbst aufgeblähte Schuldenblase befeuert wurde. In dieser kurzen Periode, in der vor allem westeuropäische Finanzinstitute landesweit eine lockere Kreditvergabepraxis pflegten, konnte die Illusion einer funktionierenden ukrainischen Volkswirtschaft gedeihen. Überdies hat der kreditbefeuerte globale Wirtschaftsboom kurz vor seinem Kollaps der ostukrainischen Schwerindustrie trotz ihrer archaischen Struktur gute Absatzmöglichkeiten - etwa für Stahl - verschafft. Mit dem Krisenausbruch 2008 brach auch die ukrainische Schulden- und Defizitkonjunktur zusammen.

Die Ukraine musste auf Kredite des IWF im Umfang von 16,4 Milliarden US-Dollar zurückgreifen, um den Bankrott abzuwenden. Das Programm wurde nach einem Jahr wieder eingefroren, weil sich Kiew - damals noch unter der Regierung von Julia Timoschenko - weigerte, die Bedingungen des IWF zu erfüllen. Es folgte ein tiefe Rezession mit anschließender Stagnation der Wirtschaftstätigkeit.

Mit dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise der ukrainischen Staatlichkeit kündigte sich dann abermals ein gewaltiger Einbruch an. Das beständig zunehmende Leistungsbilanzdefizit belief sich allein 2013 auf mehr als acht Prozent des BIP, bei einem Haushaltsdefizit von rund 6,5 Prozent des BIP. Das enorme Handelsdefizit, das im dritten Quartal 2013 mit einem Minus von 7,3 Milliarden Dollar einen neuen historischen Höchstwert erreichte, ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf die notwendigen Energieimporte aus Russland, zum anderen auf das Fehlen einer breiten, international konkurrenzfähigen Warenproduktion, mit der die für eine ausgeglichene Leistungsbilanz notwendigen Devisen erwirtschaftet werden könnten. Letztendlich war der Ukraine aufgrund fehlender devisenbringender Energielagerstätten und wegen archaischer Industriestrukturen die ökonomische Grundlage staatlicher Souveränität abhanden gekommen. Das enorme Doppeldefizit konnte folglich nur noch durch ausländische Finanzierung aufrechterhalten werden. Hierin ähnelt das Land den südeuropäischen Krisenstaaten, die ebenfalls in der eskalierenden globalen Krisenkonkurrenz nicht mehr mithalten konnten und ähnlich ausgeprägte Leistungsbilanzdefizite aufwiesen.

Die ostukrainische Oligarchie unter Janukowitsch hatte jahrelang zwischen Ost und West laviert und musste sich nun angesichts der eskalierenden Wirtschafts- und Schuldenkrise für die Einbindung in das westliche oder das russische Bündnissystem entscheiden, um im Gegenzug für die partielle Aufgabe staatlicher Souveränität durch Kredite, ermäßigte Energiepreise, Marktzugang, usw. vor dem Staatsbankrott bewahrt zu werden. Erst diese systemische Krise der ukrainischen Volkswirtschaft und die Zerrüttung des ukrainischen Staates hat die "erfolgreiche" Intervention des Westens in diesen osteuropäischen "Pufferstaat" zwischen Ost und West möglich gemacht.

Diese Krise spiegelt dabei nur die des spätkapitalistischen Weltsystems wieder, das aufgrund permanenter Produktivitätsfortschritte an eine innere Schranke (Robert Kurz) seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und eine ökonomisch "überflüssige" Menschheit produziert. Die Deindustrialisierung der Ukraine, ihr permanent anwachsender Kreditbedarf, das Dahinsiechen der nicht konkurrenzfähigen ostukrainischen Restindustrie illustrieren diese eskalierenden kapitalistischen Widersprüche genauso, wie die nun das Land unsicher machenden Nazibanden, die - sollte die Ukraine nicht mehr ökonomisch stabilisiert werden können - eine ähnliche anomische Terrorherrschaft errichten dürften, wie sie etwa salafistische Milizen in Failed States wie Syrien, Libyen oder Irak praktizieren. Bezeichnend ist allein schon die Tatsache, dass in den aufständischen Regionen im Osten des Landes die Gefechte trotz eines formellen Waffenstillstandes weitergehen. Dies deutet doch offensichtlich darauf hin, dass auch auf der ukrainischen Seite die bewaffneten Formationen sich kaum noch unter der Kontrolle des Staates befinden. Die Milizbildung in der Ukraine spiegelt nicht nur die Barbarisierungstendenzen zur Etablierung offener Bandenherrschaft, sie wird auch durch die gleichen ökonomischen Krisenkräfte gefördert: Ökonomisch "überflüssige" junge Männer schließen sich in den von Oligarchen finanzierten Kampfverbänden zusammen, wie es ihre Altersgenossen in weiten Teilen des arabischen Raums, des subsaharischen Afrikas oder Mittelamerikas ebenfalls tun, um so eine wahre Plünderungswirtschaft zu betreiben, die sich in Ansätzen auch in der Ukraine bereits abzeichnet.

Während sich Oligarchen langsam in Warlords wandeln, befindet sich der ukrainische Staat aufgrund der allgegenwärtigen Korruption in Auflösung. Je prekärer die wirtschaftliche Basis ist, auf der ein Staatsgebilde fußt, desto stärker nehmen die nepotistischen, willkürlichen und kleptokratischen Tendenzen innerhalb der Staatsmaschinerie zu. Mitunter bilden die Einnahmen aus Schmiergeldern oder willkürlichen "Gebühren" und Schutzgeldern den Großteil der Einnahmen von Staatsbediensteten. Auch diese Instabilität des in endlosen Oligarchenkämpfen zerrütteten Staates gehört zu den Voraussetzungen, die die äußere Intervention in der Ukraine erst möglich machten.


Das "postoligarchische" System Russlands

An der sich gegenwärtig entfaltenden ukrainischen Tragödie werden auch die beiden wichtigsten Unterschiede zwischen diesem nun kollabierenden Oligarchenregime und dem autoritären "postoligarchischen" System Russlands erkennbar. Im Verlauf heftiger Auseinandersetzungen in der Frühzeit der Regentschaft Putins wurde vom Staatsapparat die Macht der russischen Oligarchie gebrochen, die zuvor in dem wilden Privatisierungsprozess - genauso wie in der Ukraine - nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weite Teile der Wirtschaft unter ihre Kontrolle bringen konnte. Das Symbol für diesen Sieg des Staates über eine räuberische Oligarchenkaste, die wie auch in der Ukraine größtenteils aus der ehemaligen sowjetischen Nomenklatura hervorging, stellt der jüngst von Putin begnadigte ehemalige Milliardär Michail Chodorkowski dar. Seit der Abrechnung Putins mit dem ehemaligen Yukos-Inhaber, der den Kremlchef offen herausforderte, hat es kein Oligarch mehr gewagt, ernsthaft in Opposition zum Kreml zu treten.

Der russische Staat kann getrost als der zentrale Machtfaktor des Landes bezeichnet werden. Zudem ging der Kreml daran, die Staatskontrolle über die strategischen Sektoren der russischen Wirtschaft - und hier insbesondere den Rohstoffsektor - zu übernehmen. In Russland fand somit im Rahmen der maßgeblich von Putin geformten machtpolitischen Strategie des "Energieimperiums" - die eine möglichst lückenlose Kontrolle der gesamten Energieproduktion und -distribution, vom sibirischen Gasfeld bis zur europäischen Tankstelle, durch den Kreml anstrebt - eine Renationalisierung weiter Teile des russischen Energiesektors statt. Die sozioökonomische Stabilisierung der Russischen Föderation unter Putin resultiert aus der Ausrichtung des Landes auf Rohstoffexporte, deren Einnahmen nun nicht mehr von einer räuberischen Oligarchenkaste aus dem Land geschafft werden. Der Rohstoffsektor stellt neben der Rüstungsindustrie den einzigen Wirtschaftszweig Russlands dar, der international konkurrenzfähig ist, während die restliche, unter riesigen Investitionsdefiziten leidende Warenproduktion sich nie von dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erholt hat.

Ein Großteil der russischen Warenproduktion weist somit ähnlich archaische Strukturen und einen ähnlich gigantischen Modernisierungsbedarf auf wie die Oligarchenkonglomerate in der Ostukraine, doch verfügt der Kreml mit den unter Staatskontrolle befindlichen enormen Ressourcen und Energieträgern über Exportgüter, die zur Stabilisierung der russischen Volkswirtschaft beitragen und so noch wirtschaftliche und politische Souveränität ermöglichen. Alle Versuche der "Modernisierung" der völlig veralteten Industriebasis sind bislang hingegen gescheitert. Als ein "Erfolgsmodell" kann also Russland mitnichten angesehen werden. Die starke Stellung des autoritären Staates kreiert nur die Illusion einer tief greifenden systemischen Kontrolle der Gesellschaft.

Auch Russland gilt als einer der korruptesten Staaten der Welt, wobei hier der Staat nicht zum Objekt der Machtkämpfe wurde, sondern zu deren Subjekt: Der Sieg Putins über die räuberische Transformationsoligarchie schuf eine aus den Machtministerien und dem Sicherheitsapparat hervorgegangene Staatsoligarchie, deren Reichtum und Macht gerade aus der Kontrolle von Staatsbetrieben erwachsen. Geschäftlicher Erfolg hängt somit - auch in der Privatwirtschaft - wie einstmals zur Zarenzeit von guten Kontakten zum Kreml und einer sicheren Stellung innerhalb der Seilschaften ab. Der Staat ist hier nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Machtzentrum. Die Wirtschaft ist jedoch von der Konjunkturentwicklung im Zentrum des Weltsystems, die maßgeblich die Rohstoffpreise beeinflusst, in höchstem Ausmaß abhängig. Diese Abhängigkeit kommt auch in dem gegenwärtigen geopolitischen Kräftemessen um die Ukraine zum Ausdruck: Die Drohungen des Westens mit weiteren Sanktionen dürften den Kreml von einer entschiedenen, offenen Unterstützung der prorussischen Kräfte im Osten der Ukraine abgehalten haben.


Der "Kampf um die Ukraine" bleibt brandgefährlich

Es bleibt jedoch generell fraglich, ob es gelingen wird, die derzeitigen Frontverläufe in der Ukraine in die Stasis eines "eingefrorenen Konflikts" zu überführen, wie er in etlichen postsowjetischen Regionen - Transnistrien, Nagorny Karabach, Südossetien - zu finden ist. Die "hinter dem Rücken" (Marx) der politischen Akteure sich verschärfende, "objektive" Krisendynamik treibt nämlich die Subjekte sowohl innerhalb der Ukraine als auch auf der geopolitischen Ebene in eine erneute Zuspitzung dieses Konflikts. Die eskalierenden Widersprüche, die sich in Form von quasi objektiven Sachzwängen manifestieren, verschärfen diese Tendenzen enorm. Die innerukrainischen Kräfte etwa - wie die zahlreichen Nazimilizen und rechtsextremen Gruppierungen - könnten bei einer eskalierenden Wirtschaftskrise die Flucht in einen erneuten Waffengang gegen den Osten antreten. Ähnlich verhält es sich mit Russland und der EU. In beiden Wirtschaftsräumen und Machtblöcken hat die in Gang gesetzte Sanktionsspirale bereits zu einer Verschärfung der ohnehin angespannten ökonomischen Lage geführt, sodass eine irrationale Flucht in einen unabwägbaren Großkonflikt nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

Die krisenbedingt zunehmende Neigung der morschen Staatsapparate der neoimperialistischen Großmächte, mittels äußerer Expansion die wachsenden inneren Widersprüche zu überbrücken, bildete letztendlich auch den wichtigsten Faktor bei der Eskalation des Ost-West-Konflikts um die Ukraine. Es ist absolut klar, dass es sich hier nicht um einen klassischen, von expandierender Verwertung befeuerten Eroberungszug handelt, bei dem die geopolitischen Akteure um die Kontrolle etwa der maroden ostukrainischen Industrie ringen. Es handelt sich hier vielmehr um eine "negative" Krisenkonkurrenz, bei der die jeweiligen Machtblöcke ihren Abstieg auf Kosten der jeweiligen Konkurrenten zu verhindern trachten.

Russland wollte mit der Einbringung der Ukraine in die vom Kreml forcierte Eurasische Union, die als Konkurrenzprojekt zur EU konzipiert war, seinen Status als eine global agierende Weltmacht halten. Bei der EU galt es folglich, das Aufkommen eines solchen Konkurrenten zu verhindern, der die europäischen Peripherieländer - für die "Europa" aufgrund des deutschen Krisendiktats zusehends einem preußischen Kasernenhof gleicht - womöglich auf dumme Gedanken gebracht hätte. Die energiepolitische Kooperation Ungarns und Bulgariens mit dem Kreml (Stichwort: South Stream) in den vergangenen Jahren hat in Brüssel alle Warnlichter aufleuchten lassen. Die im Abstieg befindliche und hoch verschuldete Hegemonialmacht USA wiederum muss unbedingt den US-Dollar als Weltwährung retten, weswegen sie die Etablierung eines einheitlichen eurasischen Wirtschaftsraumes - bis vor Kurzem gab es auch innerhalb der deutschen Funktionseliten eine hierfür plädierende Strömung - um jeden Preis verhindern will. Die Eskalation in der Ukraine bildete somit den Keil, der eine diesbezügliche Annäherung zumindest mittelfristig unmöglich machen wird.

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Rezens

Michael Barthel & Benjamin Jung: Völkischer Antikapitalismus.
Eine Einführung in die Kapitalismuskritik von rechts.
Unrast Verlag 2013, 88 Seiten, ca. 7,80 Euro

Gegen den Kapitalismus haben ja fast alle etwas. Gerade heutzutage, nachdem das Ende der neo-liberalen Boomphase der Finanzmärkte auch in den europäischen Zentren wieder deutlich gemacht hat, dass zur allseitigen Konkurrenz auch Verlierer*innen gehören. Um so mehr stellt sich die Frage, wer da eigentlich was kritisiert. Was ist gemeint, wenn da von 'Kapitalismus' die Rede ist - und was ist die politische Perspektive, die daraus erfolgt?

Michael Barthel und Benjamin Jung haben nun eine informative Einführungsschrift in eine ganz spezielle Spielart der Kapitalismuskritik vorgelegt. Sie trägt den Titel "Völkischer Antikapitalismus" und verspricht eine "Einführung in die Kapitalismuskritik von rechts". Das ist in diesem Fall keineswegs affirmativ gemeint. Barthel und Jung zeichnen die Entstehungsgeschichte rechter Kapitalismuskritik nach, verweisen auf die Unterschiede zur Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie und stellen auch aktuelle Positionen aus der zeitgenössischen rechten Szene, vor allem in Deutschland, vor.

Lesenswert ist hier vor allem der historische Teil, weil dort immer wieder die theoretischen wie strategischen Berührungspunkte, aber auch Differenzen zwischen Positionen der Arbeiter*innen-Bewegung und den Nationalsozialist*innen deutlich werden. Den theoretischen Background des Buches liefert dabei eine an Moishe Postone angelehnte Kapitalismuskritik. Denjenigen, die einen schnellen, aber doch erhellenden Blick auf die Systematik des völkischen Antikapitalismus werfen wollen, sei die Schrift: daher empfohlen.

J.B.

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Democrazy!

Verächtliche Widerreden zu einem Form- und Glaubensprinzip

von Franz Schandl

Große Hoffnungen setzte man einst auf die Demokratie, aber Demokratie bedeutet lediglich, dass das Volk durch das Volk für das Volk niedergeknüppelt wird. Man ist dahintergekommen," schrieb Oscar Wilde 1891 in seinem brillanten Essay Der Sozialismus und die Seele der Menschen (Zürich 1982, S. 29). Doch der Spuk ist nicht vorbei, er hatte zu Wildes Zeiten noch nicht einmal so richtig begonnen. Selbstbeherrschung, als Selbstzüchtigung schon richtig beschrieben, stand erst in den Startlöchern.

Heute ist sie sakrosankt. Dass man Markt und Geld, Konkurrenz und Kapital, Politik und Staat verwirft, mag angehen, solange die Demokratie unbescholten und unversehrt bleibt. Gegen alles darf man sein, nicht aber gegen die Demokratie. Mit der Anrufung der Demokratie ist es tatsächlich gelungen, diverse und oft widersprechende Projektionen zu assoziieren. Da mag nichts zusammen zu passen, aber alle fühlen sich aufgehoben und wohl. Wenn es um die Demokratie geht, scheinen alle Fans, also Fanatiker geworden zu sein. Applaus wird erwartet. Nichts wird so glorifiziert wie sie. Demokratie soll nicht als Problem, sondern stets als Losung und Lösung gedacht werden.

Als Luftschloss diverser Wünsche ist sie das unverbindlich Verbindliche der bürgerlichen Subjekte. Nirgendwohin wird soviel hineingepackt und hineingemogelt wie in die Demokratie. Noch stärker als zu Kelsens Zeiten trifft dessen Aussage zu, dass der Begriff einem politischen Modezwang folgt, den man "zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, (es) nimmt dieser missbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihm nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauches zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert." (Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, 2. Aufl. 1929, S. 1)


Affirmation statt Historisierung

Selbst uns wohlgesinnte Initiativen und Leute schicken immer wieder Aufrufe und Aufsätze, die vom demokratischen Vokabular nur so strotzen. Im Wettbewerb der Demokraten wollen alle die besseren Demokraten sein. Alle sind dafür, ja sich vorzustellen, das nicht zu sein, ist unvorstellbar. Der Vorwurf, nicht demokratisch zu agieren, ist allerdings ebenso alltäglich und ergeht an die Adresse der jeweiligen Kontrahenten. Demokratie hat auf jeden Fall bejaht zu werden. Beschworen wird die Gemeinsamkeit der Demokraten, der Verfassungsbogen, das Grundgesetz. Hier hat Kritik partout nichts zu suchen. Bevor wir uns über die Demokratie äußern, haben wir uns einmal zu bekennen. Die Demokraten fungieren als ein mehrstimmiger Befangenchor der Macht. Gleich Mönchen singen sie einen Choral der Affirmation, diesmal halt zu einem weltlichen Gott, dafür aber an allen öffentlichen Plätzen.

Der Demokrat hat Mittel und Zweck verinnerlicht. Er zweifelt die Form, in der er sich bewegt nicht an, er kennt keine andere und er meint, wird er danach gefragt, dass es wohl nur noch diese eine geben darf. Das historisch Zugewachsene erscheint ihm als organisch eingefleischt. Wenn der Terminus des Totalitären überhaupt Sinn macht, dann dahingehend, dass die Demokratie die totalitärste Form der Herrschaft ist, eben weil sie keiner äußeren Zwänge mehr bedarf, weil Unterdrückung und Beherrschung geleugnet werden können. Es ist unsere Pflicht uns frei zu fühlen und es ist unsere Aufgabe das fortwährend zu benennen. Wir sind die freie Welt, sagt der Westen und all seine Parteigänger nicken eifrig.

Demokratie ist Berufungsinstanz und Lösungsmittel. Vademecum. Dauerlutscher. Es ist die "vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht", stellte Karl Marx bereits in seiner "Kritik des Gothaer Programms" von 1875 fest (MEW 19:29), um gleich anschließend die deutschen Sozialdemokraten zu tadeln, dass "solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten" sich bewege. Daran hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil, die Vorurteile haben sich nicht bloß gefestigt, sie haben sich regelrecht verschärft. Wer sich dieser Community nicht verschreiben will, gilt als verdächtig und bekämpfenswert. Der Konsens unserer Zeit besteht darin, für die Demokratie zu sein. Müntefering sprach sogar von einer "Pflicht zur Demokratie". Der abgewetzte Begriff findet permanent zu neuen Ehren. Fast alle sind ihm verfallen, getreu dem Motto des mittelalterlichen religiösen Mystikers Bernhard von Clairvaux: "Nicht im Begreifen liegt die Frucht, sondern im Ergriffensein."

Demokratie wird keineswegs als Realisierungsform kapitalistischer Herrschaft gesehen, sondern als letztgültige Form sozialer Kommunikation. Immer und ewig anstrebbar. Die höchste Stufe menschlicher Zivilisation. Nach ihr kann nichts mehr kommen, glauben ihre Hohepriester: "Das Ideal der liberalen Demokratie ist nicht verbesserungsbedürftig", schreibt allen Ernstes Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 11). Wie all seine Vorgänger will sich auch dieser Herrschaftstypus als endgültiger präsentieren. Demokratie wird als ultimatives Resultat der Geschichte verstanden.

"Als Wertvorstellung hat die politische Demokratie keine Rivalen mehr", doziert auch Paolo Flores d´Arcais (Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin 1997, S. 7). In gewisser Hinsicht hat er sogar Recht, denn Demokratie ist zweifellos eine Vorstellung, also eine Inszenierung des Werts. Dazu meint er dann noch, dass "Demokratie nur eine Spielerfigur an(erkennt): den Bürger" (S. 16). Auch da fällt ihm nicht auf, dass er ausschließlich eine spezifische Kategorie Mensch benennt und befähigt. Die Bürgerei ist mittlerweile überhaupt fester Bestandteil linker Rhetorik geworden.

Indes wäre Demokratie wie alles andere zu historisieren. Das historische Subjekt, das sie erkämpfte, war die Arbeiterbewegung, das historische Objekt, das sie ermöglichte, war die sich durchsetzende Herrschaft des Kapitals. Dass Demokratie und Kapital geschichtlich sozusagen eins sind, ziehen die meisten Linken nicht in Betracht. "Die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung und kapitalistischer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hat das politische Denken im 19. Jahrhundert in Verlegenheit gebracht", schreibt Urs Marti in der Zürcher Zeitschrift Widerspruch (Nr. 55, S. 119). In Verlegenheit konnte so etwas aber nur bringen, wenn man diese beiden Entwicklungen partout auseinander halten will. Nicht zufällig kann Marti dann die obligate Gretchenfrage bloß so stellen: "Ökonomisierung der Politik oder Demokratisierung der Ökonomie?" (ebenda, S. 123).

Dass die Gleichzeitigkeit auf eine Gleichartigkeit verweise, dieser verwerfliche Gedanke will den linken Demokraten gar nicht erst kommen. Dass Demokratie und Kapitalismus zusammenhängen, das darf in ihren Augen nicht sein. So erscheinen Wirtschaft und Politik wie ferne Parallelwelten, die eigentlich nichts miteinander zu tun hätten, außer dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfänden. Seltsam. Die Gegenüberstellung einer formalen Demokratie mit einer wirklichen hat in der Linken eine unendliche wie unselige Tradition. Die übereifrigen Denkverbote, die als strikte Bekenntnisse zur sozialistischen Demokratie oder zum demokratischen Sozialismus auftreten, rühren möglicherweise aus den Schrecken des Stalinismus, auf keinen Fall aber aus den Anstrengungen kritischer Theorie. Hier gilt es jedenfalls die Demokratie von der Phrase zu lösen, sie zu einem handhabbaren Begriff zu machen, der jenseits des ideologischen Muster etwas taugt.


Demokratie als Kapitalismus

Den Kapitalismus nicht wollen, die Demokratie aber schon, geht nicht. Demokratie ist mit dem Kapitalismus untrennbar verknüpft, gehört zu seinen Formprinzipien ebenso wie die Diktatur, diese ungeliebte Schwester, für die heute niemand mehr offen einzutreten wagt, auch wenn sie aus jeder demokratischen Luke blickt. Was die Konkurrenz am Markt, ist die Demokratie in der Politik resp. im Staat. Demokratie fragt die Demokraten, was sie aus dem Sortimente der Politik kaufen möchten. Die Angebote werden als Waren formiert und durch die jeweilige Reklame präsentiert.

Demokratie ist eine politische Form des Kapitalismus. Sie entfaltet sich gemeinsam mit ihm, entpuppt sich nur auf seinem Boden. Was die Warensubjekte in der Ökonomie, sind die Staatsbürger in der Politik. Grundlage der Demokratie ist ein sachlich-rationales und formal-gleiches Verhältnis zwischen Menschen: "Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so dass der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willenakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Das Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- und Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten." (Karl Marx, MEW 23:99 f.)

Es ist übrigens auch der Markt, der die Demokratie aushält. Ihr gemeinsames Medium ist das Geld. Was in der Demokratie verhandelt wird, ist nichts anderes, stets geht es um dessen Aufbringung und dessen Verteilung. "Der Umkehrbeweis besteht darin, dass demokratisches Denken jeglicher Couleur von sich aus niemals auf die Idee kommt, die Ressourcen und den gesellschaftlichen Reichtum anders als in der Waren- bzw. Geldform mobilisieren und organisieren zu wollen; und dass somit seine vermeintliche Freiheitlichkeit und Humanität sich immer bewusstlos die Systemgesetze der modernen Warenform selber als harte Grenze setzt. Die Demokratie ist also ihrer Logik nach niemals ein mündiger Diskurs von gesellschaftlich selbst-bewussten Menschen über die Produktion und Verwendung des gemeinsamen Reichtums, sondern nichts anderes als der kollektive Götzendienst von gesellschaftlich bewusstlosen Fetischdienern, deren Diskurs lediglich liturgischer Natur ist, d.h. sich einzig und allein auf die Art und Weise der Exekution blinder Systemkriterien beziehen kann. Demokratie ist nicht das Gegenteil von Kapitalismus, sondern die Art und Weise, wie das kapitalistisch organisierte 'Volk' sich nach kapitalistischen Kriterien mit blinder, selbstzerstörerischer Wut 'selbst beherrscht'." (Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder; in: Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein 1993, S. 18)

Demokratie kann nicht von der Marktwirtschaft, vom Kapitalismus, abgezogen werden. "Mit dem Alltäglichwerden der Ware-Geld-Beziehung mussten auch die zu dieser Beziehung gehörenden formalen Elemente alltäglich werden und in den 'Besitz' eines jeden Menschen übergehen. Der moderne Mensch, dessen sämtliche Unternehmungen das Geld als die allgemeine Ware entweder voraussetzen oder zu ihrem Zwecke haben, weiß sich als Mensch immer schon innerhalb jener vom Staat garantierten Rechtsstruktur, die ihn frei und gleich macht, ohne dass ihm dies zu Bewusstsein käme." (Peter Klein, Demokratie und Sozialismus. Zur Kritik einer linken Allerweltsphrase, in: Marxistische Kritik, Nr. 7/89, S. 115) Demokratie mit anderen Inhalten zu füllen, ist zum Scheitern verurteilt. Das zeigten zuletzt auch alle Versuche der Basisdemokratie, die nie mehr als eine Karikatur der demokratischen Konvention gewesen ist. Demokratie ist dem Kapitalismus immanent, was umgekehrt bedeutet, dass sie auch mit ihm verschwinden wird.

Die Demokratie ist ein logisches Produkt des Kapitalismus, genauer eines ökonomisch prosperierenden Kapitalismus. Dagegen spricht auch nicht, dass die Demokratie erobert und erstritten werden musste. Sie konnte eben nur durchgesetzt werden, weil sie durchsetzbar gewesen ist. So gesehen erkämpfte die Arbeiterbewegung als die relevanteste soziale Bewegung des bürgerlichen Zeitalters die Demokratie nicht gegen den Kapitalismus, sondern für ihn und in ihm. Die Demokratie ist die Entsprechung formal gleicher Warensubjekte im politischen Sektor. Sie verbindet das konstante mit dem variablen Kapital gegen frühere Formen gesellschaftlicher Kommunikation. Demokratie ist eine bürgerliche Kategorie, ihr Betriebssystem ist der Markt.

Robert Kurz hat das schon vor zwanzig Jahren sehr prägnant und in kaum zu überbietender Deutlichkeit zusammengefasst: "Demokratie und Marktwirtschaft alias Kapitalismus gehören zusammen als die zwei Seiten einer Medaille, darin haben die offiziellen Demokraten gegen ihre linken Stiefbrüder zweifellos recht. Die offizielle Demokratie sagt mehr, als sie weiß, wenn sie Liberalität, Individualität und Marktwirtschaft positiv identisch setzt. Denn in der Tat: diese Freiheit ist die Freiheit, als Warensubjekt auf dem Markt kaufen und verkaufen zu können, und die Freiheit, über die institutionelle Regulation und über die Rahmenbedingungen des Kaufens und Verkaufens 'verhandeln' zu können (Rechtssystem und Gesetze, Moderation warenförmiger Interessenvertretung, infrastrukturelle und soziale Transfers usw.); nicht jedoch die Freiheit, in einer anderen Gestalt als in der eines Warensubjekts (eines immerwährenden Verkäufers und Käufers) überhaupt ein Mensch sein zu können. Mit dem Verweis auf die Identität von Freiheit und Markt ist also implizit zugegeben, dass die demokratische Freiheit durch den Markt definiert und damit auch begrenzt ist. Deswegen ist es durchaus passend, zur besseren Kennzeichnung von 'Marktwirtschaftsdemokratie' zu sprechen, um diese strukturelle Identität hervorzuheben." (Kurz, a.a.O., S. 18)

"Während die offizielle Demokratie Freiheit und Gleichheit auf die ihnen strukturell tatsächlich zukommende Sphäre der Zirkulation beschränkt, und die Kehrseite der Unterwerfung unter die Leiden der abstrakten Arbeit achselzuckend als unvermeidlich hinnimmt, wollten die linken Edeldemokraten stets widersinnig das Prinzip der Zirkulation auf die (betriebswirtschaftliche) Produktion ausdehnen, weil sie die strukturelle Identität nie begreifen konnten und das negative Moment der abstrakten Arbeitsdiktatur fälschlich der bloßen Subjektivität von 'Kapitalisten' ('Verfügungsgewalt', ein systemisch gesehen geradezu dümmlicher Ausdruck) zuschrieben statt der Strukturidentität des warenproduzierenden Systems." (Kurz, a.a.O., S. 19)

Diese Dimensionierung ist den Menschen nicht bewusst. Der freie Staatsbürger ist kapitalistisch konstituiert, er ist eine Instanz des Kapitals. Er ist Warenhüter, Arbeitskraftbesitzer, Käufer, Verkäufer, Rechtssubjekt, Staatsangehöriger. Als politische Person, als Demokrat, hat er all diese Interessen wahrzunehmen, ohne sie in Frage zu stellen.


Bestimmung als Selbstbestimmung

Was heißt Selbstbestimmung, wenn die Bestimmungen (Arbeit-Wert-Tausch-Markt-Geld) schon vorgegeben sind? Selbstbestimmung ist somit identisch mit Selbsbeherrschung. Demokratie meint auch dezidiert Herrschaft und nicht Herrschaftslosigkeit. Demokratie ist eine Herrschaftsform und nicht die Überwindung von Herrschaft. Doch um letztere geht es, um die Befreiung der Menschen aus beständiger Abhängigkeit und Unterwerfung, nicht um das Installieren und Funktionieren kapitalkonformer Strukturen des Politischen. Herrschaft sagt aus, dass die Menschen nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel eines über sie herrschenden Inhalts, der als unhintergehbare Form verkleidet sich quasi als Natur setzt. Bürgerliche Exponate sind also nicht emanzipiert, sondern formatiert für die jeweilige Entsprechung.

Demokratie ist aber nur möglich, wenn die Selbstunterwerfung unter Wert und Arbeit, Markt und Geld, ein Niveau erreicht hat, wo kein äußerer Druck mehr nötig ist, weil der innere Druck ausreicht. Ein Zwang, der seine Äußerlichkeiten abgestreift hat, erscheint vielfach als zwangloser Zwang. Jederzeit kann er in die autoritäre Form, aus der er geboren wurde, umschlagen. Die gegenwärtige Toleranz ist primär Ausdruck der Irrelevanz radikaler Opposition. Leicht ist zu dulden, was so ungefährlich ist.

Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen schreibt: "Demokratie ist die Idee nach einer Staats- oder Gesellschaftsform, bei der der Gemeinschaftswille, oder ohne Bild gesprochen, die soziale Ordnung durch die ihr Unterworfenen erzeugt wird. Demokratie bedeutet Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das Volk." (Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 14)

Indes: Warum muss das Volk sich beherrschen, wo es doch herrscht? Warum hebt diese Herrschaft sich nicht selbst auf? Wozu beherrschen die Herrschenden sich? Warum erzeugt diese Ordnung partout Unterworfene? Das alles kann nur beantwortet werden, wenn wir den Rechtspositivismus beiseite lassen und eine äußere Instanz vermuten, die weiterhin nach Herrschaft verlangt. Wir sehen diesen Zwang durch die Wertform gesetzt. Das Abgefeimte der Demokratie besteht darin, dass die Unterworfenen sich selbst unterwerfen dürfen und dass sie diese fiktive Souveränität auch noch als Selbstbestimmung halluzinieren. Der freie Wille ist ja etwas, das nicht der oder die Einzelne aus sich entwickelt, sondern der in ihnen gleich einem Brutkasten produziert wird. Wenn Staat und Markt kopulieren entstehen viele kleine Subjekte. Dass zuzugeben, fällt den ichversessenen Nichtichen der Staatsbürger freilich nicht nur schwer, es kommt ihnen gar nicht in den Sinn.

Der Demokrat muss gelten als Selbstführer und Selbstverführer. Er hat sein Außen deswegen minimiert, weil sein Innen so stark oder selbständig ist, dass er jenes als Mittel zum Zweck nicht obligatorisch benötigt. Er gehört sich. Er befehligt sich. Im Demokraten vollzieht sich die direkte Einlagerung der Herrschaft ins Subjekt. Und die Demokratie ist das erste Herrschaftsverhältnis, in dem es flächendeckend gelingt, die Herrschaft selbst zu verstecken, sie unsichtbar zu machen. Sie gleicht der "invisible hand", und zweifelsfrei ist das kein Zufall, denn genau dort liegt ihr Ursprung. Demokratie macht "immer mehr Menschen herrschaftsfähig" wie Panajotis Kondylis hellsichtig behauptet. (Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 16) Sie stehe für soziale Mobilität und flexible Hierarchien. In der Demokratie verflüssige sich die Herrschaft selbst, überwinde ihre starren Formen, zeichne sich aus durch Geschmeidigkeit.


Volk und Staat

Regelrecht ins Gesicht schreit uns der Begriff seine Definition. Demokratie, so lernt es heute jedes Kind, heißt Herrschaft des Volkes. Da wir sowohl gegen die Herrschaft als auch gegen das Volk sind, warum sollen wir ausgerechnet für die Volksherrschaft sein? Demokratie meint ja selbstredend die Selbstbeherrschung der sozialen Rollenträger in der Wahrnehmung ihrer Interessen als Charaktermasken. Sie haben die objektiven Zwänge von Wert und Geld völlig aufgesogen, können sich selbst ohne diese gar nicht mehr vorstellen. Selbst jene, die es erkennen, handeln nicht viel anders als jene, die völlig ahnungslos durchs Leben eilen.

Das Volk beherrscht sich also selbst. Aber wozu muss es sich eigentlich beherrschen? Und warum gerade das Volk? Fragen wie diese finden gleich gar keinen Eingang, obwohl sie dezidiert die spannendsten wären. Volksherrschaft ist eine zutiefst entlarvende Formulierung. Die Nomenklatur verrät, worauf sie hinaus will: Nicht auf die Überwindung der Herrschaft, sondern auf die absolute Identifizierung aller Staatsbürger genannten Volksglieder mit ihr. Das Volk ist auch nicht als Gemeinschaft oder gar Kommune identifizierbar, sondern als nationale Formierung bürgerlich kapitalistischer Gesellschaften in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit. Jenes ist als Staatsvolk zu denken, dessen Exemplare als Staatsbürger auftreten und den jeweiligen Staatszielen unterworfen sind.

