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STREIFZÜGE/042: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 69, Frühling 2017


Streifzüge Nummer 69, Frühling 2017
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf - Populismus

Peter Klein: Der dritte Anlauf
Populismus und blinde Vergesellschaftung

Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes. Rezension

Franz Schandl: Die affirmative Revolte
Vom österreichischen Ausnahmefall zum europäischen Paradigma

Tomasz Konicz: Reaktionäre Politisierung. Polens Regierung forciert den autoritären Umbau von Staat, Armee und Medien

Manfred Sohn: Zum Grundsatzprogramm der AfD

Walther Schütz: Vernunft statt Populismus(*)

Franz Schandl: Populismus?
Vage Notizen zu einem explodierenden Begriff

Rehzi Malzahn: Das Fremde, die Grenze und die Kunst des Nein-Sagens

Uwe von Bescherer: Katastrophisch desorganisierend?
Zur Subversivität des Lachens

Emmerich Nyikos: Der Esel und das Messer

Ilse Bindseil: "... ein Moment von Umzentrierung"

Streifzüge: Um Zustrom wird gebeten!

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder über "Ignoranz"
Rückkopplungen: Roger Behrens zu Pop und Populismus
Immaterial World: Stefan Meretz über Schulden

Rubrik 2000 Zeichen abwärts
Franz Schandl: Linkspop oder Sozialdemokratie 4.0
Dominika Meindl: Businessidee Schmuckdiktatur

*

Einlauf

von Franz Schandl

Ist Populismus eine sinnerfüllende Kategorie? So ganz sicher sind wir da nicht. Auch in den Beiträgen läuft mehr auseinander als zusammen. Zumindest auf analytischer Ebene. Aber nennen wir es mal produktive Unsicherheit. Jedenfalls glauben wir einige wunde Punkte berührt zu haben. Vor allem die "Front" zwischen Liberalismus und Populismus haben wir doch einigermaßen quer gebürstet. Das ist dringend notwendig, denn was sich einst links nannte, kommt zusehends als weichgespülte Instanz der bürgerlichen Werte daher. Wie die Freiheitlichen die Etablierten aussaugen, so saugt ein liberalisierter Antifaschismus die linke Opposition leer.

Nach den österreichischen Erfahrungen gilt es festzuhalten: Schwarz-blau war kein Betriebsunfall und rot-blau ist es ebenso wenig. Dass im Burgenland eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und Freiheitlichen gegeben ist, ist kein Unfall, sondern ein Präzedenzfall. Da wächst zusammen, was nie so richtig getrennt gewesen ist.

Populistische Plagiate nehmen zu, denken wir etwa an das "Jahrtausendtalent" der ÖVP, Außenminister Sebastian Kurz. In psychologischen Seminaren um 2050 wird man derlei unter dem Titel "Epidemische Phänomene des politischen Betriebs zu Beginn des 21. Jahrhunderts" besprechen. Aber auch wenn man sich drüber lustig macht, es ist ernster, als man meint, es deutet insbesondere an, dass die große Verzauberung (jenseits allen Aufklärungsgezwitschers) nicht nur vorherrschend ist, sondern mächtig wie noch nie.

Der Populismus erscheint als Zerfall der Politik selbst. Alte Hegemonien rosten und schwinden, Obskurantismus, Attentismus und Autoritarismus bilden die Auffangbecken. Aber das muss nicht so bleiben.


Dass wir nicht ganz für uns schreiben, beweist einmal mehr unsere Autorin Ilse Bindseil in ihrem langen und anregenden Brief an die Redaktion. Danke. Ansonsten empfehlen wir dringend die vorvorletzte Seite zu beherzigen. Nochmals Danke.

*

Der dritte Anlauf
Populismus und blinde Vergesellschaftung

von Peter Klein

Ja, irgendwann melden sich die Benachteiligten. Und es ist nicht so, wie die Linke sich das vorgestellt hat, dass dieses Erwachen zum Fortschritt führt. Es genügt vielen, nur dagegen zu sein.
(Petros Markaris)


Offen ist die westliche Parteiendemokratie in vielerlei Hinsicht. Ob es sich um Fragen der Sexualmoral oder der sexuellen Orientierung handelt, um das Rauchverbot in Gaststätten, um militärische Einsätze in anderen Ländern, die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen, den Mindestlohn oder die Managergehälter: Immer wieder gab es und gibt es Grund zum Streit und zu kontroversen Debatten. Und immer wieder hat die Bevölkerung Gelegenheit, ihre Ansichten öffentlich kundzutun und sich zwischen den verschiedenen von den Parteien vorgeschlagenen Optionen zu entscheiden.

So offen, dass sie auch ihre rechtliche Grundstruktur zur Disposition stellen würde, ist die westliche Demokratie allerdings nicht. Diese an der Figur des freien Individuums ausgerichtete Grundstruktur ist gleichsam das Korsett, das diese Gesellschaft bei aller Vielfalt der Meinungen zusammenhält und das ihre staatliche Einheit ausmacht. Es ist der zur Verfassung geronnene "Volkswille", der dem real existierenden Volk keineswegs zur Verfügung steht, er kann nicht je nach Situation oder Augenblicksmeinung beliebig abgeändert werden. In diesem Korsett befindet sich das Wählervolk immer schon vorher, bevor es anfängt, sich zu ereifern und zu streiten. Es ist der stillschweigend vorausgesetzte Grundkonsens der demokratischen Gesellschaft, der es ihr ermöglicht, über alle Unterschiede und Interessengegensätze hinweg friedlich zu funktionieren. Dieser Grundkonsens steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Streitkultur und die viel gepriesene Meinungsvielfalt zu halten haben, er markiert die Grenze, jenseits welcher die Demokratie "wehrhaft" zu werden verspricht.

Und genau hier liegt das Problem, das die Freunde der Demokratie mit dem sogenannten Rechtspopulismus haben. Es liegt nicht so sehr in den konkreten Forderungen, die sich im Programm dieser oder jener Partei niedergeschlagen haben, als vielmehr in dem Stimmungsumschwung, der sich mit dieser politischen Bewegung bemerkbar macht. Er reicht offensichtlich tiefer als das, was wir in den letzten Jahrzehnten zu sehen gewöhnt waren, und er hat durchaus nennenswerte Teile der Bevölkerung erfasst. Der bodenlose Hass auf das "System", der den Repräsentanten der herrschenden Ordnung vielfach entgegenschlägt, lässt den besorgten Demokraten ahnen, dass es mit der "Wehrhaftigkeit" auch einmal ein Ende haben könnte. Denn dazu braucht es eine genügend große Anzahl von Menschen, die diesem Hass auch stimmungsmäßig gewachsen sind. Und weil es unter Demokraten ohnehin nicht üblich ist, die "westlichen Werte" näher in Augenschein zu nehmen und etwa auf ihre ökonomische Funktion hin zu befragen, ist es vor allem die Stimmung, auf die sich die Aufmerksamkeit der politischen Klasse richtet.

Die Politiker, die den "westlichen Werten" verpflichtet sind, müssen, so heißt es, das verloren gegangene Vertrauen der Wähler zurückgewinnen und ihre Stimmung positiv beeinflussen. Der Politiker sollte sein Ohr bei den Menschen haben, auf Augenhöhe mit ihnen sprechen, ihnen das Gefühl geben, dass ihre Besorgnisse ernst genommen werden, ihnen gewisse von den Notwendigkeiten des ökonomischen Systems diktierte Entscheidungen erklären, an ihre Einsicht appellieren und sie wohin auch immer "mitnehmen". Ergänzt werden diese bis zum Überdruss wiederholten Floskeln durch gewisse verfahrenstechnische Überlegungen. Vielleicht könnte das eine oder andere Element der direkten Demokratie, häufiger durchgeführte Volksabstimmungen etwa, dazu beitragen, die "Wutbürger" zu besänftigen. Auch hierbei geht es um Gefühle. Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass es, dem Augenschein zum Trotz, sehr wohl auf ihre Ansichten ankommt, dass sie Verantwortung tragen und überhaupt ein unverzichtbarer Bestandteil des Systems seien.

Abstraktionen kann man nicht lieben

Mit dem Gerede über Vertrauen und Gefühl räumen die Fürsprecher der "westlichen Werte" stillschweigend ein, dass diese, abstrakt für sich betrachtet, offensichtlich nicht das Zeug haben, die Menschen an sich zu binden. Es muss mit moralischen Weichzeichnern à la Mitmenschlichkeit, Toleranz und Weltoffenheit Stimmung für sie gemacht werden. Und dieses Stimmung erzeugende Gerede, das nicht minder populistisch ist als das der Stimmungserzeuger von der Gegenseite, ist hervorragend dafür geeignet, eben diese Tatsache, dass es sich hier um Abstraktionen handelt, zu verschleiern. Die eigentlich naheliegende Frage, wie es zur moralisch-rechtlichen Wirksamkeit dieser Abstraktionen hat kommen können, ob es überhaupt an ihnen selbst liegt, dass sie im Verlaufe der Neuzeit wirksam und zur Grundlage des modernen Staates geworden sind, oder nicht vielmehr an der gesellschaftlichen Entwicklung als ganzer, an den Lebens- und Produktionsverhältnissen, denen sie zuzurechnen sind, rückt auf diese Weise in weite Ferne.

Rousseau, der mit seiner Lehre von der Volkssouveränität als einer der Stammväter der modernen Demokratie gelten kann, war da schon von anderem theoretischen Kaliber. Er war sich darüber im Klaren, dass das "Volk", soweit es mit dem Staat identifiziert wird, nur eine Abstraktion sein kann. Als Staat bilden die Einwohner des Landes eine Einheit, als Privatpersonen, die vielfältig voneinander unterschiedene und sogar gegensätzliche Interessen verfolgen, dagegen nicht. Im "Gesellschaftsvertrag" (contrat social) von 1762, dem grundlegenden Werk, in dem er seine staatstheoretische Konzeption entwickelt, unterscheidet er daher wohlweislich den alle Staatsbürger umfassenden "Allgemeinwillen" (volonté générale) von den im Alltag auftretenden Willensmeinungen, dem "Willen von jedermann" (volonté de tous), den die Bürger je nach Situation und Privatinteresse äußern. Die volonté générale kann sich nur mit den allgemeinen Angelegenheiten befassen und nur in der Form allgemeiner Gesetze ausdrücken, die volonté de tous ist die Sache momentaner Stimmungen und Interessenlagen.

Auf welcher Abstraktionsebene die volonté générale zu verorten ist, zeigt etwa die folgende Passage aus dem Gesellschaftsvertrag, bei der es um die Frage der Regierungsform geht. Woher, so fragt Jean-Jacques Rousseau, "besäßen hundert, die sich einen Herren wünschen, das Recht, für zehn, die sich keinen wünschen, mitzustimmen" (Der Gesellschaftsvertrag, Frankfurt/M. 1978, Buch I, Kap. 5, S. 48)? Und die Antwort liegt eben in dem aus dem ursprünglichen Vertrag (pacte fondamental, der die Gesellschaft als solche allererst konstituiert) hervorgegangenen Allgemeinwillen, der als das logische Apriori aller staatlichen Einrichtungen schon zuvor tätig gewesen sein und (in der Verfassung) auch das Verhältnis von empirischer Mehrheit und Minderheit gesetzlich geregelt haben muss. Der Allgemeinwille kann also, weil er das Wesen des Staates ausmacht, durch nichts und niemanden vertreten werden, auch nicht durch die momentane Mehrheit der Bürger. Sobald nämlich die Mehrheit sich jedes Recht herausnimmt, auch dasjenige, die Minderheit für ihre von der Mehrheit abweichende Ansicht zu bestrafen, sie mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, ist der Allgemeinwille, das heißt aber: die staatliche Einheit, gestorben. Als aktuelles Beispiel für einen solchen Tod kann die Türkei dienen, die sich unter dem Volksführer Erdogan offensichtlich auf dem Weg in die faschistische Diktatur bzw. den Bürgerkrieg befindet. Rousseau spricht in einem solchen Falle von der "Unterjochung einer Menge", die mit "dem Regieren einer Gesellschaft" nichts zu tun habe (ebd.).