"In der Demokratie erscheint der Staat als solcher als Subjekt der Herrschaft." (Kelsen, a.a.O., S. 11) Das spüren alle bürgerlichen Exponate, aber eben nicht als obligate Norm des Faktischen, sondern höchstens dann, wenn die Individuen durch Renitenz und Abweichung Repression erfahren. "Die (...) Konsequenz erfordert, dass, weil die Staatsbürger nur in ihrem Inbegriff, dem Staat frei sind, eben nicht der einzelne Staatsbürger, sondern die Person des Staates frei sei." (Ebenda, S. 12) Wie dürftig selbst diese Freiheit ist, auch das ist bei Kelsen nachzulesen. Die Freiheit reduziert sich auf das politische Recht und dieses auf das Stimmrecht (S. 25). Der österreichische Rechtspositivist Hans Kelsen kann auch heute noch als der wohl klügste und fundierteste Theoretiker der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus gelten. Der nüchterne Rechtspositivist war da den linken Ideologen überlegen. Mit dem kruden Satz "Denn soziale Realität ist Herrschaft und Führerschaft" (S. 79), vollzieht Kelsen allerdings eine Flucht ins Ontologische.

Demokratie heißt Staat, nur er kann sie mithilfe von Recht und Politik und Steuern garantieren. Demokratisierung führt immer auch zur Verrechtlichung des Lebens. Mehr Demokratie bedeutet stets mehr Recht(e) und somit noch mehr Staat. Niemand könnte z.B. seriöserweise angeben, wie Demokratisierung ohne Bürokratisierung gehen soll. Auf diese Dialektik von demokratischer Organisation des Staates und autokratischer Organisation der Verwaltung hat bereits Kelsen hingewiesen, die Bürokratie könne kein Selbstverwaltungskörper sein (S. 73). Demokratie und Bürokratie gehören zwar zusammen, aber die Koordination erfordert eine ganz bestimmte Ordnung. Aber das wäre ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel betreffend die bürgerliche Herrschaft.

Entrechtlichung und Entbürokratisierung der Politik sind in diesem System lediglich als Kommerzialisierung zu haben. Darin liegt auch die Tücke der direkten Demokratie, in ihrer nunmehr unbürokratischen Auslieferung an Geschäft und Geld. Freiheit führt diesbezüglich von der Formalisierung zur Informalisierung der Abhängigkeiten. Plebiszite etwa sistieren die letzten Reste der Autonomie der Politik, da die Parteiapparate zugunsten kulturindustrieller Praktiken völlig entmachtet werden. Die Wähler sind in diesem Fall überhaupt nur noch Durchlauferhitzer von Medienkampagnen. Aber so weit denken unsere Direktdemokraten nicht, weil sie pausenlos mündige Bürger im Kopf haben. Direkte Demokratie ist jedoch die Forcierung der niedrigsten Instinkte, egal nun, ob man das möchte oder nicht.

Politik wäre in diesem Fall nun nicht mehr bloß eine (oft auch widerspenstige) Dienerin der Marktwirtschaft, sondern sie selbst wäre zu einer Performance des Marktes geworden. Wer jetzt meint, dass sie das bereits ist, liegt so daneben nicht; mit dem Ausbau der direkten Demokratie werden jedenfalls die letzten Bastionen des Repräsentativsystems gesprengt. Solange Staat und Gesellschaft halbwegs austariert werden, sind die Abhängigkeiten, wenn auch nicht ausgeglichen, so zumindest polymorph. Demokraten können sich aussuchen, ob sie für mehr Kommerzialisierung oder für mehr Bürokratisierung eintreten. Gegen beides gleichzeitig zu sein, geht hingegen nicht, das würde den Rahmen sprengen. Demokratie meint nicht zu entscheiden, was man entscheiden will, sondern zu entscheiden, worüber man zu entscheiden hat. Es ist auch unmöglich, staatliche Instanzen anzurufen, ohne sie zu affirmieren. Erst eine freie Assoziation stünde jenseits von Demokratie und Bürokratie, jenseits von Konkurrenz und Kommerz.


Demokratie und Diktatur

In der gängigen Vorschrift sind Demokratie und Diktatur antagonistische, einander ausschließende Gegensätze. Diese Scheidung ist aber letztlich eine methodisch willkürliche, werden doch einige wenige Differenzen des politischen Sektors (Mehrparteiensystem, Wahlmöglichkeiten, taxative Grundrechte) herausgegriffen, an deren Vorhandensein man Demokratie positiv benennt, bzw. an deren Fehlen man die Diktatur der Verurteilung preisgibt. Dieser Code ist ungenügend, da er überhaupt nicht die spezifischen Grundlagen, aktuellen Standards und historischen Bedingungen berücksichtigt. Demokraten laufen so mit ihren Schablonen durch die Gegend, klagen Abweichungen an und fordern Interventionen ein.

Charakterisierungen als "demokratisch" oder "diktatorisch" haben meist agitatorischen, nicht analytischen Gehalt. Sie verklären mehr, als sie aussagen. Aber sie sagen, wogegen und wofür man zu sein hat, sind also ideologische Etiketten. Es geht primär darum, andere Niveaus und missliebiges Verhalten zu diskreditieren. Diktatur ist heute eindeutig zu einer denunziatorischen Kategorie geworden. Das Maßband dabei ist stets "unsere Demokratie" und der gesamte Rattenschwanz ihrer sogenannten Werte. Die imperialistische Verwünschung vermisst die Welt, sie schießt aus vollen Rohren und strahlt aus allen Kanälen. Passt etwas ins Bild, ist seit einigen Jahren von "Demokratiebewegungen" die Rede. Nach diesen degradierenden Gesichtspunkten müssen alle anderen als unterentwickelt gelten. Doch an solch primitiver Gegenüberstellung hängt das gesamte Herrenmenschentum der westlichen Welt, Wissenschaft und Politik, Medien und Kultur sind darauf programmiert.

Mit der Inflationierung seiner Demokratie versucht der weiße Mann ein letztes Mal durchzustarten. Das Projekt hat unmittelbar durchaus Chancen, weil die meisten Subalternen und Renitenten, nichts anderes vertreten, sie unbedingt dabei sein möchten und mit jenem weißen Mann gleich ziehen wollen. Bewegungen rund um den Erdball schreien in erster Linie immer noch und immer wieder "Wir auch!". Dass sich das nicht mehr ausgeht, ist eine andere Sache, aber auch wenn es sich ausginge, wäre es eine Katastrophe.

Anstatt so viel über Demokratie zu schwätzen, wäre die (politische) Kommunikation in ihrer gesamten Dimension, also sowohl in ihrer konstitutionellen Immanenz als auch in ihrer emanzipatorischen Transzendenz zu diskutieren. Da ginge es um Hierarchie und Autonomie, Vollzug und Bürokratie, Bürger und Menschen, Kunden und Individuen, Geschäft und Korruption, Erledigung und Entledigung, Basis und Kompetenz, formelle und informelle Macht etc. - Auch das jeweilige Zusammenspiel aus Partizipation, Transparenz und Effizienz wäre ins Zentrum zu rücken, denn dieses wird selten in ihrer Bezogenheit zur gesellschaftlichen Totalität debattiert, sondern losgelöst als zu korrigierender Einzelfall behandelt.

Analysen haben Postulate, die meist nur Vorurteile sind, zu ersetzen. Demokratie und Diktatur sind nicht mehr als idealtypische Frequenzen bürgerlicher Herrschaft. Die scharfe Trennung ist aufzulösen. - Es ist jeweils zu fragen wie Entscheidungen fallen, sich Verwirklichungen vollziehen, vor allem aber wie vielfältig Unterdrückung ausstaffiert ist. Dass ausgerechnet die Demokratie keine Diktatur ist, ist sowieso eines der glänzendsten Staatsbürgermärchen. Die Diktatur ist die Reserve der Demokratie, wie die Demokratie das Reservat der Diktatur. Weil wir gegen die Diktatur sind, sind wir auch gegen die Demokratie.

Spielen wir es an einem Beispiel durch. Vielleicht sollte man ganz hinterhältig nach dem gesellschaftlichen Charakter ökonomischer Einheiten fragen. Ist das nun eine Demokratie, wenn das selbstbestimmte Kommando über andere als Diktatur zu sich kommt? Warum ist der Betrieb einer Demokratie kein demokratischer Betrieb? Da funktioniert doch etwas nicht, oder funktioniert es gerade deswegen? Natürlich letzteres, und außer den Wirtschaftsdemokraten und Selbstverwaltungsfetischisten wissen das auch alle. Zu rekapitulieren wäre, dass Partizipation und Autokratie sich nicht ausschließen, sondern spezifische Ensembles bilden. Demokratie und Diktatur sind in jeder bürgerlichen Herrschaft verzahnt und verkettet. Herrschaftskritik müsste sich schlau machen, wie. Das ist auf jeden Fall erkenntnisreicher als das ständige Etiketten-Kleben.

Freilich sind Betriebe und Büros jene Orte, wo erwachsene Menschen den Großteil ihres Lebens verbringen, wo sie dienen müssen, um leben zu können. Das Bürgerrecht verflüssigt sich dort schnell in Entlassung und Degradierung, Mobbing und Zurechtweisung. Dass Arbeit und freie Aktivität etwas anderes sind, gehört zu unseren Grundüberzeugungen. Auf jeden Fall ist man angestellt, um anzustellen, wozu man angestellt ist. Betriebe und Büros sind die elementaren Räume der bürgerlichen Lebensbestimmung, nicht die Wahlurne, die politische Partei oder irgendeine Zivilgesellschaft.

Die immanente Dialektik von Freiheit und Autorität wäre also offen zu legen. Die bürgerliche Freiheit bedarf der Unfreimachung ihrer Objekte, nur so kann sie uneingeschränkt über sie verfügen, seien es Arbeitsgegenstände oder Arbeitskräfte. Das kommerzielle Unternehmen, jenes eigentümliche Molekül, in dem die Basiskategorien der Produktionsweise (abstrakte Arbeit, Wert, Ware) grundgelegt sind, ist die absolute Negation der Freiheit. Der höchste ideelle Wert der bürgerlichen Gesellschaft, die Freiheit, wird in seiner typischsten Praxisform, dem bürgerlichen Betrieb, obsolet. "Der Fabrikkodex, worin das Kapital seine Autokratie über seine Arbeiter, ohne die sonst vom Bürgertum so beliebte Teilung der Gewalten und das noch beliebtere Repräsentativsystem, privatgesetzlich und eigenherrlich formuliert, ist nur die kapitalistische Karikatur der gesellschaftlichen Reglung des Arbeitsprozesses, welche nötig wird mit der Kooperation auf großer Stufenleiter und der Anwendung gemeinsamer Arbeitsmittel, namentlich der Maschinerie." (Karl Marx, MEW 23:447)

In dieser Karikatur der Kooperation allerdings leben wir. Der bittere Begriff des unselbständig Erwerbstätigen offenbart mehr, als seinen Erfindern je bewusst gewesen ist. Er streicht nämlich den "freien Bürger" entschieden durch. Er verrät die Unselbständigkeit der Betroffenen, womit selbstverständlich nicht gesagt ist, dass die Selbständigen sind, was sie von sich behaupten. Selbständigkeit und Markt sind letztlich unvereinbar. Markt bedeutet immer Abhängigkeit von einer besonderen Erwerbsform. Kurzum, man muss kaufen und verkaufen können. Wenn nicht, wird es ganz eng für die Leute im Gehäuse ihres Waren- und Geldsubjekts. Demokratie hat die Menschen eben nicht in Selbständigkeit und Mündigkeit entlassen, sie hält sie vielmehr in Unselbständigkeit und Hörigkeit gefangen.

Demokratie und Diktatur sind keineswegs sich wechselseitig ausschließende Epiphänomene der Kapitalherrschaft. Diktaturen waren so Vorläufer, die erst durchsetzten, was in den Demokratien obligat geworden ist: die Unterwerfung unter Arbeit, Fabrik, Markt, Bürokratie, Staat, Geld. Vergessen wir nie die tote Gewalt, auf der all diese Errungenschaften, so sie denn welche sind, bauen. Die Diktatur ist nicht der Gegensatz, sondern lediglich die immanente Kehrseite der Demokratie: "Da die Demokratie nichts weiter als eine verinnerlichte und verrechtlichte Diktatur des irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks ist, kann sie auch jederzeit wieder aus sich heraus in offen terroristische Verhältnisse umkippen, sobald die 'schöne Maschine' aufhört zu funktionieren oder in ihrem Lauf gestört wird." (Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt am Main 1999, S. 580) Wir haben keine offene Diktatur, weil die abstrakten Subjekte in ihrer Selbstdisziplin die Herrschaft durch ihre Handlungen stützen wie schützen.

Aber ist nicht in der Demokratie die Gewalt verschwunden? Im Gegenteil, sie ist so stark, dass sie sich wenig demonstrieren und dekorieren muss. Zumindest in den Inländern der westlichen Hemisphäre, von den Grenzen und den Ausländern reden wir hier nicht. Was den Leuten hierzulande aufgebürdet wird, das erledigen sie zumeist und zuhauf von selbst. Passiv und Aktiv fallen in eins. Was mir angetan wird, tue ich selbst. Willigkeit triumphiert. Gerade in der Demokratie ist das Gewaltmonopol am deutlichsten realisiert worden, mehr als in jeder Diktatur, die ja aufgrund der Repression andeutet, dass das Monopol der Gewalt gefährdet ist, Selbstbeherrschung nicht reibungslos funktioniert, sondern zusätzlich durch äußeren Zwang motiviert und gefestigt werden muss. Die sogenannten Diktaturen offenbaren trotz martialischem Getöse somit ihre Schwächen. Ihre prekären Herrschaftsmechanismen laufen alles andere als geschmiert. Aber seien wir sicher, dass die geschlossene kapitalistische Demokratie die offene kapitalistische Diktatur in nicht nur einer ihrer Abstellkammern versteckt wie parat hält.


Evidente Krise

Fast alles, was die Demokratie trägt (im Sinne jetzt von beinhalten wie konstituieren), ist in Verruf geraten: Parteien, Politiker, Bürokratien, der Parlamentarismus, das Repräsentativsystem, die Gesetzgebung, der Proporz. Bejaht, und das dafür umso frenetischer, wird die leere Hülle, die anzubetende Chiffre. Das soll aber nicht auffallen, so auffällig es auch ist. So ist die Krise der Demokratie evident. Die Demokraten spüren das auch, aber erkennen tun sie es noch nicht.

Der Populismus hat gegen den herkömmlichen, von Funktionären und Mandataren geprägten Parlamentarismus die besseren Argumente, da er die Demokratie zu ihrem Ende denkt. Zu Recht beruft er sich auf das Volk und entzieht so denen, die sich auch auf dieses berufen, die Basis. Der Populist ist der in doppeltem Wortsinn lauterere Demokrat, da er ungeschminkt den alltäglichen Wahnsinn zum politischen Ausdruck bringt, in seiner reflexhaften Reflexionslosigkeit auf jede Abgehobenheit verzichtet. Hirn aus, Schnabel auf, ab die Post! "Ich habe keine Angst vor dem Volk", sagte der selige Jörg Haider, "daher bin ich für einen weiteren Ausbau der Direkten Demokratie." (Befreite Zukunft jenseits von links und rechts. Menschliche Alternativen für die Brücke ins neue Jahrtausend, Wien 1997, S. 99) "Demokratie hält die Demokraten auf Trab, und die Demokratisierung der Demokratie ist unser Anliegen", so derselbe (ebenda, S. 46). Man sollte das ernst nehmen, und nicht als Demagogie abtun.

Populismus ist Demokratismus. Der Populismus ist seinem Wesen nach nicht der Gegner der Demokratie, sondern ihre Konsequenz. So wie der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Populismus die Fortsetzung der Demokratie.

Das merkt man den Wahlkämpfen und Kampagnen auch an. Jede dieser demokratischen Prozeduren folgt in zunehmender Vehemenz den Gesetzen kulturindustrieller Inszenierung. Stimmungen werden produziert und Stimmen werden akkumuliert. Es funktioniert wie Verkaufen und Einkaufen. Ohne große PR-Apparate läuft nichts. Wer welche Summen aufstellen kann, das ist dabei eine nicht zu unterschätzende Frage. Die moderne Demokratie giert nach kommerzialisierter Abstimmung, auch in Form von Rankings und Meinungsumfragen. Selbst die divergierenden Interessen sind inzwischen weitgehend subordiniert.

Kritik hingegen müsste nach der Zurichtung der Stimmung fragen, woher sie rührt, wohin sie möchte. Kritik kann Maß, Anzahl, Quantum nicht als entscheidende Kriterien zulassen oder gar billigen. "Was die Leute wollen, sollen sie auch kriegen", ist schlichtweg inakzeptabel, sie haben nicht zu wenig, sondern schlicht zu viel davon. Vielmehr geht es darum, die Menschen gegen das Volk in Stellung zu bringen. Wer sich dem Willen des Volkes unterwirft, hat schon verloren. Wir müssen uns nicht hin zum Demokraten emanzipieren, sondern vom Demokraten weg. Demokratiebewegungen und Demokratiepolitik verraten das Neue stets an das Alte. Kein schöner Gedanke, der durch die Demokratie nicht in den Schmutz gezerrt wird.

Muss die Kulturindustrie täuschen, so wollen viele Linksdemokraten tatsächlich getäuscht werden, um ja nicht enttäuscht zu sein. Sie glauben der Demokratie aufs Wort, sie ist das Unschuldslamm der Geschichte. Exemplarisch sei hier der neueste Band von Michael Hardt und Antonio Negri erwähnt, der ja ganz deutlich sagt, was sie wollen: Demokratie! Wofür wir kämpfen (aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, Frankfurt/New York 2012). Es ist der politische Jargon des Konventionellen, der förmlich aus den Zeilen rinnt: Subjekt, Politik, Demokratie, Verfassung, Bürger, Nachhaltigkeit. Das Plädoyer "Für eine plurale Politik" (S. 74) darf da ebensowenig fehlen wie das eifrige Bekenntnis zu den "Demokratiebewegungen" (S. 73). An Gewaltenteilung und nicht Gewaltenabschaffung ausgerichtet, gelte es "einen Verfassungsprozess anzustoßen" (S. 14). Da ist nichts Neues unter der Sonne. Kommunismus und Militanz sind nun in der Demokratie ersoffen.

Hardt/Negri gleichen demokratischen Versicherungsvertretern, wenn sie schreiben: "Geld ist ein Instrument zum Austausch von Waren, dem Schutz von Ersparnissen und der Vorsorge für Unfälle, Katastrophen und das Alter" (S. 83), das freilich "als Instrument der Akkumulation verboten werden sollte" (ebenda). Immer wieder geht es um "die Möglichkeiten einer neuen partizipativen Demokratie" (S. 48). Der restaurierte Staatsfetischismus nennt sich dann auch noch "Paradigmenwechsel" (S. 58). Wie viel Naivität darf man solchen Großtheoretikern und ihren Anhängern durchgehen lassen? Es ist beschämend wie jemand Alternativen zum Kapitalismus entwickeln will und dabei pausenlos die abgestandenen Phrasen der Herrschaft rezitiert. Die Mottenkiste macht mobil. Von kategorialem Bruch keine Spur. Dieses Denken ist absolut befangen. "Gebt die Fackel weiter" (S. 7), fordern die Autoren. Löscht sie endlich aus, die Fackel, sagen wir.


Abnabelung

Es ist schon crazy: Nach zweihundert Jahren Demokratisierung wirkt diese auch heute noch als linke Zauberformel. Demokratisierung ist jedoch ein Projekt eines aufstrebenden und prosperierenden Kapitalismus gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Befriedigung in den Demokratien erfolgte auch ganz klassisch über Brot und Spiele. Selbstverständlich in kapitalistischer Form, als Waren von Industrie und Kulturindustrie. Von der Demokratie ist nichts anderes zu erwarten als sie bisher bereits geboten hat. Eher weniger, weil der Kapitalismus zusehends an seine Grenzen stößt und die Zeit des großen Fressens vorbei ist. Die virtuelle Fütterung wird sie nur bedingt ersetzen können, wenngleich man des Öfteren erstaunt ist, was Surrogate zu substituieren vermögen.

Die Krise der Demokratie ist eine fundamentale. Es ist davon auszugehen, dass ihre besten Tage Vergangenheit sind und trotz gegenteiligem Getöse die Absetzbewegungen größer werden. Vor allem die Politikverdrossenen sind ein Indiz. Der Glaube ist erschüttert, die Form marod. Emanzipation ist endgültig von Demokratie abzunabeln, will sie nicht an ihr ersticken. Transformatorische Theorie und Praxis hat sich nicht an ihr zu orientieren, sondern gegen sie zu positionieren.

Wir wollen also keine Demokratie reformieren, retten oder gar neu erfinden. Wir setzen auch nicht auf Zivilgesellschaft, die Etablierung von Bürgeridentitäten oder gar auf eine Radikalisierung der Demokratie. Letzteres erledigt hierzulande H.C. Strache. Demokratie ist auch kein "unvollendetes Projekt", sondern eine endende Form, auf keinen Fall eine "kommende" (Derrida). Nicht die Verteidigung der Demokratie steht an, sondern ihre Überwindung. Dieses Geschäft betreiben zweifellos auch Rechte und Obskuranten. Aber das ist kein Grund, davon abzulassen. Denn die wesentliche Frage ist, wohin die Reise geht. Die Zeiten der Andacht sind vorbei. Wir haben uns des gesamten bürgerlichen Universums zu entledigen.

Natürlich gilt es auch zukünftig Partizipation, Transparenz und Effizienz spezifisch auszutarieren, aber das ist dann jeweils konkret zu bestimmen. Die Folie dafür wird keine Demokratie und somit auch kein Markt und kein Staat sein.

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Freedom and Democracy

oder: Über die Obsoletheit der Privatperspektive im Bereich der Gesellschaft

von Emmerich Nyikos

"... und alles schrie: Freiheit und Democracy."
(Bertolt Brecht, Der anachronistische Zug)


1.

Was ist der Staat, was auch immer seine Form sei, in welcher Weltregion und in welcher Epoche man ihn auch immer antreffen mag? Er ist die volonté générale der herrschenden Klasse, also der Klasse, welche die Produktionsmittel einer Gesellschaft in Form des Privateigentums kontrolliert.


2.

Die volonté générale der herrschenden Klasse: also der "allgemeine Wille" der Klasse, der Ausdruck der generellen Belange der Klasse oder, wenn man so will, die "Klasse für sich", die sich eben als Staat, als apartes Subjekt, als Apparat aus "Behörden" (zivil, militärisch, juristisch) - basierend auf Steuern und dem Gewaltmonopol - organisatorisch fixiert, als eine Instanz allerdings, die sich über und jenseits der Gesellschaft mit ihren Klassen verortet. Über der Gesellschaft: über der surplusproduzierenden Klasse (und denen, welche die wie auch immer geartete "Zwischenschicht" bilden), aber auch und nicht minder über der Klasse der Privateigentümer, derer, die das Surplus kassieren, oder genauer: über der Summe sämtlicher Komponenten derselben, denn das Wesen der volonté générale ist genau dies, dass sie sich nicht als volonté de tous präsentiert - und deswegen auch nicht de tous les propriétaires. Denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das hat Jean-Jacques Rousseau, von welchem dankenswerterweise dieses Konzept stammt - das der volonté générale -, schon vor Hegel ganz klar erkannt. Ganz im Gegenteil ist es so, dass der Staat als volonté générale Maßnahmen ergreifen und durchsetzen kann, die dazu angetan sind, gegen den Strich sämtlicher Elemente der Klasse der Surplusaneigner zu gehen, und die nichtsdestotrotz exakter Ausdruck der Belange der Klasse - Maßnahmen der "Klasse für sich" - sind.


3

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Denn der "allgemeine Wille" hat nichts mit den "Vorlieben", den "Privatinteressen", dem "Willen" dieser oder jener - oder selbst aller - zu tun. Das einzusehen ist wirklich nicht schwer: Denn es mag, beispielsweise, das "Interesse" aller Betreiber von Fischkuttern sein, jeder für sich so viele Fische wie möglich zu fangen (um sich zu bereichern und Maximalprofite zu machen oder auch nur der Konkurrenz standzuhalten), allein, wenn das Meer leergefischt ist, dann gehen alle zugrunde - der "allgemeine Wille" (dass die Basis des Geschäfts nicht zerstört wird) wird durch den "Willen aller" (den persönlichen Profit zu vermehren) konterkariert. Wenn es hier keine despotische Macht gibt, die den "allgemeinen Willen" dem "Willen aller" aufzwingt, dann schlittern alle - auf lange Sicht - in eine Katastrophe hinein.


4.

Nun, die allgemeinen Belange der dominanten Klasse einer Gesellschaft, um die es im wesentlichen dem Staat als volonté générale dieser Klasse zu tun ist, bestehen erstens darin, langfristig sicherzustellen, dass die Gesellschaft in den gewöhnlichen Bahnen friktionslos, optimal und, so könnte man etwas salopp formulieren, "wie am Schnürchen" funktioniert (d.h. die Surplusabsaugung auf hohem Niveau und perspektivisch am Laufen zu halten und somit Dysfunktionalitäten des Gesellschaftssystems korrigierend auszugleichen sowie den Übermut und solche Mutwilligkeiten der dominierenden Klasse zu zügeln, die dazu angetan sind, Sand ins Getriebe der Gesellschaftsmaschine zu streuen), und zweitens bestehen sie darin, den Bestand der gegebenen Ordnung, wenn es darauf ankommen sollte, gegen innere und äußere Feinde zu sichern (d.h. vor allem, aber nicht nur, militärisch gerüstet zu sein, um jedweden Angriff von innen und außen parieren und neutralisieren zu können).


5.

Der Staat nun der société bourgeoise, einer Gesellschaft, in der die tote, vergangene, geronnene Arbeit in der Form des Kapitals - als sich verwertender Wert - sich die lebendige Arbeit in Lohnarbeitsform subsumiert, einer Gesellschaft, welche zugleich (als deren historische Basis) civil society ist - eine Gesellschaft mithin von freien und gleichen Warenbesitzern (und sei die Ware, über die man verfügt, nur das Arbeitsvermögen), von Warenagenten, die ihre Beziehungen über Verträge (und insbesondere über den Tauschprozess) regeln -, dieser Staat kann, will er seinem Begriff nahekommen, sich nur als Demokratie präsentieren: Wo es keine persönlichen Abhängigkeiten, keine Subordination der surplusproduzierenden unter die surplusaneignende Klasse, die gesellschaftlich (juristisch) sanktioniert wäre, gibt (wie in allen vorausgegangenen koerzitiven Klassensystemen, kommunal-despotischer, sklavistischer oder feudaler Natur), da ist zu erwarten, dass der Staat sich demselben Prinzip subsumiert, das in der Gesellschaft der Warenakteure weitgehend (wenn auch nicht ausnahmslos) waltet: dem Prinzip des Vertrags, im Umkreis dessen sich alle auf gleichem Fuß mit allen anderen befinden. Und das heißt, dass der bürgerliche Staat dahin tendiert, sich mit der Zeit zu einem Staat von freien und gleichen "Bürgern" zu mausern - zu einem Staat von citoyens.


6.

Dies kommt letztendlich darin zum Ausdruck, dass man die Funktionäre des Staatsapparats wählt und dass alle - nicht nur, wie anfangs, die Haushaltsvorstände oder diejenigen, die zu den Vermögenden zählen - über eine Stimme verfügen, so viel "wert" wie die aller anderen auch. Das ist das Prinzip der Demokratie, der Staatsform, die einer Gesellschaft von Warenakteuren kongenial ist. Alles andere dann - freedom mit den Rechtsgarantien, einer Justiz, die unabhängig agiert, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und was es dergleichen noch mehr an droits de l'homme gibt - ist eine Zutat, mit der hier einmal mehr, dort einmal weniger (je nach den Umständen) das Ganze garniert wird. Da kann es schon mal passieren, dass eine unerwünschte Gruppierung, eine Meinung, die aus dem Konsens herauszufallen beliebt, oder auch Aktionen, die als "gefährlich" firmieren, dem Verdikt der "Verfassungswidrigkeit" kategorisch verfallen - also alles, was für die herrschende Ordnung unliebsam ist, für eine Ordnung, die sich natürlich sich selbst und den anderen als Demokratie und nur als Demokratie präsentiert und nicht auch als Klassengesellschaft - als société bourgeoise -, wo allerdings "Freiheit" und "Gleichheit" eine Schimäre, nur Fiktion sind: nur auf der Oberfläche der Welt der Erscheinung, als ideologisches Spiel, existieren.


7.

Wenn in der bürgerlichen Gesellschaft nun aber auch alle citoyens sind und alle frei wählen und gewählt werden dürfen, so gilt dennoch nicht minder: Der Staat ist die volonté générale der herrschenden Klasse, auch und noch mehr in seiner demokratischen Form. Wie das? Nun, was den bürgerlichen Staatsapparat in seiner demokratischen Verfasstheit aus der Masse aller Verfassungsmodelle heraushebt, das ist, wie wir sahen, die Wahlprozedur (durch die im Prinzip ausnahmslos alle, Hinz und Kunz, gewählt werden können): Die Kandidaten versprechen dabei dem Publikum dieses und jenes, und die Wähler geben dann ihre Stimme gemäß ihren privaten Vorlieben ab - entsprechend ihren Privatinteressen. Die so Gewählten indessen, um die Belange ihrer Klientel bedienen zu können oder - wenn es sich zynischerweise nur um sie selbst und ihren Machterhalt handelt - um überhaupt zu vermeiden, dass sie nach Ablauf ihres Mandats wieder abgewählt werden, müssen zuallererst dafür sorgen, dass das System (und insbesondere die Verwertung des Werts) störungsfrei "funktioniert" - denn wenn es das nicht tut (wenn es ins Schleudern gerät), dann können sie ihre Versprechen beim besten Willen nicht halten (und das heißt: nicht die Belange ihres Anhangs bedienen) - und überhaupt werden sie dem Publikum dann als Banausen erscheinen - und dann straft man sie auch erbarmungslos ab, ist es doch so, dass es Konsens ist (weil offenbar niemand das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft begreift), das Staatspersonal (und nicht das System) für die Misere haftbar zu machen - es darf, anders gesagt, die Rolle des Sündenbocks spielen. Es wird also alles Menschenmögliche tun, um das System am Laufen zu halten (das Wachstum und die Profitrate hoch, die Zahl der Störungen niedrig), d.h., es wird, wenn es dies tut, im Sinne der herrschenden Klasse agieren (eben als volonté générale der Bourgeoisie).

Dabei spielt es gar keine Rolle, wer nun das Staatspersonal im Endeffekt stellt, ob diese oder jene Gruppierung, ob "links" oder "rechts", ob Repräsentanten dieser oder auch jener Gesellschaftsschicht - zur Bourgeoisie jedenfalls müssen sie keineswegs zählen; vielmehr scheint es von Vorteil zu sein, wenn man Kapitaleigentümer, Tycoons und Aktionäre, Bourgeois in sensu stricto mithin, von der "Macht" fernhalten kann. Man erspart sich so Scherereien (wie im Fall Berlusconi). Denn wer über Milliarden verfügt, der vergisst ziemlich leicht, dass er als Chef der Regierung lediglich primus inter pares sein kann - die Abgehobenheit ist, wie man weiß, direkt proportional zum Geldbetrag auf den Konten.

In dieses Bild passt es dann auch, dass das Vergehen, die Untat, der Frevel schlechthin, der Skandal also katexochen, die persönliche Bereicherung der "Staatsdiener" ist - denn wer sich bereichert, wer also korrupt ist, ist offenbar (indem er Partikularinteressen begünstigt) nicht Ausdruck, nicht Funktionär der volonté générale; er schadet vielmehr eklatant den Belangen der Gesamtheit der herrschenden Klasse.


8.

Ideologische Praxis lässt sich wie folgt resümieren: Das "Bild von der Welt", das eine (negative) Funktion der Praxis im Alltagsleben ist, insofern nichts, was gedacht wird, dem Tun, dem Verhalten, der Praxis ins Gesicht schlagen darf, wenn es darum zu tun ist, Friktionen mentaler Natur zu vermeiden, zu verhindern, dass man aus dem moralischen Gleichgewicht fällt, dieses "Bild von der Welt", von der die "Welt" verständlicherweise stets abweichen wird (weil das "Bild" eben Einbildung ist), fungiert als Modell, dem man - und das ist "ideologische Praxis" - die Wirklichkeit anzugleichen versucht, damit die sichtbare Welt das "Bild von der Welt" nicht desavouiere - die Wirklichkeit allerdings in ihrer Oberflächendimension, die Welt der Erscheinung, weil das Wesen der Welt, die Tiefenstruktur der Gesellschaft, offenbar nicht so ohne weiteres transformiert werden kann. Die Welt der Erscheinung wird auf diese Weise daher dem Wesen der Dinge, der Substanz des Systems, noch weiter entfremdet, als dies ohnedies schon auf spontane Weise geschieht.

In diesem Sinne fungieren demnach freedom and democracy als ideologisches Tandem, ist es doch so, dass die "Freiheit und Gleichheit", das Zweigespann, das auf der Oberfläche des Gesellschaftssystems so prominent figuriert, dass es gar nicht umhin kann, allen ins Auge zu stechen, in der Basisstruktur, was das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft betrifft, inexistent ist: Hier haben wir es mit einer Klassengesellschaft an und für sich zu tun und damit - weil diese Gesellschaft als Gesellschaft von Warenakteuren bewusstlos und ungeplant, eben spontan sich geriert -, dass die "sachlichen Mächte", von denen Marx spricht, das Leben von allen hinter ihrem Rücken als unsichtbarer Despot dirigieren - dieses Tandem also verbirgt und vertuscht, dass wir nichts als Marionetten der Umstände sind.


9.

Das, was die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Tiefenstruktur, in ihrem tiefsten Inneren ausmacht, das ist, dass alles, was es auch sei, vom Standpunkt der privaten Belange geschieht, und dies gilt auch dann, wenn wir uns auf den Staat als volonté générale der herrschenden Klasse beziehen, insofern es hier indirekt und in letzter Instanz auch nur um diese privaten Belange zu tun ist. Denn der bürgerliche Staat sichert das Funktionieren einer Gesellschaft, in der das Private es ist, das den Ton letztlich angibt. Das Wesen dieser Gesellschaft ist eben die Dominanz des Privatinteresses. Das haben schon Helvétius, Smith und all die anderen Denker der aufstrebenden bürgerlichen Klasse gewusst - und sie haben dieses Privatinteresse zugleich als den wirklichen Motor der Produktion des Reichtums begriffen.


10.

Die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft - die Dominanz der Privatperspektive, die sich als production pour la production niederschlägt - hat dann aber auch wirklich das Produktivkraftniveau der Gesellschaft auf ungeahnte Höhen gehoben, hat die Gesellschaft (im Prinzip jedenfalls) von dem jahrtausendealten Mangel und dem adamitischen Fluch der Plackerei für immer befreit. Die Privatperspektive in ihrer kapitalistischen Form hat in der Tat eine durch und durch revolutionäre Rolle in der Geschichte der Menschheit gespielt.

Heute ist dieser Standpunkt jedoch ganz und gar obsolet. Denn nicht nur, dass mit dem Verschwinden des Werts infolge der Automatisierungsprozesse die Substanz des Systems sich allmählich auflöst - es seine raison d'être verliert -, eben weil, sobald sich alles von selbst produziert, so dass die Dinge einfach nur da sind so wie die Naturdinge auch, so wie die Luft, der Austausch und all die anderen Formen, die auf dem Austausch beruhen, unnötig sind und nur aus dem einen Grund überleben, dass das Monopol des Privateigentums sie am Leben erhält; nicht also nur dies, sondern auch, dass im Rahmen des Privateigentums und des kapitalistischen Verwertungsprozesses die Produktionskräfte im Laufe der Zeit zu Destruktionskräften werden, wie man dies augenfällig am World Overshoot Day sehen kann, der neuerdings schon in den Monat August fällt - die Ressourcen, über die die Weltgesellschaft für das betreffende Jahr im Prinzip disponiert, sind nach acht Monaten schon ganz und gar aufgebraucht, so dass diese Gesellschaft, indem sie mehr extrahiert, als ihr eigentlich zukommt, ganz auf Kosten ihrer Nachkommen lebt, die, weil noch nicht geboren, sich dagegen natürlich nicht wehren. - Von den Verheerungen des globalen Ökosystems im Hier und im Jetzt ganz zu schweigen.


11.