Wenn Rousseau also Staat und Volk in eins setzt, dann liegt die Pointe dieser theoretischen Konzeption nicht darin, dass "das ganze Volk (...) gleicher Meinung sein muss" - ein Unsinn, der seinerzeit von Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1947), Tübingen und Basel 1980, S. 397) und vielen seiner Nachbeter verbreitet worden ist, sondern darin, dass der rein auf das Gesetz (den "Allgemeinwillen") gegründete Staat allen Bürgern den gleichen Status der freien, über einen eigenen Willen verfügenden Rechtsperson sichert. Wobei dieses Sichern gerade auch im wechselseitigen Verkehr zwischen den rechtlich voneinander unabhängigen Staatsbürgern erforderlich ist: "In der gemeinsamen Freiheit hat keiner das Recht, zu tun, was die Freiheit eines anderen ihm verbietet, und die wahre Freiheit ist niemals selbstzerstörerisch" (Rousseau, Brief Nr. 8 der "Briefe vom Berge", zit. nach Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte - Texte und Studien zur politischen Theorie des 14.-18. Jahrhunderts, Bd. II, hg. von Clausdieter Schott, Freiburg/München 1972, S. 209). Kurz gesagt, bei der Kategorie des "Willens", in dem die Regierenden und die Regierten übereinstimmen, handelt es sich um die für alle Staatsbürger gleiche gesellschaftliche Form - eben um jene Subjektform, die zur Grundausstattung einer Gesellschaft gehört, die man sich aus lauter Verträge schließenden Individuen zusammengesetzt denkt. Die Kategorie des Allgemeinwillens setzt logisch solche Individuen voraus, und sie hat, in die gesellschaftliche Praxis umgesetzt, die Tendenz, solche Individuen zu erzeugen.

Es versteht sich, dass dieser Wille, in dem sich die vertragschließenden Individuen wechselseitig als voneinander freie Rechtspersonen anerkennen, auf einer anderen Abstraktionsebene angesiedelt ist als jenes konkrete Wollen, das die Menschen auf die vielfältig voneinander unterschiedenen Dinge der empirischen Welt zu richten pflegen. Kant, der Rousseaus Ansatz gewissermaßen zu Ende gedacht hat, spricht daher im Falle des empirischen Wollens, um die hier ausschlaggebende Motivebene als solche zu kennzeichnen, von "Gefühl, Antrieb und Neigung". Genau so ein konkretes Etwas, auf das "Gefühl, Antrieb und Neigung" zu richten wären, kann aber die gesellschaftliche Form, die für alle gleich ist, nicht sein.

Der gesetzliche Zustand, für den sich die Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts einsetzten, zielt auf die Verbreitung eines Standpunktes, der unabhängig von der Vielfalt der empirischen Interessen und Bedürfnisse gelten soll, der also vor und jenseits aller Empirie angesiedelt ist; für die real existierenden Menschen geht es aber immer um konkrete Anliegen, die ihnen von der Jeweiligkeit ihrer Situation und ihrer Bedürfnisse diktiert werden. Die gesellschaftliche Form, in der sie sich dabei befinden oder nicht befinden, steht für sie überhaupt nicht zur Debatte. Im Gegenteil. Der Standpunkt des freien Willens, soweit er nicht nur mir vorbehalten ist, sondern per Gesetz auch allen meinen Mitbürgern garantiert wird, kann von dem privaten Egoisten, der ich bin, durchaus auch als eine lästige Einschränkung empfunden werden: "denn seiner Natur nach strebt der Wille des einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit" (Buch II, Kap. 1, S. 58), heißt es bei Rousseau. Um ein sicherer Rückhalt für den gesetzlichen Zustand sein zu können, müssten "die Menschen (des 18. Jahrhunderts, P. K.) schon vor dem Bestehen der Gesetze das (sein), was sie erst durch diese werden sollen" (Rousseau nach Reibstein, S. 74). Und Kant, der die Kategorie der Allgemeinheit endgültig von allen aus der Erfahrungswelt genommenen Vorstellungen "reinigt", um sie "rein" als eine "Idee der Vernunft" zu etablieren, bringt das theoretische Dilemma vollends auf den Punkt. Die Vernunft-Idee der "Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt" ist zwar dazu imstande, in "vernunftbegabten Wesen" moralische Gefühle, insbesondere das der Pflicht hervorzurufen (Kategorischer Imperativ), es gibt aber kein stofflich-konkretes Bedürfnis oder Interesse, das sich in den Dienst dieser "Idee" stellen ließe: "wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend (...)" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Werkausgabe, Bd. VII, Frankfurt/M. 1991, S. 99).

Blind in den Kapitalismus

Es ist vielleicht das höchste Lob, das man den theoretischen Protagonisten der modernen Gesellschaft aussprechen kann, dass sie sich über die Reichweite der Kategorien, mit denen sie den freien Bürger und seinen Staat konstruierten, Rechenschaft abzulegen versuchten. Mit seiner Aussage über die "reine Vernunft" deutet Kant selbst auf die Grenze hin, die dem bürgerlichen Denken, das ständig mit solchen verselbständigten Abstraktionen wie dem "freien Willen" umgeht, gesetzt ist. Es kann sich, wenn überhaupt mit Bewusstsein, dann nur glaubend und bekennend, aber nicht begreifend zu ihnen verhalten. Kant hat damit die weitere theoretische Entwicklung angestoßen, die bei Marx dann bekanntlich zur Frage nach der gesellschaftlichen Praxis, zur Frage nach den Produktions- und Lebensverhältnissen geführt hat, auf deren Boden die angeblich rein "aus sich heraus" wirkenden Ideen der bürgerlichen Gesellschaft gewachsen sind. Freiheit und Gleichheit, so Marx, sind Momente, die logisch zur Lebenspraxis von Menschen gehören, die - auf einem fortgeschrittenen Niveau der Arbeitsteilung - die Produkte ihrer Arbeit regelmäßig gegeneinander austauschen. Die sachlichen Bestandteile der Operation, die Produkte, geraten dadurch in die Warenform, die Austauschenden selbst werden füreinander zu Privateigentümern dieser Waren. Im Tauschakt erkennen sie sich wechselseitig als frei und unabhängig voneinander an und sie respektieren den Willen des jeweiligen Kontrahenten, mit dem er über seine Ware verfügt: so entsteht die juristische Form des Privateigentümers, der im Hinblick auf den Warentausch mit allen anderen Privateigentümern gleichgestellt ist. "Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit" (Grundrisse, MEW 42, S. 170).

Und weil die Entwicklung des Kapitalismus mit der Lohnarbeit auch die Warenproduktion verallgemeinerte, entstand jene "Marktgesellschaft", deren Selbstverständnis gänzlich von den der Warenzirkulation entsprungenen Kategorien bestimmt wird. Die "westliche Demokratie", die in den am weitesten entwickelten Ländern des Kapitalismus entstanden ist, erlaubt es den Einwohnern nicht nur, als Privateigentümer ihrer Arbeitskraft selbstverantwortlich am Marktgeschehen teilzunehmen, sie hat sie auch zu vollgültigen Staatsbürgern mit allen dazugehörenden Rechten gemacht. Mit anderen Worten, die Abstraktion der "Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt" hat sich in diesen Ländern auch auf der Seite des "Volkes" niedergelassen, das ihr am Anfang unseres Zeitalters, als die gesetzgebende Gewalt noch eine "Obrigkeit" war, lediglich auf äußerliche Weise unterworfen war. Indem sie allesamt zu Ware-Geld-Individuen wurden, lernten die Insassen der modernen Demokratie, den Standpunkt der Abstraktion auch in ihrer eigenen Lebenspraxis zu erklimmen. Die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens traten in den Hintergrund, das Geld und das Arbeiten für Geld, egal für welchen Zweck, schoben sich nach vorne. Sie erhielten das Aussehen einer objektiven Notwendigkeit, die zum Leben genauso natürlich gehört wie die Luft, die es zum Atmen braucht. Die "Herrschenden in Staat und Gesellschaft" wurden ersetzt durch jenes von Kant postulierte Vernunft-Ich, das sich im Namen dessen, was allgemein (und damit "objektiv") gilt, selbst zu disziplinieren versteht.

Wie man sieht, lässt sich diese Entwicklung problemlos mit den von Marx bereitgestellten Kategorien verstehen und darstellen, auch wenn Marx selbst, der 1883 gestorben ist, nicht im Traum daran dachte, dass sich die Volksmassen und insbesondere die Industriearbeiterschaft so weitgehend würden domestizieren und in die Rechtsstruktur eines die gesamte Gesellschaft umfassenden Kapitalismus einbauen lassen. Jedenfalls ist die Rolle, die das "Volk" in dieser ganzen hinter uns liegenden Epoche gespielt hat, vom Marx'schen Standpunkt aus leicht zu bestimmen. Solange die von Kant hinterlassene Problemstellung historisch gültig oder wirksam ist, kann diese Rolle nur eine passive oder leidende sein - allem äußeren Aktionismus zum Trotz. Hegel beantwortete die Frage nach dem Subjekt der abstrakten Vergesellschaftung bekanntlich damit, dass er diesen Prozess unter dem Namen "Weltgeist" zu seinem eigenen Subjekt ernannte. Der "Weltgeist" bedient sich listigerweise der jeweils aktuellen und zeitgebundenen Interessen der Menschen, um in der Geschichte "sich selbst zu vollbringen" und jene objektivierende Wirkung, jenen "objektiven Geist" zu entfalten, der inzwischen unsere moderne und allzu "kühle Gesellschaft" hervorgebracht hat, in der es den Verlierern in der kapitalistischen Konkurrenz so schwerfällt, jemanden zu finden, der ihr Missgeschick persönlich zu verantworten hätte.

Vom Volk zum Populismus

Auch Marx, der die bürgerlichen Prinzipien als eine Sache der gesellschaftlichen Praxis ansieht, als das Resultat regelmäßig wiederkehrender Verhaltensweisen, die der bürgerliche Mensch von klein auf einzuüben genötigt ist, folgt in gewisser Weise diesem Gedanken: Der Standpunkt des abstrakten Warenbesitzer-Ichs kann sich nur hinterrücks und im Verlaufe von Jahrhunderten der Vergesellschaftung des menschlichen Bewusstseins bemächtigen. Anders als Hegel sucht er aber nicht nach einem "höheren Sinn" in der Geschichte, weshalb er sich damit begnügt, vom Prozess der "blinden" oder "naturwüchsigen" Vergesellschaftung zu sprechen. Jener theoretischen Naivität, die einer von Abstraktionen - sei es Gott, sei es die Nation, sei es die Zukunft der Menschheit - inspirierten Bewegung wortwörtlich glaubt, was sie von sich selbst sagt und denkt, erteilt er aber ebenso eine Absage wie Hegel.