Zugleich aber ist es auch so, dass das erstaunliche Produktivkraftniveau, das uns das Kapital malgré lui infolge der stetigen Produktion von relativem Mehrwert beschert hat, die Konstruktion einer ganz andersgearteten Gesellschaft erlaubt, eines "freien Vereins", wie Marx diese Gesellschaft einstmals genannt hat: Denn ist erst einmal - auf der Basis des relativen Überflusses und der Maximalreduktion der Arbeitszeit der Gesellschaft - das Privateigentum durch das Gemeineigentum abgelöst, dann kann die Spaltung in Klassen verschwinden, dann kann die Gesellschaft bewusst und gemäß einem Plan (und nicht mehr spontan und bewusstlos) agieren (wobei alles irrationale Verhalten, das man nie wird ausmerzen können, in die Privatheit verbannt wird), dann auch beherrscht der Gebrauchswert (und nicht mehr der Tauschwert) das produktive Geschehen - als Angelpunkt des "Stoffwechsels mit der Natur" -, wodurch schließlich auch der "Wachstumsimpuls" mit Stumpf und Stiel ausgemerzt wird (mit all seinen verheerenden Folgen).


12.

Der Standpunkt dieser Gesellschaft, der Blickpunkt, von dem aus agiert werden muss, ist dann jedoch - ganz im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Dominanz des Privaten (des "Privatinteresses") - die Totalität, das Ganze, mithin die Geschichte: die Weltgesellschaft in ihrer zeitlichen Dimension. Und es kann nur dieser Gesichtspunkt der alles beherrschende sein.

Und der Staat? Die volonté générale der assoziierten Gesellschaft auf globalem Niveau? Dieser "Staat" (sofern man ihn noch als solchen begreift) kann, als Ausdruck der "Weltgesellschaft für sich", offenbar auch nur den Standpunkt der Totalität, des Ganzen, d.h. der Geschichte einnehmen. Und das bedeutet im Klartext: Das "Staatspersonal" muss konsequent von diesem Standpunkt aus handeln - d.h. aus der "Luftperspektive", das Ganze der Weltgesellschaft im Blick.

Um dies jedoch garantieren zu können, bedarf es eines Auswahlverfahrens, das von dem der bürgerlichen Gesellschaft - der Demokratie - fundamental differiert: Denn worauf es vornehmlich ankommt, das ist, die privaten Belange, den Standpunkt mithin des "Privatinteresses", aus dem öffentlichen Raum konsequent zu verbannen. Und dies kann nur dadurch bewerkstelligt werden, dass man den Zugang zu diesem Bereich auf doppelte Weise beschränkt: dadurch, dass zur Voraussetzung des Kandidatenstatus gemacht wird, dass man ein langjähriges Studium (nicht nur, aber vor allem auch der Geschichte) absolvieren wird müssen, das alleine schon viele abschrecken dürfte, denen es nur um die Karriere zu tun ist, und zugleich die Kenntnisse liefert, die für den "Blickpunkt der Totalität" notwendig sind; und dann dadurch auch, dass man aus diesem Kreis durch den Zufall, durch das Los (wie im antiken Athen) die Funktionäre bestimmt - denn wenn man gar nicht sicher sein kann, dass man je ausgewählt wird, wenn die Wahrscheinlichkeit dafür vielmehr ziemlich gering ist, dann sinkt auch der Antrieb, sobald es nur um private Belange zu tun ist, sich überhaupt zu bewerben. Und die Gleichheit? Nun, diese besteht ja gerade darin, dass keinem der Zugang zur Studienphase verwehrt wird - es hängt ganz von den Personen selbst ab, ob sie sich melden oder auch nicht; und noch mehr besteht diese Gleichheit im Zufall, der, weil vollkommen blind, keinen wie auch immer gearteten Unterschied macht. - An die Stelle von freedom and democracy, die heute so genial den Blick auf die Unterwerfung unter die "sachlichen Mächte" vernebeln, würde die Freiheit dann treten, die sich als Einsicht in die Notwendigkeit, und vor allem als diese, versteht - oder als Pflicht, wenn man so will, im öffentlichen Raum nicht borniert, nicht wie die Idioten zu handeln.

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Die Wahre Demokratie

von Peter Klein

Demokratie als Rechtsstruktur

Das Volk war seit jeher ein Sorgenkind der bürgerlichen Gesellschaft. Wo es politisch aktiv wurde und in jener Massenhaftigkeit auftrat, die ihm die Macht zum Umsturz der jeweiligen Verhältnisse verlieh, erfüllte es eigentlich nie die Erwartungen, die seine Freunde, die Ideologen der Demokratie, in es gesetzt hatten. Die großen Volksbewegungen führten, selbst wenn sie kurzfristig erfolgreich waren, keineswegs zu freien, friedlichen oder glückverheißenden Lebensumständen. Vielmehr waren chaotische Zustände mit grausam geführten Bürgerkriegen die Regel, in deren Gefolge dann irgendein Cromwell oder Napoleon oder Stalin die Macht an sich riss, um die erschöpften Menschen mit einer Diktatur zu beglücken, die es ihnen im Namen der Volkseinheit untersagte, gewisse Thesen, um die sie zuvor verbissen und mit dem Anspruch letztgültiger Wahrheit gestritten hatten, überhaupt noch öffentlich zu erwähnen. Soweit aber Aggressionen abzuleiten waren, fand sich immer ein "Volksfeind", der alle Übel verursacht hatte.

Auctoritas non veritas facit legem, heißt es bei Thomas Hobbes, der solcherart die Konsequenz aus der Epoche der religiösen Bürgerkriege zog. Für die entstehende bürgerliche Gesellschaft, der es wesentlich um die Sicherheit und den regelmäßigen Gang der Geschäfte zu tun war, war dies gewiss eine vernünftige Maxime. Und vollends vernünftig wäre es, meinte Kant ca. 120 Jahre später, wenn wir im allgemeinen Gesetz schon als solchem, ohne dass es auf einen bestimmten Inhalt festgelegt wäre, die maßgebende Autorität in den öffentlichen Angelegenheiten anerkennen würden. Die "letztgültige Wahrheit", mit der der einzelne Bürger, sei es im Diesseits, sei es im Jenseits, glücklich zu werden hoffe, sollte ihm selbst überlassen sein. Jedes Vernünftige Wesen, das sich eines eigenen Willens bewusst sei, müsste an einem solchen von allgemeinen Gesetzen regierten Zustand interessiert sein. Denn er gebe ihm die Freiheit, seinen Willen auf jeden beliebigen Zweck zu richten, sofern dadurch der Wille keines der anderen vernünftigen Wesen, dem das Gesetz die gleiche Freiheit sichere, Verletzt werde. Niemand dürfe zu seinem Glück gezwungen werden, alle Beziehungen, auch die in der Arbeit, sollten auf der Übereinkunft freier Rechtspersonen beruhen.

Die Herstellung einer solchen Gesellschaftsstruktur, die an der Idee der freien, für sich selbst verantwortlichen Rechtsperson ausgerichtet war, traf natürlich auf den Widerstand der ständischen Einrichtungen, Sitten und Gewohnheiten. Freiheit und Gleichheit waren harte metaphysische Brocken für eine Zeit, in der es selbstverständlich war, bei hochwohlgeborenen Herrschaften bzw. gnädigen Herren oder Frauen im Dienst zu stehen. Dass auch die Angehörigen der "unselbständigen Klassen" mit allen Bürgerrechten ausgestattet sein sollten, ging der "guten Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts nicht in den Kopf. Insbesondere das allgemeine Wahlrecht, wie es die demokratischen "Radikalinskis" jener Zeit forderten, galt als die Vorhölle des Kommunismus, in dem dann nicht nur das Eigentum, sondern jede Art von Anstand, Sitte und Kultur vernichtet sein würden.

Gleichwohl entsprach die von Kant skizzierte Struktur in hohem Maße der gesellschaftlichen Entwicklung zum Kapitalismus, dessen Verwertungslogik immer mehr Produktionszweige erfasste und die Zahl jener freien Warenbesitzer, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen waren, laufend vermehrte. Freiheit und Gleichheit wurden zur Überschrift über einer Epoche, die in allen Lebensbereichen zum "gleichen Recht" hindrängte. "Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch drängt", heißt es in der "Internationale", deren Text aus dem Jahre 1871 stammt. Und das gleiche Recht bedeutete für die Unterschichten auch mehr Freiheit und Unabhängigkeit von ihren "Dienstherren" und "Brotgebern", nach deren Auffassung sie ja - ebenfalls laut "Internationale" - "Unmündige" und "Knechte" waren. Freiheit und Gleichheit samt den daran geknüpften Vorstellungen und Hoffnungen waren gleichsam das ideologische Manna, mit dem es gelang, das "Volk", das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein reichlich distanziertes Verhältnis zu den in der Fabrik angebotenen Arbeitsplätzen hatte, einzufangen und in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, die darüber zur demokratischen Staatsbürgergesellschaft wurde, einzubauen.

Gut 150 Jahre nach Kant und im Anschluss an zwei mörderische Weltkriege, in denen das "Volk", diesmal qua ideologischer Gleichschaltung bereits staatlich organisiert, noch einmal Gelegenheit hatte, massenhaft in Aktion zu treten (und alle Befürchtungen des 19. Jahrhunderts zu bestätigen), war das Modell der "westlichen Demokratie" im Wesentlichen fertiggestellt. Ein Staatswesen hatte sich entwickelt, das sich nicht nur in den Fragen der Religion, sondern auch in denen der Geburt, der Hautfarbe, des Besitzes, des Geschlechts und überhaupt in jeder Frage, deren allgemeinverbindliche Entscheidung irgendjemanden privilegieren oder diskriminieren könnte, für politisch neutral erklärte.

Die Struktur dieses Staatswesens entspricht in etwa dem, was Kant (und vor ihm Rousseau) im Sinne gehabt hat: Eine Masse von vereinzelten Individuen fristet ihr Leben unter allgemeinen Gesetzen. Mit dem Inhalt dieser Gesetze wird dagegen pragmatisch verfahren - je nachdem, welche Phänomene im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung auftauchen, die allgemein als problematisch und regelungsbedürftig angesehen werden. Dort, auf der Ebene der Struktur, wirkt die von den Menschen weitgehend verinnerlichte und darum stumm gewordene auctoritas; hier dagegen, bei der immer noch weiteren Ausgestaltung und Neuformulierung von Gesetzen, genießen wir, nach Herzenslust über alle Arten von veritas debattierend und streitend, den demokratischen Meinungspluralismus.

Meinungsmäßig befinden wir uns also in einer überaus komfortablen Situation. Weder müssen wir die jungfräuliche Geburt Jesu für wahr halten, noch sind wir dazu verpflichtet, im Kommunismus eine Machenschaft der jüdischen Rasse zu sehen - aber wir dürfen es, sofern dadurch die öffentliche Ordnung nicht gestört wird. An die Stelle des "Wahrheitsministeriums", das George Orwell 1948 auf den modernen Menschen zukommen sah, ist das Amt für öffentliche Ordnung getreten. Es schreibt uns nicht vor, was wir zu glauben, zu bekennen oder für wahr zu halten haben, sondern nur, dass wir bei all unserem Glauben und Bekennen doch bitte sehr den Rahmen der allgemein geltenden Gesetze beachten mögen, auf dass niemand in seiner abweichenden Meinung verletzt oder gekränkt werde. Dem Geld als dem gar nicht so heimlichen spiritus rector dieser Gesellschaft kommt es nämlich nicht auf unsere Gesinnung an: "Das Strafrecht bestraft Taten, nicht Gesinnungen. Es greift auf Täter zu, nicht auf Typen", stellte Heribert Prantl, der Rechtsstaatsbeauftragte der Süddeutschen Zeitung, erst kürzlich wieder einmal klar (SZ vom 27.9.2014).

Solange wir nur praktisch mittun beim gesellschaftlichen Prozess der Geldanhäufung und uns bemühen, an irgendeiner der vom System angebotenen Stellen Geld zu Verdienen, können wir Meinungen äußern, soviel wir wollen. Am Prinzip des kapitalistischen Wertverwertungszwanges und an der längst sinnlos gewordenen Produktionsorgie, in die er die Menschheit noch täglich hetzt (ohne seinen Zweck, das Mehrwerden des Werts, überhaupt noch erreichen zu können), ändert sich dadurch nichts. Es liegt im Gegenteil klar auf der Hand, dass das kapitalistische Zerstörungswerk, das auf dem besten Weg ist, die Erde unbewohnbar zu machen, mit den demokratischen Freiheiten besser funktioniert als ohne sie. Und so mancher Diagnostiker unserer Zeit hat bereits den Verdacht geäußert, dass das vielstimmige Meinungszwitschern im Internet nichts anderes ist als eine Art des resignierten Verstummens, die postmoderne Variante der Friedhofsruhe sozusagen.


Der Verwirklichungsglaube

Der wahre Gläubige lässt sich von den mit der realen Demokratie gemachten Erfahrungen freilich nicht erschüttern. Nach 200 Jahren Demokratisierung, die nichts anderes waren als die Durchsetzung, Entwicklung und Modernisierung des Kapitalismus, gibt es immer noch Idealisten, die die Demokratie für ein antikapitalistisches Projekt halten. Pamphlete, denen zur Occupy-Bewegung oder zum Arabischen Frühling von 2011 nichts anderes eingefallen ist, als zum hundertsten Male die "Demokratie!" auf die Tagesordnung zu setzen, sprechen eine klare Sprache, ebenso Michael Hardt/Antonio Negri: "Demokratie! - Was wir wollen" (Frankfurt/New York 2012). In früheren Zeiten hatte das "Volk" entweder nicht die richtige soziale Zusammensetzung, oder es war politisch unreif, oder die Führer haben moralisch versagt - am Ideal der Demokratie kann es jedenfalls nicht gelegen haben, wenn irgendetwas schiefgelaufen ist mit den diversen Volksbewegungen. Die wahre, eigentliche und echte Demokratie steht wie eh und je zur "Verwirklichung" an.

Dieser Verwirklichungsimpuls funktioniert bei linken Demokraten geradezu reflexhaft, weshalb er sehr gut zu der hektischen Geschäftigkeit passt, die den modernen Alltagsmenschen auch sonst auszeichnet. Genauso kopflos wie dieser den Lebensgenuss für Erfolg und Karriere opfert, wie das Mainstream-Denken in Politik und Ökonomie die immergleiche Litanei von den "Arbeitsplätzen" und dem "Wachstum" herunterleiert, genauso kopflos befindet sich der Demokrat immer schon im Einsatz für die "Verwirklichung" seiner Ideale. Anstatt zu fragen, welchen Wirklichkeitsgehalt diese Ideale schon als solche besitzen, welches gesellschaftliche Verhältnis sich darin spiegelt, nämlich das von gleichberechtigten Marktteilnehmern bzw. Warenbesitzern, die es als flächendeckende Erscheinung nur im Kapitalismus geben kann, wird blindlings drauflos "verwirklicht". Und eben in diesem blinden Verwirklichungsdrang sind die Demokraten typische Repräsentanten (heute wohl besser: Restbestände) der bürgerlichen Epoche, deren Metaphysik seit den Zeiten der Reformation eine Aufforderung zum Handeln darstellt.

Während der vormoderne Gott einer weitgehend statischen Lebensordnung mit gering entwickelten Produktivkräften angehört und deshalb von den Gläubigen verlangt, dass sie sich in die Welt, wie er sie nun einmal geschaffen hat, hineinfinden und mit Geduld und Demut alles ertragen, was er ihnen an Prüfung und Fügung zumutet, auf dass sie ihren gerechten Lohn im Jenseits empfangen, wirkt die bürgerliche Religion aktivierend und anspornend. Die bürgerlichen Tugenden des Arbeitsfleißes und des Immer-strebend-sich-Bemühens sind zwar ebenfalls gottgefällig, sollen aber bereits im Diesseits Früchte tragen.

Das Heute ist verbesserungsbedürftig, und der Bürger stößt sich von ihm ab im Namen einer Zukunft, die mit dem Bild vom besonnten Alter durchaus noch in die eigene Lebenszeit fällt. Spätestens die Kinder und Enkel "sollen es einmal besser haben". Diese zukunftsorientierte Haltung, die sich seit dem 18. Jahrhundert zu einem die ganze Weltgeschichte umfassenden Fortschrittsglauben verfestigte, wurde durch die demokratische Ideologie in einer Weise ergänzt, die auch den Unterschichten das perspektivische Denken nahebrachte und auch bei ihnen den Boden bereitete für jene Mentalität des Machens und Schaffens und Ärmelhochkrempelns, das zu einer Gesellschaft gehört, die sich nach dem bekannten Marx-Wort in "ewiger Unsicherheit und Bewegung" befindet, in einem Prozess der "fortwährenden Umwälzung der Produktion".

Zunächst, solange das "Kapital" als eine eigene, sozial klar abgegrenzte Klasse von Fabrikanten und Unternehmern in Erscheinung trat, mochte es so aussehen, als sei das Verlangen nach Demokratie, weil es sich gegen die rechtliche und politische Privilegierung der "besitzenden Klassen" richtete, die man alsbald zu "enteignen" hoffte, gegen den Kapitalismus überhaupt gerichtet. Dem 19. Jahrhundert kann man die Illusionen, die es in das sozialistisch verwaltete "Staatseigentum" setzte, noch nachsehen; sie hatten ihre Entsprechung in den Befürchtungen und Ängsten auf Seiten der "Bourgeoisie". Und das "Vorwärts!" und das "Avanti popolo!" der alten Arbeiterbewegung zielte ja tatsächlich auf eine "andere Gesellschaft": auf eine, in der auch der Arbeiter sich werde Bücher leisten können oder Klavierstunden für seine Tochter, so Martin Andersen Nexö in seinem Roman "Pelle der Eroberer" (1910), in der es nach Hans-Magnus Enzensberger über einen Anarchistenkongress in Spanien 1898 "strahlende Hochhäuser" geben werde mit "Fahrstühlen, die einem das Treppensteigen ersparen würden, Müllschlucker und wunderbare Haushaltsmaschinen ...". Recht bald aber zeigte sich, dass der Kapitalismus, rein auf der selbstgenügsamen Abstraktion "Wert" (bzw. Geld) basierend, zwar die vereinzelte Rechtsperson samt Staat, nicht aber den vereinzelten Besitzer von Produktionsmitteln nötig hat. Für ein Anderswerden nach der Vorstellung der sozialistischen Demokraten (oder demokratischen Sozialisten) hatte dieses System in seiner weiteren Entwicklung durchaus noch Platz.

Die ständig sich steigernde Produktivität führte zu einer Situation, in der die Massen nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten benötigt wurden. An die Stelle der Bilder, die man ins "Morgenrot einer neuen Zeit" projiziert hatte, traten die handgreiflichen Konsumgegenstände selbst, auf die sich die Menschen, indem sie auf das neue Auto, die Waschmaschine oder den nächsten Urlaub sparten, genauso perspektivisch beziehen konnten wie zuvor auf die "andere Gesellschaft", jetzt aber zunehmend als "Individualisten". Bei der Vielzahl der angebotenen Markenartikel hatte der freie Wille, jene Fetischkategorie der Demokraten, endlich das ihm gemäße Betätigungsfeld erreicht.

Gleichzeitig kam es zur Versachlichung der Produktionsverhältnisse. Die Entwicklung von Technik und Wissenschaft verlangte nach sachkundigen Arbeitern. Man konnte die teuren und technisch anspruchsvollen Produktionsmittel nicht in die Hände von Analphabeten geben - und die besser ausgebildeten Arbeiter nicht wie "unmündige Knechte" behandeln. Auch die Betriebsführung versachlichte sich in den weltweit operierenden Unternehmen mit Tausenden von Arbeitern, und sie wuchs mit der Staatsbürokratie, die für die Infrastruktur zu sorgen hatte, zusammen. Forschung, Produktion, Rechnungsführung, Personalwesen, Marketing: das alles muss zweckrational organisiert und verwaltet werden.

Die Figur des individuellen Kapitalisten, der den Charakterschauspieler des Patriarchen und Betriebsfürsten gegeben hatte, wurde zunehmend ersetzt durch anonyme Organisationen wie die Aktiengesellschaft, die GmbH oder die Staatsholding, die von eigens dafür ausgebildeten Angestellten und Funktionären geführt werden. Die Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften sind aber kein Standesprivileg. Die sozialen Schranken fielen, und im expandierenden Kapitalismus gab es in erheblichem Umfang die Möglichkeit - Stichworte: freie Bahn dem Tüchtigen, vom Tellerwäscher zum Millionär - zum sozialen Aufstieg, die dem freien Willen ein weiteres Betätigungsfeld eröffnete. Mit Talent, Fleiß und Ehrgeiz können wir an jede Stelle gelangen, die der demokratische Kapitalismus im Angebot hat. Frauen befinden sich inzwischen an der Spitze von Konzernen und Regierungen, ein Schwarzer konnte Präsident der USA werden. Emanzipation, wohin man blickt. Ein schöner Erfolg der Demokratisierung, der die Konkurrenz um die guten Posten und die Angst, keinen abzubekommen, bekanntlich verallgemeinert und in den Kindergarten vorverlegt hat.


Die bittere Wahrheit von Freiheit und Gleichheit

Freiheit und Gleichheit sind also keineswegs ein "Betrug", wie man es von den demokratischen Prinzipienverwirklichern immer wieder zu hören bekommt. Sie sind bittere Wahrheit in einer Epoche, in der die Menschen von einer Metaphysik gleichgeschaltet wurden, die ihnen den bornierten Standpunkt des vereinzelten Warenbesitzers aufzwingt. Wie weit dieser Gleichschaltungsprozess gehen würde, konnte Marx zu seiner Zeit natürlich nicht voraussehen. Damals waren die schier unüberwindlichen Standesschranken das Hauptproblem, und die elenden Lebensumstände der Arbeiter, die das System inzwischen samt der Kindersklaverei an seine Peripherie verfrachtet hat. Aber eines war für ihn sonnenklar: dass Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Epoche angehören und einem Verhalten entspringen, das die Menschen auf dem Markt entwickelt haben, wo sie die Produkte ihrer Arbeit, die dadurch zu Waren werden, gegeneinander tauschen. Der Warentausch aber ist ein friedlicher Vorgang; im praktischen Vollzug des Tausches erkennen sich die beiden Partner wechselseitig als frei voneinander und als gleichrangig an, es mag ihnen bewusst sein oder nicht. Als "Warenhüter", schreibt Marx im "Kapital", müssen sich die Menschen "zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so dass der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen." (Das Kapital, Band I, S. 99)

Was die Demokraten also unter den Parolen von Freiheit und Gleichheit seit den Zeiten der Französischen Revolution."verwirklichen" wollten, ist eine Gesellschaft, in der sich die Menschen zueinander als Privateigentümer verhalten, ein Projekt, das der Entwicklung zum modernen demokratischen Kapitalismus nur förderlich sein konnte. Denn die symmetrische Figur des Warentausches, die konstitutiv ist für den Standpunkt des gleichberechtigten Individuums, kann nur im Kapitalismus zum Bestandteil des alltäglichen Lebens werden. Die Figur W-G-W - ich verkaufe die in meinem Besitz befindliche Ware (W), um mit dem eingetauschten Geld (G) dann meinerseits als Käufer der Waren (W) auf den Markt zu gehen - wird für die Masse der Bevölkerung erst dann zur alltäglichen Realität, wenn sie eingebettet ist in die übergeordnete Bewegung G-W-G' des Kapitals, wenn es sich bei der eingangs verkauften Ware also um die eigene Arbeitskraft handelt. Als das die gesamte Gesellschaft beherrschende System, das der Kapitalismus im Verlaufe des 20. Jahrhunderts geworden ist, kann er nur funktionieren, wenn das Geld, um dessen "immerwährende" Vermehrung es geht, auf allen Stationen des gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges - sei es als Mittel, sei es als Zweck - zur ausschlaggebenden Instanz geworden ist, an der sich die Entscheidungen der Menschen orientieren.

Der in der modernen Demokratie allgemein verbreitete Standpunkt des privaten Warenverkäufers, der uns selbst mit unseren harmlosesten Bedürfnissen zunächst an das Geld verweist, das wir verdienen müssen, ist das Hauptproblem. Denn vermittelt durch das Geld sind wir der Bestandteil eines weltweit dimensionierten Produktionsapparats, der, vom kapitalistischen Zweck der Geldvermehrung angetrieben, längst schon zu einer Maschine der Zerstörung geworden ist, die sich gerade gegen die elementarsten Dinge, die wir zum Leben brauchen: atembare Luft, fruchtbaren Boden, sauberes Wasser, nicht zu vergessen die Lebensfreude, rücksichtslos verhält. Der Widerspruch zwischen dem privaten Standpunkt des freien Individuums und dem gesellschaftlichen Produktionszusammenhang, in den es eingespannt ist, hat sich zugespitzt bis zur offenen Schizophrenie, er ist dabei zu eklatieren, die Maschine ist bereits ins Stottern geraten, und das könnte für die stoffliche Welt, in der wir leben, durchaus ein Glück sein. Aber die Mehrheit der Menschen, beschränkt auf den Horizont des vereinzelten Warenverkäufers, weiß dieses Glück, weil es die diversen Gelderwerbsquellen bedroht, nicht zu fassen. In dieser Situation die alte Leier von der "Demokratie" anzustimmen, heißt nun wirklich, den Abwasserkanal zuzuschütten, durch den die trüb gewordene ideologische Brühe vergangener Zeiten abzufließen hätte. Denn die Demokratie ist es ja gerade, die die Menschen gelehrt hat, das Leben nach Kategorien der Quantität, statt nach solchen der Qualität zu beurteilen.

Was wir heute brauchen, um die private Form abstreifen und uns im Namen physisch-realer Bedürfnisse vereinigen zu können, sind gerade keine allgemeinen Gesetze, sondern konkrete Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit den je konkreten Situationen und Fragestellungen, die anstehen. (So ist etwa die Frage der Energieversorgung per se allgemein, weil sie viele Menschen gleichzeitig betrifft. Aber zum Abschalten der vorhandenen AKWs benötigt man kein allgemeines Gesetz, sondern die Frage muss konkret als solche entschieden werden - und nach Maßgabe nicht von Meinungen, sondern des vorhandenen Wissensstandes.) Der reale produktive Zusammenhang, in dem wir inzwischen leben, macht die Struktur, in der zwischen dem privaten Interesse der Einzelperson und dem vom Staat verwalteten Allgemeininteresse unterschieden wird, hinfällig. Solange die Demokratie als a priori fertiges Konzept daherkommt, als eine Art Patentlösung für alle Probleme, die darin besteht, dass Alle für Alles zuständig sind, ist sie aber nichts anderes als die Fortsetzung jener von Kant propagierten philosophischen "Allgemeinheit": eben das Monstrum einer metaphysischen Kategorie (der Allgemeinheit), die "unverfälscht" ins Empirische übertragen werden soll. Da diese Übertragung nicht funktionieren kann, erhebt sich sofort wieder die Frage der Repräsentation, und der alte Streit, wer berechtigt ist, im Namen der "Allgemeinheit" zu sprechen und zu entscheiden, beginnt von Neuem.

Die Wissenschaftler und Publizisten, die uns - ohne demokratisches Mandat - über die Folgen aufklären, die der kapitalistische Wachstumswahn in den verschiedenen Lebensbereichen nach sich zieht, haben sicher mehr kritisches Potential als eine ideologische Phrase wie die "Demokratie", die uns mit der unappetitlichen Gebärde angepriesen wird, als sei sie der Schlüssel, der uns "von allen Übeln erlöst". Überhaupt sollte ein konkret lebendes Individuum mit diesem Allgemeinheits- oder Menschheits- oder Volkszirkus, der immer schon seinen logischen Gegenpart, den "privaten Egoisten" stillschweigend mit sich führt (und moralisch verurteilt), nichts anfangen können. Natürlich muss es sich für Fragen Von gesellschaftlichem Rang interessieren. Aber dieses Muss kommt längst nicht mehr von dem moralischen Imperativ Kants, sondern es ergibt sich schlicht aus den Bedürfnissen und Problemen man denke an Katastrophen wie die von Fukushima oder Deepwater Horizon -, die das im heutigen Ausmaß vergesellschaftete Dasein mit sich bringt.

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Rezens

Martin Gilens, Benjamin I. Page: Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens
(Quelle: www.princeton.edu)

In den USA besteht kein Zusammenhang zwischen dem Willen der Mehrheit und den beschlossenen Gesetzen, wenn man den Einfluss der ökonomischen Elite und der Interessensvertretungen kontrolliert. Das haben Martin Gilens und Benjamin I. Page herausgefunden. Stimmen die Ansichten der Mehrheit mit den erlassenen Gesetzen überein, so ist das purer Zufall.

Dieses Ergebnis aus empirischer Forschung löst heftige emotionale Reaktionen beim wertkritischen Rezensenten aus. Lange aufgestauter Frust über die Menschen, die nicht einsehen, dass Demokratie nichts mit der Entfaltung der Menschheit am Hut hat, Verwandelt sich in euphorische Hoffnung, nun endlich einen Beweis an der Hand zu haben, den die meisten wohl akzeptieren müssen. Dazu mischt sich tiefe Genugtuung, wenn mit Empirie wertkritische Positionen untermauert werden.

Martin Gilens und Benjamin I. Page haben eine empirische Studie zu 1.779 policy issues in der US-Politik durchgeführt. Sie wollten wissen, mit welchem Macht-Modell die Entscheidungen der Politik am besten vorhersagt werden können. Ist es der Mehrheits-Wählerwille, die ökonomische Elite, die Massen-Interessensvetretungen oder die Business-Interessensvertretungen?

Die ökonomischen Eliten haben den größten unabhängigen Einfluss auf Entscheidungen.

Der Wählerwille bekommt zwar auch oft, was er will, nur stimmen der Wählerwille und die Ansichten der Eliten dann eben überein. Hier wirkt eine Scheinkorrelation zwischen Politik und Wählerwille, deren vermittelndes Prinzip die ökonomischen Eliten sind.

Die Theorien rund um die Demokratie als Wille der Mehrheit sind somit mit empirisch belastbaren Daten falsifiziert.

M.S.

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Die Volksherrschaft und ihre Wahlen

Ein paar Anmerkungen zur Demokratie

von Alfred Fresin

Die Demokratie ist eine Form bürgerlicher Herrschaft und bedeutet in die deutsche Sprache übertragen "Volksherrschaft". Diese ist ein mit Macht und Gewalt ausgestattetes politisches System, gepaart mit einer Ökonomie namens Kapitalismus. Eine tragende Rolle in diesem System spielt das "Volk", denn in der Verfassung demokratischer Staaten wird als konstituierend festgehalten:


"Die Gewalt geht vom Volke aus"

"Aber wo geht sie hin?" fragt Brecht in seinem Gedicht zur Weimarer Verfassung und problematisiert die Niederschlagung von Volksaufständen durch die Staatsgewalt. Es mutet schon seltsam an, dass "das Volk" die Gewalt an einzelne Repräsentanten delegiert, denen es dann obliegt, jene auch gegen das Volk einzusetzen - oder andersherum: das Volk gibt die Gewalt an die Regierung weiter, um sich dann deren Gewalt zu unterwerfen. Dieser Widerspruch ergibt sich aus der ideologischen Sichtweise der Rechtfertigung der Herrschaft. Die Herrschaft beruft sich bei der Ausübung ihrer Gewalt auf das Volk - wenn Recht gesprochen wird, dann im "Namen des Volkes". In der Ideologie erscheint es so, als ob das Volk den Staat konstituieren würde und nicht umgekehrt, wie es tatsächlich der Fall ist, der Staat das Volk. Die Rechtsprechung selbst hält dies auch fest: "Die Formel Im Namen des Volkes ist Ausdruck dafür, dass die Rechtsprechung wie alle Staatsgewalt ... vom Volk ausgeht (Volkssouveränität). Die Formel bedeutet nicht, dass der Inhalt der Urteile dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Bevölkerung entsprechen müsste. Die Entscheidung der Richter ist vielmehr alleine an das Gesetz gebunden." (Wikipedia)

Wer bzw. was ist eigentlich "das Volk"? Bei dieser Mengenbezeichnung wird gänzlich von dem abgesehen, wovon die Menschen leben, ob sie Arbeiterinnen bzw. Arbeiter oder Unternehmerinnen bzw. Unternehmer, ob sie Hausbesitzer, Bauern, Polizisten, Politiker etc. sind. Es bleibt keine andere konstitutive Gemeinsamkeit übrig als die, Personalbestand eines Staates und als solcher dessen Gewalt unterworfen zu sein. Wie üblich wird dieses Verhältnis in der Ideologie andersherum gesehen. Da wird das Volk zu einer "Gemeinschaft", die sich ihren Staat konstituiert und ihre Gewalt an diesen abgibt bzw. delegiert. Realiter ist es die Staatsgewalt, die bestimmt, wer zu dieser Gemeinschaft gehört und ob er als Bürger "erster Klasse", "zweiter Klasse" (z.B. mit anderer Nationalität) oder als "Abzuschiebender" bzw. "Auszuweisender" gilt.

Aus dem Begriff "Volk" erwächst eine "Gewalt". Es wird in der Verfassung gar nicht erklärt, weshalb es ihrer bedarf, sondern sie wird vorweg unterstellt. Der bürgerliche Staat hat ein Wirtschaftssystem eingerichtet, das aufgrund der in ihm bestehenden Gegensätze einiges an Gesetzen benötigt, damit es brauchbar ist, die staatliche Souveränität politisch und ökonomisch zu stärken. Da gibt es in Bezug auf Eigentum, Geld, Konkurrenz, Lohnarbeit, Familie etc. staatliche Satzungen, die ständig gemäß aktueller Gegebenheiten erweitert und erneuert werden - die Klassengesellschaft, die Marktwirtschaft und auch das Verhältnis zu anderen Staaten bieten dazu genügend Anlässe. Diese Gesetze werden vom Staat (und seinen Institutionen) kraft seiner Gewalt durchgesetzt. Die entwickelte Demokratie ist keine Willkürherrschaft, die Gewalt ist nicht von einer bestimmten Person abhängig, sondern verschafft einem Recht Geltung.

Es ist also der Staat, der sein Volk bestimmt und über das er Gewalt ausübt - und nicht umgekehrt. Deshalb ist die Kritik Brechts, dass die Gewalt vom Volke ausgeht, aber dann beim Staat bleibt und gegen das Volk ausgeübt wird, nicht korrekt, denn die Gewalt war und ist nie beim Volk. Das Volk wird erst durch die vom Staat gesetzte Verfassung zum Souverän und zwar dadurch, dass es zu gewissen staatspolitischen Alternativen per Kreuzchen Stellung nehmen kann und soll.

Damit tritt das in den Fokus der Betrachtung, was als das Prunkstück bürgerlichen Demokratien gilt, nämlich


"Freie Wahlen"

Vorerst sei erwähnt, was in entwickelten Demokratien nicht zur Wahl steht:

Erstens das Rechtssystem, das Rechte und Pflichten der Bürger untereinander und gegenüber der Staatsgewalt festlegt. Dessen Pflege und Betreuung wird den entsprechenden Institutionen (Gewaltenteilung) des bürgerlichen Rechtsstaates überlassen. Dazu gehört auch die Bewaffnung einiger Staatsbürger, um den Staat nach innen und außen zu sichern und gegebenenfalls "vorwärts zu verteidigen".

Zweitens das Produktionsverhältnis, das mit diesem Rechtssystem eingerichtet ist, also die Festlegung der Bürger auf ihr Eigentum als Quelle ihres Lebensunterhalts, was für den Großteil der Staatsbürger bedeutet, diesbezüglich auf ihre Arbeitskraft verwiesen zu sein. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die andere für die Mehrung ihres Eigentums arbeiten lassen. Schon gar nicht abwählbar ist das Geld mit dem dazugehörigen Bankwesen.

Was zur Wahl steht, sind Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien, die sich der "besonderen Herausforderung" stellen wollen, ihr Staatsvolk gut zu regieren, was bedeutet, mit dem vorgegebenen Rechtssystem und Produktionsverhältnis bestmöglichen Staat zu machen. Der Hinweis, dabei im Sinne "der Menschen" agieren zu wollen, ist schon ziemlich verräterisch, denn diese Betonung legt nahe, dass dies der vollzogenen Politik nicht immer entnommen werden kann. Mit dem Begriff "Menschen" wird elegant von den Interessensgegensätzen abgesehen, die es notwendigerweise in dieser Gesellschaft gibt.