Einen nützlichen Hinweis, wie die Rolle des "Volkes" im gesamten Verlauf der kapitalistischen Vergesellschaftung einzuschätzen ist, kann man vielleicht in der folgenden Bemerkung von Marx über die Französische Revolution sehen. Die "Schreckensherrschaft", so Marx, diente dazu, "durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege" (MEW 4, S. 339). Was immer die Leute auf die Straße und zur "blutigen Aktion" getrieben hat: der gestiegene Brotpreis, die Arroganz des Adels, die Artikel des L'Ami du Peuple, Gerüchte über Verschwörungen, die Hoffnung auf Erlösung von allen Übeln, Wichtigtuerei, reichlicher Alkoholkonsum - dass sie einer neuen, eben der bürgerlichen Ausbeuterordnung den Weg bereiteten, war ihnen sicher nicht bewusst. Der Zusammenhang, in dem die Ereignisse jeweils stehen, existiert für die unmittelbar Beteiligten, die ihn gleichsam herstellen, nicht. Sie "dienen" ihm, aber dieser Dienst ist nicht das Motiv ihres Handelns.

Marx' nüchterne Einschätzung des "Volkes" ließe sich übrigens noch durch den Hinweis ergänzen, dass das Wegzaubern der "feudalen Ruinen" auch eine mentale Seite hatte. Auch von der vormodernen Passivität und Schicksalsergebenheit zeigte sich, dass sie zu Ruinen geworden waren. Ein neuer, aktiver Menschentyp betrat die Bühne, der den Glauben an die Subjektform des freien Willens darin bezeugte, dass er sein "Recht" in die eigene Hand nahm und den aristokratischen "Nichtstuern" in direkter Aktion den Garaus machte. Dass im Eifer des Gefechts auch Bicêtre dran glauben musste, ein Heim für Alte und geistig Behinderte, dem auch eine Art Strafanstalt für vagabundierende Kinder sowie ein Arbeitshaus für alleinstehende Frauen angeschlossen waren, gehört zu jenen "bedauerlichen Kollateralschäden" der kapitalistischen Aufstiegsgeschichte, über deren nicht eben seltenes Vorkommen unsere demokratischen Gutmenschen auch heute noch ihre Krokodilstränen zu vergießen pflegen.

Einmal in Bewegung geraten, ließ sich das Volk auch bereitwillig zu den Waffen rufen - im Namen des Volkes, versteht sich. Die Disziplinierung der Massen durch die militärische Organisation, die Ausrüstung mit Uniformen und Kriegsgerät - alles dies waren Leistungen des Populismus, die der kapitalistischen Massenproduktion den Weg bereiteten. Und der Krieg selbst, der die "aristokratische Zersplitterung" der politischen Landkarte beseitigte, schuf mit der größeren Einheit des Nationalstaats auch den Markt, in den hinein die industrielle Massenproduktion sich entwickeln konnte. "Die Zollgrenzen zwischen den Provinzen, die Stadtzölle an den Stadttoren, die zahllosen Brückengelder, die Fährgelder - alle diese Grenzen des ancien régime waren mit einem Schlag verschwunden" (Jules Michelet, Geschichte der Französischen Revolution (1847-1853), Frankfurt 1988, Bd. III, S. 135).

Dieses Wort von Jules Michelet, gemünzt auf die Jahre 1789 ff., passt mit seiner Logik selbstverständlich auch auf den dreißigjährigen Krieg des 20. Jahrhunderts (1914-1945), in dessen Gefolge die nationalen Grenzen fielen - oder doch, soweit sie dem Austausch von Waren und Menschen hinderlich waren, erheblich an Bedeutung verloren. In einem zweiten Anlauf, so könnte man sagen, etwa hundert Jahre nach den napoleonischen Kriegen, entfaltete der Populismus noch einmal den Charme von ehedem, aber staatlich besser organisiert und auf verbesserter technischer Grundlage, so dass die Opferzahlen größer waren und die Zerstörungen umfangreicher. Ein weiteres großes Plus für den Kapitalismus: denn der erforderliche Wiederaufbau verlieh seiner unsinnigen Logik, die die Produktion von allen materiellen Bedürfnissen abkoppelt und zum Selbstzweck erhebt, ein vorübergehend überzeugendes Aussehen. Den Menschen, die sich über einen Fernsehapparat, ein Auto oder ein 18-teiliges Teeservice (noch) freuen konnten, fiel es leicht, sich in der "westlichen Konsumgesellschaft" einzurichten. Diese war so etwas wie die "Propaganda der Tat", neben welcher der Populismus alten Stils, der in den "Volks-Demokratien" Osteuropas noch für eine Weile gepflegt wurde, nur blass aussehen konnte, um schließlich, 1989, ganz seinen Geist aufzugeben.

Kurz gesagt, die Mobilisierung der Massen wirkte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein durchaus günstig für den Kapitalismus aus. Über weite Strecken waren die Massen, die sich nach anfänglichem Sträuben mit der Lohnarbeit abgefunden hatten, geradezu innige Verbündete des Kapitals. Zumal die sozialistische Arbeiterbewegung sich um seine Modernisierung verdient machte. Indem sie gegen die "Bourgeoisie" als bevorrechtete Gesellschaftsklasse kämpfte und den Rechtsstaat insbesondere um die soziale Dimension erweiterte, half sie mit, den Kapitalismus zu entpersonalisieren und in jenes Staat und Gesellschaft gleichermaßen umfassende System zu überführen, das sich bis in unsere Gegenwart hinein als quasi unhinterfragbare Objektivität präsentiert. Der Konsumismus, aber auch der vom "Zeitalter der Massen" übrig gebliebene Leichengeruch hatten die politischen Leidenschaften zur Ruhe gebettet. Ein erfolgreich funktionierender Kapitalismus, der die Grausamkeiten, die er kostet, in die Peripherie des Systems verlegt hat: Voilà, das Geheimnis des sozialen Friedens unter dem Regime der "westlichen Werte" ist gelüftet!

Das rohe, demokratisch gleichsam noch unbehauene Volk, das am Anfang unserer Epoche von den zuvor noch nie gehörten Parolen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" entflammt worden war und seinen Führern blind vertraut hatte, wurde im Laufe dieser Entwicklung gewissermaßen aufgezehrt bzw. demobilisiert. Es wurde zur rechtlich durchorganisierten Staatsbürger-Gesellschaft, in der es keinen Konflikt mehr zu geben schien, der nicht durch Verhandlungen zum Ausgleich zu bringen, kein Problem, das nicht in einem rechtlich geordneten Verfahren zu lösen wäre. Selbst noch die Empörung und der Protest wurden zu "berechtigten Anliegen", die man problemlos von "ordentlichen Gerichten" genehmigt bekommt: "Auch die Versammlungsfreiheit gehört zu den heiligen Werten unserer säkularen Demokratie. Solange es gewaltfrei und unvermummt geschieht, dürfen alle demonstrieren, für oder gegen was sie wollen" (Norbert Frei, Süddeutsche Zeitung vom 4.2.2017).

Was von der einstigen Gefühlswelt noch übrig geblieben war, wurde herabgestimmt zur Stammtisch-Maulerei, und es blieb ihm die Spielwiese der Wahlen zu den demokratischen Körperschaften, die großen Sportveranstaltungen mit Wettbüro und Autogrammstunde der Champions immer ähnlicher wurden. Vor diesem Hintergrund des demokratischen Normalbetriebs, wie er Jahrzehnte lang funktioniert hatte, war die Nachricht, dass ein Teil der Bevölkerung in den vorhandenen Strukturen nicht mehr aufgeht, dass er sich nicht nur außen fühlt, sondern es auch tatsächlich ist, und dass er allen Ernstes das Mittun im demokratischen Pluralismus eingestellt hat, nicht eben willkommen - und die Freunde des demokratischen Kapitalismus schalteten auf Abwehr.

Alles, was in der Gesellschaft des totalen Marktes passiert, wird ja von irgendjemandem, der sich einen Vorteil davon verspricht, gemacht oder inszeniert, und so waren auch hier die "interessierten Kreise" schnell gefunden. Die Tatsache, dass sich einige Ideologen der neuen Unzufriedenheit annahmen und sich mit der aus vergangenen Zeiten stammenden Rede vom "betrogenen" und "belogenen Volk" zu ihrem Sprachrohr machten, war ein willkommener Anlass, die Sache selbst auf das ideologische Gleis zu schieben. Denn das "Volk" - siehe Rousseau - kann ja nur als Abstraktion die Grundlage des Rechtsstaates abgeben, die Verfassung verwendet dieses Wort ausschließlich in der Bedeutung der Kant'schen "Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt". Politiker, die von dieser Linie abweichen, die das Wort "Volk" also empirisch deuten und auf die Situation real existierender Menschen beziehen, machen sich darum verdächtig. Was früher einmal ganz unbefangen "Volk" genannt wurde: die am Staat nicht beteiligten Unterschichten, von den Franzosen classes populaires genannt, wird vor dem Hintergrund der totalen Verstaatsbürgerlichung der Menschen zur verfassungsfeindlichen Ideologie. Und die rechtlich denkenden Demokraten ergreift die Furcht vor der Rückkehr jener noch unvollkommen entwickelten Zustände der abstrakten Vergesellschaftung, in denen charismatische Politiker, an die Gefühle der Volksmassen appellierend, ihre Macht direkt auf die Bewegung eben dieser Massen stützten.

Der dritte Anlauf

Natürlich haben diejenigen Recht, die darauf hinweisen, dass die direkt auf die Aktion der Massen sich stützende Politik sehr oft das Aussehen einer Katastrophe hatte. Und zwar waren es immer die Massen selbst, die für ihren Einsatz am meisten zu büßen hatten und am meisten von Not, Tod und Elend betroffen waren. Solange die gesellschaftliche Entwicklung im Rahmen der bürgerlichen Prinzipien verblieb, solange es also darum ging, abstrakte Prinzipien zu "verwirklichen", konnte es gar nicht anders sein. "Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören." Dieser Satz von Hegel, gemünzt auf das schon erwähnte "Schreckensjahr" der Französischen Revolution, bewahrheitete sich seither immer wieder. Die Ware-Geld-Beziehungen, die die bürgerlichen Prinzipien so plausibel machen, verdichteten sich, die abstrakte Vergesellschaftung kam voran, aber was die unmittelbar Beteiligten im Sinne gehabt hatten, war natürlich, siehe oben, etwas Konkretes, es war das eigene tägliche Leben. Die neuen Ideen und Parolen, die ausgehend von den Theoretikern und intellektuellen Meinungsführern (den Clercs, wie Julien Benda sie genannt hat) den Weg ins Volk fanden, erweckten bei ihren Adressaten jedes Mal die Hoffnung, dass sich mit ihrer "Verwirklichung" das Leben ganz unmittelbar, hier und heute, jedenfalls in kürzester Frist verbessern werde.

Dementsprechend ließ die Enttäuschung, die auf die Euphorie der "großen Tage" folgte, niemals lange auf sich warten. 1789 sah den Sturm auf die Bastille, 1792 den Sturz der Monarchie - und 1794 (im Thermidor) war das Volk zu müde, um sich zur Verteidigung Robespierres noch aufraffen zu können. Die Selbstmordwelle, die zwischen 1795 und 1801 ihre Leichen in die Seine spülte, betraf vor allem die "einfachen Leute". Für die "Tagelöhner, Fuhrleute, Kaminkehrer, Wasserträger, Garköche, Laufburschen und Dienstmädchen" habe die Revolution "schon wenige Jahre danach so gut wie nicht stattgefunden" gehabt, schreibt Richard Cobb (Tod in Paris. Die Leichen der Seine 1795-1801; hier zitiert nach der Süddeutschen vom 12. Juli 2011). Von der schönen Erzählung, die die Philosophen und Intellektuellen für sie bereithielten: über den Fortschritt, über die Zukunft, über die historische Perspektive, haben diese Leute, oft noch Analphabeten, leider nichts mehr mitbekommen. Nicht anders war es in Russland: 1917/1918 Euphorie im Namen von Frieden, Brot und Land, 1921 dagegen, nach drei Jahren Bürgerkrieg und dem Kronstädter Aufstand, war das Land, wie Trotzki es bei seiner Reise zurück nach Petersburg empfand, gelähmt und depressiv und wie von einem Leichentuch überzogen. Ähnliches ließe sich von der "braunen Revolution" in Deutschland sagen, die von ihrem Höhepunkt an gerechnet, den Olympischen Spielen 1936, neun Jahre brauchte, um im Katzenjammer zu enden.

Der Populismus, mit dem wir es heute zu tun haben, scheint mir dagegen, was die vorherrschende Stimmungslage betrifft, mit dem Katzenjammer gleich zu beginnen. Von Begeisterung für eine Idee oder für ein neu ins Auge gefasstes Ziel ist weit und breit nichts zu spüren, von einem Aufbruch zu neuen Ufern kann keine Rede sein. Energien von der Art, wie sie dem Nationalsozialismus aus der Jugend- und Wandervogelbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts zugewachsen sind, sucht man vergeblich. Die Bewegung findet in einer alt gewordenen Gesellschaft statt, und auch der darin vorherrschende Phänotypus macht einen eher ältlichen Eindruck. Er mault und nörgelt und ist ein - vorwiegend männlicher - Miesepeter. Er ist eine Art Kontrastprogramm zu jener Hochglanzwelt der Werbebranche, in der die Worte Freiheit und Zukunft: abgestandene Phrasen aus dem Arsenal des bürgerlichen Fortschrittsglaubens, so etwas wie eine letzte Zuflucht gefunden haben. Statt jener gläubigen Hingabe, die Jules Michelet als charakteristisch für die aus der Revolution hervorgegangene Volksarmee bezeichnet: "Das war keine Armee, das war ganz eigentlich das Volk, das war Frankreich, das sich jung und kindlich auf dem Schlachtfeld einfand, in der Verwirrung der ersten Kriegsbegeisterung", so der Autor über die Schlacht bei Jemappes im November 1792 (Michelet, a.a.O., S. 185), stehen das Misstrauen und der Unglaube an vorderster Front.

Nicht einmal der Nationalismus wird mit voller Überzeugung praktiziert. Das Fremde soll nicht unterworfen, kolonisiert oder ausgebeutet werden, es soll "draußen" bleiben. Es ist kein Sendungsbewusstsein verbunden mit diesem Nationalismus; er ist, wie Jürgen Osterhammel schreibt, "kein Ausdruck neoimperialer Expansionsträume, sondern im Gegenteil ein postimperialer Abwehrnationalismus" (Süddeutsche vom 8.12.2016). Der "Rassismus", der sich darin äußert, hat keinerlei Appetit auf militärische Abenteuer, er verschmäht es, über andere Länder herzufallen, fragt sogar in diesem Sinne nach den Ursachen für die Flüchtlingskatastrophe und positioniert sich gegen die Interessen des "militärisch-industriellen Komplexes" speziell der USA, der - angeblich - zielstrebig auf die gegenwärtige Weltlage hingearbeitet habe. Die allgegenwärtige Subjektform des freien Willens verlangt eben nach so einem identifizierbaren Jemand, der das, was dem "Volk" zum Nachteil gereicht, jeweils "gewollt" hat und der deshalb an den moralischen Pranger gestellt und bekämpft werden muss.

Sicher, das ist die gleiche Denkweise, die seinerzeit Tod und Verderben über die europäischen Juden gebracht hat und die auch überall sonst in der Welt ihre Sündenböcke zu finden weiß. Das ist aber keine Entschuldigung für die unter Demokraten verbreitete Denkfaulheit, die mit ihrem immer gleichen "Wehret den Anfängen", die kapitalistische Krise, auf welche die Menschen reagieren, aus der Schusslinie bringt. Die heutige Krise, bislang noch in Schach gehalten durch die wundersame Geldvermehrung im Bankensystem, ist von anderer Beschaffenheit als diejenige, die (in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) den Übergang von der liberalen (oder "bourgeoisen") zur massendemokratischen Etappe der kapitalistischen Vergesellschaftung markiert hat. Sie findet - Stichwort: Globalisierung - auf einem weitaus höheren Niveau der Vergesellschaftung statt, und sie hat viel höher entwickelte Produktivkräfte (und also auch Destruktivkräfte) zu ihrer Voraussetzung.

In seiner Aufstiegsphase konnte das politisch-ökonomische System, das dabei war zu entstehen, die von unten kommenden Energien noch absorbieren, immer mehr Menschen wurden kapitalistisch verwertbar. Der Massenarbeiter war auf dem seinerzeitigen Niveau der Produktivkraftentwicklung eine unentbehrliche Zutat der Produktion, ebenso wie es Massenheere waren, die seit Napoleons Zeiten die Kriege entschieden. Und das Bewusstsein, das die Massen von ihrer Wichtigkeit hatten, führte sie und ihre politischen Führer eben zu jener Forderung nach dem gleichen (Staatsbürger-)Recht, in dem sich der Standpunkt des Ware-Geld-Individuums geltend macht. Der "Aufstand der Massen", der die Massendemokratie herbeiführte, hatte gleichsam die "ökonomische Vernunft" des expandierenden Kapitalismus zu seiner Grundlage.

Diese ihre eigentliche Substanz ist der Demokratie inzwischen abhandengekommen. Die High-tech-Produktion unserer Tage hat sich vom Menschen als unmittelbarer Produktivkraft weitgehend verabschiedet, und die Dienstleistungsbranche, die uns mit Dönerbuden und Nagelstudios überschwemmt hat und mit einem Millionenheer von erschöpften Pädagogen und Pflegekräften, die "Sicherheitskräfte" nicht zu vergessen, sah nur für einen historischen Augenblick so aus, als könne sie dieses Erlöschen der kapitalistischen Realakkumulation kompensieren. Der gute Wille, sich unter die kapitalistischen Effizienkriterien zu beugen, nützt den Menschen nichts. Immer mehr scheiden vorzeitig aus dem Erwerbsleben aus oder gelangen gar nicht erst hinein. Das System kann sie nicht brauchen, im Sinne des Systems haben sie keinen Wert. Die demokratische Religion der "Menschenwürde" blamiert sich darin, dass ihr harter Kern, die Ware Arbeitskraft, weltweit zum Ladenhüter geworden ist, mit dem sich kein Blumentopf, geschweige ein würdevolles Leben gewinnen lässt.

Es ist also kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen, und nicht nur die in den Zentren des globalen Westens lebenden, belogen und betrogen fühlen. Eine groß angelegte Absetzbewegung hat begonnen, die von den eingefahrenen Deutungsmustern des demokratischen Kapitalismus: der globale Westen ist gut, der freie Markt sichert "unseren Wohlstand", nichts mehr wissen will. Da ich nicht sehe, wie diese Bewegung in einem noch höher entwickelten Stadium der abstrakten Vergesellschaftung münden und sich darin beruhigen sollte, neige ich dazu, diesem neuerlichen Anlauf zu einer massenhaften Systemkritik, dem "dritten", wenn ich richtig zähle, auch eine historisch neue Qualität zuzusprechen. Das Bewusstsein, dass die bürgerlichen Ideale immer noch mehr zu "verwirklichen" seien, ist auf dem Rückzug. Immer noch mehr Individualisierung und Vereinzelung der Menschen, immer noch mehr Ökonomisierung aller Lebensbereiche, immer noch mehr Gewinnwachstum bei den ca. 300 Weltkonzernen, die "unsere Wirtschaft" ausmachen: Wer glaubt noch daran, dass sich die Krise auf diese Weise bewältigen lässt? Ungeachtet der veralteten Terminologie, in der sich die Menschen heute noch verständigen, wird diesem "dritten Anlauf" nichts anderes übrig bleiben, als konkret und also sehend zu werden. Die Menschen werden sich von den abstrakten Vorgaben des Kapitalismus, Ware und Wert, lösen müssen. Sie werden es lernen müssen, ihre Lebensbedürfnisse direkt als solche geltend zu machen, ohne die kapitalistischen Verwertungszyklen, die unser Tun nur dann gutheißen, wenn es gewinnbringend ist, vorher um Erlaubnis zu fragen. Die Generallinie heißt nicht mehr hinein, sondern heraus aus der Abstraktion.

Und das heißt natürlich auch: Heraus aus dem freien und gleichen Warenbesitzer-Ich, das, weil es eine Abstraktion ist, weder frieren noch hungern noch das Leben genießen kann. Was von den "westlichen Werten" dann noch übrig bleibt an zivilisatorischer Errungenschaft, sollte nicht mehr den Charakter eines einengenden Korsetts besitzen, das man auf dem Schlachtfeld der täglichen Konkurrenz wie einen Panzer zu tragen hat.

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Rezension
Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes.

von Andreas Fischer

Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes. C.H. Beck, München 2015, 480 Seiten, ca. 29,95 Euro

Das Geld würde auf das archaische Menschenopfer zurückgehen. Gegen David Graeber wendet Christoph Türcke ein, man dürfe nicht von den ersten 5000 Jahren sprechen, sondern von den letzten und müsse viel weiter in die Altsteinzeit zurück. Das naive Bewusstsein der Menschen damals erklärt er mit dem Vergleich zu Kindern, die ich und Welt nicht trennen. Nicht selten empfinden Kinder Schuld, wenn Eltern sich streiten. Unsere Vorfahren empfanden Schuld gegenüber dem Schrecken der feindlichen Natur. Würde diese Schuld gesühnt, wäre die Natur versöhnt. Das Opfer musste wehtun. Die höheren Mächte waren imaginär, die Bezahlung war von Anfang an real. Das Menschenopfer hat sich im Lauf der Zeit profaniert (entweiht). Mit der neolithischen Revolution wurde es durch Tier- und Speiseopfer ersetzt, dann durch Metallopfer, dann durch Geld. Soweit die Würdigung. Nun zur Kritik. Marx ist für Türcke nur ein moralischer Zeuge gegen den Kapitalismus, seine theoretische Stärke versucht er zu widerlegen. Dass Leistung und Belohnung nur säkulare Derivate von Schuld und Sühne sind, bleibt Türcke verborgen. So macht er auch keine wirkliche Differenz zwischen vormodernen Sozietäten persönlicher Verpflichtungsverhältnisse und dem modernen Selbstzweck des Geldes. An der Werttheorie kritisiert er, dass sie Qualität zu quantifizieren sucht und bringt damit, ohne es zu merken, ein Argument gegen den Kapitalismus vor. Denn dem Geld wird die magische Eigenschaft zugeschrieben, Unvergleichbares vergleichen zu können. Sonst bliebe nur noch das "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass" als Ende mit Schrecken. AF

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2000 Zeichen abwärts

Linkspop oder Sozialdemokratie 4.0

von Franz Schandl

Natürlich gibt es Leute, die sich aktiv für einen Linkspopulismus einsetzen. Chantal Mouffe oder Pablo Iglesias, Oskar Lafontaine oder Jakob Augstein stehen dafür, den Begriff positiv zu besetzen. Sozialdemokratie 4.0 geht laut Pablo Iglesias Turrión so: "Es besteht kein Zweifel daran, dass Bedeutungen immer hinterfragbar sind, aber ich glaube keinesfalls, dass die Sozialdemokratie ein Etikett der Vergangenheit ist. Eine Vierte Sozialdemokratie - im Sinne der Möglichkeit der Durchsetzung verteilungsgerechter Politik im Rahmen der Marktwirtschaft, der Sicherung des sozialen Netzes und der Steuergerechtigkeit als Antriebskräfte der wirtschaftlichen Entwicklung auf Grundlage der internen Nachfrage als Motor zur Veränderung des produktiven und industriellen Modells sowie Stimulus für einen sozialen und unabhängigen Europäismus - erscheint mir als die beste Option für Spanien und Voraussetzung für den politischen Raum, der den politischen Kräften zukommt, die die Konservativen besiegen können."