Einhelliger Tenor herrscht bei den Parteien darüber, dass es "der Wirtschaft" gut gehen müsse, damit es den Menschen auch gut gehe - dass das nicht stimmt, wissen alle, die mitbekommen, dass trotz Wirtschaftswachstums die Arbeitslosigkeit, Reallohnverluste und Armut zunehmen. Politikern aller Couleurs ist klar, dass Wirtschaftswachstum mehr Geld in die Staatskasse spült, welches dann, und da ergeben sich die parteipolitischen Unterschiede, nach gewissen Gesichtspunkten ausgegeben werden soll. Gepaart mit einer ausgefeilten Steuerpolitik soll dann jeweils mehr für soziale Belange, den Umweltschutz, die Wirtschaftsförderung, die Ausbildung, die Kinder, die Alten, die Kranken etc. "getan werden" - oder eben daran gespart werden. Auch unterschiedlichste ideologische Standpunkte werden von den Parteien bedient und stehen zur Wahl, solange sie sich mit ihren Anliegen nicht außerhalb des Rechtssystems bewegen.

In den entwickelten bürgerlichen Demokratien ist mit den Ideologien nach der Übernahme der Macht dann sowieso Schluss. Dann heißt es Sachnotwendigkeiten anzuerkennen und das Staatsinteresse durchzusetzen. Da ist dann schwer auszumachen, ob staatspolitisch wichtige Entscheidungen, wie z.B. Soldaten in einen Krieg zu schicken, einer linken, rechten, liberalen oder grünen Gesinnung entsprungen sind.

In der Regel wird bei den Wahlen auch ein Personenwahlkampf geführt. Selten sind es Fachleute, die ihr Wissen anbieten, denn auf Wissen kommt es dabei nicht so sehr an. Vielmehr gefragt sind Charisma, Glaubwürdigkeit, Durchsetzungsvermögen, kurz alles, was einen Erfolgsmenschen in dieser Gesellschaft so ausmacht. Der Wahlkampf wird auf eine "Persönlichkeit" zugeschnitten - auf Plakaten erscheint dann oft nur mehr ein lächelndes Konterfei.

Die personelle Besetzung eines oder mehrerer Regierungsämter wird alle paar Jahre zur Disposition gestellt. In entwickelten Demokratien sind das Amt und seine Aufgaben nicht an eine bestimmten Person gebunden, sondern umgekehrt, der Gewählte hat sich Voll und ganz dem Staatsinteresse zu widmen und dies nicht mit seiner privaten Macht- und Vermögensvermehrung zu Verquicken. Dass es dabei immer wieder zu Korruptionsfällen kommt, wird eher als Ausnahme von der Regel gesehen. (In "weniger entwickelten Demokratien", mit geringer oder kaum vorhandener kapitalistischer Reichtumsvermehrung wird das politische Amt als Bereicherungsmöglichkeit angestrebt und Wahlen von blutigen Clan- und Stammeskriegen begleitet oder als Deklamation für einen Machtinhaber veranstaltet. In diesen Fällen wird dann herablassend davon gesprochen, dass die Menschen dort nicht "reif genug" für die Demokratie seien.)

Im Wahlkampf wird jedenfalls alles versucht, nahe beim "Volk" zu sein - nicht ohne ab und zu, kräftig unterstützt von der Journaille, darauf hinzuweisen, dass die Wählerinnen und Wähler nicht einem plumpen "Populismus" auf den Leim gehen sollten.

Alle paar Jahre stehen sie im Mittelpunkt des Politikerinteresses und werden von ihnen umworben:


Wählerinnen und Wähler

Sie haben am Wahltag die Möglichkeit, mit ihrer Stimme in Form eines Kreuzchens zur Politik des Landes Stellung zu nehmen. Das Gewicht einer einzelnen Stimme ist nicht bedeutend, es werden ja keine inhaltlichen Stellungnahmen zur Politik abgegeben an denen sich dann die Politik auszurichten hätte. Nur die Quantität der Kreuzchen ist ausschlaggebend - dies trifft auch bei Volksabstimmungen und Volksbefragungen zu, bei denen sich die Regierung die Entscheidung darüber vorbehält, wie mit dem Ergebnis zu verfahren ist.

Die meisten Wahlberechtigten machen sich hinsichtlich der Bedeutung ihres Kreuzchens keine Illusionen. Sie wissen, dass "die da oben dann sowieso machen, was sie wollen" und einige verzichten von Vornherein auf die Abgabe ihrer Stimme. Wenn die Wahlbeteiligung nach dem Geschmack der Politiker zu gering ausfällt, dann finden sie das bedenklich. Sie wollen ja eine deutliche Ermächtigung von ihrem Staatsvolk und sie nehmen sich vor, die "Nichtwähler" das nächste Mal zurückzugewinnen. Auch die Öffentlichkeit ist verstört und warnt vor "Politikverdrossenheit". Hat die Opposition allzu große Zugewinne, dann spricht man von einer "Denkzettelwahl" was soviel heißt, dass die oppositionelle Partei nicht wegen ihrem Wahlprogramm gewählt wurde, sondern nur, um die derzeit Mächtigen vor den Kopf zu stoßen.

Die meisten Wähler wissen auch, dass zwischen ihrem abgegebenen Kreuzchen und ihrem Wohlergehen kein direkter Zusammenhang besteht. Sie wissen, dass ihr Interesse sich an den staatspolitischen Kriterien, wie dem Staatshaushalt, der Wirtschaftslage, der inneren und äußeren Sicherheit zu relativieren hat. Sie sind, bis auf ein paar Ausnahmen, der Meinung, dass es auf die von der Politik vorgegebenen Kriterien, nämlich auf Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen, auf eine mehr oder weniger kontrollierte Marktwirtschaft, auf Sicherheit, Ordnung und Umwelt, auf ein in der Konkurrenz der Staaten erfolgreiches Staatswesen anzukommen hat. Dafür geben sie denjenigen ihre Stimme, von denen sie am ehesten annehmen, "gut" zu regieren. Wenn dann wieder eine Wahl ansteht und sie feststellen, dass sich ihre materielle Lebenssituation nicht verbessert bzw. sogar verschlechtert hat, so führen sie das entweder auf ihr eigenes Versagen oder auf das der herrschenden Politiker zurück - ganz wenige lasten es dem politökonomischen System an. So gehen sie also wieder zur Wahl, geben "neuen Gesichtern" eine Chance oder werfen einen "Denkzettel" in die Wahlurne. Als gut erzogene Staatsbürger nehmen sie ihr Recht wahr, das ihnen von der Herrschaft zugestanden wird.

In den erfolgreichen kapitalistischen Staaten wird die...


...Demokratie als sozialer Wert

angesehen, als die beste Form des gesellschaftlichen Miteinanders. Diese Herrschaftsform wird nicht als Herrschaft des zugrundeliegenden ökonomischen System wahrgenommen, sondern als ein davon losgelöster eigenständiger Inhalt.

Mit der Abgrenzung zum "Realen Sozialismus" (meist mit dem Stalinismus gleichgesetzt) und Faschismus erfuhr die bürgerliche Herrschaftsform nach dem 2. Weltkrieg die ideologische Aufbereitung als "einzig richtige Staatsform" (Wikipedia) und als Wert schlechthin. Kriege, die von den westlichen imperialistischen Mächten aus wirtschaftlichen und militärstrategischen Gründen geführt werden, bekommen ihre höheren Weihen als Verteidigung von "freedom and democracy". Die Demokratie gilt als prinzipiell "gut" - als "böse" und "gefährlich" gelten hingegen Menschen und Nationen, die sich nicht umstandslos zu dieser "Wertegemeinschaft" bekennen.

Auch Kritiker dieses politökonomischen Systems neigen dazu, die Demokratie als ideales Mitbestimmungsmodell zu erachten, so als ob staatliche Gewalt und Kapitalismus nichts damit zu tun hätten. Sie warnen vor Angriffen auf die Demokratie oder klagen, dass es in der Gesellschaft Viel zu wenig "demokratisch" zugehe. Sie sehen die Demokratie als politisches Verfahren an, Interessensausgleiche herbeizuführen und verlieren den Grund für Interessensgegensätze dabei nur allzu oft aus den Augen.

Auch abseits der großen Politik hat es bei allen Entscheidungen jedenfalls "demokratisch" zuzugehen. Und sollten sich bei Abstimmungen nicht immer die besten Argumente durchsetzen, adelt das "demokratische" Verfahren jedenfalls das Ergebnis.

Da die Demokratie bei ihren Untertanen nicht als eine auf Gewalt beruhende Herrschaft, sondern als zu verteidigender Wert angesehen wird, kann man durchaus von einer gelungenen Form bürgerlicher Herrschaft sprechen.

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"Wenn erst mal alle Betroffenen mitentscheiden..."

Zur Kritik einer beliebten linken Phrase

von Ewgeniy Kasakow

Die These, dass das Problem an der gegenwärtigen Demokratie sei, dass nicht alle Betroffenen von politischen Entscheidungen diese auch selbst treffen dürfen, ist eines der häufigsten Topoi linker Kritik. Der positive Bezug auf die Basisdemokratie ist eine Art Minimalkonsens der heutigen Linken in der Bundesrepublik, von denen nur wenige Strömungen und Gruppen Ausnahmen bilden. Dass eine Basis etwas sei, was Entscheidungen zu treffen habe, erscheint vielen selbstverständlich. Welche Entscheidungen es sein sollen, meist auch. Was von der Basis ausgehen soll, wird dabei mit vielen Adjektiven beschrieben: antirassistisch, antisexistisch, solidarisch, antikapitalistisch und (sehr abstrakt, daher wohl als Summierung der Vorherigen Adjektive benutzt) "emanzipatorisch". Weniger klar ist, was bzw. wer die Basis bilden soll. "Alle Betroffenen" wird wahrscheinlich der durchschnittliche linke Anhänger alternativer Demokratiemodelle darauf antworten. Alle?

Spielen wir ein Beispiel aus der Realität durch: In einer Stadt (egal ob Berlin oder Duisburg) wird seitens der Behörden ein Haus für die Unterbringung von Migranten ausgewählt. Die Anwohner, die von jeder Entscheidung, die ihre Straße betrifft, selbstverständlich "mitbetroffen" sind, sehen dies gar nicht gern. Sie sind sich nicht zu schade, ihre Freizeit dafür aufzuopfern, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und sich mit Transparenten, Fackeln und ortsansässigen NPD-Funktionären vor das Heim zu stellen, um ihren Willen kundzutun. Betroffen sind natürlich auch die zukünftigen Bewohner des Heims. Unwahrscheinlich, dass sie sich speziell diese Straße ausgesucht haben. Aber irgendwo wollen sie schon unterkommen, und auf die Schnelle lässt sich keine Straße finden, bei der das basisdemokratische Votum der betroffenen Nachbarn wesentlich anders ausfallen würde.

Wenn nun also sowohl die Anwohner als auch die Unterkunft-Bedürftigen "Basis" sind, dann ist sie durch sich ausschließende Interessen gespalten. Die Entscheidung zugunsten einer Seite, die auf Mehrheitsverhältnisse gründet (Abstimmung), würde ein idealtypischer Fan der Basisdemokratie in dieser Situation mit großer Wahrscheinlichkeit ablehnen. Stattdessen würde er Kräfte von außerhalb sammeln und mit ihnen eine Aktion zur Unterstützung der Heimbewohner organisieren. Diese würde er dann als basisdemokratischen Protest bezeichnen. Dabei wird geflissentlich die Bedeutung des Wortes "Basis" vertauscht. Denn jetzt steht "Basis" für Anhänger einer bestimmten Entscheidung, erstmals unabhängig vom Grad der persönlichen Betroffenheit. Mit anderen Worten ist jetzt mit "Basis" "eigene Basis" gemeint, was so viel heißt wie "Gleichgesinnte". Die "externe" Basisdemokratie ist der Organisationsinternen gewichen, geblieben ist nur die Bezeichnung. Nur so lässt sich z.B. von Enteignung der Produktionsmittel sprechen und zugleich behaupten, dass von den Betroffenen niemand übergangen werden darf. Eigentümer wären von solchen Entscheidungen selbstverständlich betroffen und würden sie wohl nicht befürworten.

Wie das "Demos" der jeweiligen Demokratieform eingehegt wird, bleibt bei allen linken Basisdemokratie-Entwürfen ein Problem. "Betroffen von der Entscheidung" ist eine äußerst unklare, dehnbare Kategorie. Es bleibt offen, wer die politische Entscheidung darüber, wo die Betroffenheit beginnt, treffen soll. Weit klarer waren da die früheren Anhänger der "Diktatur des Proletariats", die Macher des untergegangenen Realsozialismus. Deren Vorstellungen von "demokratischer Diktatur" dienen bis heute als identitätsstiftende Negativfolie für die meisten Linken. Dabei waren die Bolschewiki, die zwischen Diktatur und Demokratie keinen Widerspruch sahen, von Anfang an ehrlich, wenn sie sagten, dass ihre proletarische Demokratie nur machbar sei unter Ausschluss der Nichtproletarier vom Entscheidungsprozess. Ihre linken Kritiker hatten oft an das Modell "Demokratie nur für die eigene Basis" angeknüpft und an den Bolschewiki vor allem kritisiert, dass ja gar nicht das authentische Proletariat die Diktatur ausgeübt hätte. Leninisten verstanden "wahre Demokratie" schlicht als Diktatur des richtigen Standpunktes.

Dagegen brachte die "Neue Linke" nach 1968 unzählige Ideen zur Verbesserung der Demokratie hervor. Die Demokratie, die sie um sich herum vorfanden, verdiente nur das Prädikat "formal". Demokratie, eine Entscheidungsform, sollte aber inhaltlich werden. Daran sieht man: Entscheidungen die inhaltlich nicht passen, werden als "undemokratisch" angeprangert. Wenn Demokratie anders justiert würde, würden auch andere, sprich bessere, Entscheidungen dabei herauskommen, so die verbreitete Vorstellung.

Die Kategorie "alle Betroffene" vulgo "die Basis" ist immer eine Berufungsinstanz. Sie soll Entscheidungen legitimieren oder delegitimieren und bleibt dabei selbst unhinterfragbar. Über die Grünen, die erste basisdemokratische Partei Deutschlands, bemerkte eine aufmerksame Beobachterin schon 1983: "Ob 'Basis' die Mitgliedschaft der Grünen, die Wähler oder die diversen Bürgerinitiativen meint, unterliegt offenbar dem Ad-hoc-Befund gerade Versammelter." (Stephan, 1983, S. 52) Es ist auch kein Geheimnis, dass alle Parteien immer dann für Plebiszit sind, wenn sich eine Mehrheit für eine Entscheidung in ihrem Sinne abzeichnet. Linke von Autonomen bis Piraten erheben die Basisentscheidung zum Grundsatzprinzip, obwohl oft nichts dafür spricht, dass die "Betroffenen" in irgendeiner Weise "besser" entscheiden würden als gewählte Vertreter. Was die Betroffenen für Erklärungen für ihre Betroffenheit haben, ist nämlich eine inhaltliche und keine formelle Frage. Es steht jenseits der Gegenüberstellung "demokratisch-undemokratisch".



Literatur

Stephan, Cora: "Grundsätzlich fundamental dagegen" Basis oder Demokratie? in: Infrarot. Wider die Utopie des totalen Lebens. Zur Auseinandersetzung mit "Fundamentalopposition" und "neuem Realismus", Berlin, S. 35-58.

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Freie Meinung? Freier Wille?

Eintragungen zum bürgerlichen Subjekt der Selbstbeherrschung

von Franz Schandl


"Beraubt sind wir des Gefühls des Beraubtseins - und dadurch scheinbar frei."
(Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band II)


Menschen haben nicht aufgehört Knechte zu sein, nachdem sie ihre eigenen Herren geworden sind. Darüber täuschen freilich die verdinglichten Herrschaftsstrukturen hinweg, wo sachliche Verhältnisse leibeigene Bezüge (feudale, familiale, patriarchale) abgelöst haben. Die Menschen herrschen zwar nicht, aber sie beherrschen sich. Die Herrschaft in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist in hohem Maß und im wahrsten Sinne des Wortes Selbstbeherrschung.

Das bürgerliche Subjekt ist nicht aufgeschlossen, sondern angeschlossen, es wird geschaltet. Aber diese Schaltung ist primär keine Außenschaltung, Manipulation oder gar personelle Herrschaft, sondern Eigenschaltung, in gewissem Sinne Selbstverwaltung. Das Produkt Subjekt wird so hergestellt. Diese Gängelung Verkündet sich sodann als Wille, und damit es der Dümmste glaubt, als freier Wille. Dieser hat im Besitz jedes bürgerlichen Subjekts zu sein, er zeichnet es förmlich aus. Nicht Hörigkeit wird festgestellt, sondern Mündigkeit behauptet.

Kritisch wird es für diesen freien Willen ab dem Moment, wo man ihn als ideologisches Postulat dechiffriert, eben nicht als schlicht vorhandene Tatsache akzeptiert. Nur, was äußert sich, wenn es weder frei noch mein ist? Diese Frage ist derart spannend, dass sie heute kategorisch Verboten ist. Wohlgemerkt nicht amtlicherseits, höchstens man Versteht die real existierende Person als innere Behörde des Staates, was wiederum gar nicht so falsch wäre.

1.

Wir mögen schon Meinungen "haben", aber wir produzieren sie nicht, wir reproduzieren sie. Vielmehr als dass wir eine Meinung hätten, hat sie uns. Wenig ist so fetischisiert wie die freie Meinung. Indes, es gibt sie nicht. Zumindest nicht in der behaupteten Weise. Meinungen sind seriell hergestellte Fabrikate, die sich unter irgendeiner Markenbezeichnung präpotent als Originale in Szene setzen. Stammtisch, Small Talk, Leserbriefseite sind allesamt zivilgesellschaftliche Versicherungs- und Überwachungsinstitute, wo die zulässigen Ressentiments sich pflegen und bestätigen. Beiläufigkeit überprüft Geläufigkeit auf ihre Normalität.

"Wenn wir argumentieren, dass der Wille des Bürgers per se ein politischer Faktor ist, der Anspruch auf Achtung hat, so muss er erst einmal existieren. Das heißt, dass er etwas mehr sein muss als nur eine unbestimmte Handvoll vager Triebe, die um vorhandene Schlagworte und falsch verstandene Eindrücke lose herumspielen. jedermann müsste eindeutig wissen, wofür er sich einsetzen will. Dieser bestimmte Wille müsste mit der Fähigkeit ausgerüstet sein, die Tatsachen, die jedermann direkt zugänglich sind, richtig zu beobachten und zu interpretieren und die Informationen über Tatsachen, die nicht direkt zugänglich sind, kritisch zu sichten," schreibt Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1947), Tübingen 2005, S. 402). Aber dementiert,ja deprimiert ein solcher Begriff sich nicht selbst? Unterstellt er nicht etwas, das nicht sein kann? Schumpeter selbst legt das nahe (vgl. S. 404).

Die Subjekte können gar nicht können. Was als Multiplikation der Konvention daherkommt, wird als individuelle Äußerung kolportiert. Der freie Wille ist der schöne Schein, das Idealisierte und das Realisierte in solider Distanz zu halten und gleichzeitig Reichweite zu unterstellen. Die schlichte Behauptung einer freien Meinungsäußerung oder eines freien Willens ist zutiefst ideologisch, sie setzt voraus, was erst zu beweisen wäre, nämlich, dass solche überhaupt möglich sind. So werden Akzente der Affirmation zu jener freien Meinung geadelt, und dürfen dann zur allgemeinen Befriedigung Pluralismus spielen. Die freie Meinungsäußerung dient heute vornehmlich dem Zwecke der Überprüfung und Formatierung der Subjekte. Meinungsforschungsinstitute sind etwa Meinungsüberwachungsinstanzen, die zur Beobachtung der Freiheit abgestellt sind. Es sollte nicht wundern, dass dieser sozialwissenschaftliche Forschungsbereich einer der wenigen ist, die nicht nur auf dem Markt bestehen können, sondern einen regelrechten Boom erleben. Er ist jedenfalls zuständig, das entsprechende Verhalten zu kontrollieren und zu regulieren. Frühzeitig soll er auf Gefahren hinweisen. Wie die Werbung ist er Teil des kulturindustriellen Komplexes.

2.

Wie so oft, herrscht eine verkehrte Sicht. Aus Ich mache nur, was ich will wird: Ich will nur, was ich mache. Die Identifikation ist zwar einerseits synthetisch, aber sie ist andererseits auch immer prekär. Sie hat nicht nur vollbracht, sie hat auch geglaubt und verkündet zu werden, bedarf also der steten Überdetermination durch Staat und Kulturindustrie. Deren offensichtliche Penetranz verführt dann viele dazu, auf Manipulation zu verweisen. Indes darf man diese spezifische Formatierung auch wiederum nicht außer Acht lassen. Die Synthese ist wohl nur konsolidierbar, wenn sie zusätzlich angestachelt, vielfach abgesichert und unermüdlich bestätigt wird. Die Handlung wäre fahl, gäbe es nur sie selbst, sie braucht ihre Weihe.

Freier Wille und freie Wahl sind Instanzen des Vollzugs bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Die Vergesellschaftung über den Wert ist keine direkte (Was wollen wir? Was machen wir?), sondern eine indirekte, eine fetischistische, wo sich Menschen über Markt, Vertrag, Geschäft, Recht, Politik vermitteln. In der Politik geht es um Interessen gesellschaftlicher Rollen, nicht um die Bedürfnisse von Leuten. Das heißt, dass diese lediglich als verwandelte auftreten können, nicht als unmittelbare, sondern transformiert und formiert durch jene. Die Pflicht der Rollenträger besteht im Dienst an den Formprinzipien. Politik ist die Illusion des Stimmbürgers, der den freien Willen mit seiner Freiwilligkeit verwechselt. Die haltlose Einbildung, in Handlungen als auch in Entscheidungen souverän und autonom zu sein.

Freier Wille meint eine Freiheit, sich in einer gesetzten Form zu bewegen, die nicht einmal mehr als eine vorgesetzte wahrgenommen wird. Der Wert muss heute, d.h. auch in Zeiten der Entwertung, seinen Trägern gar nicht mehr aufgeherrscht werden, er ist ihnen eingeherrscht. Der Wille ist die Subjektform des Werts. Ihr zu entsprechen wie ihm ist unhinterfragte Aufgabe, ja Selbstverständlichkeit und Fügung. Das Gerede des positiven Denkens hat das auf den Punkt gebracht. Es meint die Zweckentsprechung des Wollens hinsichtlich der durch den Wert gekennzeichneten Gesellschaftlichkeit. Anpassung und Unterwerfung werden nicht als Schicksal beklagt, sondern umgedeutet als Modus der Freiheit gefeiert.

Allzu oft blamiert sich die gute Absicht schon am Willen, aber erst recht an der Handlung. Das Freiheitspostulat entpuppt sich sodann als folgenloses Spiel zur Beschäftigung der Gemüter. Dass Demokraten hergehen könnten, Renten und Löhne verdoppeln und die Preise halbieren, das glauben sie nicht einmal selbst. Natürlich ist das zum Scheitern verurteilt, zeigt aber auch an, wie armselig diese bürgerliche Souveränität denn doch ist. Selbstverständlich wissen das die Wähler, dass sie das nicht tun dürfen, weil Demokratie nur hergibt, was der Markt erlaubt. Das kapieren sie zwar, aber sie wissen nicht, was sie da wissen.

Was dieser freie Wille verwechselt, ist Folgendes: Die Freiheit, sich in der Form zu bewegen, sieht er partout nicht als Zwang, sich in einer bestimmten Form betätigen zu müssen. Seine Substanz (eben der Verwechslung zu entsprechen) wird von diesem Willen gar nicht erst berührt, im Gegenteil: dieser Wille ist Werkzeug der Form, instrumentelle Vernunft. In industriellen Zeiten ein Serienprodukt derselben. Freier Wille ist dazu da, Entscheidungen im Sinne der Verwertung zu treffen und diese praktischen Akte der Gebundenheit theoretisch als Freiheit zu benennen. "Das linksdemokratische Denken begreift nicht, dass die demokratische Diskursform in allen ihren denkbaren Institutionalisierungen ihrem Wesen nach keine 'Freiheit' (Entscheidungsfreiheit) schlechthin, sondern immer nur einen Entscheidungszwang innerhalb der Formzwänge der Warengesellschaft darstellt. Die demokratische Freiheit ist identisch mit dem diktatorischen Zwang, den sogenannten 'freien Willen' bis ins Unendliche in der Form einer Verwertung von abstraktem Wert geltend zu machen, deren 'Gesetze' das demokratische Universum begrenzen wie die Lichtgeschwindigkeit das physikalische Universum." (Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder, in: Gruppe Krisis, Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, S. 17)

Gerade der Tausch ist es, der uns zeigt, wie Zwang und Wille eins sind.

3.

Die freie Meinung ist eine standardisierte Angelegenheit. Dem Willen entspricht nicht das Wollen, sondern Das-zu-Wollende. Dieser Wille ist Wirkung, nicht Ursache. Verhalten, das den Verhältnissen folgt. Nicht Zusammenprall der Modalverben, sondern vielmehr Zusammenfall. Was heißt schon Wollen? Wollen ist Sollen ist Dürfen ist Müssen. Die Selbständigkeit des Wollens hat geradezu beschränkten Charakter, nicht nur reell, sondern auch ideell. Nicht einmal die Gedanken sind frei...

Der freie Wille ist keine Eigenschaft der Menschen, sondern eine Verpflichtung, sich in der als nunmehr unhintergehbar geltenden Struktur einzurichten. Dienstbereite Gesellen haben die jeweiligen Funktionen zu erfüllen. Die dafür notwendigen Entscheidungen werden einem nicht wie in anderen Herrschaftsverhältnissen abgenommen, sondern aufgehalst. Zum freien Bürger notiert Peter Klein: "Da der Ausgangspunkt all seiner Entschlüsse sein freier Wille ist, wird ihm dieser zur ursprünglichen Kategorie. Der freie Wille erscheint nicht als Moment und Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern als deren Voraussetzung." (Peter Klein, Demokratie und Sozialismus. Zur Kritik einer linken Allerweltsphrase, in: Marxistische Kritik, Nr. 7/89, S. 116)

Freiheit meint heute die Bestimmung als Selbstbestimmung anzuerkennen. Wenn ich will, was ich soll, brauche ich keine äußere Instanz mehr. Die sich als Neigung verstehende Pflicht ist in mir selbst. Wir wollen gar nicht wollen, was von uns nicht gewollt wird. Zumindest in der Praxis bestätigen wir diese Regel täglich, ohne dass sie uns als solche erscheint. Das bürgerliche Ich hat so dem freien Willen verpflichtet zu sein. Der Wille hat mich und ich habe zu ihm die Freiheit. Der Wille ist zu wollen, der freie ist ganz freiwillig. Die freien Bürger sind die Willigen. Sie haben eingewilligt, ohne je gefragt worden zu sein. Ihre Verfügung ist Fiktion, aber ihre Fügung Realität.

"Wenn wir uns die mit Freiheit und Gleichheit verbundene Sinnestäuschung näher ansehen, werden wir finden, dass sie in einem engen, meines Erachtens sogar notwendigen Zusammenhang mit eben dieser Kategorie des freien Willens steht. Eine dualistische Konstellation ergibt sich zwangsläufig, sobald wir etwas wollen. Wenn wir uns zum Willen nicht reflexiv, sondern sozusagen exekutiv verhalten, also im eigentlichen Sinne uns zu ihm überhaupt nicht verhalten, sondern statt dessen uns wollend Verhalten, unseren Willen schlicht und einfach betätigen, deckungsgleich mit ihm sind, dann verdichtet sich dasjenige, worauf er gerichtet ist, ganz von selbst zu einem abgrenzbaren Etwas, das mit allen Attributen der Gegenständlichkeit oder Dinghaftigkeit ausgestattet ist. Dazu gehört nicht zuletzt, dass der betreffende Gegenstand sich außerhalb von uns befindet, dass wir mit ihm nicht identisch sind - wir das Subjekt, er das Objekt." (Peter Klein, Pars pro toto - warum die Partei nicht mehr Recht hat, in: krisis 14, S. 132-133) Das eklatante Problem der Subjekte besteht auch darin, dass sie zwar alles andere, sich selbst aber kaum als Objekte wahrnehmen, aber doch immerzu sich als solche verwirklichen.

4.

Wenn wir Freiheit nicht als Ideal auffassen, sondern als historische Größe und Relation, dann ist sie tatsächlich die Auslieferung an die bürgerlichen Notwendigkeiten. Hegel hat dafür die klassische Formulierung gefunden, jedenfalls in der Auslegung von Friedrich Engels, der sinngemäß "die Freiheit (als) die Einsicht in die Notwendigkeit" (MEW 202106) definierte. Wohlgemerkt Engels hatte da mit Hegel Richtiges ausgesprochen, das Problem des Anti-Dühring lag darin, dass er diese unfreie Freiheit nicht denunzierte, sondern die Realdefinition zur Nominaldefinition machte, also Affirmation statt Kritik betrieb. Hatte Hegel eine böse Wahrheit ausgesprochen, erhob sie Engels gar zu einer ehernen Wirklichkeit.

Im § 484 der Hegelschen Enzyklopädie heißt es ganz deutlich: "Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewusstsein hat." (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, Frankfurt am Main 1986, S. 303) Ganz unmissverständlich auch der nächste Paragraph: "Dasselbe, was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht, und was eine Pflicht ist, ist auch ein Recht." (S. 304) Oder ebenso drastisch: "Alle Zwecke der Gesellschaft und des Staats sind die eigenen der Privaten." (S. 305) Genau so und nicht anders haben wir uns die bürgerliche Freiheit vorzustellen. Die Leute werden tatsächlich zu den Ameisen ihres Staates. Es ist ein Zucht- und Ordnungsprogramm, das die bürgerlichen Denker hier zugrunde gelegt haben.

Schon für Kant "ist der Wille nichts anderes, als die praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt." (Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), Werkausgabe, Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. Dass die bürgerliche Freiheit mit Willkür nichts zu schaffen habe, wusste auch Hegel: "Wenn man sagen hört, die Freiheit sei das, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden (...)." (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Werke 7, Frankfurt am Main 1986, S. 66)

Das subjektive Wollen erscheint als das objektiv Notwendige. Diese objektive Notwendigkeit wird aber nicht als spezifische Konstellation erkannt, sondern als allgemeine Natur oder zumindest als deren höchste Form und historischer Schluss. Für alle Zukunft hat zu gelten: Auch im kategorischen Imperativ geht es schlicht darum, sich diesem allgemeinen "Gesetze der Sittlichkeit" (Kant, Grundlegung, S. 50) unterzuordnen. "Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig Von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; (...) Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muss: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. (...) was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als die Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei." (Kant, Grundlegung, S. 81-82)

Norbert Trenkle schreibt dazu: "Freiheit ist bei Kant ihrem Wesen nach also Selbstbeherrschung; und das heißt nichts anderes, als Herrschaft der bürgerlichen Subjekte über sich selbst unter dem vorausgesetzten Diktat der Waren- und Wertform. Daher verleiht er ihr völlig zu Recht strengen Gesetzescharakter; das steht durchaus nicht im Widerspruch zur inneren Logik seiner Theorie. Denn die Kantsche Freiheit ist eben nicht Freiheit von Herrschaft überhaupt, sondern notwendiges Strukturmoment einer ganz spezifischen Form von Herrschaft: einer abstrakten Herrschaft, in der alle Menschen in der ein oder anderen Weise zu Funktionskategorien und Charaktermasken (Marx) des Werts geworden und insofern immer schon unselbständig und unfrei gegenüber diesem gesellschaftlichen Prinzip sind. Ihre 'Autonomie', die Kant so sehr betont, ist nichts anderes als der Zwang, sich permanent selbst den allgemeinen Funktionsgesetzen der Warenform zu unterwerfen. Das 'Gesetz der Freiheit', das sie erst als solche bürgerlichen Subjekte konstituiert hat, befiehlt nichts anderes, als die Gleichgültigkeit (die 'Apathie') gegenüber Gefühlen, sinnlichen Bedürfnissen, persönlichen Beziehungen und partikularen Regungen, soweit sie nicht mit der Logik von Verwertung und Konkurrenz übereinstimmen." (Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik, in: krisis 25 (2002), S. 55)

"Freiheit heißt bei Kant soviel wie die reine praktische Vernunft, die ihre Gegenstände sich selber produziert." (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Gesammelte Schriften 6, Frankfurt am Main 1997, S. 253) Eine zentrale Frage ist demnach auch, was vernünftig sei und woher denn unsere Vernunft rühre. Dass das Vorgegebene eben das Vernünftige sei, ist doch eine dürftige Antwort, wenngleich die obligate. Schon Schumpeter meinte: "Nun hat sich vermutlich die rationale Haltung dem menschlichen Geist vornehmlich aus wirtschaftlicher Notwendigkeit aufgedrängt; es ist das wirtschaftliche Tagewerk, dem wir als Rasse die elementare Schulung im rationalen Denken und Verhalten verdanken - ich zögere nicht zu behaupten, dass die ganze Logik vom Muster wirtschaftlicher Entscheidung abgeleitet ist oder, um einen Lieblingsausdruck von mir zu verwenden, dass das wirtschaftliche Modell der Nährboden der Logik ist." (Schumpeter, a.a.O., S. 201)

Aufklärung und Moderne brächten also mitnichten die Vernunft in die Welt, sondern sie setzten bloß eine bestimmte, und zwar die der politischen Ökonomie, in Kraft, indem sie andere Anschauungen als unvernünftig und irrational desavouierten. Die bürgerliche Rationalität hat sich inzwischen als die menschliche Mentalität durchgesetzt und sich als gesunder Menschenverstand etabliert. Früchte und Blüten der gemeinsamen Erfahrung wachsen auf diesem Boden gleich organischen Gewächsen. Wir hören und sehen so, wir sprechen und lesen so, wir riechen und schmecken so, wir spüren und fühlen so. Unsere sinnliche Gewissheit ist so programmiert. Im freien Willen wird eine Sprache bürgerlichen Entsprechens gesprochen.

5.

Der Wille hat sein Terrain in der praktischen Vernunft, über die hinaus zu gelangen es wahrlich der Entwertung aller Werte bedürfte. Freiheit und Wille (falls diese Termini dann überhaupt noch einen Sinn machen) kann es erst geben, wenn die Befreiung von der unsichtbaren Hand des Marktes bewerkstelligt worden ist, wenn Sätze wie der folgende endgültig einer archaischen Vorgeschichte angehören. Horst Claus Recktenwald schreibt im Vorwort zu Adam Smiths "Der Wohlstand der Nationen": "Das Unzerstörbare dieser freiheitlichen Ordnung in Markt und Staat gründet in der Natur des Menschen, wie er ist und seit Jahrtausenden in der Gesellschaft handelt und nicht, wie er nach irgendeiner Ideologie sein sollte." (Der Wohlstand der Nationen, 5.Aufl., München 1990, S. XIV) Wertkritik ist nicht nur angetreten, diesen faulen Zauber, der uns doch alle fesselt, zu durchbrechen, Wertkritik will die unsichtbare Hand des Marktes sichtbar machen, zeigen, welch Gewalten die Menschen ausgeliefert sind und sich überantworten. Wertkritik ist so gesehen der Versuch einer großen Dechiffrierungskampagne.

Zweifellos, die Leute sollen sagen, was sie wollen; aber dazu muss man ihnen erst die Chance geben etwas sagen zu können. Damit sie etwas zu sagen haben, hat sich gar vieles zu ändern. Befreiung beginnt, wo die Unfreiheit der Freiheit begriffen wird. Ein freier oder besser eigentlich emanzipierter Wille setzt gerade dort an, wo dessen aktuelle Schranken problematisiert werden. Die Anerkennung dieser Befangenheit als negative Kenntnis von ihr ist zugleich der erste Akt ihrer Sprengung. Befreiung ist heute nur dort, wo der Wille sich gegen das zu Wollende sträubt. Aus dem Willen wird Widerwille. Dieser müsste auf Differenz beharren, anstatt Identität zu suchen.

"Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst," sagt Adorno (Negative Dialektik, S. 274). Das Ich ist zwar keine apriorische Realität, aber der Keim einer Potenz allemal. Das Ich ist nicht einfach vorhanden, aber es kann sich kreieren. Es zu stacheln ist wiederum Aufgabe der Kritik. Dieses Eigene ist mehr als die Summe von Eigenheiten, es ist die emanzipatorische Potenz wider die Formierung und Formatierung. Das Ich entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Nein, aber einem bestimmten Nein. Das Ich ist immer vakant und nie konsolidiert, es ist keine Position, sondern steht stets zur Disposition. Nicht in dieser, sondern gegen diese Disposition wird es aktiv.

So ist auch in Zeiten des abgesetzen Willens dieser nie ganz verschwunden, sondern selbst ein Moment seiner Sistierung. Auch darauf hat Adorno dezidiert hingewiesen, wenn er ausführt: "Belastet die These von der Willensfreiheit die abhängigen Individuen mit dem gesellschaftlichen Unrecht, über das sie nichts vermögen, und demütigt sie unablässig mit Desideraten, vor denen sie versagen müssen, so verlängert demgegenüber die These von der Unfreiheit die Vormacht des Gegebenen metaphysisch, erklärt sich als unveränderlich und animiert den Einzelnen, wofern er nicht ohnehin dazu bereit ist, zu kuschen, da ihm ja doch nichts anderes übrigbleibe. Determinismus verhält sich, als wäre Entmenschlichung, der zur Totalität entfaltete Warencharakter von Arbeitskraft, das menschliche Wesen schlechthin, ungedenk dessen, dass der Warencharakter an der Arbeitskraft seine Grenze findet, die nicht bloß Tauschwert sondern Gebrauchswert hat. Wird Willensfreiheit schlechterdings geleugnet, so werden die Menschen ohne Vorbehalt auf die Normalform des Warencharakters ihrer Arbeit im entfalteten Kapitalismus gebracht. Nicht minder verkehrt ist der aprioristische Determinismus als die Lehre von der Willensfreiheit, die inmitten der Warengesellschaft von dieser abstrahiert. Das Individuum selber bildet ein Moment von ihr; ihm wird die reine Spontaneität zugesprochen, welche die Gesellschaft enteignet. Das Subjekt braucht nur die ihm unausweichliche Alternative von Freiheit oder Unfreiheit des Willens zu stellen und ist schon verloren. jede drastische These ist falsch." (S. 260 f.) - Die Grenze würde ich allerdings nicht im Gebrauchswert vermuten.

"Vielleicht wären freie Menschen auch vom Willen befreit; sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der äußeren Repression verschwände, wahrscheinlich nach langen Fristen und unter der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere. Konfundiert die philosophische Tradition, im Geist von Unterdrückung, Freiheit und Verantwortung, so ginge diese über in die angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen: in einem Ganzen, welches die Teilnahme nicht mehr institutionell verhärtet, worin sie aber reale Folgen hätte." (S. 261) Kommunismus sozialisiert ja nicht die Menschen, er gibt ihnen vielmehr erst die Möglichkeit, sich zu individuieren. Das Individuum ist aber nicht als Bürger, als Persönlichkeit oder als Rechtssubjekt zu denken, sondern als der sich selbst frei setzende Mensch.

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Unterscheide und herrsche

von Martin Scheuringer

Der gebildete Träger einer Verwaltungsfunktion im demokratischen Staat träumt von sich gern als Erfüller eines großen Auftrags für die Menschen. Gern stellt er sich als Steigerer der Wohlfahrt vor und motiviert sich so zur Arbeit im fortschrittlichen Staatsgefüge. Dabei gerät ihm der Souverän zur zu gestaltenden Masse, die oft renitent und stur gegen seine Ideen lebt. Expertentum und Demokratie gehen schwer zusammen - auf den ersten Blick wär es fein, per Dekret dem Souverän Befehle zu erteilen, um ihm zu helfen.

Denkt er etwas nach, erkennt er die Unvereinbarkeit seiner Haltung mit dem Prinzip der Souveränität. Der sich zur Entwicklungshilfe für verkommene Bürger bekennende Verwalter rechtfertigt sein Denken und Handeln damit, dass die Politik die Demokratie verkommen lasse und er durch Maßnahmen dem Souverän zu einer gebildeten Position im politischen Wirrwarr verhelfen könne. Er ereifert sich dann wie viele seiner Kollegen wie ein Don Quijote im Scheingefecht Verwaltung gegen Politik und schimpft auf die dummen Politiker, die um nichts besser oder gar schlimmer seien als der Wähler. Diesen Kampf kann er nur verlieren, ja, seiner demokratischen Gesinnung folgend muss er sich unterwerfen. Er hat sich den demokratisch legitimierten Organen zu fügen, oft gegen die Ergebnisse seiner Expertise. Souverän und gewählter Herrscher sind aus dieser Perspektive unterschiedslos borniert, wobei gern die Schuld den bevormundenden Herrschenden zugeschrieben wird. Im Traum bevormundet lieber er, der besonnene Staatsdiener, als der populistische Demokrat. Dabei halluziniert er paradiesische Wirkungen seiner Interventionen. Diese Träume halten viele Verwalter am Leben. Manche verlagern sich aufs zynische Konstatieren, oder aufs einfache Schimpfen. All das sind psychische Schonungsmechanismen, um die Unterwerfung zu verkraften.

Träumen, Schimpfen und zynisches Reden nähren sich aus einer spitzfindigen Unterscheidung, die für die warenproduzierende Herrschaftsweise konstitutiv ist: Die Wahrnehmung der Dinge und Handlungen passiert in Form der Ware und verleiht der gemeinschaftlichen Organisation einen Doppelcharakter, sodass sie in reales soziales Handeln (mit Bezug auf Nutzen und Schaden) und ideale Demokratie (mit Bezug auf die soziale reine Verfahrensform) gespalten wird. Die tatsächlichen Handlungen sozialer Organisation sind bloß Träger der Demokratie als leerer Verlaufsform. Demokratie als Form braucht die wirklichen Akte sozialer Organisation nur, um sich in ihnen darzustellen. Das Abstrakte hat Primat über das Konkrete. Mögen die Demokraten noch so menschenverachtend agieren, die Demokratie wird als Prinzip geheiligt. Ganz ähnlich in der Ökonomie: Der Tauschwert braucht den Gebrauchswert, damit das ökonomische Bewusstsein ersteren in zweiteren projizieren kann. Sind das Produkt, seine Produktion und Verteilung auch noch so schlecht, der Tauschwert wird als Errungenschaft für das Wohl der Menschheit gefeiert.

Diese beherrschende Trennung ermöglicht die ideologische Reinigung der Form von aller empirischen Verunreinigung und ermöglicht so die Erhebung der Form zu ewiger Wahrheit, Güte und Schönheit. Gott könnte neidisch werden. Jegliche Kritik der sozialen Wirklichkeit wird auf ein Prinzip außerhalb der reinen Form rückgeführt, das es zu bekämpfen gilt. Die Demokratie entzieht sich als Idee jeglicher Prüfung an der sozialen Wirklichkeit.

Diese Trennung von Inhalt und Form befähigt den Verwalter durchzuhalten, da sie eine Bewertung ein und desselben Objekts als gut und schlecht ermöglicht: schlechte Politik in eigentlich guter Demokratie. So nährt sie Hoffnung. Und der homo oeconomicus ist auf Ertragen und Hoffen konditioniert, betet er doch zu den abstrakten Fetisch en Wert und Demokratie, und wendet sich ab vom sündigen Fleisch der Güter und der Selbstorganisation.

Die herrschende Differenz lenkt sein Denken in normierte Bahn und ist Gift für die synthetische Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit: Die katastrophale Beschaffenheit unserer Seelen, Gefühle, Körper und der Umwelt ist verwoben mit den Regeln der sozialen Form.

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Demokratischer als die Demokraten

von Franz Schandl

Wenn ich meine eigene Geschichte so rekapituliere, vor allem die Bewegungsjahre in der linksradikalen Szene und im grünalternativen Bereich Revue passieren lasse, dann bin ich einige Jahre geradezu ein Fanatiker der Demokratie gewesen. Das erschien mir ganz selbstverständlich, vor allem auch nach den Erfahrungen des Stalinismus, den ich stets ablehnte. "Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie" (Oskar Negt), das war auch einer meiner Leitsprüche. Alles kaprizierte sich in mir in einem treuen Bekenntnis zur Demokratie, natürlich einer anderen und radikaleren. Einige Zeit versuchte ich mich gar als Praktiker und Theoretiker der Basisdemokratie, nachzulesen in: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich, Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien, Promedia 1996, S. 371-386.

Ich konnte nicht genug kriegen. So verstand ich mich als (ein) Gläubiger der Demokratie, als einer, der permanent und penetrant deren Defizite einklagte. Mich erregte, was die Demokratie schuldig blieb, und so projizierte ich alle meine Wünsche ganz selig in sie und meinte sie via sie verwirklichen zu müssen. Mehr Demokratie, das war das, was ich wollte. Ich war da demokratischer als die Demokraten. Die waren schlampiger als ich und erst später merkte ich, dass nicht ich vornweg, sondern eher hintennach war, weil die anderen zumindest pragmatisch mehr begriffen hatten als ich in meinem überdrehten Idealismus. Auch die zehn Jahre Kommunalpolitik in Heidenreichstein haben dazu beigetragen. Inzwischen sind mir die Praktiker der Ohnmacht um einige Nuancen sympathischer als die Priester der Macht. Zur letzten Sorte gehören viele linke Intellektuelle. Zumeist wider Willen.

Dass Demokratie und Diktatur zwar nicht identisch, aber eng verwobene Formen der Kapitalherrschaft sind, wollte mir erst allmählich dämmern. Lenin und Trotzki halfen hier etwas auf die Sprünge. Insofern ist mir auch heute noch der Bolschewismus die liebste Sozialdemokratie. Nun bin ich zwar kein Sozialdemokrat mehr, wollte ja nicht einmal einer sein als ich noch einer gewesen bin. Zu fragen, was Demokratie ist, woher sie rührt, warum sie allseits angebetet und angefleht wird, diese Grundfragen stellten sich mir immer dringlicher. 25 Jahre ist es ungefähr her, dass sich mein steigendes Unbehagen und die Wertkritik ein Stelldichein gaben.

Inzwischen hat mich dieses Leiden an und mit der Demokratie verlassen und ich habe auch keine Phantomschmerzen mehr. Es war aber nicht enttäuschte Liebe, sondern vielmehr der Prozess einer Ernüchterung, der da vor langer Zeit eingesetzt hat und noch immer andauert. Demokratie ist jedenfalls die verfänglichste und klebrigste Kategorie des bürgerlichen Ebensoseins, sie pickt an allem und haftet an jedem. Nichts ist so anlassig wie die Demokratie. Die allgemeine Ergriffenheit zeigt an, dass das Loskommen schwierig ist. Für viele unvorstellbar. Demokraten, das sind wir doch alle.

Auch wenn ich einiges in diesem Wandlungsprozess noch nicht richtig zu fassen kriege, so demonstriert er mir doch eindeutig, dass die Demokratie nur noch in Sackgassen verweist. Mit ihr ist kein anderer Boden beschreitbar als der vorhandene. Demokratie führt ins Gehabte. Und davon habe ich wahrlich genug. Perspektiven gibt es nur jenseits von ihr, nicht in ihr. Democrazy, das war einmal. Zuneigung zur Demokratie wird zusehends nekrophil. Es ist Leichenliebe für Unentwegte. Wer heute noch demokratiebewegt ist, sollte sich nach 1848 beamen lassen. Doch selbst dort könnte einem unser junger Genosse Friedrich Engels über den Weg laufen und forsch meinen: "Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen. Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt ausgekämpft werden."

Dogmatisch wie ich bin, wage ich aber keine Gegenrede.

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Die Herrschaft des Redakteurs, durch ihn, für ihn, in ihm und über ihn

von Severin Heilmann

Verdruss plagt mich keiner in Sachen Demokratie; dazu fehlt jeglicher Anlass. Da sich mir, selbst unter Aufbietung meiner höchsten, wenn auch enden wollenden Aufmerksamkeit das Demokratiewesen schon in Schulzeiten nicht offenbaren wollte oder konnte, sah ich mich außerstande, irgendwelchen konkreten Nutzen in ihm erkennen zu sollen. Ja ich glaube, ich habe nicht das Geringste zu schaffen mit ihm, denn es ist nicht auszuschließen, eher gar wahrscheinlich, dass sein Geist mich unausgesetzt und allenthalben durchweht und ich es bloß deshalb, also wegen seiner Omnipräsenz, nicht zu fassen bekomme...

Eine in früher Kindheit noch bewusst wahrgenommene Anwehung demokratischer Gesinnung verspürte ich beim Anblick einiger Menschen, wie sie mit Papierstücken hinter windigen Wänden verschwanden, um kurze Zeit später wieder daraus hervorzutreten. Schuh und Strumpf waren zu sehen gewesen von außen - genauso wie gänzlich anderen Orts. Mir kamen sofort Zweifel an der Redlichkeit dieses Vorgangs; was hatten diese Leute denn zu verbergen? Jedenfalls nichts Stubenreines! - Was sonst konnte drin in den Kabinen statthaben?

Jetzt soll ich mir was für diese Homestory hier einfallen lassen; es sei noch etwas Platz vorhanden - und die Printausgabe kommt eben mit dem horror vacui nicht anders zu Rande. Na gut, ich wurde gebeten oder bot mich an und fülle nun die Zeilen. Hätten wir redaktionsintern darüber abgestimmt, so hätt ich bestimmt gegen "Demokratie" als Schwerpunktthema votiert; wahrscheinlich gegen eine satte Mehrheit von geschätzten 70 bis 80 Prozent, das sind immerhin vier bis fünf meiner liebenswürdigen KollegInnen. Die wären über mich drübergefahren. Selbstverständlich wäre ich pikiert gewesen, die übrigen hätten trotz und wegen ihres Siegs einen Querulanten in ihrem Kreise zu erwarten gehabt, der seinem Unmut über das Ergebnis durch Hintertreibung des Vorhabens Platz macht. Es käme zu verhohlenen Geplänkeln oder offenen Konfrontationen mit entsprechend einhergehenden und unausbleiblichen Folgen für unser Projekt.

Für die nächste Nummer würde ich daher - im Trauerfall der Einführung von Demokratie - für eine geheime Abstimmung plädieren: Niemand käme unter Rechtfertigungsdruck, keiner wüsste von den Wünschen und Vorstellungen der anderen, keine Diskussion, keine Anfechtung - das jeweilige Resultat liegt allen unzweifelhaft vor, objektiv, transparent und kühl prozentuiert; bereinigt von jeglichem Ringen mit persönlichen Unsicherheiten und Zwiespältigkeiten, die doch lediglich die Redaktionsarbeit strapazieren. Niemand braucht sich noch um Betroffenheiten anderer zu kümmern, ja, niemand weiß überhaupt von ihnen und die unweigerliche Argwohnhege machte uns sicherlich deutlich, dass uns einfach noch nicht die Weihe wahrer demokratischer Gefasstheit zuteil wurde.

Um einer sauberen und anonymen Abstimmungsatmosphäre Rechnung zu tragen, werden wir in den kolossalischen Büchersteilwänden der Redaktionsräumlichkeiten kleine Sichtschutzabstimmungskästen einlassen, um dem demokratischen Akt die gebührend gravitätische und seriöse Anmutung zu verleihen. Haben wir uns erst einmal mit diesem effektiven und rationalen Instrument überaus gemeinsamer Entscheidungsfindung angefreundet, können wir es bald in allen Arbeitsbereichen zur Anwendung bringen; ruckzuck, Mehrheit überfährt Minderheit - unsere Demokratie wird immer direkter. Das Verfahren selbst darf freilich nicht Gegenstand des Verfahrens werden - wozu soll das auch gut sein, deswegen haben wir es ja doch! Und auf so einen Stuss muss auch erst einmal einer kommen! Meinem Unverstand eröffnete sich sodann die kaum erhoffte Möglichkeit, doch noch Einblick in das Demokratiewesen zu gewinnen, und in diesem Fall hätte ich selbstverständlich für den gegenständlichen Schwerpunkt votiert und etwas Sachlicheres hier zu berichten gehabt.

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Fetisch Vielheit

Pluralität als Problem

von Meinhard Creydt

Die Pluralität der privaten Vorlieben und Meinungen gilt als hoher Wert. Einheit erscheint vielen Vertretern postmoderner und poststrukturalistischer Theorien als Monismus und Monopolismus. Und wird dann mit Uniformierung, Gleichschaltung und Gewalt gegen das Besondere oder zumindest mit Konformitätsdruck identifiziert. An dieser Position fallt auf, dass sie zwei verschiedene Pole eines Gegensatzes (Einheit und Vielfalt) und zwei verschiedene Prädikate (positiv und negativ) unterscheidet. Unter den damit entstehenden vier Feldern spielen aber nur zwei eine Rolle: Die negativ beurteilte Einheit und die positiv vorgestellte Vielfalt. Die Fragen, ob es nicht auch eine "positive" Einheit, die sich gegenüber der Vielfalt nicht negativ verhält, und eine problematische Vielfalt geben kann, bleiben ungestellt. Das zunächst plausibel erscheinende Votum für Vielfalt gegen Gleichschaltung und gegen die Diskriminierung anderer Lebensformen ("Ich will, dass es alles gibt, was es gibt" - Konstantin Wecker) blendet die problematischen Varianten der Vielfalt aus. An ihnen herrscht aber kein Mangel.

Eine erste problematische Variante von Vielfalt entsteht bereits schlicht subjektiv aus der Unvertrautheit des Beobachters mit der Materie. Der Wald erscheint nicht vor lauter Bäumen. Erst wer sich in einem Feld auskennt, gewinnt Übersicht. Und vermag, die verschiedenen Varianten des Selben als eben dessen Varianten zu erkennen und sie nicht mit Differenzen, von denen etwas abhängt, zu verwechseln. "Der Anfänger kennt viele Möglichkeiten, der Meister wenige." (Suzuki)

Eine zweite problematische Variante von Vielfalt entsteht aus der entfalteten Warenwirtschaft. In ihr sind die Sinne und Fähigkeiten nicht auf ein Integrum des guten Lebens bezogen und es entsteht schon insofern eine Diversifizierung von Objekten. Anbieter übertreiben die positive Differenz ihres Angebots zu anderen Produkten. Auch Geistesarbeiter sehen sich infolge der Konkurrenz gezwungen, "jeden Gedanken nicht zu prägen, was sehr nützlich wäre, sondern ihn überscharf zu profilieren..., (so) dass der Gedanke von all seinen unendlich vielen Brüdern von vornherein sich mehr abhebt, als es von Haus aus in seinem Wesen steckt" (Bry 1988, 37).

Eine dritte problematische Variante von Vielfalt resultiert aus der Arbeitsteilung und der Ausdifferenzierung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche in modernen Gesellschaften sowie aus den entsprechenden Tunnelblicken und déformations professionelles. Diese Problematik verschärft sich noch durch die bürgerliche Gesellschaft, in der die verschiedenen Sphären (Recht, Politik, Moral, Zwischenmenschlichkeit, Kultur) Erfahrungen mit der selbstbezüglichen und eigengesetzlichen Bewegung des abstrakten Reichtums in einer bestimmten Weise verarbeiten. Die kapitalistische Ökonomie wird aus der Perspektive der jeweiligen ökonomieexternen Sphäre wahrgenommen. Diese jeweils besondere Wahrnehmung setzt sich zugleich immer auch von den Stellungnahmen zur kapitalistischen Ökonomie aus den anderen gesellschaftlichen Sondersphären ab. Ein unendlich sich fortwälzender Kreislauf und eine auf der Stelle tretende Geschäftigkeit resultieren. Die Kritik an der Ökonomie führt zur Affirmation des Politischen. Die Beanstandungen der Politik formulieren sich moralisch und zahlen den Tribut der Affirmation der Moral. Vor dem Hintergrund von Ökonomie, Politik und Moral sonnen sich Kunst und Kultur. Der Überdruss am Subjektivismus und Ästhetizismus leitet über zum positivistischen Einverständnis mit den ökonomischen und politischen Sachzwängen. Mängel und Probleme einer Sphäre werden nicht selbst bearbeitet, solange sie für andere Sphären willkommener Anlass sind, ihre Angebote absetzen zu können. Der Pluralismus vermag die zueinander komplementären partikularen Erfahrungsverarbeitungen nicht in der Einheit ihrer Gegensätze wahrzunehmen. Unechte Alternativen verhalten sich wie die verschiedenen Seiten eines Berges, die allein von seinem Gipfel aus gleichzeitig sichtbar sind.

Eine vierte Variante der problematischen Vielfalt resultiert aus jener Erfahrungsverarbeitung, die sich anschickt, Probleme des individuellen In-der-Welt-Seins mit einer ganz aparten Identität überkompensieren zu wollen. Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität werden von den Individuen als "Nivellierungserfahrung" bewertet und mit einem "exaggerierten Subjektivismus" beantwortet (Simmel 8, 382). In ihm steigern die Betroffenen "das Verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit" (Simmel 6, 653). Der Stofffür das unendliche Sich-Verlaufen in Partikularismen entsteht aus den genannten problematischen Varianten von Vielfalt. Es kommt dann dazu, "dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität" (Elias 1987, 21).

Im Bewusstsein von Soziopathen und Kriminellen radikalisiert sich oft die Absage an eine die Individuen übergreifende Einheit einer gemeinsamen Welt. Stattdessen sei von Fressen und Gefressenwerden auszugehen. Ein über das bürgerliche Tierreich hinausgehender Inhalt existiere nicht. Nicht nur dieses Bild von der Natur, auch die nominalistische Absage an normative Allgemeinbegriffe (vgl. Losurdo 1988) immunisiert soziopathisch und kriminell Handelnde gegen ein schlechtes Gewissen.

"Recht auf Unterschied"

Wie sehr Pluralität Wertschätzung genießt, hängt auch von der Zeitdiagnose ab. Sie betrifft bspw. das Geschlechterverhältnis in der modernen kapitalistischen Gesellschaft der Metropolenländer in den letzten 20 Jahren. Dekonstruktivismus und Gender-Theorie bleiben auf die normative geschlechtliche Identitätsfestschreibung negativ fixiert. Sie Verfehlen die Aktivierung und "Herausforderung" der Individuen im Horizont von Freiheit und Offenheit. Die vereinzelten Einzelnen sehen sich dazu angeregt, nach ihrer jeweils individuellen "Wahrheit" zu suchen. Die Bekämpfung von gesellschaftlich überaltert erscheinenden Mentalitäten und Institutionen trägt zur Modernisierung bei. "Glauben wir nicht, ... dass man zur Macht Nein sagt, indem man zu queer Ja sagt: man folgt damit vielmehr dem Lauf des neoliberalen Flexibilisierungsparadigmas." (Soiland 2005, 9) In ihm rücken die Normen der auf das Geschlechterverhältnis bezogenen disziplinierenden Vereindeutigung und Vereigenschaftlichung in den Hintergrund. Im Vordergrund steht dann die Förderung und Anregung einer Subjektivität, die sich im Horizont einer Flexibilität auf Märkten und der Bastelexistenz bewegt. Letztere macht aus der Not, unvereinbare Aufgaben irgendwie subjektiv vereinbar machen zu müssen, eine Tugend. "Das Konzept von gender übersieht, dass wir längst mit massiven Deregulierungsanforderungen an unser Verhalten konfrontiert sind, denen die Forderung nach einer Flexibilisierung der gender-Norm, weit davon entfernt, deren Kritik zu sein, gerade zuarbeitet. Indem es uns glauben macht, wir müssten uns gegen Festschreibungen wehren, lässt uns das Konzept von gender genau jene Fähigkeiten erwerben, die es uns erlaubt, die unterschiedlichsten, ja sich vielleicht gegenseitig auch ausschließenden Anforderungen unter einen Hut zu bringen. Die These vom Geschlecht als sozialem-`Konstrukt und die damit verbundene Vorstellung von der Verhandelbarkeit des eigenen genders scheint damit selbst zu einer politischen Technologie der Individuen geworden zu sein." (Soiland 2009, 416)

Aus dem "Recht auf Unterschied" folgt oft die Fixierung auf die besondere Lebensart. Ihr entspricht die Weigerung, in der spezifischen Erfahrungsverarbeitung, die durch die gesellschaftlich herrschenden Strukturen und Formen sowie durch deren interne Differenzierung vorstrukturiert ist, den konstitutiven Kontext für das Zustandekommen der partikularen individuellen Orientierung zu sehen. Die Abdichtung gegen diese Frage und das Verschwinden der Konstitution im als unmittelbar imponierenden Resultat bilden eine notwendige Bedingung des Lebensstils (Bourdieu 1982, 317).

Die Subjektivität, die sich in partikularen Auffassungen und in der Kultivierung der eigenen Partikularität festrennt, geht mit einem Narzissmus der kleinsten Differenz einher. "Eine kritische und psychoaffektive Verarmung liegt in der Luft, nachdem das Recht auf Unterschied hochgejubelt worden ist und Hunderte von sektoriellen und exklusiven Apartheiten geschaffen hat." (Errata-Redaktion 1979, 7) Kollektive entstehen, die "miniaturisierte, hyperspezialisierte Interessen (und Ansichten - Verf.) verfolgen: etwa die Vereine von Witwern, von Eltern homosexueller Kinder, von Alkoholikern, Stotterern, lesbischen Müttern, Bulimikern" (Lipovetsky 1995, 19). Im Vergleich mit dem "politischen Militantismus von einst" kommt es zur "Schrumpfung der universellen Zielsetzungen" und wir haben es zu tun "mit dem Wunsch, sich unter Seinesgleichen wiederzufinden ... sich mit 'identischen' Wesen zusammenzuschließen" (ebd., 19f.). Zur Logik dieser "Zersplitterung in Partikularismen" gehört, dass das "Recht auf Differenz" sich in einer "endlosen Miniaturisierung" leerläuft. Die Gruppen werden aus ihren weiter gefassten Bezugsrahmen gelöst, Mikrosolidaritäten bekräftigt und "immer wieder neue Singularitäten" emanzipiert (ebd., 234).

Die Sezession in special-interest-Medien und partikulare Affinitätsgruppen erhöht die Schwierigkeiten einer gesellschaftlichen Assoziation und fördert die gesellschaftliche Synthesis qua Geld und Recht. Die Tendenzen zur "Universalisierung und Homogenisierung des gesellschaftlichen Lebens" und "zur Zergliederung und Individualisierung desselben" (Marmora 1983, 78) koexistieren. Sie steigern sich gegenseitig. Die Vergesellschaftung durch Markt und ökonomischen Wert bringt Partikularisierungen hervor, und das Partikulare legt eine abstrakte Synthesis nahe. Zur Internationalisierung und Verallgemeinerung des Kapitalverhältnisses ist eine Tendenz der Segmentierung komplementär. Universalismus und Differenz, Globalisierung und Kultivierung der nationalen und regionalen "Eigenarten" bilden zwei Seiten einer Medaille.

Die Entropie und Vergleichgültigung des Differenten

Bevormundung, Wertepaternalismus, Gesinnungspädagogik und -kontrolle abzulehnen ist legitim. Ein Plädoyer für eine partikularistische Selbstdefinition folgt daraus nicht. Sie nimmt das Besondere gerade nicht als Besonderes wahr. Das Besondere ist von anderem Besonderen unterschieden. Dieser Bezug des einen Besonderen A auf das andere Besondere B beinhaltet aber nicht, dass A sich nur negativ auf B bezieht, die Außensicht auf B pflegt und sich von ihm abstößt, B nur als negativen Kontrasthintergrund stilisiert, um sich in Absetzung von ihm zu profilieren. Im Unterschied zu dieser partikularistischen Selbstverortung von A nimmt sein Selbstverständnis als Besonderes den positiven Gehalt von B so mit in sich hinein, dass es sich auf ihn bezieht und sich von ihm unterscheidet, also sagt: Ich bin etwas anderes als das Andere, das ich in seinem eigenen Gehalt für wahr nehme. Dann verortet sich das Besondere immer schon in einem Gefüge oder System von Unterscheidungen und kann als Besonderes (im Unterschied zum Partikularen) nur existieren, indem es die anderen Inhalte präsent hat, obwohl es als Besonderes sie nicht selbst enthält. Die Defizienz des Partikularen zeigt sich immanent an ihm selbst in der mit der Vervielfältigung von Differenzen verbundenen Vergleichgültigung des Differenten. Nicht allein die Unterdrückung von Pluralität, auch die antithetische Fixierung auf diese Unterdrückung bildet dann ein Problem, wenn man es pauschal auf die Freigabe von Differenzen absieht und davon absieht, wie daraus bedeutungslose Differenzen resultieren, also: Indifferenz.

Im Unterschied zur postmodernen Begrüßung der Vermehrung von Differenzen und der Maxime "Zersplitterung ist gut" lässt sich feststellen, dass das Besondere auch durch eine bloße Vermehrung verschiedener Einzelzustände bedroht ist. "Wenn nämlich gilt, dass jedes einzelne Ding nur dann allgemeinen Wert hat, wenn und insofern es einzeln ist und bleibt, dann gelten alle Einzelheiten gleich viel. Es ist gleichgültig, wie man ist, Hauptsache, man ist einzeln. Wenn es aber gleichgültig ist, wie man ist, dann gilt das Besondere nichts." (Eisel 2003, 410) Die "Vervielfältigung der konkurrierenden Besonderheiten (erhöht) die eigene Bedeutungslosigkeit" (ebd.), insofern es zu einer verwirrenden und chaotisierenden Beliebigkeit kommt. Die entstehende Gleichgültigkeit resultiert dann nicht aus der vom Verschiedenen abstrahierenden formellen Einheit, sondern aus einer schlecht-unendlichen Verschiedenartigkeit. Sie treibt aus sich heraus Gleichgültigkeit hervor. "Die Ungleichheit hat kein System, der Zusammenhang der Vielen ergibt kein einheitliches Bild mehr. ... Wenn man also auf der Wichtigkeit der Besonderheit besteht, muss man auf einem System von Ungleichheiten bestehen, statt auf einer Vielzahl von Andersartigkeiten. Nur dann kann man ein Individuum in seiner Stellung in einem Ganzen beurteilen, d.h. seine Besonderheit würdigen." (Ebd.) Besonderheit verträgt sich mit Vielfalt, nicht aber mit "Vielzahl" (ebd., 411). "Vielfalt hat immer den Bezug auf eine Einheit, Vielzahl nicht." (Ebd.) Die Position der in sich differenzierten und gegliederten Totalität setzt sich gegen formelle Einheit und gegen chaotisierende Vielzahl oder Vielheit.

Die reiche Vielfalt ist nicht mit der letztendlich beziehungslosen Vielheit und Pluralität zu verwechseln. Das legitime Votum gegen das redundante Monopol, die endlose Wiederholung und die Reduktion auf Einunddasselbe führt nicht notwendig zur Akzeptanz des dogmatischen Pluralismus. Erst wer beide Seiten des Gegensatzes zusammen vergegenwärtigt, sieht ihre Komplementärität. Beziehungslose Heterogenität und gewaltsam homogenisierende Identität sind nur zwei Seiten einer Medaille und bilden Wunschgegner, die die Orientierung darauf festlegen, endlos zwischen diesen beiden Polen zu wechseln und bei einem Pol Erholung vom anderen zu suchen. Die Perspektive besteht nicht darin, auf der Ebene der Begriffe von Einheit und Vielfalt weiterzudenken (in Richtung einer wie auch immer gearteten Einheit von Einheit und Vielfalt). Vielmehr geht es um die gesellschaftliche Arbeit zur Einhegung oder Überwindung der Ursachen, die Besonderes und Allgemeines, Vielfalt und Einheit zum Problem werden lassen.

Die Emphase für die Pluralität der Geschmacksfinessen und Lebensstile enthebt die Bürger davon, sich von gesellschaftlich herrschenden Formen und Strukturen Rechenschaft abzulegen, innerhalb derer sie sich im Kapitalismus und in der bürgerlichen Gesellschaft nolens volens bewegen. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den scheinbar unendlichen Reichtum der Stoffe, die Bürgern dafür zur Verfügung stehen, ihren Vorlieben dort frönen zu können, wo es zwar gesellschaftlich nicht darauf ankommt, subjektiv aber umso mehr - also in ihrer Freizeit und in ihrer Selbststilisierung. Das bürgerliche Bewusstsein, als Individuum frei und nur äußerlich beschränkt zu sein, radikalisiert sich. Die postmoderne Beliebigkeit des Verfügens über Stile aller Orte und Zeiten zur Ausgestaltung des subjektiven Selbstverständnisses und zur Beschäftigung der eigenen Aufmerksamkeit ergeht sich ebenso stoffselig wie lustvoll in den dafür mobilisierbaren Materien. Sie suggerieren einen Reichtum, der dazu beiträgt, der mit den herrschenden gesellschaftlichen Formen verbundenen Armut des In-der-Welt-Seins nicht gewahr werden zu müssen.

Die Vielheit wird mit Offenheit assoziiert. Bei anderen Erlebnissen, Situationen und an anderen Orten werde vieles anders. Das Andere eröffne neue Möglichkeiten. Abgeschlossen oder gar verarbeitet wird die Vergangenheit oft nicht. Sie soll sich im Veralten vielmehr von selbst erledigen "in der Art, wie man etwas verlegt und aus den Augen verliert, wenn man selbst von etwas Neuem angezogen wird" (Musil). H. M. Enzensberger schreibt in "Tumult" (2014) über seine Umzüge, er habe sich "angewöhnt, meine Probleme mit Hilfe der Geographie zu lösen". Man möchte sich immer neu erfahren, verändern und erfinden können. Was man ist und tut, erscheint dann als kleiner Vorgeschmack des Reichtums, der einem eigentlich möglich sei. Diejeweilige Gegenwart in ihrer Begrenztheit sei nicht ernst zu nehmen - im Unterschied zur unendlichen Freiheit des (an keiner Vorstellung von Vollendung orientierten) Werdens. Niemand muss dann mehr Farbe bekennen oder Vergegenwärtigen, was (man) ist. Anhänger der episodischen Lebensform sind jeweils über jedes bestimmte Endliche hinaus. "Als sei keine Stelle des Lebens so gut, dass sie nicht jederzeit verlassen werden könnte. Die Lust am Anderssein entführt, oft betrügt sie. Doch aus dem Gewohnten treibt sie allemal hinaus. Ein Neues soll kommen, das mit sich nimmt. Die meisten reizt schon der leere Unterschied zum Bisher, die Frische, gleichviel zunächst, was ihr Inhalt ist." (Bloch 1976, Bd. 1/44) Als wünschenswert gilt, das Leben als Schnupperstudium nach dem Motto 'Warum nicht' oder 'Mal sehen, was kommt' leben zu können. Auf den "Charakterpanzer" folgt der Mangel an Eigengewicht, der den immer neuen Offerten, Meinungen und Moden gegenüber geltend gemacht werden könnte. "Der lässige Mensch ist ein entwaffneter Mensch." (Lipovetsky 1995, 66) In dieser aus "Neugier und Toleranz gemischten Gleichgültigkeit" (ebd., 56) sind Ausschließlichkeitsansprüche verpönt, der individuelle Synkretismus und das Temporäre stehen hoch im Kurs - eine allgemeine Verbeliebigung entsteht. Die Aktualität enthebt der Gegenwart. Die Vorstellung einer grundlegenden Transformation verblasst vor der Perspektive der Abwechselung, des Driftens und Floatens. Die Suggestion des vermeintlich Anderen und Neuen verdrängt die Vergegenwärtigung der Wirklichkeit. Das Schwelgen in Möglichkeiten entwertet den Sinn für die Wirklichkeit. Alles erscheint möglich, kein Fehlen wird bemerkt.


Literatur

Bloch, Ernst 1976: Das Prinzip Hoffnung, Frankf./M.

Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede, Frankf./M.

Bry, Carl Christian 1988: Verkappte Religionen, Nördlingen (Erstausgabe 1924).

Eisel, Ulrich 2003: Tabu Leitkultur, in: Natur und Landschaft, 78. Jg, H. 9/10.

Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen, Frankf./M.

Errata-Redaktion 1979: Stunden der Wahrheit, in: Errata, Halbjahreszeitschrift für kritische Sozialität, Nr. 5.

Lipovetsky, Gilles 1995: Narziß oder Die Leere, Hamburg.

Losurdo, Domenico 1988: Realismus und Nominalismus als politische Kategorien, in: Ders., Hansjörg Sandkühler (Hg.): Philosophie als Verteidigung des Ganzen der Vernunft, Köln.

Marmora, Leopoldo 1983: Nation und Internationalismus, Bremen.

Simmel, Georg 1989ff: Gesamtausgabe, Herausgegeben von Otthein Rammstedt, Frankf./M.

Soiland, Tove 2005: Kritische Anmerkungen zum Machtbegriff in der Gender-Theorie auf dem Hintergrund von M. Foucaults Gouvernementalitätsanalyse, in: Widersprüche, 25. Jg., Nr. 95.

Soiland, Tove 2009: Gender oder Von der Passförmigkeit der Subversion, in: Das Argument, Nr. 281.

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Dead Men Working

Die Lust am da Sein

von Maria Wölflingseder

Wenn ich nach den täglich erzwungenen inspirations- und sinnlichkeitstötenden hirnverbrannten Aberwitzigkeiten bei meiner abendlichen widerständigen Routine der Wortschatzsuche unverhofft auf eine Goldader stoße, bin ich erst mal sprachlos. Umso wundersamer die Entdeckung, wenn ich auf jemanden treffe, der mir schon vor über hundert Jahren so sehr aus der Seele gesprochen hat wie kaum einer in der Gegenwart. Auf jemanden, der das in Worte gekleidet hat, was ich bisher kaum auszudrücken vermochte, aber umso stärker spürte. (Zum Genießen braucht es keine Worte, aber zum Unmut kundtun.)

"...und die Lust, so zu sein, wie sie sind, lacht aus ihren stolzen Augen." Hermann Bahr bemerkt in der "Dalmatinischen Reise" 1909 zwei Tendenzen in der Menschheit: Die einen, die sich wohl in ihrer Haut fühlen, die sind, was sie sind, und sich gar nicht denken können, anders zu sein, die nichts brauchen, weil sie alles an sich selber haben, die sicheren unschuldigen Heiden quasi. Und die anderen, die ewig Bangen, die ewig an sich Zweifelnden, die sich schämen, so zu sein, wie sie sind, die sich wünschen, anders zu sein, als sie sind, die sich fürchten, so zu sein, wie sie sind; die, die jeden bewundern, der anders ist, die jeden beneiden, der anders ist, die gefallen möchten, die an sich selber kranken, schlecht träumenden, vor sich selber flüchtigen Sünder.

Auch mir ist diese Unterscheidung in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr ins seelische Auge gestochen: Die kernigen, reschen, pfiffigen, innerlich gefestigten Charaktere mit ihrer frechen Fröhlichkeit verschwinden immer mehr oder sie wurden müde und ausgelaugt, während die verunsicherten, distanzierten, standardisierten, normierten, die bemüht beeindrucken Wollenden Hochkonjunktur haben. Letztere mögen äußerlich ordentlich aufgepeppt und überzeugt erscheinen, innerlich aber sind sie hohl, schal, bar jeglicher Leuchtkraft. Selbstinszenierung und Selbstverniemandung gleichzeitig. Oft auch Selbstzerstörung.

Nicht mehr die einschüchternde christliche Religion beschert uns dieses (Un-)Sittenbild, sondern wohl der neue Glaube an Geld und Markt mit seinen unabdingbaren Folgen wie Konkurrenz und Neid. - Je nach Gruppenzugehörigkeit plappern sie die entsprechenden Phrasen, aber weit und breit keine Originalität! Ein Spruch: "99 Prozent von uns sind unsichtbar und unfassbar." Wenn ich nichts Essenzielles, nichts Eigentümliches wahrnehme, kann ich nichts erwidern. Der heute großteils digitale Austausch unter Menschen ist mir wesensfremd. Ist Facebook & Co. nicht vor allem eine Börse, an der jeder seinen täglichen Marktwert via Likes, Shares und Freunde-Quote kontrolliert?

Die Ärztin Christine Wallner hat lange Zeit in Afrika verbracht. Hierzulande fehle ihr "die Einfachheit des Direkten, in der Mimik, in der Herzlichkeit. Jemand, der Freude ausstrahlt ist ein Schatz."

Ein schönes Fundstück gibt es auch von Andreï Makine im Buch "Himmel und Erde des Jacques Dorme", eine historisch belegte Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich im Zweiten Weltkrieg zufällig in Sibirien treffen, weil er irrtümlich einen Umweg eingeschlagen hat: "Weißt du, diese Ebene, der Fluss, die Nacht, das alles ist so einfach, mehr brauchen wir eigentlich gar nicht. Niemand braucht mehr. Und trotzdem wird der Krieg bis hierher kommen..." Mehr als eine Woche, viele Briefe und die Absicht zu heiraten, war ihnen nicht gegönnt. - Das Glück, die glücklichen Momente aber sind bei aller Rätselhaftigkeit so einfach, so klar und deutlich, so stark und unumstößlich wie ein Fels in der Brandung der alltäglichen Widersinnigkeiten.

Von Dalmatien vor hundert Jahren über Sibirien vor siebzig Jahren in das Polen der Gegenwart: Steffen Möller, 1969 in Deutschland geboren, hat zwölf Jahre lang in diesem Land gelebt und weiß viel über die unterschiedlichen Mentalitäten zu berichten. In seinem Buch "Expedition zu den Polen - Eine Reise mit dem Berlin-Warszawa-Express" wird in jedem Kapitel unter anderem ein Kulturschock vorgestellt. Jener mit "Blicke, Blicke, Blicke" betitelte passt hervorragend zu meiner (unveröffentlichten) kommentierten Zitate-Sammlung "Blickdicht - Oder: weit und breit keine Sinnlichkeit".

Polen, die in Deutschland leben, können kaum glauben, "wie blickarm, wie emotional genügsam und sparsam an Mimik" die Menschen hier ihr Leben fristen. "Auf deutschen oder amerikanischen Straßen gehen die Leute mit gesenktem Blick aneinander vorbei, in Polen guckt jeder jeden an. ... Wenn ein Deutscher langsam seinen Blick erhebt, hat sich ein Pole schon eine Meinung über ihn, das Wetter und die Katze hinter dem Fenster gebildet. ... Bei Besuchen in der Heimat fühlen sich Polen von fremden Blicken gegossen wie welke Blumen." - Freilich kann das auch weniger angenehme Auswirkungen haben: Nichts entgeht der (kontrollierenden) Beobachtung durch die anderen. Bemerkenswert aber ist, dass in Polen "das Phänomen der Amokläufer - emotional toter, aber kognitiv hochintelligenter junger Männer - nahezu unbekannt ist. Bevor ein Mensch vereinsamt und eines Tages explodiert, muss er zunächst einmal durch alle Netze der Blicke fallen. Das ist hier fast unmöglich. Irgendein Nachbar oder eine aufgekratzte Tante ist immer da, die nach dem Rechten guckt, nicht unbedingt aus Liebe, aber aus Neugier oder schlichtweg aus Misstrauen."

Die von Möller treffend beschriebene "zehnfach erhöhte Wahrnehmungsdichte" bei Slawen kann ich nur bestätigen. Oft kommt mir sogar vor, sie hätten auch im Hinterkopf Augen. Vielleicht ist es auch ein eingebautes Ganzkörperradar oder ein hochsensibler Seismograf. - Während ich hierzulande der Menschen Wortschwall häufig als Linienwall erlebe, als eloquente Abwehr, wirken Slawen hingegen sogar schweigend höchst anziehend. Aber auch ihre Sprachen sind viel sinnlicher, viel vieldeutiger im Gegensatz zum präzisen Deutsch. - Eine der schlimmsten Krankheiten heute ist das ständige überall und nirgends Sein. Der Kopf ist meist ganz woanders als der Körper. Und das Augenmerk selten beim Gegenüber. Hoffentlich gehen die wunderbaren traditionellen slawischen Eigenheiten nicht ganz verloren. Die außergewöhnlichste ist ihr Aufmerksamkeitspegel: Nicht nur ihre Lust am so Sein ist deutlich zu spüren, sondern auch ihr starkes da Sein, beim Gegenüber Sein. Aufmerksamkeit pur. Wahr-genommen werden vom Schönsten.

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Wo entstehen die neuen Menschen?

Über Keimformen post-kapitalistischer Subjektivitäten

von Andreas Exner

Die Rede von der Keimform suggeriert abgrenzbare soziale Orte, die sich entlang anderer Prinzipien organisieren als ihr Saatbett, die wachsen und einen neuen gesellschaftlichen Strukturbestand ausbilden. Das Neue, so heißt es dann entsprechend, werde im Schoß der alten Gesellschaft ausgebrütet. Unter bestimmten Bedingungen könne dieses Neue die alte Gesellschaft schlussendlich ersetzen.

Der Begriff der Keimform wird in diesem Artikel in einem weiten Sinn verwendet, der sowohl allgemeine Theorien der sozialen Innovation und ihren Begriff der Nische umfasst als auch die spezifische Keimformdebatte, wie sie ausgehend von Texten der Gruppe Krisis entwickelt worden ist.

Die Überlegungen dieses Artikels sind weder Agitation noch Handlungsanleitung. Der Text will nicht anstiften, sondern etwas bedenken. Allerdings geht es ihm auch nicht um eine dem Autor oder der Gesellschaft äußerlich gedachte Theorie ohne Bezug zu Praxis. Der Kern der Überlegungen ist ein zweifacher: Erstens werden technologieorientierte Sichtweisen problematisiert; dabei wird kein Wert darauf gelegt, diese Problematik in eigenen, früheren Arbeiten oder in denen anderer nachzuweisen. Zweitens wird eine kritische Sicht auf einen bestimmten Begriff von Emanzipation entwickelt.

Anlass dazu gibt die These, dass sich die kapitalistische Produktionsweise in bestimmten Praktiken herstellt. Daraus folgt, dass eine Ablösung dieser Produktionsweise andere Praktiken erfordert und sich in der Etablierung neuer Praktiken darstellen würde. Praktiken werden in dieser Hinsicht weit gefasst, und zwar als routinisierte Handlungskomplexe, die Selbstverständnisse, Deutungen der Welt und der anderen, Gefühle, implizite oder explizite Normen, Sprechakte sowie material orientiertes Tun umfassen. Eine Praktik tut also nicht nur etwas mit der Welt, sondern ebenso mit denen, die da tätig sind.

Nun ist ein Teil jener Praktiken, die in einer Gesellschaft vorherrschen, in der die kapitalistische Produktionsweise dominiert, ersichtlich problematisch. Und zwar in dem Sinn, dass sie Hunger, Obdachlosigkeit, vermeidbare Krankheiten und soziale Isolation produzieren. Diese sind zudem mehr oder weniger herrschaftlich geprägt, das heißt, bestimmte Gruppen von Menschen sollen sich anderen dabei unterordnen. Dieser Problemkomplex wird eingangs angerissen, bildet aber nicht den Fokus.

Es gibt daneben noch ein anderes, ebenso weites Feld von Leidenserfahrungen. Diese haben mit dem Selbstverständnis von Menschen sowie mit ihrer psychischen, kognitiven und affektiven Konstitution zu tun. Das damit verbundene Leiden trägt daher historisch spezifischen Charakter. Selbstverständnis und Konstitution wandeln sich historisch. Parallel dazu verändern sich Formen und Wahrnehmungen dieses Leidens. Dieser Überlegung geht der Artikel vorrangig nach. Selbstverständnis und Konstitution im besagten Sinn haben, so die These, viel mit der tagtäglichen Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Eine Veränderung dieser müsste daher auch eine Veränderung von Selbstverständnis und Konstitution umfassen, wie sie sich in Praktiken herstellen. Zugleich scheinen bestimmte Selbstverständnisse und Konstitutionen schon Voraussetzung für eine post-kapitalistische Produktionsweise zu sein. Dies ist mit der Rede von Keimformen einer post-kapitalistischen Subjektivität gemeint. Abgesehen von den "harten" Fragen von Herrschaft, sozialer Isolation, des Hungers der Obdachlosigkeit u.a.m. widmet sich dieser Artikel also der Frage der Selbstverständnisse, der Konzepte des Menschseins, wie sie sich nicht nur ideell, sondern wesentlich in umfassend gedachten sozialen Praktiken dar- und herstellen.

Diese Selbstverständnisse und Konstitutionen, die im Folgenden der Begriff der Subjektform bezeichnet, interessieren unter einem doppelten Gesichtspunkt: einerseits im Besonderen als Quelle historisch spezifischer Leidenserfahrungen wie historisch ebenso spezifischer Möglichkeiten und Limitierungen der Reaktion darauf; andererseits im Allgemeinen als Voraussetzung für eine Ablösung der kapitalistischen Produktionsweise durch eine neue Weise der Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten.

Die beiden genannten Bereiche von Leidenserfahrungen können tendenziell getrennt werden, weil sich ihre Ursachenkomplexe unterschiedlich bestimmen. Die genannten "harten" Fragen können in allgemeinem Sinn als überhistorisch relevante Quellen von Leid betrachtet werden. Herrschaft bedeutet in diesem Kontext eine mit Gewalt durchgesetzte Kommandobeziehung und wäre etwas von Macht Unterschiedenes, die einen wesentlich produktiven im Unterschied zu einem bloß repressiven Charakter trägt. Der Begriff der Hegemonie bezeichnet diesen produktiven Aspekt, die Formung Von Subjekten durch leidenschaftliche Verhaftungen an bestimmte, als erstrebenswert geltende Vorstellungen vom "richtigen Menschsein". Herrschaftsverhältnisse wirken, insoweit sie hegemonial sind, nicht nur oder wesentlich über Gewalt. Der Hegemoniebegriff verweist auf einen fließenden Übergang zwischen Macht und Herrschaft.

Deshalb gilt die Trennung zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen von Leidenserfahrungen auch nicht strikt. Denn spezifische Subjektformen sind häufig mit Herrschaftsverhältnissen verknüpft. Dies ist der Fall, wenn sie hegemonialen Charakter haben, d.h. einerseits als allgemein attraktiv wahrgenommen werden, andererseits mit sozialen Trägerschichten verbunden sind, die zugleich politische und ökonomische Herrschaft ausüben. Subjektformen erscheinen dann nicht allein attraktiv und für weitere soziale Gruppen erstrebenswert, sondern werden auch über Prozesse der Institutionalisierung und damit einhergehende herrschaftliche Durchsetzungsmöglichkeiten aktiv verbreitet. Ein Beispiel ist die Modellierung des Subjekts als eines selbstexpressiven, an Selbstentfaltung und zugleich an einem sozialen Markt orientierten Wesens. Diese Subjektform wurde in der so genannten creative class vorgebildet und ist inzwischen - in modifizierter Weise - etwa in den Institutionen der Verwaltung von Erwerbslosen implementiert. Sie wird dort auch beziehungsweise verstärkt mit Zwang in Hinblick auf erwerbslose Menschen durchgesetzt. Gleichwohl ist der zweite, historisch spezifische Bereich von Leidenserfahrungen nicht auf das Leiden am Zwang zur Verkörperung einer bestimmten Subjektform zu reduzieren. Vielmehr ist die hybride, in sich widersprüchliche Konstellation von Subjektformen eine davon zunächst unabhängige Quelle von Mangelerfahrungen, die als Leiden interpretiert werden können. Dies kann zur Entstehung neuer Subjektformen führen, die, wenn sie auch keine Hegemonie erringen, ebenfalls widersprüchlich aufgebaut sind und deshalb erneut spezifische Leidenserfahrungen generieren können.

In der Rede von der "Emanzipation" Verknüpfen sich Bestrebungen zur Überwindung von Leidenserfahrungen in den genannten "harten" Fragen mit solchen zur Durchsetzung neuer Subjektformen. In Vielen, wenn nicht allen Entwürfen einer anti-kapitalistischen Transformation sind solche neue Subjektformen implizit oder explizit als eine wesentliche Voraussetzung eingelassen. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. Weil Subjektformen grundsätzlich historisch spezifisch sind und immer wieder von kulturellen Gegenbewegungen als repressiv, willkürlich und einschränkend kritisiert werden (können), kann Emanzipation auf dieser Ebene kaum überhistorisch gefasst werden. Insoweit sich die Subjektform selbst als fragil und "leidensanfällig" erweist und die (post)moderne Kultur aufbesondere und konzentrierte Weise um die Frage der "richtigen Subjektform" kreist, wären von diesem Punkt aus Überlegungen zu einer grundsätzlichen Kritik des Subjekts anzuschließen.


Die anti-kapitalistische Transformation im allgemeinen

Wenn wir uns für Wege aus der kapitalistischen Produktionsweise interessieren, so gilt es sich vor Augen zu halten, wie dieses Interesse sich bestimmt. Verstehen wir diese Produktionsweise als eine, die auf Lohnarbeit, einer umfassenden Vermarktlichung des gesellschaftlichen Stoffwechsels und der Orientierung am Profit beruht, so lassen sich abstrakt-allgemeine Kriterien des Neuen, das sich da in Keimformen zeigen soll, leicht gewinnen. Es geht um ein Produzieren in Gruppen ohne den Austausch von Tätigkeit gegen Geld und die damit implizierten Hierarchien, um eine Verteilung der Produkte ohne Dazwischenkunft von Märkten und damit auch um ein Produzieren ohne Profit.

Die Debatte um jene Keimformen, die solchen Kriterien heute schon Genüge tun, verbleibt in aller Regel auf jener abstrakt-allgemeinen Stufe, die anti-kapitalistische Transformationsentwürfe schon seit jeher charakterisiert. Konkrete Praktiken der Herstellung und Verteilung von Produkten und Diensten sowie des Zusammenlebens werden nach diesen Kriterien sortiert, als Solidarische Ökonomie oder als Commons bezeichnet oder in der Selbstbeschreibung von Akteuren dieser Praktiken so charakterisiert. Dazu werden strategische Überlegungen über notwendige Rahmenbedingungen angestellt, auf dass aus den Keimformen auch wirklich eine neue Form des Zusammenlebens entstehen möge.

Diese Überlegungen wiederum verorten sich in einem Bogen von mehr oder weniger militanten Strategien sozialen Kampfes bis zu Strategien einer sozusagen umgekehrten Kooptierung eines - so die Hoffnung - implodierenden oder schrittweise schrumpfenden Kapitals durch eine im Gegenzug die Reproduktion des täglichen Lebens immer breiter begründende Keimformpalette.


Welche Kritikfigur wird dabei unterlegt?

Gemeinhin wird die kapitalistische Produktionsweise hier zunächst einmal als irrational kritisiert, und zwar in der Weise, dass sie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse negiere, was sich nicht zuletzt in ihren wiederkehrenden Krisen zeige, die Lebensperspektiven zerstören und auch viele Leben selbst. Sie ist irrational, weil sie sich nicht einfach der angenommenen Gleichung von Bedürfnis, Produkt und Befriedigung fügt, sondern Umwege nimmt wie das sprichwörtliche Joghurt, das aus Gründen des Profits von der Kuh zur Konsumentin quer durch Europa und noch weiter fahrt. Dagegen wird eine rationale Organisation von Gesellschaft in Anschlag gebracht, die dieser Gleichung folgen würde. Demokratische Gremien oder andere, jedenfalls herrschaftsfreie soziale Institutionen und Prozesse der direkten Artikulation von Wünschen würden dann über legitime Bedürfnisse, angemessene Produkte und Prozesse ihrer Herstellung entscheiden, die umstandslos eine Befriedigung der Bedürfnisse zur Folge hätten. Dabei umfasst die Bandbreite der Bedürfnisse in der Regel auch jene nach einer Befriedigung in der Tätigkeit selbst, im Herstellen, das als Lohnarbeit oder marktorientiertes Selbstunternehmertum nur ein weiteres Mal die Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise zeige.

Eine solche Vorstellung von Transformation und auch von Keimform, die jener den Weg bereiten soll, kann auch in historisch jüngeren Varianten kaum ihre Herkunft aus der Zeit des Fordismus leugnen, als von politisch links bis rechts die Gesellschaft als ein planbares Aggregat unterstellt worden ist, das sich nach den jeweiligen Kriterien der Rationalität auszurichten habe.

"Bedürfnisse" gelten in dieser Sicht als naturgegeben und daher in jedenfalls allgemeiner Form als universell, und sie geltend zu machen als hinreichender Bezugspunkt dessen, was in der Linken oft als "Emanzipation" bezeichnet wird. "Bedürfnisbefriedigung" gelingt dann über Produkte und deren Herstellung sowie über die Tätigkeiten und deren Entfaltung selbst.

Gesellschaft, so ist die implizite Voraussetzung, sei sich selbst durchsichtig und könne folglich grundsätzlich nach einem Plan organisiert werden. Dabei sehe ich den Begriff des Plans als Synonym einer gesellschaftlichen, das heißt großskalierten und umfassenden Regelung des Stoffwechsels. Das Raffinement des vorgestellten Plans hat inzwischen freilich sehr zugenommen. Erstens aufgrund der heute verfüg- oder denkbaren digitalen Produktions- und Kommunikationstechnologien, zweitens aufgrund der Form von Gesellschaft selbst, die nicht mehr von fordistischen korporativen Strukturen geprägt ist, sondern eine neue chaotische Undurchsichtigkeit einer Vielfalt sich artikulierender Interessen aufweist; drittens aufgrund von neuen Vorstellungen davon, was "der Mensch" sei oder sein sollte.

Folglich wirkt heute eine Passage wie von Antonio Gramsci hoffnungslos obsolet und regelrecht autoritär, in der er den Kommunismus als Weiterführung und "rationale Organisation" der Fabrik definiert. Es ist vielmehr eine Weiterführung und ein Ausbau der heute im Kapitalismus hegemonialen Form netzwerkartigen und projekt- wie prozesshaften Arbeitens als "peer economy" oder "Commons" ohne Markt und Staat, die als durchaus zeitgemäß und erstrebenswert angesehen wird.


Was wird hier als "Emanzipation" verstanden?

Würde man Emanzipation als die Abwesenheit von Hunger und Obdachlosigkeit, die Versicherung gegen soziale Risiken und ein relativ hohes Maß gesellschaftlicher Gleichheit bezeichnen, dann könnten wohl die skandinavischen Länder des Fordismus, vielleicht sogar die UdSSR als relativ emanzipierte Gesellschaften gelten. Als emanzipiert wären dann allerdings auch - und mehr noch - eine Reihe von nichtmodernen Gesellschaften zu betrachten.

Dies wäre gleichwohl sehr paradox angesichts einer weiteren Grundannahme in der Linken, die eine emanzipierte Gesellschaft als eine sich selbst durchsichtige, den Gesetzen einer so genannten Vernunft gehorchende versteht. Darin gibt es keine den sinnlichen Gebrauchswert von Dingen überschreitende Aura des Fetischhaften mehr, wie es in nichtmodernen Gesellschaften der Fall ist, keine Mächte der Transzendenz, mythische Vorstellungen, schamanischen Riten und dergleichen. Eine Annahme übrigens, die es dieser Konzeption recht schwer macht, mit der bedeutungsgeladenen Warenwelt der Postmoderne analytisch und normativ einen Umgang zu finden.

Doch Emanzipation beinhaltet in der Regel einen noch weitaus größeren Kreis an Bedeutungen. Da ist zuerst einmal der emphatische Marxsche Begriff davon, der sich mit der Idee eines Beginns der im eigentlichen Sinn menschlichen Geschichte Verbindet. Demnach solle erst die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise den genannten planvollen, rationalen, bedürfnisorientierten gesellschaftlichen Entwicklungsprozess einleiten können, worin "der Mensch seine Wesenskräfte" als die seinen erkennt und praktisch verwirklicht, anstatt sie in den von Marx als Fetisch bezeichneten Formen des Werts von sich und seiner Gesellschaftlichkeit abzuspalten und in Dinge zu projizieren.

Und es ist weitergehend ein emphatisches Verständnis von Emanzipation im Gefolge der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre zu berücksichtigen. Diese prägten einen Begriff von Emanzipation als Aufhebung von Normen, die als willkürlich und herrschaftsförmig gedacht wurden und als experimentell-kreative Entfaltung "aller menschlichen Potenziale". Dieser Auffassung stand die romantisch beeinflusste Formulierung bei Marx, der sich als Jäger am Vormittag und kritischen Denker am Nachmittag in einer fantasievollen Beschreibung kommunistischer Verhältnisse porträtierte, weitaus näher als die Vorstellung einer geordneten Übernahme des Produktionsapparats durch eine kommunistische Partei oder ein anarchistisches Syndikat. Dass jenes Selbstporträt als Subjekt einer radikal-ästhetischen, momentanistischen Existenzweise darauf beruhte, dass, wie Marx schreibt, "die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun", also zugleich Plansubjekte einen Plan verwirklichen, markiert einen Widerspruch, der bisherige Transformationsentwürfe wie auch die Keimformdebatte zu durchziehen scheint. Bemerkenswert ist dieser Widerspruch, weil Marx sich hier als Jäger, Denker und so fort betrachtet, während die Gesellschaft als ein von ihm scheinbar unabhängig produzierendes Aggregat "die allgemeine Produktion" regelt. Dies birgt die Frage, wie ein Subjekt beschaffen sein muss, damit es sich einen Teil des Tages von seinen Impulsen zur "Selbstentfaltung" und Weltwahrnehmung treiben lässt, einen anderen aber den "Notwendigkeiten" des Lebens folgt und entsprechend anders agiert - und ob so ein Subjekt überhaupt vorstellbar wäre oder je existiert hat.


Das Plansubjekt

Weit mehr noch als im 19. Jahrhundert ist die gegenwärtige Gesellschaft von einer komplexen und hochgradig spezialisierten Arbeitsteilung charakterisiert, die eine enge Abstimmung einer Vielzahl global verstreuter Arbeitsschritte erfordert, selbst um zum kulturellen Mindeststandard zählende Alltagsgegenstände zu erzeugen. Diese komplexe Arbeitsteilung stellt sich über vom Markt verbundene, hierarchisch organisierte kapitalistische Betriebe im Rahmen staatlicher Regelungen her. Zwar könnte die Komplexität dieser Arbeitsteilung teilweise in lokal-autonome Produktionsprozesse rückgeführt werden, indem neuartige computergestützte Produktionsmethoden nach Art der fabber eingesetzt werden, wie etwa André Gorz vorgeschlagen hat. Doch bleiben auch diese hochtechnologischen Maschinen auf eine äußerst voraussetzungsvolle globale Arbeitsteilung und die ökologisch und sozial sehr problematische Gewinnung dafür nötiger Rohstoffe und Energieträger angewiesen.

Die Frage einer Ersetzung der Vermittlungsfunktion des Marktes ohne Rückgriff auf staatsinterventionistische Methoden, wie sie in Teilen der Keimformdebatte gestellt wird, hat es folglich mit dem klassischen Planungsproblem zu tun. Dieses ist gerade keine im engeren Sinn technische Frage, sondern ganz wesentlich eine der Herstellung von planungsorientierten Subjekten, die ihre Subjektform in entsprechenden Organisationen und darin verstetigten Praktiken institutionalisieren.

Eine solche Entsprechung konnte unter den Bedingungen des fordistischen Produktionsregimes für natürlich und problemlos genommen werden. Die damals vorherrschende Subjektform orientierte sich auf soziale Angepasstheit an standardisierte Normen hin und auf technisch-sachlich verkleidete hierarchische Strukturen. Das kann heute jedoch nicht mehr unterstellt werden. Jeder solchen Lösung widerspricht einerseits die postmoderne Subjektivität, die sich momentanistisch, flexibel, kurzfristig, "individuell" und hedonistisch ausrichtet. Sie hat eine Vielfalt an Bedürfnissen einschließlich einem nach Differenz entwickelt, die sich weniger auf materielle, sondern mehr auf semiotische Qualitäten oder Einsatzmöglichkeiten von Produkten und deren Kombinatorik ausrichten. Andererseits widerspricht jener fordistischen Ausrichtung eine radikal-ästhetische Subjektivität auch jenseits ihrer spezifischen postmodernen Form bereits in der Gestalt, wie sie etwa im oben referierten Marxschen Zitat zum Ausdruck kommt. Ihr widerspricht auch jene Subjektivität, wie sie in den Subjekttransformationen der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre modelliert worden ist. Diese Transformationen sind für kontemporäre, sich emanzipativ verstehende Bewegungen grundlegend.

Der Widerspruch zwischen Plansubjekt, das langfristigen Routinen folgt und sich an der Erfüllung von Normen der Produktion orientiert, und ästhetischem Subjekt, das im Gegensatz dazu im "Hier und Jetzt" lebt, Impulsen folgt und sich vorrangig an seinem Erleben und dessen experimenteller Erweiterung orientiert, durchzog nicht zufällig die Projekte einer "alternativen Ökonomie" dieser Gegenkulturen. Dieser Widerspruch führte wohl nicht nur unter den Bedingungen einer Marktökonomie zu vielfachen Erfahrungen des Scheiterns oder der Frustration. Auch in einer nicht-marktförmig vermittelten gesellschaftlichen Produktion wäre ein solcher Widerspruch virulent. Insbesondere unter den Bedingungen einer komplexen und global zerstreuten Arbeitsteilung.

Nachdem moderne Subjektformen grundsätzlich von Widersprüchen durchzogen sind, muss diese Feststellung nicht bedeuten, dass eine solche Perspektive unerreichbar wäre. Der Fokus der Problemskizzierung liegt vielmehr auf einem weiteren, zweifachen Umstand. Erstens bleibt das Planungsproblem unter den genannten Prämissen relevant; die man nicht teilen muss, wenn etwa einfachere Arbeitsorganisation und geringeres technologisches Niveau unterstellt werden. Zweitens beruht zunächst jedwede Form gesellschaftlicher Koordination, ob "bewusst" oder "unbewusst" hergestellt, auf bestimmten Subjektformen. Diese selbst stellen sich indes nicht "bewusst" her, im Sinn einer frei verfügbaren Wahl von Dispositionen nach Maßgabe abstrakter Überlegungen.


Die Historisierung von Emanzipationsverständnissen

Ebenso wie die Vorstellung einer planbaren Gesellschaft problematisiert werden muss, und sei diese auf der Grundlage digitaler Kommunikation und computergestützter Produktion gedacht, gilt dies auch für die Idee einer "Emanzipation" als einer "Befreiung menschlicher Wesenskräfte". Tatsächlich lässt sich schlechthin nicht sagen, was "das menschliche Wesen" nun "eigentlich ist".

"Der Mensch" ist schon für Marx ein Produkt seiner Umstände, der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch gilt dies in einem solchen Maße, dass auch der Restbestand einer Idee von einem "Kern des Menschen", der gegen äußerlich gedachte "Zwänge" "befreit" werden müsste, "zu hinterfragen ist. "Der Mensch" existiert niemals in einer Weise, die vor jeder Kultur, vor den Wissensordnungen der Gesellschaft, Vor sozialen Regelsystemen und Bedeutungen liegt. Insofern ist auch der altbekannte, scheinbare Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft aufzulösen in einen Begriff des Individuums in der sozialen Form des Subjekts. Der Mensch produziert sich selbst zusammen mit seiner Gesellschaftlichkeit, ebenso wie diese ihn produziert und die Weisen seiner Selbstproduktion.

Mit dem hier skizzierten spezifischen Subjektverständnis lassen sich die historischen Bewegungen besser Verstehen, die sich nicht selten als "emanzipatorische" beschrieben haben. So betrachtet verhalfen die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre nicht einem "ursprünglichen Wesen des Menschen" zum Durchbruch gegen das "establishment" und dessen "verknöcherte Verhältnisse". Vielmehr handelte es sich um eine "Subjekttransformationsbewegung" (Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt). Den so genannten 1968ern ging es wesentlich um eine neue Vorstellung von Mensch-Sein. Zwar brachen sie die vermeintliche Naturnotwendigkeit von Arbeit und Orientierung an bestimmten sozialen Normen auf, doch setzten sie neue scheinbare Naturnotwendigkeiten, wie auch das "establishment" welche vermittelte, das sie im Namen der "Emanzipation" bekämpften. Nun galt "der Mensch" als "von Natur aus" kreativ, spontan, soziale Grenzziehungen überschreitend. Und dieses Subjektmodell wurde zugleich zu einem neuen Sollen.


Widersprüchliche Subjektformen

Kulturelle Gegenbewegungen wie jene der 1960er und 1970er Jahre begleiten die rationalistischen, ordnungsorientierten Formen von Subjektkultur, die im Kapitalismus lange Zeit hegemonial waren, seit dem Beginn der modernen Gesellschaft. Sie lassen sich als ästhetische Bewegungen charakterisieren, die den Menschen als Kreativ- und Künstlersubjekt modellieren, mit einem Fokus auf Wahrnehmung und Erleben. Die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre aktualisierten so betrachtet zentrale Sinnelemente der Romantik, vermischt mit Neuerungen aus den Avantgardekulturen von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der heute hegemoniale Postmodernismus erweist sich als Resultat einer Kombination dieser zutiefst ästhetischen Orientierung mit einem ökonomistischen Modell des Menschen als eines beständige Wahlhandlungen vollziehenden, an seiner Selbstoptimierung und der ästhetisch-wettbewerblichen Performance interessierten Wesens, das "authentische Individualität" beweisen soll.

Die politischen Programmatiken und Theorien der Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre lassen sich zu großen Teilen - allerdings nicht ausschließlich als Repräsentationen dieser neuen Subjektkultur deuten, vom Situationismus über den Operaismus bis zu den darauf folgenden Spielarten des Post-Strukturalismus und der Dekonstruktion; von den Versuchen einer "alternativen Ökonomie", die heute als Solidarische Ökonomie oder als Commons erneut verhandelt werden, bis hin zur programmatischen Untergrabung verschiedener sozialer Normen der Angepasstheit an eine organisierte Gruppe.

Anders als es die Vorstellung eines planvollen Übergangs in eine geplante Gesellschaft rationaler Kriterien der Bedürfnisbefriedigung will, zeigen sich transformative Bewegungen unter diesem Blickwinkel als etwas Ungeplantes. Sie sind Antworten auf Brüche in den jeweils vorherrschenden Subjektformen, also der Art, wie Menschen sich selbst, ihre Gesellschaft und ihren Bezug zur Welt verstehen und dieses Verständnis praktizieren. Bedürfnisse entfalten sich nicht, wie Marx noch dachte, sondern sie Verändern sich, und das mitunter drastisch.

Jede historische Formation der kapitalistischen Produktionsweise bringt damit ihre je eigenen Keimformen neuer Subjektivitäten hervor, die neue Formen der Organisation von Tätigkeiten anleiten und dadurch Stabilität gewinnen können. Dies gilt im besonderen Maße für die Gegenkulturen der 1960er und 1970er Jahre.

Diese bilden für heute wachsende Bewegungen im Namen von Solidarischer Ökonomie und von Commons ein historisches Sinnreservoir. Die damit verbundenen Praktiken sollen zunächst einmal eine Antwort auf die Mangelerfahrungen des postmodernen Subjekts darstellen. Freilich in modifizierter Form und dies vor allem in den kapitalistischen Zentren, wo nicht die Not zu neuen Überlebenspraktiken drängt. Dieses Subjekt erlebt sich unter gewissen Bedingungen in einem unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Modell und Imperativ der kreativen Selbstentfaltung einerseits, die jedoch andererseits nur zur Geltung kommt, insoweit sie sich als marktgängig und sozialen Normen entsprechend erweist.