Geht es noch deutlicher? Da ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne. Alles retro. Nicht zufällig ist bei Iglesias und seiner Podemos auch immer wieder überschwänglich von "la patria" gegen "la casta" die Rede. Es ist das alte linkssozialdemokratische Credo, das hier noch einmal linkspopulistisch leuchten will. Propagiert wird eine Politik, die meint, man könnte durch Neuauflage eines keynesianischen Staatsinterventionismus den Platz der alten Tante übernehmen. Kreisky, Brandt, Palme lassen grüßen.

Alles sei lediglich eine Frage des politischen Willens. Der Abstieg der Arbeiterklasse wird da eher auf strategische Defizite denn auf strukturelle Veränderungen zurückgeführt. Die griechische Syriza hat inzwischen tatsächlich die PASOK ersetzt, ohne freilich anders agieren zu können denn als Erfüllunsgehilfe der Brüsseler EU-Diktate. Mehr als traurig und tragisch ist das nicht.

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Die affirmative Revolte
Vom österreichischen Ausnahmefall zum europäischen Paradigma

von Franz Schandl

Was als alpenländische Absonderlichkeit seinen Anfang nahm, hat sich in den letzten Jahren zu einem gesamteuropäischen Phänomen ausgewachsen. Der sogenannte Rechtspopulismus ist mittlerweile von veritabler Größe. Auch der Schlüsselstaat Deutschland scheint das im Eilzugstempo nachzuholen. Prototyp und inzwischen entwickeltste Kraft ist aber immer noch die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ).

Der Prototyp

Die Geschichte beginnt im September 1986. Auf einem dramatischen Parteitag eroberte der junge Jörg Haider die Spitze der FPÖ. Von da an ging es bergauf. Abgesehen von Dellen, eilte man von Erfolg zu Erfolg. 1999 war es schließlich gelungen, die ÖVP bei den Nationalratswahlen zu überholen und zur zweitstärksten Kraft des Landes zu avancieren. Bereitwillig überließ man dem gedemütigten Verlierer, der konservativen Volkspartei den Vortritt und inthronisierte Wolfgang Schüssel zum Kanzler einer ÖVP-FPÖ-Regierung.

In den folgenden fünf Jahren kollabierten die Freiheitlichen weniger deshalb, weil sie auf der Ebene der Regierungsbeteiligung entzaubert wurden und versagten (das auch), sondern primär deswegen, weil Haider durchknallte. Der Egomane hatte sich nicht mehr im Griff und zerschlug gleich einem trotzigen Kind mutwillig sein Spielzeug. Er demontierte seine eigene Regierungsmannschaft und spaltete die Partei in FPÖ und BZÖ. In einem "Reinigungsprozess" trennte man sich von den "Treulosen". Dass Haider 2008 dann schwer alkoholisiert in überhöhtem Tempo verunglückte, komplettiert dieses Bild eines Rasenden.

Die wahre Sendung des Jörg Haider war eine Soap Opera, inklusive theatralischem Abgang. In den von allen Medien abgespulten freiheitlichen Reklameblöcken hatte gar vieles Platz: der Musikantenstadl, die Disko, Hollywood, das Abendland, Saddam Hussein, die Kriegsteilnehmer, alle Anständigen und Fleißigen, die Nazis, österreichische Schirennläufer, das Bundesheer, die Kronen Zeitung, der Standort, Bungee Jumping, Schnellfahren, der Alpinismus, der Fitnesskult, die Seitenblicke, u.v.m. Es glich einem Husarenritt durch Events und Eventualitäten. Stets setzte da einer auf das, was in ist, auch wenn sich das oft ganz kontrafaktisch als Tabubruch gestaltete.

Es verging kaum ein Monat, in dem Haider nicht irgendetwas einfiel, das er einer staunenden, aber anfälligen Menge servierte. Diese Steilvorlagen rutschten als PR-Matrizen in diverse Vervielfältigungsmaschinen. Haider bediente gerade ob seiner ultimativen Schärfe die quotengeilen Medien am besten. Diese fungierten wie verfolgende Gefolgschaften. Kaum rief der Meister, waren die Multiplikatoren zur Stelle. Selbst wenn sie ihn nicht mochten, (be)achteten sie doch niemanden so wie ihn. Es war eine populistische Symbiose zu beiderseitigem Nutzen: Er steigerte ihre Auflagen, sie steigerten seine Stimmen.

Die Nähe zu Starmania ist bestechend. Das Johlen, Stampfen, Kreischen der Fans basiert auf einer ganz spezifischen mentalen Grundkonstitution, es ist kein gewöhnliches Interesse. Die Anhänger fragten auch nie "Warum?", sondern "Gegen wen?". Sie brauchen einen Feind, er bestimmt ihre einfältige Identität. Das Wir definiert sich durch die Anderen. Haider verführte nicht, er führte auf. Haider verhetzte nicht, er hetzte auf. Was da abging, war vorhanden, es wurde nicht geschaffen, sondern geweckt. Ein Publikum im Zustand der Herde wird in Wut versetzt und somit zur Horde. Weniger auf Straßen und Plätzen als an den Urnen und den Apparaturen diverser Medien. Die erst im Aufstieg begriffenen neuen, also die asozialen Medien, sollten diese Entwicklung noch toppen.

Quote und Event

Wenn ich in die Wiener U-Bahn steige und mir etwa die Gratisgazetten Österreich und Heute zu Gemüte führe, dann blättere ich in freiheitlichen Werbeprospekten. Die Zeitungsfabrikanten wissen zwar nicht, was sie da tun, aber sie erledigen es rücksichtslos. Populismus und Kulturindustrie funktionieren ähnlich. Man denke an die Gleichheit der Instrumentarien: Personalisierung, Skandalisierung, Quote statt Qualität, Ansage statt Aussage, Promis statt Profis, Infotainment statt Information, permanente Inszenierung, Benennen von Schuldigen. Gesetzt wird auf das Spektakel.

Ein Grundmerkmal des heutigen Populismus ist, dass sich die Kulturindustrie (alte und neue Medien, Public Relations, Werbung, Unterhaltung, Popkultur, Fernsehen, Film) der Politik bemächtigt hat, dass diese nicht nur auf solche Mechanismen zugreift, sondern diese Mechanismen die Politik fast vollständig ergriffen haben. Der Modus der Kulturindustrie ist zum Gebot, ja zum Formzwang von Demokratie und Politik geworden. Programmatik lässt sich eher an Fernsehprogrammen oder Computerspielen ablesen als in politischen Erklärungen. Serienhelden dienen als Matrizen für Parteiführer. Populisten reproduzieren sich als mediale Idole. Populisten werden zu Stars, Anhänger zu Fans, ja zu hörigen Gefolgsleuten. Man denke an die Regie der FPÖ-Parteitage unter Jörg Haider, die heute gar nicht mehr als besondere Veranstaltungen auffallen würden, weil die anderen Parteien Ähnliches pflegen. Haider agierte dort als Showmaster.

Die trauen sich was. Die sind nicht Mainstream. Die sagen es ihnen rein. Die lassen sich nichts gefallen. Populisten erscheinen als die wahren Rebellen und Tabubrecher. Dabei wirken sie frischer und frecher als ihre Kontrahenten. Sie öffnen Ventile, wo andere sie zuhalten. Anhänger Haiders waren weniger als rechte Recken zu typisieren, sondern als Fans eines alpenländischen Rockstars. Die Parteispitze wurde modisch zugeschnitten, in ihrem Auftreten erinnerte sie kaum an eine Retrotruppe des Faschismus. Auch die Blasmusik wurde auf den großen Events zusehends von hymnischer Rockmusik abgelöst. Aufgemascherlt und durchgestylt, so präsentierten sich die freiheitlichen Spitzen, insbesondere Haider. Statt aggressiv hinterwäldlerisch nun postmodern impertinent. Auf jeden Fall showtauglich. Österreich war nicht hinten nach, sondern vorneweg. Haider kein Mann von Gestern, sondern die Inkarnation des Morgen. So zumindest sah er es und ebenso sein Fanclub, der immerzu wuchs.

Auch unter Heinz-Christian Strache wurde das beibehalten, wenngleich die Inszenierung an Theatralik und Unberechenbarkeit verloren hat. Haiders Nachfolger ist intellektuell ein kleineres Kaliber, dafür ist er aber psychisch um einiges stabiler als sein Vorgänger. Die Erfolgsgeschichte auf Haider zu reduzieren, erwies sich spätestens dann als falsch, als es dem gelernten Zahntechniker Strache gelungen ist, die Partei ab 2005 zu konsolidieren und ihren Wiederaufstieg einzuleiten. Der ist bisher ungebrochen.

Politik (und insbesondere Wahlkampf) ist Show, nicht bloß auch, sondern immer mehr nur. Die USA spielen diesen "democratic circus" (David Byrne) schon länger vor, der alte Kontinent ist da etwas weiter hinten, aber Österreich ist in Europa durch die Haiderei durchaus Avantgarde gewesen. Die Installierung von Laune und die Mobilisierung von Stimmungen samt deren Verwandlung in Stimmen ist die der Marktwirtschaft analoge Aufgabe der Politik. Im Populismus wird diese beständig an die Werbung und deren Praktiken angepasst. Diese fortschreitende Kommerzialisierung der Politik ist in der Parteienkonkurrenz selbst angelegt. Kulturindustrielle Politik ist ein Selbstlaufmechanismus, der nicht zu hintergehen ist. Wird er hintergangen, wie das etwa Jeremy Corbyn und Benoît Hamon versuchen (und dafür ist ihnen trotz mangelnder Perspektive Respekt zu zollen), dann endet das böse.

Synchrone Sirenen

Klassische Interessen treten zusehends zurück. Ohne den kommerziellen Klamauk kann Politik in der Medien- und Eventgesellschaft nicht mehr existieren. Populistisch ist Politik sowieso, nicht nur die der bevorzugt als Populisten bezeichneten. Ästhetisierung der Politik ist kein ausschließlich faschistisches Kriterium, sondern ein durch und durch bürgerliches Merkmal, das immer deutlicher zutage tritt und Politik zusehends als großes Situations- und Simulationstheater ausweist. Ästhetisierung der Politik korrespondiert freilich mit einer Anästhetisierung der gesellschaftlichen Probleme. Wähler kommen über das Unbehagen kaum hinaus, stehen dem Treiben bewusstlos gegenüber und flüchten bestenfalls in die Verdrossenheit. Der Kärntner Landeshauptmann war lange Zeit jener (Post)Politiker, der dem kulturindustriellen Anforderungsprofil am besten entsprochen hat. Er glich einer Sirene, weitere folgten.

Diese gar nicht so heimliche Korrespondenz wird in der Kritik des freiheitlichen Populismus konsequent verdrängt. Analysen zur FPÖ sind meist vergangenheitsfixiert und versteifen sich auf historische Parallelen. Stets suchen sie die Gründe für den Aufstieg in einer mangelhaften Aufarbeitung des Nationalsozialismus und im positiven Rekurs freiheitlicher Funktionäre auf ebendiesen. Da fündig zu werden, ist nicht schwer. So behauptete Haider eine "ordentliche Beschäftigungspolitik" der Nazis, bezeichnete KZs als "Straflager", schwadronierte über "charakterlich anständige" SS-Männer, und setzte das Schicksal der Sudetendeutschen mit jenen der Juden gleich. Da wurde wenig ausgelassen. Ganze Anti-Haider-Bücher wurden mit seinen Zitaten vollgeschrieben.

Die Freiheitlichen wurden und werden jedenfalls in geradezu obsessiver Manier als Wiedergänger des Nazismus und weniger als Exponenten aktueller Entwicklungen interpretiert. Enthüllungen und Demaskierungen bringen aber wenig ein. Die FPÖ zu entlarven führte im Gegenteil zu einem Surplus an Aufmerksamkeit. Die Angegriffenen inszenieren sich als Opfer und ihr Publikum sieht das ebenso. Selbst dass die Skandalquote der Saubermacher weit über dem Durchschnitt liegt, tangiert kaum. Jede Affäre macht sie stärker.

Die meisten Wähler wählen FPÖ nicht, weil sie auf faschistische Akzente setzen. Andererseits ist es ihnen auch egal, dass diese dort gepflegt und gehegt werden. Die Sympathisanten sind in ihrer Mehrheit weder Faschisten noch Antifaschisten, sie sind von der indifferenten Sorte, fragmentierte und diffuse Wesen, auf opportunistische Reflexe trainiert, knetbar, aber doch von sich überzeugt. Einen Führer brauchen jene, die sich nicht auskennen, aber genau wissen, wo es lang geht. Der Fanatiker ist der Idealtypus des Affirmatikers: loslassen, losbrüllen, losschlagen. Die Frage, was eine Menge zum Mob macht, darf aber nicht vornehm ausgeschieden werden. Sie ist von essenzieller Bedeutung.

Irgendetwas muss doch in dieser Gesellschaft basal verankert sein, das einen solchen Massenmob entstehen lässt. Die Mobilisierten sind nicht grundlos so, wie sie sind. Sie haben viele Gründe, da mag auch einer schlechter sein als der andere. Aufgrund seiner festen Verankerung im Alltag darf die Analyse des Populismus nicht auf die Politik verengt, ja nicht einmal auf sie zentriert werden. Reproduktion und Produktion verhalten sich aggressiv gegenüber der Masse, und man darf sich daher nicht wundern, dass diese sich ihrerseits aggressiv verhält. Viele spüren das, da mögen sie noch so wenig begreifen.

Liberale Kommentatoren haben nicht unrecht, wenn sie davor warnen, the ordinary people über Volksabstimmungen unmittelbar entscheiden zu lassen: Direkte Demokratie führe geradewegs in autoritäre Verhältnisse. Wenn die Volksleute kein Blatt mehr vor den Mund nehmen (müssen), geht das wirklich so aus. Freilich stellt sich wiederum die Frage, warum denn diese Menschen sich so verhalten wie sie es tun. Warum schlägt der Liberalismus nicht auf sie durch, wie dieser es wünscht? Warum laufen sie ganz freiwillig in die Arme des Autoritarismus? Warum ersetzen die Anfälligen Affirmation so selbstverständlich durch Überaffirmation und nicht durch Kritik? Und spricht das nicht dezidiert gegen die herrschenden Annahmen von freiem Willen und freier Meinung, wenn sich derlei Exponate so automatisch als autoritäre Trolle entpuppen? Blamiert sich da nicht auch die stets unterstellte Freiheit selbst? Ist sie vielleicht gar eine Erfindung der Staatsbürgerkunde? Und deren Bücher Märchenbücher?

Die Angeklagten sind ja nicht sie selbst, sondern seriell hergestellte Objekte bürgerlicher Zurichtung, ideologisierte Massenware personifizierter Natur, Dividuen wie Günther Anders sie nannte. Rassismen und Ressentiments, die sie verkörpern, sind ihnen nicht entsprungen sondern eingeimpft. Sie sind nicht Abschaum, sie sind bloß Schaum. Sie rapportieren und apportieren. Die liberale Abschätzigkeit, mit denen ihnen begegnet wird, blendet konsequent deren Konstitution aus. Man will es gar nicht wissen, sondern nur konstatieren. Dass diese Missachtung wiederum mit Verachtung bestraft wird, ist durchaus logisch. Möglicherweise haben die, die allesamt falsch liegen, gegeneinander durchaus recht.

Wut des Gegenwärtigen

Fiel der Faschismus noch in die Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus, so ist der sogenannte Rechtspopulismus Folge seines Niedergangs. Dessen Aggressivität ist mehr defensiv als offensiv, er will exkludieren, nicht inkludieren. Nicht einmarschieren, sondern ausweisen, ja gar nicht erst reinlassen. Da die Festung Europa indes nicht gelingen will, möchten gar viele zurück in die scheinbar sichere Burg des Nationalstaates. Folge ist ein anachronistischer Nationalismus. Indes, wer stolz verkündet: "Wir sind Europäer", der hat den Nationalismus nicht hinter sich gelassen, sondern lediglich auf eine neue Ebene verfrachtet. Dass gerade die Europäer keine Rassisten seien, ist Unsinn. Nicht nur historisch, sondern auch aktuell. Frontex hat keine andere Qualität als der Stacheldraht an den nationalen Grenzen.

Stete Verweise auf die Geschichte lenken von der Gegenwart ab, schalten diese weg und negieren die aktuellen wie reellen Motive und Ängste des Publikums, nicht bloß diejenigen der freiheitlichen Anhängerschaft. Jene den Menschen abzusprechen, ist auch Unsinn. Nur weil das Unbehagen heute meist ins Ressentiment kippt, heißt das nicht, dass das Unbehagen unberechtigt wäre. Zweifellos ziehen diese Leute die falschen Schlüsse, aber sie ziehen zumindest Schlüsse, während die gesellschaftliche Mitte und auch ihr linker Appendix meinen, es könne und müsse so weitergehen.

Die wahre Kraft des Rechtspopulismus speist sich aus seiner ungeheuren Synchronität. Politiker wie Trump, Le Pen, Orbán, Strache sind im Moment so erfolgreich, weil sie als Proponenten anschlussfähig erscheinen. Kein großer Betrieb, der nicht von Machern geführt wird, keine Sendung, die nicht auf Helden, Stars und Promis abstellt. Charismatische Phantome treten auf als kollektive Halluzinationen. Auch wenn diese (insbesondere für kritische Geister) nicht nachvollziehbar sind, sie werden massenhaft vollzogen. Da sie viele überfallen, sind sie effektiv. Abfahren. Aufschauen. Anhimmeln. Autorität wird als befreiend erlebt. Donald Trump etwa kann inzwischen jedes kontrafaktische Gerücht verbreiten, ohne dass es ihm schadet.

Die genannten Typen sind am kompatibelsten mit dem aktuellen kapitalistischen Betriebssystem, insbesondere dessen kulturindustriellen Standards. Sie entsprechen den Maximen von Werbung und Marketing, von Autorität und Führung am besten. Man müsste daher den gesamten Komplex aus Medien und Reklame, Management und Marke, Politik und Entertainment einer kritischen und übergreifenden Analyse unterziehen. Aber über dieses kollusive Parallelprogramm wird nicht geredet, da ginge es wirklich ans Eingemachte. Die Fernsehkanäle, die Abstiegsängste, die entfesselte Konkurrenz, das endlose Ranking, die grassierenden Evaluationen, die galoppierende Entsicherung des sozialen Gefüges, die unendlichen Kloaken der neuen Medien. Prekarisierung, Flexibilisierung, Virtualisierung, Deklassierung, Atomisierung, das alles ist Nektar für den Rechtspopulismus. Er liegt im Tempo der Zeit.

Dumpf ist die Wut, aber entschieden. Wut ist eine primitive Regung, vor allem weil sie blind oder besser noch: blindwütig ist und nicht zum Begriff ihres Gegenstandes vordringt. Menschen greifen auch nicht zur Wut, sondern die Wut ergreift oder besser noch überkommt die Leute. Der Populismus reagiert mit Reflexen, nicht mit Reflexion. Er ist ganz affektgesteuert. Es ist die Wut des Gegenwärtigen, die sich hier fortwährend entlädt und gegen die die herkömmlichen Agenturen und Apparate in Machtlosigkeit erstarren. Indem die etablierten Kräfte den Forderungen nachgeben, verschaffen sie jenen zusätzliche Legitimation. Aber tun sie es nicht, ist das Resultat kein anderes.

Sieht man sich die Inhalte an, verkörpert der Rechtspopulismus eine zutiefst affirmative Revolte. Kritik ist ihm völlig fern. Populisten sind nicht anders, sie sind bloß extremer. Nicht Weg von dem ist die Parole dieser Unzufriedenheit, sondern Mehr von dem. Die Wut des Gegenwärtigen sieht die Lösung in der Verschärfung. Typische Merkmale sind:

Erstens: Eine stramme abendländische Ausgrenzungspolitik, die zwischen rabiatem Regionalismus, renoviertem Nationalismus und modernem Eurochauvinismus changiert. Ja zum Standort und zur Festung Europa. Grenzen dicht. Ausländer raus. Wir gegen die.

Zweitens: Ein Antikapitalismus des dummen Kerls: Missstände und Verwerfungen werden personifiziert und bestimmten "Sündenböcken" angelastet. Schuld sind Politiker, Bürokraten, Bonzen, Sozialschmarotzer, Spekulanten, Banker, Juden, Gauner, Abzocker.

Drittens: Ein fanatischer, klassenübergreifender Glaube an die produktive und wertschaffende Arbeit: In diesem Kult des kleinen Mannes darf der fleißige Inländer nicht um seinen Ertrag geprellt werden. Arbeitswille ist Pflicht, Arbeitsverweigerung ein Verbrechen. Arbeit und Leistung werden einmal mehr glorifiziert.

Liberalismus versus Populismus?

Aufgeklärte Kräfte sprechen heute kaum noch von der Überlegenheit bestimmter Völker, etwa dass die Deutschen fleißig und die Griechen faul seien. Das wäre ja rassistisch. Gesprochen wird vielmehr von Siegern und Verlierern im Kampf der Standorte. Ihr Wert, in diesem Fall Minderwertigkeit und Mehrwertigkeit, soll ausschließlich ökonomisch fixiert werden. So zumindest der liberale Konsens, der gemeinhin nicht als rassistisch gilt. Der Rechtspopulismus erkennt das auch an, er möchte nur eine zweite Schiene, also nationale Kriterien einziehen, um bestimmte Leute zu schützen und andere zu diskriminieren. An Wert und Wertigkeit jedoch, an Markt und Kapital nehmen beide Positionen keinen Anstoß. Sie sind ihnen vorausgesetzt.

Substanzielle Identitäten zwischen Liberalismus und Populismus werden konsequent ausgeblendet, und zwar sowohl im Gemeinverständnis als auch in den wissenschaftlichen Analysen. Sie bleiben im Dunkeln, obwohl sie so offensichtlich auf der Hand liegen: pro Markt, pro Arbeit, pro Leistung, pro Konkurrenz, pro Wachstum, pro Sozialdumping, pro Geld, pro Automobilisierung. Die Basis ist dieselbe. Der Populismus will alles viel schärfer haben. Er ist der Komparativ der Konvention.