André Gorz vermutete, dass sich dieser Widerspruch gerade in den Berufen der so genannten creative class besonders schmerzhaft äußere und so genau an diesem sozialen Ort zu einer Transformation der kapitalistischen Produktionsweise dränge. Schmerzhaft äußert sich der für die hegemoniale postmoderne Subjektform typische Widerspruch freilich auch in vielen anderen Tätigkeitsbereichen und Lebenslagen. Dabei muss es nicht nur um eine' Schwerpunktverschiebung vom marktorientierten zum kreativ-konsumtorischen Identitätspol des postmodernen Subjekts gehen. Auch neue Identitätspole wären in den Blick zu nehmen. So etwa eine mögliche Remoralisierung des Subjekts, was einen Rückgriff auf die frühbürgerliche Subjektform markieren würde, die sich entlang des binären Codes von moralisch/amoralisch organisierte. Diese Remoralisierung äußert sich vielleicht auch in Diskurs und Praxis der Solidarischen Ökonomie. Sie zeigt sich weiter gefasst in den verschiedenen Formen von Fair Trade und allgemeiner noch in einer "Moralisierung der Märkte" (Nico Stehr). Sie zeichnet sich im Commons-Diskurs weniger deutlich ab, wo vielmehr der Fokus auf dem Pol von Kreativität als Selbstexpression zu liegen scheint. Indes muss eine solche Remoralisierung noch keinen Bruch mit der postmodernen Subjektkultur hervorrufen. Und zwar dann nicht, wenn sich moralische Haltungen in die in dieser Subjektkultur prämierte Erzeugung von ästhetischer Differenz als "Lebensstil" einfügen und diesem zum Ausdruck verhelfen sollen. Remoralisierung scheint sich freilich mit einer ästhetischen Subjektivität noch auf andere Art Verkoppeln zu lassen, nämlich als die vorrangig gewaltförmige Ästhetik einer Existenz als "Gotteskrieger" oder "Gotteskriegerin".

Wohlgemerkt: In dieser Betrachtung geht es nicht darum, zu moralischen oder besser: ethischen Fragen Stellung zu beziehen. Es ist evident, dass ethisch betrachtet die Solidarische Ökonomie zu bejahen, das Gotteskriegertum abzulehnen ist. Was hier vielmehr in Rede steht, ist die historische Spezifik eines moralisch codierten Subjekts. Ein solches würde dem postmodernen Subjekt widersprechen, das sich nicht moralisch bestimmt, sondern über seine Selbstexpression entlang des Codes kreativ/konventionell. Tendenzen zu einer Remoralisierung des Subjekts in diesem spezifischen Sinn sind möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die postmoderne Subjektform in eine Krise geraten könnte. Dies hätte Konsequenzen für Vorstellungen einer Transformation des Kapitalismus oder für seine Ablösung durch sich erweiternde Keimformen.

Wo sich die inneren Widersprüche der postmodernen Subjektform nun genau auf welche Arten artikulieren, vor allem aber wie Menschen darauf mit neuen Subjektmodellen reagieren, ist kaum noch untersucht. Dem bisherigen historischen Muster folgend wäre im Sinn des Keimform-Theorems hier jedenfalls nach neuen radikal-ästhetischen Entwürfen "des Mensch-Seins" zu suchen. Dabei wäre der Frage nachzugehen, inwieweit sich diese Entwürfe entweder in die Imperative der Marktgängigkeit, der sozial anerkannten, "individuellen" Ich-Performance und in die Vorstellung eines beständig zwischen Optionen "souverän" und explorativ wählenden Menschen einordnen, wie sie das postmoderne Subjekt formuliert; oder inwieweit sie eine nicht mehr zu überbrückende Differenz zu diesem Pol der postmodernen Identität aufmachen; und schließlich wäre danach zu fragen, ob die Keimformen einer post-kapitalistischen Organisation von Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten solche möglicherweise neuen Subjektentwürfe reflektieren.

Wenn darauf Antworten skizziert werden könnten, wären wir indes von einer Antwort auf die Frage, ob die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise bevorsteht, noch weit entfernt. Dies nicht nur weil sozialer Wandel kontingent verläuft und eine zwangsläufige, lineare Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise nur im Rückblick so erscheint, als Artefakt einer spezifischen Perspektive. Mehr noch spielt dabei eine Rolle, dass bisherige Subjekttransformationen, welche die kapitalistische Produktionsweise bekanntlich nicht erledigt haben, sondern modernisierten, von einer Reihe anderer Faktoren abhingen: von neuen materialen Kulturen in der Form neuer Technologien, vom Buchdruck über Film und Fernsehen bis zur Computertechnologie; von neuen humanwissenschaftlichen Interdiskursen, die "den Menschen" als "aufgeklärtes", "sexuelles" oder "wahlhandelndes Wesen" modellierten; und vom Umstand, dass mehrere solcher subjektbildender Praktiken und Diskurse den sozialen Wandel unabhängig voneinander in eine ähnliche Richtung trieben.

Es gilt in einer solchen Perspektive folglich nicht nur nach den Potenzialen neuer Technologien oder alternativen Praktiken des Tätigseins und der Lebensreproduktion Ausschau zu halten. Vielmehr wäre von Bedeutung, neue Weisen "des Mensch-Seins" oder des "Mensch-Sein-Wollens" aufzuspüren. Dies freilich kann nicht eine klassisch politisch gedachte Strategiebildung anleiten. Dafür sind nicht nur die Prozesse sozialen Wandels zu komplex, sondern ist auch die Triebkraft neuer Subjektformen ungeeignet.

Zwar bilden sich neue Subjektformen in Reflexionsprozessen und zunächst vor allem diskursiv. Doch ist ihr Substrat die Erfahrung eines Mangels, und in der Regel wird der darauf reagierende Aufbau eines neuen Ideal-Ich (Jacques Lacan) als Inkarnation eines "neuen Menschen" von einer leidenschaftlichen Verhaftung an dieses Ideal begleitet. Es ist damit die Repräsentation des Subjekts als eine widerspruchsfreie, perfekte Einheit gemeint, die affektiv positiv besetzt wird und über die tatsächliche Hybridität des Subjekts hinweghelfen soll. Das Streben nach Glück, das den Menschen scheinbar überhistorisch auszeichnet, entpuppt sich in diesem Zusammenhang vielmehr als das Streben nach einer Passung der eigenen Lebenserfahrung mit dem jeweils hegemonialen oder eben gegenkulturell formulierten Ideal-Ich. Diese Verhaftung ist es, die bestimmte Entwürfe eines alternativen Lebens attraktiv macht oder sie stattdessen in engen Zirkeln theoretischer Debatten belässt.

Dieser Versuch, einen neuen Blick auf die Frage der Keimform einzuführen, kann zwar eine Grundannahme dieses Theorems bestätigen: dass nämlich kulturelle Neuerungen und damit verbundener sozialer Wandel in der bisherigen Geschichte der Moderne tatsächlich in Nischen entstanden sind und dann diffundierten. Zugleich muss er jedoch einen technologischen Determinismus ebenso ernüchtern wie einen rationalistischen Zugang.

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Rückkopplungen

Jeans, 1984, "Born in the U.S.A."

von Roger Behrens

In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird die Jeans Angestelltenmode, casual wear, was mit der Transformation der Angestelltenkultur zu einer casual culture einhergeht. Ebenso, wie die Jeans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die fordistische Gesellschaft repräsentierte, repräsentiert sie nun die postfordistische Gesellschaft: sie wird endgültig von einer Arbeitshose zur Freizeithose. Jeans als Stoff wird zur Textur des Pop; mehr noch: die Jeanshosen sind nicht länger Attribut des Pop, sondern sie sind Pop - als symbolische Substanz bzw. substanzielles Symbol. Jeans wird ein Muster, ein Pattem, das heißt, sie bildet eine Oberfläche, die nun nicht länger "mit Tiefe verwechselt wird" (Adorno), sondern eben einfach bloß Oberfläche ist - kein Wesen, keine Existenz und keine Essenz verbirgt sich hinter oder unter oder in der Jeans. Als Ware wird die Jeans zum identitären Unikat, ohne jedoch in dieser Identität exakt zu sein.

Die Eindeutigkeit, mit der die Jugendlichen des Rock 'n' Roll die Jeans getragen haben, das Authentische, mit der die Jeans Zivilisation (siehe das Cover von Bob Dylan, "The Freewheelin' Bob Dylan", 1963) und Eros (siehe das Cover zu Rolling Stones' "Sticky Fingers", 1971) bezeichnete, verschwindet mehr und mehr in den Siebzigern, dem Jahrzehnt des bunten Plastiks. Dass in der "postindustriellen Gesellschaft" die alten Wahrheiten verunsichert werden und Wissen durch Information ersetzt wird, charakterisiert nun den Pop: die Mode, speziell die Jeans, ist kein (eindeutiges) Wissen mehr, sondern bloß noch eine (womöglich vieldeutige) Information. Buchstäblich wird die Jeans zum Kunststoff.

Und die, von denen zu erwarten wäre, dass sie eigentlich Jeans tragen sollten, tragen schon keine mehr - oder zerstören sie, statt sie mit Stolz zu zeigen: Die Punks haben zerschlissene Jacketts an, dazu eingerissene Jeanshosen, die manche an einigen Stellen oder ganz mit ätzenden Reinigungsmitteln entfärbt haben. Ohnehin dient kaum noch die Jeans der symbolischen Distinktion; die Jeans kann jetzt von allen getragen werden, bedient jetzt alle möglichen Teil- und Subkulturen, gleich ob Punk oder Disco, Heavy Metall oder New Wave: Jeans ist die Mode der Jugend und Jugendlichkeit schlechthin. Auch die Ewings in der TV-Serie "Dallas" tragen Jeans, ebenso die ersten Hardcore-Bands. Die Jeans verändert ihre Form - von der Schlaghose zur Karotte. In einer Vielzahl von Schnitten präsentiert sich die Jeans als Frauenhose; in neuer Farbe kann sie zum Symbol des Feminismus werden. Die Jeans ist mehr als Hose, allgemeiner Stoff der Mode - und schon werden die ersten Jeans-Kollektionen unmodern; darüber hinaus sind nun zahllose Dinge zu haben, die wie Jeans aussehen, aber nicht aus Jeans sind (Verpackungen, Tüten, Plastiktaschen werden in Jeans-Optik bedruckt etc.).

Die Jeans gehört als Mode zu einem Sozialcharakter, der sich in den siebziger und achtziger Jahren unter dem Vorzeichen einer umfassenden Individualisierung konstituiert: nicht als Individuum im Sinne der klassischen Formen bürgerlicher Subjektivität, sondern als Konsument. Politisch ist dieser Sozialcharakter durch die Idee bestimmt, die kritisch unter dem Stichwort der Autonomie (Selbstverwirklichung, Selbstbehauptung, Selbstbestimmung) formuliert wird, sich allerdings allgemein in der konservativen Variante unter Reagan, Thatcher und Kohl durchsetzt - im Appell an jeden Einzelnen, für sich selbst verantwortlich zu sein und sich selbst zu regieren. Die Postmoderne formiert sich als Ideologie des Neoliberalismus.

Bruce Springsteen singt 1984 "Born in the U.S.A.". Ein Song über das trostlose Leben eines Vietnam-Veteranen. Es ist ein weißer Song, der sich bei den Schemen "schwarzer Musik" bedient; Rhythm-&-Blues wird hier auf ein fast schon grotesk überzogenes Stampfen reduziert, ein Beat, der den Refrain nachgerade ins Ohr einhämmert: ein patriotischer Appell, eine nationale Parole (und das erste Mal wird in der Popmusikgeschichte ein Song in seiner Botschaft derart missverständlich und uneindeutig: weil er nationalistisch ist, ohne nationalistisch sein zu wollen; obwohl man nicht müde wird zu betonen, dass Springsteen - "The Boss" - die Stimme der amerikanischen Arbeiterklasse ist, verhandelt er soziale Verhältnisse eben in "Born in the U.S.A." nicht als Klassenverhältnisse, sondern im diskursiven Referenzfeld des Patriotismus). - Als demokratischer Popstar ist Springsteen kein Demokrat. Es kommt nicht von ungefähr, dass Ronald Reagan den Song als Hymne für seinen Wahlkampf haben wollte.

Springsteens "Born in the U.S.A." ist der Titelsong seines gleichnamigen Albums. Im Musikvideo - Regie John Sayles, der im selben Jahr auch "The Brother from another Planet" drehte - sieht man abwechselnd Springsteen im Konzert und zusammen mit Vietnam-Veteranen; am Ende steht er vor der Flagge der USA. Dasselbe Motiv verwendet Annie Leibovitz für das Cover des "Born in the U.S.A."-Albums und das Cover der dazugehörigen Single. Die Bilder gehören zu einer Serie von Fotografien, für die Leibovitz damals als Fotografin berühmt war: sie verbrachte einige Tage mit den Leuten, um eine persönliche Nähe herzustellen, die auch in den Bildern sich widerspiegeln sollte; die Aufnahmen wirkten so "locker", "gelassen", "echt", nicht künstlich. Bruce Springsteen spielt die Gitarre, springt in die Luft - der authentische Rockstar. So posiert er vor der US-Flagge auf dem Cover der Single. Das Album-Cover zeigt seinen Torso von hinten, in der rechten Hosentasche eine rote Baseball-Kappe. Er trägt ein weißes T-Shirt - und Blue Jeans. Leibovitz' Fotografie von Spingsteens Jeans-Hintern vor der US-Flagge gilt als "pop icon".

"Blue jeans and a T-shirt have been described as the 'casual uniform'", heißt es auf der englischen Wikipedia-Seite zum Schlagwort "Casual". Die Jeans wird zum Element kollektiver nationaler Identität. Stars and Stripes sind das Hintergrundbild der demokratischen Ästhetisierung der Politik.

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Die souverän ernährte Stadt?

Potenziale und Grenzen des urbanen Gärtnerns (TEIL II)

von Andreas Exner und Isabelle Schützenberger(*)

Die bisherigen Ausführungen sprechen nur einzelne Bereiche des Diskurses zu urbanen Gärten an, veranschaulichen aber bereits die hohen Erwartungen, die mit den Gärten in der Stadt Verbunden werden. Inwieweit die Gärten diese jedoch tatsächlich erfüllen können, das reale Potential der Gärten also, ist bislang noch kaum kritisch analysiert worden. Es dominieren Hoffnungen, die sich nicht unbedingt auf empirische Befunde rückkoppeln, genauere Untersuchungen sind noch ausständig. Dennoch wollen wir uns im Folgenden in einem ersten Aufschlag der Frage widmen, welchen Beitrag urbanes Gärtnern nun auf den drei Ebenen der kapitalistischen Spaltung bieten könnte, wenn man von politisierenden Zuschreibungen absieht und vom gesicherten Wissen ausgeht.


Schließung von Stoffkreisläufen: Die urbane Gartenproduktion

McClintock hat schon am Beispiel der Gemeinschaftsgärten in den USA gezeigt, dass urbane Gärten grundsätzlich einen wichtigen Beitrag zu einer materiellen Veränderung des ökologischen Verhältnisses urbaner Räume leisten können - und damit des Verhältnisses zwischen Stadt und Land (McClintock 2010). Freilich setzt ein solcher materiell relevanter Beitrag entsprechende Stoffumsätze, das heißt Erntemengen voraus.

Die Erntemengen aus Gärten sind grundsätzlich schlecht dokumentiert. Auch für Wien gibt es keine derartigen Daten. Ein Blick auf die Flächengrößen vor allem neuer urbaner Gärten in Wien zeigt aber, dass diese in Hinblick auf Obst- und Gernüseproduktion bisher kaum ins Gewicht fallen: Mittels der 80.885 m² oder 0,019 % der Wiener Grünflächen (Referenzwert: Stadt Wien 2005) im Fall der Selbsterntefelder (Pöltner-Roth et Kromp 2013) und rund 35.400 m² oder 0,008 % der Grünflächen im Fall der Gemeinschaftsgärten kann bisher auch unter idealen Bedingungen nur ein sehr kleiner Bruchteil des Gemüsebedarfs der Wiener Bevölkerung gedeckt werden. Potential für eine Erweiterung der Flächen ist jedoch grundsätzlich Vorhanden: Nach eigener Abschätzung kämen potentiell rund 8.360 ha der Wiener Grünflächen als Anbauflächen infrage (vgl. Hoffert et al. 2008), womit bei einer Flächenproduktivität von 31,28 t Gemüse pro Jahr und Hektar (Tomkins 2010: 66) unter Annahme eines Jahresbedarfs von 352.012 t theoretisch rund 74 % der Wiener Bevölkerung (1.750.000 Personen, 15 % Kinder) mit Gemüse versorgt werden könnten.

Diese Schätzung ist allerdings sehr grob, zum Beispiel sind Friedhofsflächen nicht exkludiert. Sie lässt auch Aspekte wie beispielsweise die Eignung der entsprechenden Flächen für Gemüseanbau (Lichtverhältnisse und Bodenbeschaffenheit) und Nutzungskonkurrenz außer Acht und ist daher nur ein maximales technisches Potenzial. Dennoch zeigt eine solche grobe Einschätzung, dass die physischen Grenzen des urbanen Gärtnerns in Wien noch lange nicht erreicht sind. Eine weitere Ausschöpfung dieser Möglichkeiten scheint angesichts der zunehmenden Verknappung fossiler Brennstoffe und deren weitreichenden Auswirkungen auf industrielle Formen der Landwirtschaft relevant (vgl. Exner et al. 2008, Hopkins 2008, Müller 2011, Held 2011), wie auch Martin Held betont: "Sie [urbane Gärten] sind Teil des Übergangs vom fossil getriebenen, nicht nachhaltigen Wirtschaften zu einer postfossilen Gesellschaft." (Held 2011: 297)


Produktionsverhältnisse und Lebensweisen mit mehr Selbstbestimmung

Die potenzielle Bedeutung der urbanen Gärten für selbstbestimmte Organisationsstrukturen und Kommunikationsprozesse, die als Beitrag zu Ernährungssouveränität relevant sind, wurde bislang nur auszugsweise auch in Fallstudien belegt.

Gerade die Ebene der Kommunikation in den urbanen Gartenprojekten steht mit einem zentralen Anspruch und einer Zuschreibung in enger Verbindung, die sogar einen eigenen Gartentyp charakterisieren soll, nämlich den in diesem Artikel im Zentrum stehenden Gemeinschaftsgarten. Dort soll es vor allem zu sozialer Integration und einer Stärkung von kultureller Vielfalt kommen, indem Kommunikation und gleichrangige soziale Beziehungen gefördert werden. Diese Aspekte sind für Ernährungssouveränität potenziell sehr wichtig, insbesondere wenn damit eine weitergehende Perspektive der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist.

Doch entsprechen urbane Gärten in Hinsicht auf eine Kollektivierung und selbstbestimmte Verwaltung von Produktionsmitteln im Regelfall nicht dem idealen Leitbild einer solidarischen Ökonomie. Denn die kollektive Tätigkeit in den Gärten in Wien beschränkt sich meistens auf Plenarsitzungen, die Errichtung von Infrastruktur und die Bewirtschaftung eines zumeist kleinen Gemeinschaftsbeetes. Übrigens findet eine solche Form der Kollektivierung, die konstitutiv für herkömmliche solidarökonomische Projekte ist, in den Gärten möglicherweise auch wenig Anreiz in den Produktionserfordernissen selbst. Das gemeinschaftliche Bearbeiten eines Beets bietet keinen Produktivitätsvorteil und auch die kollektive Organisation des Gießens etwa bedeutet mit Ausnahme einer Reduktion von Fahrzeiten keine Arbeitsersparnis pro Ernteeinheit, sofern man konstante Pro-Kopf-Erträge voraussetzt. Dies könnte vielleicht neben anderen Faktoren erklären, warum kollektive Produktion in den Gärten kaum stattfindet, denn sie braucht vermutlich relativ viel genuin politische Motivation.

Die in urbanen Gärten erhoffte Autonomie und Selbstbestimmung bezieht sich daher - bislang jedenfalls - wesentlich auf diskursive Prozesse, die jedoch kaum auf produktionsrelevante Entscheidungen rückgebunden sind. Ob die in den Gärten stattfindenden kommunikativen Prozesse, also Plenarsitzungen und informelle Gespräche zwischen Beetnachbarinnen und -nachbarn, einen Beitrag zu der auch für Ernährungssouveränität entscheidenden sozialen Gleichheit leisten (siehe die Erklärung von Nyeleni 2007), ist eine weitere offene Frage. Die Praxis der Rotation der Gärtnernden in den Wiener Gemeinschaftsgärten steht jedenfalls einer alltagssprachlich verstandenen Gemeinschaftsbildung und darauf basierenden Prozessen von Selbstbestimmung entgegen.

Gleichermaßen wäre die angenommene Funktion einer Selbstbestimmung über öffentlichen Raum zu hinterfragen, die häufig mit urbanen Gärten verbunden wird. Tatsächlich haben urbane Gärten in anderen Städten, namentlich in New York (Smith et Kurtz 2003, Schmelzkopf 1996, Eizenberg 2012) schon als Kristallisationspunkte für politischen Widerstand und soziale Auseinandersetzungen um kollektiv genutztes Land gewirkt. In Wien sind solche Tendenzen bislang kaum sichtbar geworden, mit Ausnahme der Initiative Solidarisch Landwirtschaften (SoliLa: solila.blogsport.eu), die sich allerdings auch nicht als Gartenprojekt definiert, sondern den Begriff der urbanen Landwirtschaft stark macht. Diese in Wien geübte Abstinenz kann allerdings nicht verwundern, waren die New Yorker Gemeinschaftsgärten doch in weit stärkerem Ausmaß das Produkt einer selbstorganisierten Entwicklung, ohne Regulierung oder gar Initiierung durch den lokalen Staat und damit verbundene NGOs. Zudem wurde die emanzipatorische Potenz der Gemeinschaftsgärten in New York eben erst in Opposition zur Stadtregierung sichtbar.


Natur- und Umweltbezug: die Rolle von Wissen und Kommunikation in urbanen Gärten

Für manche der Garteninitiativen bildet die Vermittlung von Anbau-und Saatgutwissen ein zentrales Thema. Ein bekanntes Beispiel ist der Prinzessinnengarten in Berlin (Nomadisch Grün 2012). In den pädagogisch orientierten urbanen Gartenprojekten kann dieser Aspekt sogar die zentrale Rolle spielen. Auch für die individuellen Motivationen der Gärtnernden kann Wissensvermittlung wichtig sein. So kommt in Interviews in Wien immer wieder zur Sprache, dass die Gartenaktiven ihren Kindern Wissen über Gemüse vermitteln möchten (vgl. Schützenberger 2014). Aus ähnlicher Quelle speist sich auch ein Interesse von Schulen für urbanes Gärtnern, das in Wien allerdings bisher noch eine untergeordnete Rolle spielt, im Unterschied zu vielen Städten in den USA beispielsweise (Draper et Freedman 2010).

Neben der Vermittlung von Wissen erfüllen urbane Gartenprojekte noch eine allgemeinere kommunikative Aufgabe. Die sozialen Kontakte im Rahmen der Gärten führen zu einem Austausch nicht nur von Wissen über Gemüsesorten, Anbaumethoden oder Saatgutvermehrung. Sie können auch einen Raum für weiterführende Diskussionen darüber öffnen, wie das Lebensmittelsystem umgestaltet werden sollte. Inwieweit dies in den Gärten tatsächlich geschieht und ob dies auch materielle Auswirkungen hat, etwa in Form einer Verhaltensänderung der Beteiligten oder eines wachsenden politischen Engagements, sind offene Fragen. Manche Projekte in Wien, namentlich Grünstern-LoBauerInnen, haben sich von vornherein stark an ihrem Beitrag für Ernährungssouveränität ausgerichtet (Schützenberger 2014).

Unsere Diskussion hat bis hierher vor allem nach der materiellen Relevanz des urbanen Gärtnerns für Selbstbestimmung und Ernährungssouveränität gefragt, deren Kriterien sich etwa in den sechs Prinzipien des Nyéléni Forum 2007 ausdrücken. Doch hat der Begriff der Ernährungssouveränität, wie gezeigt, noch einen strategisch-dynamischen und einen überschießend-inspirierenden Gehalt.

In strategischer Hinsicht muss man das urbane Gärtnern in Wien in Beziehung mit einer Reihe von AkteurInnen setzen, die teilweise selbst Verbindungen zu Ernährungssouveränität ziehen. An erster Stelle zu nennen ist hierbei der Gartenpalylog, dessen Jahrestagung 2013 unter dem Motto der Ernährungssouveränität stattgefunden hat. Allerdings zeigte sich dort auch, dass die Koordinatorlnnen oder Leiterlnnen und aktivistischen Kerngruppen der Gartenprojekte, die vornehmlich das Publikum stellten, ihre Auseinandersetzung mit Ernährungssouveränität erst begonnen haben. An zweiter Stelle bildet die in Wien seit einigen Jahren zunehmend lebendigere Szene des Lebensmittelaktivismus insgesamt eine wichtige Verbindung zu Ernährungssouveränität.

Die Gruppe SoliLa hat 2012 und 2013 die ersten Landbesetzungen in Wien seit der Zwischenkriegszeit mit Blick auf die Nahrungsmittelproduktion durchgeführt. Zudem hat sich das Gartenprojekt Grünstern-LoBauerInnen, unter anderem ausgehend von Erfahrungen in Foodcoops, implizit der Problemstellungen der Ernährungssouveränität angenommen (Schützenberger 2014). Und auch die sich in jüngster Zeit in Wien etablierenden CSAs können als RahmenakteurInnen der urbanen Gärten gelten. Zu nennen wäre schließlich auch das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das sich insbesondere in seiner Inhaltsgruppe AgrarAttac der Ernährungssouveränität widmet, mit Berührungspunkten zu den urbanen Gärten. Die genannten AkteurInnen des Lebensmittelaktivismus im Allgemeinen behandeln urbanes Gärtnern jedoch nur am Rande, während die Garteninitiativen sich umgekehrt bisher kaum mit Ernährungssouveränität befassen. Wie deutlich wurde, ist bislang auch der tatsächliche oder mögliche Beitrag der urbanen Gärten zu Ernährungssouveränität nicht ganz klar.

Was den sozusagen überschießenden, inspirierenden Gehalt der Ernährungssouveränität angeht, so gibt es keine eindeutigen Hinweise, dass die Gärtnernden - jedenfalls die in Wien - eine weitergehende gesellschafts- und ernährungspolitische Perspektive mit ihren Projekten verbinden, oder gar eine antikapitalistische Umwälzung, worauf Ernährungssouveränität in einem weiten Begriffsverständnis ja verweisen soll. Die lokalstaatlichen AkteurInnen setzen solche Bezüge in keiner Weise, auch beim Gartenpolylog drängt sich eine solche Annahme nicht unbedingt auf. Eine Ausnahme sind Attac und Foodcoops.

Diese bewusst vorsichtigen Feststellungen führen uns zur allgemeinen Frage der möglichen Bedeutung der Gartenpraxis selbst für eine Konzeption von Ernährungssouveränität, die sich auf den urbanen Raum hin orientiert. Kann das Gärtnern als solches schon als Schritt zu Ernährungssouveränität gelten, auch wenn es bisher kaum relevante materielle Erträge vorweisen kann und auch das dabei vermittelte Wissen, solche Erträge zu generieren, sich erst zu beweisen hätte? Oder muss zu dieser Praxis noch wesentlich das Element der Ernährungssouveränität als politischer Konzeption hinzutreten, also jene "andere Art des Denkens" über Ernährungsfragen, von der im ersten Teil des Artikels mit Verweis auf Akram-Lodi (2013) die Rede war?

Anders gefragt: Kann eine Gartenpraxis, wo sie weder ertragsmäßig oder beim Wissensaufbau ins Gewicht fallt noch mit Ernährungssouveränität diskursiv verbunden wird, dennoch einen Schritt in diese Richtung darstellen? Die Hoffnung, dass dem so sei, wird im Diskurs des urbanen Gärtnerns häufig mit dem Verweis auf eine dadurch verstärkte Eigenmacht der Gärtnernden begründet (siehe Heistinger 2011: 309).

Grundsätzlich äußert sich in den urbanen Gärten sicherlich das Motto "Do it yourself", das schon in den Bewegungen nach 1968 eine wichtige Rolle spielte und in letzter Zeit einen Aufschwung zu erfahren scheint. Kann das Moment der Eigentätigkeit in den Gärten indes schon als Schritt hin zu Ernährungssouveränität gelten?

Mit einem "Do it yourself" allein ist wohl noch nicht viel gewonnen, wenn es nicht bestimmte Umschlagspunkte überschreitet, also die Autonomie der Lohnabhängigen materiell erhöht. Würde schon die Gartenpraxis selbst ein Beitrag zu Ernährungssouveränität sein, so hätten die vor der industriellen Landwirtschaft verbreiteten Erfahrungen eigentätigen Gemüsebaus wesentlich als Widerstandspunkte gegen diese Produktionsweise fungiert, doch war das historisch kaum zu beobachten. Auch für heutige Verhältnisse gilt das nicht notwendigerweise. In Russland etwa, wo rund die Hälfte des Agraroutputs in Datschen-Gärten und anderen kleinteiligen Formen erzeugt werden, wird der Gartenbau von den Gärtnernden nur als Notbehelf verstanden, nicht als Perspektive (Spoor et al. 2013: 16).

Fassen wir zusammen: In urbanen Gärtnen drücken sich auch für Ernährungssouveränität relevante Motive aus, nämlich ein neues ökologisches Verhältnis herzustellen, Produktionsverhältnisse und Lebensweisen selbst zu bestimmen und einen neuen Naturbezug zu entwickeln. Doch werden diese Motive von den AkteurInnen bisher nur in geringem Maße im Rahmen einer Perspektive der Ernährungssouveränität diskutiert und koordiniert oder strategisch entwickelt.


Vom Gemeinschaftsgarten...

Wenn wir Ernährungssouveränität als eine Perspektive für die Lebensmittelproduktion im Rahmen einer Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise verstehen, dann umfasst sie, wie erläutert, verschiedene Aspekte:

- erstens Alternativen zu den Produktionsmethoden des Agrokapitals;

- zweitens sozial kontrollierte Lebensmittel- und Inputmärkte oder überhaupt nicht-marktförmige Verteilung;

- drittens selbstbestimmte Agrar- und Lebensmittelpolitiken.

Diese Aspekte entsprechen einer vielfältigen Bewegung zur Überwindung der drei charakteristischen Spaltungen des Kapitalismus erstens auf der Ebene des ökologischen Verhältnisses (Schließung von Stoffkreisläufen), zweitens auf der Ebene der Produktionsverhältnisse (selbstbestimmtere Arbeits- und Verteilungsstrukturen) und drittens auf der Ebene des kognitiven und psychischen Natur- und Umweltbezugs (mehr Kontakt mit der Natur und mehr Umwelt- und Produktionswissen).

Die dritte hier relevante Ebene hat für die Bäuerinnen und Bauern als wichtige, global gesehen auch zentrale AkteurInnen von Ernährungssouveränität weniger Bedeutung als für Städterinnen und Städter, auf die sich unser Artikel konzentriert. Der kognitiv-psychische Naturbezug und der damit einhergehende Bezug zu den Bäuerinnen und Bauern könnte eine potenziell wichtige Komponente für das politische Engagement von urbanen Schichten für Ernährungssouveränität sein. Diese Komponente hat sozusagen eine politische Umwegrentabilität, abgesehen von ihrer Bedeutung für das Wohlbefinden der in der Stadt lebenden Menschen selbst. Deshalb könnte man urbanes Gärtnern perspektivisch auch als pädagogisches Mittel für eine veränderte Agrarpolitik begreifen.

Konkret müssten diesem Verständnis von Ernährungssouveränität folgend Alternativen zum Einsatz von erdölbasierten Pestiziden, zur Abhängigkeit von fossilen Ressourcen allgemein, zu großflächigen Monokulturen und einer wenig pfleglichen bis sorglosen Bodenbehandlung gefunden werden. Es müsste zweitens eine nicht-profitorientierte oder gar nicht-kommerzielle und dann potenziell von Produzent- und KonsumentInnen getragene und ausgehandelte Landwirtschaft entwickelt werden, wofür zum Beispiel bestimmte Formen von CSAs einen Ansatzpunkt bieten (Exner 2013).

Ergänzend dazu könnten planwirtschaftliche Elemente fungieren, die Anleihen beispielsweise an der österreichischen Milchwirtschaft der 1950er Jahre nehmen könnten, freilich mit selbstbestimmten Entscheidungsstrukturen. Damals erfolgte eine fixe Abnahmegarantie auf Basis einer regionalen Bedarfsplanung (Kröger 2006), die für Grundnahrungsmittel und Viele andere Lebensmittel vergleichsweise einfach machbar wäre. Da eine diesbezügliche Perspektivenentwicklung in den hiesigen auf Ernährungssouveränität bezogenen Debatten fehlt, wollen wir es hierzu bei einer kursorischen Erwähnung solcher Ansätze belassen.

Ein "Basic Food Income", wie es nicht zuletzt juristisch aus dem UN-Sozialpakt abzuleiten ist (FIAN 2005), würde das Recht auf Nahrung umsetzen und damit einen zentralen Anspruch von Ernährungssouveränität einlösen. Auch diese mögliche politische Ausrichtung wird gemeinhin nicht mit Ernährungssouveränität verbunden, könnte aber naheliegen, wenn man bedenkt, dass in den kapitalistischen Zentren nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist und die politische Förderung der Kleinbäuerlichkeit unter diesen Voraussetzungen einen anderen Stellenwert hat als an den Peripherien. All diese Aspekte müssten Teil einer umfassenden Stärkung von Selbstbestimmung bilden.

Das urbane Gärtnern, wie es sich in Wien darstellt, könnte grundsätzlich in all diesen Bereichen wichtige Beiträge leisten. Allerdings steht dabei momentan das Ziel sozialer Kohäsion klar im Vordergrund, nicht die Lebensmittelproduktion. Entsprechend ist ein aktiver Bezug auf Ernährungssouveränität nur vereinzelt zu beobachten. Des Weiteren könnten urbane Gärten helfen Fähigkeiten auszubilden, die für ein alternatives Lebensmittelwesen wichtig sind. Dies nicht zuletzt, weil das urbane Gärtnern ein bemerkenswertes Ertragspotenzial hat, das historisch in Krisenzeiten relevant geworden ist.


...zum (peri-)urbanen Gemeinschaftsacker?

Allerdings wäre in vielen Städten wohl die Frage naheliegender, wie man die bestehende Landwirtschaft im peri-urbanen Raum in die eigenen Hände bekommt, als sich (allein) auf innerstädtische Gemeinschaftsgärten zu konzentrieren. So hält Frank Lohrberg fest, dass durchschnittlich ein Viertel der Stadtfläche deutscher Großstädte als Agrarland ausgewiesen ist (Lohrberg 2011: 140). Auch das Stadtgebiet von Wien verfügt über große landwirtschaftliche Flächen, von dem 2012 laut Realnutzung gesamten Grünland, das sich auf 20.816 ha beläuft, stellen diese 5.927 ha (Wien/LKW 2013). Insgesamt gelten etwa 17 % der Fläche des Stadtgebiets als landwirtschaftlich genutzt. Der allergrößte Teil davon ist Ackerland (vgl. Lebensministerium 2012). Der (theoretische) Eigenversorgungsgrad der Stadt mit Gemüse ist entsprechend hoch: "Insgesamt produzieren die Wiener Stadt-Landwirte jährlich rund 110.000 t hervorragende Lebensmittel. 61.000 t davon sind allein Gemüse, was rund 36,4 % Eigenversorgung und 10 % der österreichweiten Produktionsmenge entspricht." Knapp 7 % des Getreideverbrauchs und mehr als 4 % des Weinkonsums werden durch die Landwirtschaft in Wien gedeckt.

Die landwirtschaftliche Fläche blieb in den letzten Jahren praktisch konstant, der Verlust betrug zwischen 2007 und 2012 nur 0,7 % (Wien/LKW 2013). Dennoch kann diesbezüglich keinesfalls Entwarnung gegeben werden. Im Agrarstrukturellen Entwicklungsplan etwa werden nur 69 % davon als Vorrangflächen definiert. Ein Drittel ist also nicht vor Versiegelung geschützt und dient offenbar als Flächenvorrat. Die Versiegelung wird auch in Wien im Sinn der von der Stadtregierung forcierten Strategie der Nach-Verdichtung weiter voranschreiten, wenn Gegenbewegungen ausbleiben.