Schuld wird bei beiden personalisiert, die Rede ist nicht von gesellschaftlichen Konstellationen, sondern von persönlichen Defiziten ("Ich bin schuld") oder festmachbaren Sündenböcken ("Die sind schuld"). "Jeder ist seines Glückes Schmied", trompeten die Liberalen aller Lager, gehen sie ja davon aus, dass freie Mitglieder einer freien Sozietät eine freie Meinung haben und auch die Möglichkeit frei zu handeln gegeben ist. Ist für den Liberalismus immer der einzelne schuld, wenn aus ihm nichts wird, wenn die Karriere nicht aufgeht, wenn er sozial abstürzt, so sind beim Populismus immer die anderen schuld. Der Populismus verweist auf dunkle Mächte und Machenschaften, die dem braven einzelnen, dem arbeitsamen und rechtschaffenen Bürger das Leben schwer machen.

Im Kult des Bürgers treffen sie sich ebenfalls. Im Zentrum beider Sichtweisen stehen Akteure, die mit einem Willen ausgerüstet sind. Dass diese ein jeweils spezifisches Ensemble der gesellschaftlichen Bedingungen abbilden, über das Wille, Meinung und Möglichkeit kaum hinausreichen, wird in dieser plumpen Denkerei völlig negiert. Hörige werden für mündig erklärt. Diese "Individuen" sind allerdings bloß Subjekte (im Sinne von Unterworfenen). Ihr In-sich-Reflektiertes ist primär Ausdruck ihrer besonderen sozialen Konditionierung. Diese muss ins Blickfeld, nicht bloß deren Resultate. Dem Liberalismus ist übrigens nicht vorzuwerfen, dass er auf das Individuum setzt, sondern dass er schlicht dessen Existenz schon behauptet. Individuelles mag möglich sein, aber Individuen sind wir noch keineswegs. Wie sollte das auch gehen?

Der Liberalismus als dominierende Ideologie der sogenannten Werte hat eine ganz eigene Rationalität. Dass der Kapitalismus trotz desaströser globaler Bilanz noch immer nicht als gemeingefährlich eingestuft wird, ist vorrangig seiner Hegemonie in den Köpfen zuzuschreiben. Nicht, dass die Leute ihn unbedingt wollen, aber sie können sich nichts anderes vorstellen. Die etablierte Politik behauptet von sich, rational zu sein, während der Populismus irrational sei. Das ist bequem. Doch in Wahrheit hat erstere nur den Sachzwang von Markt und Kapital verinnerlicht. Dieser ist nichts anderes die Rationalität der kapitalistischen Irrationalität. Diese Vernunft ist nicht so vernünftig, man denke an die verheerenden Folgen der Sachzwänge (Deklassierung, Arbeitslosigkeit, Raubbau der natürlichen Ressourcen, Entwertung und Entwürdigung durch Arbeit, Altersarmut und Hunger, Problemverschiebungen in die Zukunft etc.). Permanent setzt hier die unsichtbare Hand des Marktes unhintergehbare Präferenzen. Dieser Okkultismus des Liberalismus stöhnt regelmäßig beschwörend auf: "Was sagen die Märkte?" Freiheit und Offenheit meint Unterwerfung. Wir sind dann die, die antworten und verantworten sollen, was die Märkte uns sagen.

Auch der allseits gepriesene Pluralismus, der etwa von Jan-Werner Müller so hervorgehoben und gegen den Populismus ins Feld geführt wird, verschweigt, dass der Liberalismus selbst eine totalitäre Struktur von Markt und Geld, Arbeit und Verwertung entwickelt, diese intus hat und als Natur anpreist. Was man kaufen will, darf man sich aussuchen, dass man kaufen muss, nicht. Geld zu haben ist Pflicht, hat mit Neigung vorerst nichts zu tun. Hier ist alles apriorisch vorgegeben. Da findet jeder Pluralismus sein kategorisches Ende. Dass dieser kapitale Fetischismus gar nicht als solcher auffällt, ist Folge des allgemeinen Verblendungszusammenhangs, der wie eine unsichtbare Matrix über der Gesellschaft hängt und gemeinhin als unhintergehbare Realität wahrgenommen wird.

Rache der Immanenz

Der Liberalismus vereinigt blanke Affirmation und seichte Kritik zu einem allgegenwärtigen Gebräu. Die Anschlussfähigkeit lässt zwar nach, aber jener beherrscht nach wie vor weite Teile der Kulturindustrie, d.h. alte und neue Medien, Hochkultur, Popkultur, Werbung und vor allem die öffentlichen Sprachregelungen. Der Populismus hingegen ist ein Querschläger, die grobe Rache der Immanenz. Im Populismus kämpft das System gegen das System selbst. Von allem, was wir satt haben sollten, will er noch mehr. Eine zentrale Aufgabe des Populismus besteht insbesondere darin, die Politikverdrossenen wieder zurückzuholen, was teilweise gelingt. Dem Populismus ist nicht vorzuwerfen, dass er die Leute aus dem System führt, sondern das Gegenteil, dass er sie gerade inbrünstig auf dieses festlegt. Insofern stellt der Populismus einen Faktor der Re-Integration in Staat und Markt dar, nicht einen Faktor, der diesen Kosmos sprengt.

Beide Seiten sind sich in ihrer ungewollten Allianz aber einig, dass Liberalismus und Populismus nichts miteinander zu tun haben. Ihre Verwandtschaft ist ihnen zutiefst unangenehm, sodass sie diese verdrängen und verleugnen. Auch hier regiert die große Verblendung. Liberalismus als auch Populismus beschwören beide die herrschende Konvention, geradezu frenetisch spielen sie auf der Stalinorgel der abzufeuernden Werte. Liberalismus gegen Populismus, das ist eindeutig die falsche Frontlinie. Es ist uns daher völlig unverständlich wie Jan-Werner Müller behaupten kann, dass "der Populismus per definitionem antiliberal" ist. (NZZ, 16. März 2012, S. 50) Das trifft seinen Kern nicht.

Apologeten der Mitte bis weit nach links feiern den Liberalismus als "offene Gesellschaft". Eine seiner aggressivsten Sorten ist übrigens das Antideutschtum. Ganze Kohorten von sich linksradikal gerierenden Youngsters sind davon befallen. Immer lauter wird dieses geisterhafte Geschrei von freedom and democracy. Die alte Arbeiterbewegung erkannte oder zumindest fühlte sie noch ihre Unterdrückung, die sie durch Anpassung und Reform nicht nur erträglich, sondern auch ertragreich gestalten wollte. Stets tauschte sie Unterwerfung gegen Sicherheit, sowohl in Fabriken und Büros als auch in Partei und Gewerkschaft. Doch die Sicherheit ist perdu und die ledige Unterwerfung wenig anheimelnd. Da ist man bereit (sich) zu opfern und zu gehorchen und dann das! Kränkung ist die Folge, doch Kränkung ist ein schlechter Ratgeber. Entsicherte Subjekte schreien nach Halt. Sie mögen ihre Drangsalierung falsch einschätzen, aber im Gegensatz zu den Liberalen, die ihnen die Angst ausreden möchten, spüren sie das Leid.

Verstoßene autoritäre Persönlichkeiten suchen vorerst nach anderen Autoritäten und nicht nach Alternativen zur Autorität. Da kommen die Rechten gerade richtig. Für die Gefährdeten gilt wohl, was Jörg Flecker und Sabine Kirschenhofer schreiben, "dass sie ihre Arbeitsorientierung, die Arbeit als Pflicht und Selbstverständlichkeit verstehen, und das Leistungsprinzip so stark verinnerlicht haben, dass es ihnen sehr schwer fällt, andere Orientierungen und Lebensentwürfe zu akzeptieren. Unter dem Eindruck wirtschaftlicher Bedrohungen kann sich diese Haltung zur Aggression gegen so genannte Minderleister steigern. Dahinter steht nicht nur, dass man andere an den Anforderungen misst, denen man sich selbst unterworfen hat. Maßgeblich ist auch die Überzeugung, dass das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens und des `Standorts` und damit der eigene Wohlstand davon abhängen, dass alle deutlich mehr leisten wie bisher." (Die populistische Lücke. Umbrüche in der Arbeitswelt und Aufstieg des Rechtspopulismus am Beispiel Österreichs, Berlin 2007, S. 150) Es herrschen Misstrauen und Missgunst. Die erste Krisenreaktion besteht in der Intensivierung der Affirmation, nicht in deren Infragestellung.

Aufgeben oder ...

Vielleicht sollten wir uns mit der Erkenntnis anfeinden, dass der Kapitalismus der Zukunft nur noch autoritär geführt werden kann, die "illiberale Demokratie" (Viktor Orbán) seine zentrale Perspektive und Botschaft darstellt, Rechtsstaat und Sozialstaat abgerüstet werden, Simulation und Plebiszit den Rest erledigten. Das ist freilich eine düstere Aussicht, indes ist es genau das, was sich im Osten Europas bereits durchsetzt und auch im Westen des Kontinents sich abzeichnet. Vergessen wir auch nicht Russland, die Türkei, die USA, die Philippinen. Die passen alle in dieses Szenario populistischer Demokratisierung. Mehrheiten schaffen und sichern diese Regimes. Zumindest vorerst. Die sogenannte Zivilgesellschaft mag bremsen, aber mehr vermag sie nicht. Illiberale Demokratie ist übrigens ein treffender Begriff, sich darüber zu echauffieren, unsinnig. Demokratie, deren Recht vom Volk ausgeht, will genau dort hin.

Dass das Establishment keine Perspektiven hat, ist offensichtlich. Der Autoritarismus der Rechten hingegen wird als Zauber der Zeit wahrgenommen und nicht als das, was er ist, ein hilfloser aber gefährlicher Ausdruck struktureller Krisen. Die systemkritische Linke erscheint in diesem bösen Spiel entweder als Vertreter der Ohnmacht oder als Anhängsel der Macht. Das sind undankbare bzw. fatale Rollen. Die Verteidigung des Gegebenen ist jedenfalls kein Konzept, geschweige denn ein Programm. Wird sie zur Notwendigkeit, dann ist dem eine elementare Niederlage der Emanzipation vorausgegangen.

Die Euro-Rechte steht ante portas. Der Aufstieg solcher Kräfte ist, sollten sich die sozialen Verhältnisse nicht grundlegend Richtung solidarische Gesellschaft ändern, unaufhaltbar. Die Abwehrschlacht, das Nie wieder! der sogenannten Anständigen wird letztlich verhallen. Das prallt an den Leuten ab, da finden sie sich nicht wieder. Vor allem sehen sie im Weitermachen keine Perspektive. Der Status quo ist nicht Schutzwall, sondern Vorstufe. Es ist die Demokratie, die sich in den Populismus steigert. Ergo ist die Frage zu stellen, ob es einen isolierten und fokussierten Kampf gegen die Rechte geben kann und soll. Die Auseinandersetzung sollte sich auf das System konzentrieren und nicht auf dessen falschen Feinde der affirmativen Revolte.

... Aufgaben

Einfach gegen eine "Politik der Gefühle" zu wettern, bedeutet den Rechten Affekte und Empfindungen zu überlassen. Wohl gilt es zu emotionalisieren. So gesehen geht jeder grundlegenden Befreiung ein mentaler Sprung voraus. Das Antipathische der bürgerlichen Subjekte, d.h. der Konkurrenzmonster, wäre in das Sympathische zu überführen, eine andere Welthaltung zu verankern. Güte sollte Feindseligkeit ersetzen.