Damit zeigt sich ein zentrales Konfliktfeld für Ernährungssouveränität gerade in einem Bereich, der weder von der Szene der urbanen Gärten in Wien thematisiert noch von anderen lokalen Akteurlnnen im Ernährungs- und Agrarbereich fokussiert wird, mit Ausnahme der Initiative SoliLa. Paradoxerweise wird gerade der so genannte urbane Raum zur Kernzone der ruralen Konflikte um landwirtschaftlich genutztes Land, wie man es gemeinhin mit ländlichen Gebieten weitab der Stadt verbindet. Doch die fruchtbarsten Ackerstandorte mit der kürzesten Distanz zur größten Gruppe der Konsumierenden befinden sich in (peri-)urbanen Lagen. Und genau diese sind von Versiegelung überproportional betroffen, denn sie gelten wenig nach ihrem landwirtschaftlichen Gebrauchswert, dafür sehr viel unter dem Aspekt des monetären Werts am Immobilienmarkt, dem beispielsweise die Wiener Stadtpolitik weitgehend zu Diensten zu sein scheint. Der zentrale Landkonflikt in Österreich und anderen Ländern Europas spielt sich daher im Nahbereich der großen Städte ab. Ernährungssouveränität müsste sich, strategisch gedacht, vor allem darauf konzentrieren.

Die Voraussetzungen dafür wären insofern gerade in Wien günstig, stehen doch über 2.000 ha landwirtschaftliche Flächen im Eigentum der Gemeinde, davon das allermeiste Ackerland, nur 48 ha sind Rebfläche. Diese Flächen befinden sich zum Teil innerhalb der Stadtgrenzen, zum Teil in angrenzenden Lagen und werden von der Magistratsabteilung 49 bewirtschaftet. An die 1.000 ha nutzt alleine der Biobetrieb in der Lobau (Wien). Weitere 400 ha sind verpachtet (Möhrs et al. 2013). Diese besondere Situation würde grundsätzlich die Verwirklichung einer selbstbestimmten, bedürfnisorientierten und ökologischen, krisensicheren Nahversorgung von Wien sehr erleichtern. Ergänzend zu einer Perspektive des "public produce" (Nordahl 2009) und der "edible city", die gratis zugängliches Gemüse auf öffentlichen innerstädtischen Flächen bezeichnet, das entweder von der Stadtverwaltung oder von BürgerInnen angebaut wird, wäre hier angebracht, von der Möglichkeit eines öffentlichen Gemüsebaus zu sprechen; in Analogie zum öffentlichen Wohnungsbau.

Die Stadt müsste einen solchen Betrieb nicht auf herkömmliche Weise und allein führen. Zu überlegen wäre vielmehr, ob nicht das spürbare Gartenbedürfnis der Städterinnen und Städter hier weit mehr Entfaltungsmöglichkeiten finden könnte als auf den grundsätzlich von vielfältigen Nutzungskonflikten durchzogenen und geringerflächigen Standorten in den dicht verbauten Gebieten. Die Erreichbarkeit wäre öffentlich schon teilweise gegeben und könnte mit vergleichsweise geringen Mitteln in Form von Busverbindungen und Shuttlediensten hergestellt werden. Die Ökoparzellen der Stadt Wien sind ein erster Ansatz dazu. Wesentlich wäre jedoch, den öffentlichen Charakter der Produktion zu garantieren, der an die erste Stelle das Recht auf Nahrung setzen müsste. Eine solche Perspektive öffentlichen, klein- bis großkollektiv organisierten Gemüsebaus entlang von Modellen der CSA und nicht-kommerzieller Landwirtschaft aber findet, wie zu sehen war, im urbanen Gärtnern bisher nur vereinzelte Anknüpfungspunkte und wäre erst zu entwickeln. Nicht zuletzt ist damit die Frage sozialer Auseinandersetzungen um den Zugang zu Land verbunden, die von den Gärten bislang nicht gestellt wird.

Eine Ausweitung des urbanen Gärtnerns in Richtung einer "edible city" könnte eine teils vorbereitende, teils begleitende Strategie darstellen. Auch hier wäre der Aspekt des "public produce" anzusprechen, den die Gemeinschaftsgärten nicht thematisieren. Die Konzepte der essbaren Stadt und des "public produce" könnten die Nahrungsmittelproduktion als alltägliche Thematik in der Stadt sichtbar verankern. Sie könnten steuerfinanzierte Leistungen der öffentlichen Hand mit individuell kostenlosem Zugang zu öffentlich beerntbaren Flächen Verbinden. Eine Situation, die freilich auch in traditionellen Bereichen wie dem öffentlichen Verkehr, der großteils steuerfinanziert ist, noch kein Pendant hat. Auch hier wäre darauf zu achten, Menschen, die von sich aus im Gemüse- und Obstbau aktiv werden wollen, wie etwa die Initiative Stadtfrucht (stadtfruchtwien.wordpress.com) hervorhebt, Freiräume zu gewähren.

Das Ziel eines erhöhten Bewusstseins für die Produktion von Lebensmitteln durch eine Re-Ruralisierung der städtischen Ästhetik - neben einer signifikanten Ausweitung der Eigenversorgung der Stadt mit Gemüse und Obst - könnte mit den Mitteln der lokalstaatlichen Gartengestaltung relativ einfach erreicht werden, sofern sich nicht genügend selbstorganisierte Garteninitiativen finden. Der private Aspekt der gegenwärtigen Gemeinschaftsgärten, die ihre Produkte selbst konsumieren, würde damit zugunsten einer öffentlichen, frei zugänglichen Produktion aufgehoben. Dies würde einen wichtigen Schritt hin zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Richtung von Kollektivität, Dekommodifizierung und Ernährungssouveränität markieren.

Zusammengefasst ist zu schließen: Ernährungssouveränität kann in den Zentren nicht allein mit einer Förderung von Kleinbäuerlichkeit wie an der Peripherie verbunden werden. Der Vergesellschaftungsgrad der Produktion und die zentrale Rolle der urbanen Bevölkerung setzen grundlegend andere Bedingungen für eine solche Perspektive. Sie müsste auf die Überwindung der Dichotomisierung von Stadt und Land und davon ausgehend auf Ernährungssouveränität auch im urbanen Raum und in sozialer Praxis, also nicht nur auf der Ebene von Gesetzesinitiativen fokussieren. Urbanes Gärtnern gilt vielen als dahingehend relevant. Wie zu zeigen war, kann man zwar durchaus einige für Ernährungssouveränität wichtige Momente daran aufweisen. Doch sollte der Blick sich verstärkt auch auf Richtung eines öffentlichen Gemüsebaus und einer materiell weiterreichenden Gestaltung der urbanen Ökologie hin orientieren, als es mit punktuellen und nischenhaft konzipierten Projekten urbaner Gemeinschaftsgärten bisher möglich scheint.


Teil I erschien in Streifzüge 61


(*) Die AutorInnen sind Teil des WWTF-Forschungsprojekts "Green Urban Commons"
(greenurbancommons.wordpress.com).


Literatur

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2000 Zeichen abwärts

Mauern und Zäune

Die deutsche Künstlergruppe "Zentrum politischer Schönheit" wollte zu den Feiern des 25. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer in Bulgarien den neuen Eisernen Vorhang an der EU-Außengrenze zur Türkei mit Bolzenschneidern öffnen.

Die Aktion wurde zum Exempel grenzüberschreitender politischer Zusammenarbeit der deutschen, bulgarischen und griechischen Polizei, die in gelungener Kommunikation und Abstimmung die Busse durchsuchten, eskortierten, an den Grenzen sicher übergaben und die Leute natürlich hunderte Meter vor dem Stacheldraht vor Verletzungen desselben schön bewahrten.

In Berlin und sonstwo am alten Eisernen Vorhang wollte einst das Personal der damals drüben herrschenden Systemvariante "ihre Leute" eher erschießen als hinüber lassen, weil sie noch verwertbar schienen. Ihre Gegenstücke hier herüben haben sie aus demselben Grund gebraucht. Die Richtung der Fluchtbewegung war vor allem anderen bestimmt vom Preis der Ware Arbeitskraft und dem ganzen Drumherum. Die Fluchthelfer galten auf unserer Seite als Helden, für die Flüchtlinge standen Arbeitsmärkte und ein Stück glitzernder Konsum bereit.

Die aktuellen Zäune sperren nicht mehr ein, sie sperren aus. Fluchthelfer heißen jetzt "Schlepper" und sind kriminell. Was die Flüchtlinge hierher auf den Markt bringen, ist nicht mehr so gefragt, sie stören, "nehmen uns die Arbeitsplätze weg", sind ein "Sicherheitsrisiko". Sie heißen jetzt "Schmarotzer", sie suchen Arbeit, die es daheim nicht gibt und sich auch hier verdünnisiert. Die meisten aber laufen einfach um ihr Leben. Denn wenn der Kapitalismus sich an menschlichem Frischfleisch überfressen hat und nicht mehr weiter wachsen kann, wuchert seine "Wolf"-Moral drüben wie auch hüben aus in offene Gewalt. Ob die des Staats, ob die des Terrors. Der Selbstlauf dieser Logik lässt am Ende nichts, wohin eins fliehen könnte. Da ist nichts zu reparieren, diese Logik ist bloß zu ersetzen. Es ist möglich, denn Menschsein geht auch anders.

L.G.

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Immaterial World

Shareconomy

von Stefan Meretz

Für die Durchsetzung des Kapitalismus war es notwendig, die Menschen durch die "Einhegung der Commons" von ihren Subsistenzmitteln zu trennen. Zu den traditionellen Commons gehörte die gemeinschaftliche Nutzung von Naturressourcen: Wiesen, Weiden, Wälder, Wasser. Gewohnheitsrechtlich wurden sie geteilt genutzt und boten vor allem kleinen Bauernhöfen und Landarbeiter_innen ein Auskommen. Mit dieser Art des Teilens war mit der Einhegung Schluss. Freie, aber vereinzelte Lohnarbeiter_innen mussten fortan ihre Arbeitskraft verkaufen, um die Existenz ihrer getrennten, von der Warenökonomie abgespaltenen Privathaushalte zu sichern.

Der Privathaushalt, der allein für sich die Geldmittel beschafft, war in der Zeit des Fordismus ein Erfolgsmodell, das in der sich gegenwärtig ausbreitenden Krise jedoch seinen Modellcharakter verliert. Alte Denk- und Handlungsmuster werden in Frage gestellt, neue Lebens- und Handlungsweisen etablieren sich. Zu ihnen gehört eine Wiederentdeckung des Teilens. Der exklusive Privatbesitz ist nicht mehr erstrebenswert, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen spart nicht nur Geld, sondern durchbricht auch soziale Trennungen. Warum nicht das Auto, den Garten, die Wohnung, die Werkzeuge und anderes mehr gemeinschaftlich nutzen?

Das Teilen ist eine positiv-reziproke Handlung. Die involvierten Menschen beziehen einander wechselseitig ein. Alle haben etwas davon, und dennoch wird nicht getauscht, denn das, was sie davon haben, ist sehr vielfältig und unberechenbar. Im Kern geht es um die (Wieder-)Herstellung menschlichen Reichtums jenseits von Tausch und Geld. Tauschen hingegen ist negativ-reziprok strukturiert. Die einen wollen möglichst viel haben, die anderen möglichst wenig geben. Im Tausch werden die Menschen strukturell voneinander getrennt.

Die Shareconomy, auch kollaborative Ökonomie genannt, macht aus Teilen wieder Tauschen. Sie ist eine moderne Form der Einhegung des Teilens, ist ein Weg der Verwarenformung menschlicher Beziehungen. Ressourcen werden nicht mehr gemeinschaftlich genutzt, Teilen ist also keine soziale Handlung mehr, sondern der Eigentümer einer Ressource teilt diese auf in einen selbst zu nutzenden und einen vermietbaren Teil - physisch oder zeitlich. Teilen wird verdinglicht, ganz wie Marx es für den Warenfetisch beschreibt: Das Verhältnis von Sozialem und Dinglichem, von Mittel und Zweck kehrt sich um. Die Ressource ist nicht mehr Mittel zur gemeinschaftlichen Bedürfnisbefriedigung, sondern ihr Zweck ist der Gelderwerb. Diesem fremden Zweck ist nun das Soziale als Mittel untergeordnet. Das Soziale wird kommodifiziert. Ich lerne nicht mehr Menschen kennen, um mit ihnen eine gute Zeit zu haben, zum Beispiel bei der gemeinsamen Nutzung meiner Wohnung, sondern ich lerne neue Kunden kennen, um ihnen temporär mein Zimmer gegen Bezahlung zu überlassen. Vermieten statt Teilen, Kunden finden statt menschlicher Begegnung.

Shareconomy ist Ausdruck der Krise. In Griechenland vermieten viele ihre Häuser und Wohnungen über AirBnB - aus Not. Wenn Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist, bleiben oft keine anderen Ressourcen, die noch zur Verwertung taugen. Ökonomisch gesehen handelt es sich dabei um eine Umleitung von Einkommen: "Ich gebe dir von meinem Einkommen für die Nutzung deiner Ressource, bessere damit dein Einkommen auf und spare selbst dabei." Dabei wird nicht nur kein neuer Wert geschaffen, sondern das gemeinsame Nutzen von Ressourcen vermindert den Absatz und damit die Produktion der entsprechenden Waren. Das ist ökologisch sinnvoll, aber ökonomisch bedrohlich, weil es die Krise befördert. Der Kapitalismus kann nur existieren, wenn Verwertung mittels Produktion und Absatz neuer Waren gelingt.

Individuell ist die Vermietung eigener Ressourcen eine Möglichkeit, das eigene Budget aufzubessern bzw. durch Nutzung der günstigen Angebote Ausgaben zu reduzieren. So schont die massenhafte Nutzung von UberPop (Vermittlung privater Fahrten) den eigenen Geldbeutel, ist jedoch für die Taxi-Unternehmen eine existenzbedrohende Konkurrenz. Doch die Logik, dass mein Fortkommen stets immer auch auf Kosten von anderen geht, durchzieht die Warengesellschaft als Ganzes. Die Exklusionslogik betrifft ebenso die Lohnarbeiter_innen und Unternehmer_innen wie eben auch die Shareconomy.

Ganz im Sinne der Schumpeterschen schöpferischen Zerstörung löst die Shareconomy bestimmte Märkte auf und schafft neue. Wird Carsharing zum Massenphänomen, sinkt die Autoproduktion. Wird der nächste Griechenland-Urlaub massenhaft im AirBnB-Quartier verbracht, müssen viele Hotels schließen. Im Unterschied zu früheren Innovationszyklen ist der schöpferische Anteil jedoch wesentlich kleiner als der zerstörerische: Große Marktsegmente werden zersetzt, und der Rest wird umverteilt. Dass daraus einige spezialisierte Vorreiter als Sieger hervorgehen, liegt auf der Hand. In den USA ist innovative Disruption - flächendeckende Marktzerstörung bei punktueller Innovation - explizite Strategie des Venture-Kapitals. Autokannibalismus statt Kapital-Verwertung, und die Shareconomy bietet ein Spielfeld dafür.

Unter dem Label Shareconomy werden jedoch auch commonsorientierte Praktiken subsumiert, die mit Ökonomie nicht viel zu tun haben. Alle Projekte müssen sehen, wie sie die finanziellen Mittel aufbringen, die sie im Kapitalismus nun einmal benötigen. Die Scheidung geschieht dort, wo die gemeinschaftlichen Praktiken am Teilen oder am Tauschen orientiert sind. Dort wo Commoning und Geldlogik getrennt sind, ist der Widerstand gegen die Reintegration in die Warenproduktion am größten.

Obwohl die Tauschlogik mit der Shareconomy revitalisiert wird und dadurch das Teilen vergiftet, sorgt sie dennoch für einen Mentalitätswandel. Nicht mehr alles selbst zu besitzen, sondern sich Ressourcen zu teilen - und sei es gegen Geld - ist ein Schritt in die Richtung zur Wiederentdeckung des bedürfnisorientierten Teilens und des Commoning. Doch dieser Schritt ist bewusst zu gehen. Von alleine kommt der Abschied vom Tauschen nicht, zu sehr ist das bedingungsvolle, miteinander Verkoppelte Geben und Nehmen Teil der alltäglichen Handlungsweise geworden. Zu lernen ist: Nur Teilen jenseits von Geld und Tausch ist echtes Teilen.

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Roboter und Refaschisten

Arbeit in der Science-Fiction - Teil II

von Dieter Braeg

Winston arbeitet, es ist in der Ullstein Taschenbuch Ausgabe die Seite 37 (Januar 1984 1373 bis 1573 Tsd. Auflage). Er sitzt vor den Gedächtnis-Löchern und arbeitet mit dem Sprechschreiber. Umschreiber, Nachrichtenfälscher.

"Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit", schreibt George Orwell, nur lesen kann man über diese "Freude" herzlich wenig. Es ist schwer, zur Arbeit freudige Worte zu finden.

"Julia war 26 Jahre alt. Sie wohnte in einem Heim mit dreißig anderen jungen Mädchen zusammen. ('Immer in dem Weibergestank! Wie ich die Frauen hasse!') Und sie war, wie er vermutet hatte, an den Romanschreibemaschinen in der Literaturabteilung beschäftigt. Sie liebte ihre Arbeit, die in der Hauptsache in der Handhabung und Bedienung eines starken, aber sehr komplizierten Elektromotors bestand."

Diese Liebe zur Arbeit, sie begegnet einem immer wieder in guten und schlechten Science-Fiction-Romanen und dabei bleibt es meistens. In diesem Roman gibt es Fabriken, dort werden der Ersatzkaffee, die Lebensmittel, die bröckelige braune Schokolade hergestellt. Alles rationiert, und dann muss es auch noch Produktionen geben, die die Luxusartikel für die Funktionäre der "Inneren Partei" herstellen. Wie geschieht das? Es wird auf den 281 Druckseiten des Romans nicht verraten. Die Arbeit, die in diesem Roman beschrieben wird, ist die Geschichte von Julia, der Frau und Winston, dem Mann, deren Menschsein zerstört wird, so wie es heute in ähnlicher Präzision in vielen Staaten der Welt geschieht. Den Erfolg dieser Arbeit beschreibt Orwell in den zwei letzten Sätzen von 1984: "Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder."

632 Jahre nach Ford, jenem Ford, der den Sinn unseres Lebens mit der Fließbandarbeit verschönte, so Aldous Huxley, beginnt die "Schöne Neue Welt". Dass seit Fords Fließbändern 632 Jahre vergangen sind, das bemerkt man nicht, denn dort, wo der Erfinder der Fließbandarbeit das Prinzip des Herrn Taylor einsetzte, jenes Mannes, der die Ausbeutung zur Wissenschaft werden ließ, an der sich während und nach dem deutschen Faschismus eine Ingenieursgesellschaft namens REFA beteiligte (Zeitnehmer wurden und werden in den Betrieben noch immer "Refaschisten" genannt!), gibt es 632 Jahre später, oh glückliche neue Welt, folgende Arbeitsplatzbeschreibung:

"Das schwüle Dunkel, in das die Studenten ihm folgten, war wahrhaftig geradezu sichtbar und purpurn wie das Dunkel hinter geschlossenen Lidern an einem Sommernachmittag. Die bauchigen Wandungen endlos übereinander getürmter Flaschenreihen funkelten wie unzählige Rubine, und in diesem Rubinglanz bewegten sich mattrote männliche und weibliche Schatten mit purpurnen Augen und allen Symptomen wie von Lupus. Ein leises Surren und Rattern von Maschinerie durchzitterte die Luft."

Ja, das sind Zukunftszeiten! Die Gartenlaube, das Zentralorgan der deutschen Romantik, hätte es nicht schöner schildern können, mattrot geht es zu, und der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit verschwindet durch einen Trichter im Flaschenhals eines Reagenzglases der Produktionsanstalt "Brave New World".

Huxleys schöne Welt ist so neu nicht, die Arbeit hat eine Funktion, sie ist, nach Inhalten abgestuft, auch für ganz bestimmte mehr oder weniger privilegierte Personengruppen reserviert. Je niedriger in der sozialen Skala eingestuft, desto ähnlicher wird auch die Arbeit und gleicht den Horrorszenarien der "Akkord ist Mord"-Fabriken, die jetzt langsam entschärft werden und durch "Gruppenarbeitsstrategien" den Geruch der Ausbeutung verlieren sollen. Ach ja, erinnert sich noch jemand an die Geschichte aus den mittleren siebziger Jahren? Die schwedische Autofabrik Volvo führte damals die Gruppenarbeit ein, um den Krankenstand zu senken. Der Erfolg war nicht besonders groß! Das Ganze lief natürlich unter dem Motto "Humanisierung der Arbeitswelt". Das hört sich genau so dumm und dreist an, als würde man demnächst von der Vermenschlichung des Kriegshandwerkes reden. Das deutsche Parlament tut ja dazu, was es kann! Und im neuen Grundsatzprogramm des DGB hilft man mit: der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit wurde per Beschluss abgeschafft.

Zurück zur neuen Welt, nicht der Arbeitswelt, die ist alt, und wir hören uns nun an, wie man 632 Jahre nach Ford Lichtanlagen produziert:

"'Jeder Arbeitsgang', erläuterte der Personalbetreuer, 'wird womöglich von einer Bokanowskysippe besorgt.' So war es in der Tat. Dreiundachtzig fast nasenlose Deltas standen an den Kaltpressen. Die sechsundfünfzig vierspindeligen Drehbänke wurden von sechsundfünfzig adlernasigen, rothaarigen Gammas bedient. Hundertsieben auf Hitze genormte Epsilon-Senegalesen arbeiteten in der Gießerei. Dreiunddreißig weibliche Deltas, langschädelig, flachsblond und enggebaut, keine mehr als zehn Millimeter größer oder kleiner als ein Meter neunundsechzig, schnitten Schrauben. Im Montageraum wurden die Dynamos von zwei Gruppen gamma-plus Zwergen zusammengesetzt. Die beiden niedrigen Arbeitstische standen einander gegenüber; zwischen ihnen kroch das laufende Band mit seiner Last einzelner Bestandteile; siebenundvierzig Blondhaarige standen siebenundvierzig Schwarzhaarigen gegenüber. Siebenundvierzig Stumpfnasen gegenüber siebenundvierzig Hakennasen, siebenundvierzig fliehende gegenüber siebenundvierzig vorspringenden Kinnladen. Die montierten Maschinen wurden von achtzehn identischen lockigen, gammagrünen (endlich was GRÜNES in diesem Bericht, sonst hätte dies alles ja wirklich nichts mit Science-Fiction zu tun - Anm. D.B.) Mädchen überprüft, von vierunddreißig dachsbeinigen delta-minus Linkshändern in Verschläge verpackt und auf die wartenden Güterwagen und Lastautos von dreiundsechzig blauäugigen, blonden, sommersprossigen Epsilon-Halbidioten verladen."

Der Wilde, eine der wichtigen Figuren in diesem Roman, kotzt. Diese Arbeitswelt, in der es keine Schwierigkeiten mit den Arbeitern gibt, die prägt die Science-Fiction und utopischen Romane vergangener Jahrhunderte. Allerdings gibt Huxley einen sehr guten Hinweis, den die Gentechnik sicherlich bereits aufgegriffen haben wird. Wahrscheinlich lässt sich wirklich bald einfacher der Sklave aus Fleisch und Blut züchten, als Maschinen und Produktionsmittel herzustellen, die vom Menschen bedient werden. Die Einheit Maschine/Mensch, die ja schon täglich gefordert wird, um den Wirtschaftsstandort zu retten, die lässt sich züchten. Auch bei Huxley ist trotz einer schönen neuen Welt die Arbeit nichts Befreiendes, sie ist Versklavung und Entfremdung.

Im "Lexikon der Science Fiction Literatur" (Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke) werden insgesamt zwölf "Themenkreise der Science-Fiction" beschrieben (u.a. Hoffnungen und Ängste, Kolonien und galaktische Imperien, der Landser im Orbit, schleimige Monster und andere Aliens, die Landschaften der Psyche, Blechkumpel und Superhirn, der Traum von der Zeitreise, Alternativ- und Parallelwelten...). Die Arbeitswelt hat es zu keinem Themenkreis gebracht.

In "WIR" von Jewgenij Samjatin - die Romanfigur D503 Bürger des Einzigen Staates ist eine uniformierte Nummer - gibt es nur eine kleine Szene (beim Bau des Raketenweltraumschiffes INTEGRAL):

"Ich beobachtete, wie man die Spanten und Längsrippen in dem gläsernen Leib befestigte, wie man im Heck das Lager für den gigantischen Raketenmotor einmontierte. Alle drei Sekunden ne Explosion, alle drei Sekunden wird der INTEGRAL Flammen und Gase in den Weltraum speien und unaufhaltsam vorwärtsstürmen, ein feuriger Tamerlan des Glücks... Ich blickte hinunter auf die Werft. Nach Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell, im gleichen Takt, genauso wie die Hebel einer riesigen Maschine, bückten die Menschen sich, richteten sich auf, drehten sich. In ihren Händen blitzten dünne Stäbe: mit Feuer schnitten und löteten sie Platten, Winkelmaße, Spanten und Winkelknie. Gläserne Riesenkrane rollten langsam über gläserne Schienen..."

Wer sich mit Taylor beschäftigte, dem Ideologen und Erfinder wissenschaftlich verbrämter Ausbeutungsmethoden, Ideologe der zeitgetakteten Arbeit und des Fließbandes, der wundert sich, wenn dann in dieser Szene Samjatin schreibt: "Welch eine ergreifende, vollkommene Schönheit, Harmonie, Musik..." Speiübel könnte einem werden, wie da die Zukunft der Arbeit einen Pakt mit der Vergangenheit eingeht und zu nichts anderem Nütze ist, als Macht zu erhalten und auszubauen.

Ob Science-Fiction wirklich diese moderne, emanzipatorische Literaturform ist? Ich habe mich dies, je länger ich diesem Thema Zeit widmete, immer häufiger gefragt. Jetzt, in dieser Zeit und Gesellschaft, fehlen Arbeitsplätze. Aber heißt dies nun, dass es an Fabrikationsanlagen, an Produktionskapazitäten und Dienstleistungen fehlt? Nein, im Gegenteil! Wieso muss man dann aber Arbeitsplätze schaffen? Sind die offiziell und inoffiziell gezählten Arbeitslosen nicht auf der richtigen Seite? Dieses "Recht auf Arbeit". Macht Arbeit nicht frei ... und ruhig und ordentlich? Die Science-Fiction nützt diese Weisheiten kaum aus.

Die Zukunft beißt, wie der Schriftsteller Terry Pratchett ganz richtig meint, jedermann in den Hintern und wird von der Gegenwart überholt. Versagt die Science-Fiction da völlig? Das Alltagsleben, die Erwerbsarbeit basiert auf endlosen Wiederholungen. Da gibt es nur Routine, es wird (so Rolf Schwendter) von "repetitiver Teilarbeit" gesprochen. Sie gilt auch für jene "inhaltsreichen" Berufsgruppen, die sich heute im Management herumtreiben. Sogar die Proben in der Kunst und sind weitgehend dem Taylorschen Prinzip unterworfen. Die Arbeitstakte sind irgendwann geeignet, die Arbeitskraft Mensch durch die Arbeitskraft Maschine zu ersetzen.

"Der meister hält das glühende eisen mit der zange über den amboß, der geselle muß es mit dem hammer breitklopfen. Beide arbeiten mit großer aufmerksamkeit. Sie hören den klingenden lärm nicht mehr, sie haben sich an ihn gewöhnt."
(H.C. Artmann "Fleiß und Industrie")

Die Textästhetik dieser Arbeitsplatzbeschreibung und auch die Spannung fehlt mir in der Science-Fiction. Arbeit bleibt im Hintergrund. Die Reichtümer der Gesellschaften in der Science-Fiction entstehen, so ähnlich wie die Schöpfungsgeschichte, aus Lehm und Wundern. Wird wirklich gearbeitet, dann sind es irgendwelche nicht näher beschriebenen Sklavenvölker, die die Arbeit verrichten, oder Roboter. Die genialste Lösung und natürlich auch die phantasieloseste ist der Replikator, der es den Autoren einer bekannten Fernsehserie erspart, sich Gedanken über die Produktion in der Zukunft zu machen. John Kreifeldt ("Regeln zum Umgang mit Robotern") warnt: "Kehre niemals einem Roboter den Rücken zu. Wenn du dich einem Roboter näherst, dann schalte ihn aus, bevor er dich ausschaltet." Wir stehen am Beginn einer wechselvollen Beziehung zwischen Mensch und Maschine, und wird da nicht aus dem Witz "Wenn du dich einem Roboter näherst, dann schalte ihn aus, bevor er dich ausschaltet", bald ein Sicherheitsratschlag? Diese Frage wird nicht mehr lange unbeantwortet bleiben. Wie viele Menschenleben Roboter/Maschinen bereits zerstört haben, wissen wir nicht. Die Statistiken der Berufsgenossenschaften haben sich darauf noch nicht eingestellt. Trotzdem hier ein Lob an Isaak Asimov, er hat schon vor über 45 Jahren seine drei Gesetze der Roboterethik formuliert, sie sind heute aktueller denn je, und es wäre nicht schlecht, würde die herstellende Industrie diese drei Gesetze bei der Maschinen- und Roboterkonstruktion anwenden:

1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass ein menschliches Wesen verletzt wird.

2. Ein Roboter muss den vom Menschen gegebenen Befehlen gehorchen, es sei denn, sie kommen mit dem ersten Gesetz in Konflikt.

3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange er dabei nicht mit dem ersten oder zweiten Gesetz in Konflikt gerät.



Teil I erschien in Streifzüge 61

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Auslauf

Raus da!

von Lorenz Glatz

Null, ja Minus - ist weithin das, was die Wirtschaft vom Wachstum mitbekommt. Auf dieser Grundlage lassen sich nicht einmal mehr die 0,etwas-Eckzinssätze finanzieren. Die Warenmengen, die bei der heutigen Produktivität ausgestoßen werden können, kann eins beim besten Marketing nicht mehr verhökern. Was nur noch schlimmer wird, wenn die Leute auf ihrer Arbeitskraft dann sitzen bleiben. Also lebt das System von Schulden, d.h. von seiner Zukunft, die es nicht mehr hat. Geld verschaffen sich auch Pensionsfonds und Produktionsbetriebe weniger mit Investitionen in Erzeugung und Verkauf als mit Wetten und Zocken "auf den Märkten", wie man heute schlicht Börsen und Finanzplätze nennt. Das geht, solange die grad aktuelle Blase dicht bleibt, also jeweils bis zum nächsten Crash.

Derweil verhungern überflüssige Millionen Menschen, sterben in den Bandenkriegen, ersaufen in den Meeren, bleiben in den Grenzzäunen hängen.

Auch Umweltschutz ist nicht wirklich. Der kommt zu teuer. Das hält kein Standort aus. Auch nach der x-ten Klimakonferenz sind deren Ergebnisse in den nächsten Orkan geschrieben. Die Erderwärmung sollen neue AKWs abstoppen, und Fukushima strahlt vor sich hin.

Die Verwalter dieser Weltordnung geben sich trotz allem ziemlich unbeeindruckt. Sie wollen die Dinge schon in Ordnung bringen. Sie preisen den für übernächstes Jahr prophezeiten Aufschwung, wenn die aktuelle Prognosenleiche eben erst vorbeischwimmt. Sie tun ihr Bestes für die Arbeitsplätze, die Pensionen und die Sicherheit der von ihnen Angeführten - sie sperren die "Wirtschaftsflüchtlinge" aus, schüren, die einen mehr, die andern weniger, Rassismus und Xenophobie, machen den Arbeitslosen Beine, sorgen sich bei allem um das scheue Reh Investor. Sie gleichen den Comic-Figuren, die über den Rand des Abgrunds noch in der Luft ein Stück gradaus weiterlaufen.

Sie blasen lieber im Verein der streitenden Demokraten zum Kampf mit der nicht minder ehrenwerten Konkurrenz um die Leichen von Staaten, die noch zu fleddern sind, sie rufen nach Bomben, um mit dem doch stets nachwachsenden Terror "endgültig Schluss" zu machen. Rund um den Globus speit die Weltwirtschaft Millionen Überflüssiger aus. Aus ihnen rekrutieren sich die Gotteskrieger diverser Religionen und sonstige Banditen, deren Geschäft Erpressung, Vergewaltigung und Beutemachen ist, weil sonst ja "nichts mehr geht". Derlei ruft die Weltpolizei kaum mehr auf den Plan. Es sei denn, dass sie sich wie jetzt auch an den Quellen des schwarzen Bluts der Lebensweise ausbreiten. Doch selbst hier, scheint es, flimmert am Horizont der Strategen in Politik und Militär der Ordnungsmächte bloß die Fata Morgana eines Sieges. Die Resilienz des Terrors kommt von der Wurzelfäule des Systems.

Wenn die Weltordnung von Kapital und Arbeit schmilzt, liegt deren Gewaltkern frei. Bei den Verteidigern des Systems so wie bei dessen Aasgeiern. "Jeder ist sich selbst der Nächste", ist die gültige Definition von Nächstenliebe in dieser "Wolfzeit". Gegenüber dem Anderen und seinem Eigentum herrscht bloß Bedarf. Es gilt die Kosten-Nutzen-Rechnung: Wo die Mittel zum äquivalenten Tausch nicht mehr erreichbar sind, ja wo sie ganz allgemein fiktiv geworden sind, tritt blanker Zugriff an dessen Stelle.

Das gilt freilich auch für unsereinen. Nicht den Trash, das Gift, die Genussprothesen, nicht die Küche wollen wir uns greifen, in der dies alles zusammengebraut wird. Oder ja doch, um all das zu entsorgen. Wir wollen Erde, Meer und Luft von der Seuche dieser Ordnung frei bekommen, damit es uns und unseresgleichen im Sinne von: allem Leben weiter hier geben kann. Wir wissen einiges davon, warum es so nicht weitergehen wird, und haben eine Ahnung, wie es besser ginge. Und im Schatten der Aufmerksamkeit des Mainstreams üben sich nicht wenige fruchtbare Versuche, wie wir vom alten Gift in unserem Fühlen, Denken, Wollen loskommen, wie wir die Dinge in die Hand bekommen, die wir für ein gutes Leben brauchen.

Denn uns gegenüber steht Gewalt, die der "Gewohnheit von Millionen und Abermillionen", die der Strukturen und die der Waffen. Hier ist auch reinzudenken. Dem widmen wir den Schwerpunkt schon des nächsten Heftes dieser Zeitschrift. Tut mit! Denkt mit! Und lest hier weiter! Let's stay in touch!

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AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Julian Bierwirth, 1975. Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Dieter Braeg, 1940. Vom Hilfsarbeiter zum (stellv.) Betriebsratsvorsitzenden. Autor von Wilder Streik - das ist Revolution.

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Autor von Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit (2000). www.meinhard-creydt.de

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, u.a. bei social-innovatiort.org aktiv.

Alfred Fresin, 1953. Studierte Industrietechnik, Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Lebt und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Wien.

Ewgeniy Kasakow, 1982 in Moskau, Historiker. Veröffentlichte u.a. in: konkret, Novyj Svet, Neprikosnovennij Zapas, testcard, Voprosy istorii, Gai Dào, Svobodnaja Mysl, Stanford Post-Soviet Post, Rabkor.ru, Phase 2.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; seit 1970 politisch aktiv. Autor von "Die Illusion von 1917". Verheiratet, eine Tochter, Arzt in Rente. "Traforat" der Streifzüge.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Isabelle Schützenberger, 1990. Studium Intern. Entwicklung, Umwelt- und Bioressourcenmanagement, Diplomarbeit: Vom Gemeinschaften in Gemeinschaftsgärten (Univ. Wien 2014).

Sowie: Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Maria Wölflingseder

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ISSN 1813-3312

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Website: www.streifzuege.org

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Auflage: 1200

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Medieninhabers) Lorenz Glatz, Severin Heilmann,
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Layout: Françoise Guiguet

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Quelle:
Streifzüge Nr. 62, Herbst 2014
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2015


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