Im Prinzip geht es darum, zwar Rücksicht auf die Personen, aber keine Rücksicht auf ihre Positionen zu nehmen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die augenblicklich alle Träger und Überträger übersteigt und überfordert. Solange sich die "kleinen Leute" als kleine Leute begreifen, sind sie höchstens zum Größenwahn fähig, aber nicht zur Größe. Ihre Selbstermächtigung entspringt sodann einer Fehlemotionalisierung, die sich nicht gegen ihre Konditionierung als Underdogs richtet, sondern dieser unbedingt entsprechen will. Man will bleiben, was man ist, nicht sich und die Gesellschaft ändern. Man munitioniert sich daher mit den reellen und ideellen Waffen des bürgerlichen Trottoirs.

Varianten "eherner" Konkurrenz sind eindeutig und endgültig abzustreifen. "Jeder gegen jeden", und "Wir gegen die", sind von der Tagesordnung abzusetzen. Wir wollen nicht mehr. Im Gegenteil: Wir sind für uns alle zuständig, wir haben auf alle zu schauen, niemand soll unter die Räder kommen. Und das ist global zu denken. Gegen die, also uns selbst, aufzumarschieren. Emotionalisierung ist dringend notwendig. "Zu uns" statt "Gegen die" ist die ganz einfache Option. Zu uns haben wir zu kommen. Nur mit dieser Einstellung kann es gelingen, eine apriorische und ausreichende Empathie zu entwickeln. Dagegen ist der politische Kampf gegen den Populismus aussichtslos, ist dieser doch selbst eine Endmoräne der Politik.

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2000 Zeichen abwärts

Businessidee Schmuckdiktatur

von Dominika Meindl

Die Sehnsucht nach dem starken Mann, der Wunder verspricht, ist groß. Fast genauso groß wie die Sehnsucht nach einer flippigen Urlaubsdestination. Hier ein Vorschlag zur Güte und zwecks Weltrettung: Wenn das Volk nun so nach autoritärer Führung lechzt, warum ihm dann nicht eine Diktatur schenken? Denken Sie nicht gleich an Hitler oder Stalin, denken Sie zeitgemäß, think business! So eine konstruierte Despotie ließe sich nämlich touristisch prachtvoll nutzen. Theatralisch ausgelebte Monarchien sind sehr beliebt. Ich verfüge selbst über Sisi-und-Franz-Würzstreuer sowie britische Plastik-Kronjuwelen. Errichten wir also ein Despotie-Disneyland, eine Schmuckdiktatur! Umkränzen wir ein Areal (Pinkafeld? Braunau? Hermagor?) mit einer "baulichen Maßnahme" und setzen einen Tyrannen-Darsteller mit bunten Persönlichkeitsstörungen hinein. So wie sich Bokassa als 13. Apostel oder Gaddafi als Wüsten-Michael-Jackson inszenieren ließen. Eine pittoreske Geisteskrankheit gehört wesentlich zur Job-Description eines Despoten. Viele Demokratiefeinde werden vom Volk gestürzt, weil ihr Privatleben nur fahl schimmert. Wenn sich sonst niemand findet, spiele ich meinetwegen die durchgeknallte Herrscherin. Es könnte in Richtung Wahabismus gehen, mit freitäglichen Scheinhinrichtungen und Fahrverbot für Männer. Oder Bewunderungsshows mit Massenchoregraphien - tausende Narzissen in Meindlform schwimmen auf dem Neusiedlersee, die Bevölkerung Braunaus formt eine Silhouette, die mir gleicht, die zahlende Gäste von oben aus dem Helikopter bestaunen.

Die Einreise muss schwer und teuer, aber möglich sein. Schnell hat man die Ultra-Individualtouristen da, denen Somalia und Tschernobyl schon zu mainstream sind. Am Abend, wenn die Touristen wieder ausgeflogen sind, öffnen wir die Zauntüren, laden einander zum nachbarschaftlichen Grillen (mit Salat) und lachen über unseren pfiffigen Schwindel, dass uns die Bäuche wackeln. Alles wird gut!

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Dead Men Working

Ignoranz

von Maria Wölflingseder

Immer öfter beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Ein Gefühl, verursacht von Menschen, die durchaus dem kritischen oder linksliberalen Milieu angehören, von Wissenschaftlern, Publizisten, von Angehörigen der sogenannten "kritischen Intelligenz" (oder was davon übrig blieb). Von solchen, die auf ihrem Gebiet wegweisende Arbeiten vorlegen, aber dennoch auch große blinde Flecken offenbaren.

Wenn es um Populismus geht, stehen meist Ideologien, Politiker, Parteien und ihre Wählerschaft im Zentrum der Betrachtungen. Die tieferen Ursachen, warum Populismus zur Zeit auf großen Zuspruch stößt, bleiben häufig unterbelichtet. Vielfach wird lediglich in moralisch verwerflicher Manier gekontert, indem Rassismus, Irrationalismus, Fanatismus und Demokratiefeindlichkeit angeprangert werden. Beginnt hier die Ignoranz, die den auf der Strecke der Globalisierung Gebliebenen entgegengebracht wird? Ergebnissen der Ungleichheitsforschung zufolge (vgl. z.B. Branco Milanovic) sind die Reichen weltweit und die Mittelschicht in Asien Gewinner der Globalisierung, während zu den Verlierern die Arbeiterschicht und die Mittelschicht in den USA und in Europa gehören. Milanovic sieht darin einen wesentlichen Grund für den Populismus. - Durch die eigene Betroffenheit bin ich quasi zu einem Messinstrument geworden, das verstärkt wahrnimmt, wie die Umgebung auf die Abgehängten reagiert. Wie sich das Leben unter verschärften Bedingungen gestaltet, vielmehr verunstaltet, das wird von den anderen gekonnt ausgeblendet. Ein gespenstisches Gefühl, wie unter einem Glassturz. Doppelte Ächtung: je mehr einem die ökonomische Existenzgrundlage entzogen wird, desto isolierter.

In den Medien wird zwar gelegentlich erwähnt, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgeht. Aber was heißt das? - Wenn du zu jung und unerfahren, zu alt und überqualifiziert bist, oder wenn dein Name "süd- oder ostländisch" klingt (auch wenn deine Familie längst in dritter Generation hier lebt) dann hast du wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Zahl der vollzeitbeschäftigten prekären Working Poor steigt stark. Viele "Neue Selbstständige" werden durch Burnout oder Panikattacken außer Gefecht gesetzt. Und zur Strafe "Arbeitslosigkeit" und "Prekariat" bekommst du schließlich "lebenslänglich": abzusitzen in der Armutsfalle "Pension zur tristen Aussicht", Begnadigung ausgeschlossen. - Im Zuge der Globalisierung ist die Nachfrage nach Human Resources, nach dem Produktionsfaktor Arbeit stark gefallen. Besonders starrsinnige Ignoranz herrscht angesichts der Tatsache, dass die Weltgesellschaft durch die digitale Revolution längst zu reich für die armselige kapitalistische Produktionsweise geworden ist. Auf diese Weise alle Menschen zu verwerten, ist weder möglich noch wünschenswert. Hingegen stünde die Globalisierung des Reichtums dringend an. (Und selbstverständlich eine völlig andere Art der Produktion.)

Ab Februar 2000 wurde in Wien zwei Jahre lang Woche für Woche gegen die neue schwarz-blaue Regierung demonstriert. Als ob die vorangegangene rot-schwarze so toll gewesen wäre. Als ob nicht von den USA über England bis nach Deutschland und Österreich überall die linksliberalen Parteien in den 1990er Jahren dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet hätten! Obendrein wurde von den Demonstranten die konkrete soziale Realität vieler außer Acht gelassen. Bis heute interessieren die bereits von Rot-Schwarz ersonnenen Schikanen der Arbeitsämter und Sozialbehörden gegen die Arbeitslosen niemanden. In den Medien gibt es kaum Berichte darüber - auch nicht in linksliberalen. Keine Gewerkschaft, keine Partei, auch nicht die Grünen machen sich daran die Hände schmutzig. - Merkwürdig, gegen die unweigerlichen Selbstzweifel hilft auch kein noch so großer Vorrat an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen! Wen wundert es, wenn viele aus dem Gefühl von Ohnmacht, Minderwertigkeit und Scham anfällig für populistische Ideologien werden.

Die einzigen "Hilfen", die von der Politik angeboten werden, sind all die blindwütigen Versuche von Antidiskriminierungsmaßnahmen bei gleichzeitig steigender realer Benachteiligung aufgrund ökonomischer Ungleichheit. Neben der Bildung allgemein stehen "Integration" und "Inklusion" hoch im Kurs. Jede und jeder Benachteiligte soll und muss eingegliedert werden. Selbst trotz eifriger Vermittlung von "Kompetenz" und "Empowerment" werden seit Jahren und Jahrzehnten immer mehr ausgeschlossen. Warum fällt denn dieser haarsträubende Widerspruch niemandem auf? Ist das übrigens nicht auch Populismus?

In den Medien ist öfter die Rede von der Angst, "den Lebensstandard nicht mehr halten zu können". Im Gegenzug wird oft beteuert - viele Ratgeber handeln davon -, dass es sich doch ohne all den Überfluss an Materiellem viel besser leben würde. Dabei wird geflissentlich übersehen, es geht mitnichten um Luxus. Wohnen, Heizen, Essen - das können sich viele nicht mehr leisten!

Apropos Ratgeber: Hätte es der Neoliberalismus jemals so weit gebracht ohne die Gigatonnen Schmiermittel an esoterischen Ideologien? Hier feiert die Ignoranz gegenüber den sozialen Fakten seit 30 Jahren bei Reich und Arm gleichermaßen fröhliche Urständ. Die beliebtesten Mantren: "Jeder ist seines Glückes Schmied." "Du schaffst dir deine Realität selbst." "Probleme aller Art sind karmisch bedingt, also auf dein früheres Leben zurückzuführen." Oder: "Wenn es dir finanziell schlecht geht, musst du nur deine Geldblockaden auflösen."

Wie schreibt Walter Grond treffend in seinem Buch "Mein Tagtraum Triest" über die Situation vor dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie: "Vielleicht ist es das Glück der Gegenwart, sich ein Ende nicht wirklich vorstellen zu können, und doch ist es gerade der Verfall, der uns herausfordert oder gleichgültig macht."

Ist die Präpotenz der Gleichgültigkeit nicht Zunder für den Populismus?

PS: Neulich sagte ich in der U-Bahn zu einem winkenden und Kusshände werfenden Kind: "Du bist aber charmant!" Darauf seine Mutter in resigniertem Ton: "Leider wissen das die Wenigsten zu schätzen!" - Das kann ich gut nachvollziehen: Wie durch Wasser schwebte ich früher durch Wien. Ein wonnig-nahrhaftes Bad in soviel schelmisch-verschmitztem Blickplankton. Das hat sich schlagartig geändert, seit die angespannte wirtschaftliche Lage und die Bretter vorm Kopf jede Aufmerksamkeit bannen.

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Reaktionäre Politisierung
Polens Regierung forciert den autoritären Umbau von Staat, Armee und Medien

von Tomasz Konicz

Wie sehr rechte Politik dazu tendiert, sich selbst ins Extrem zu treiben, kann derzeit in Warschau studiert werden. Polens rechtspopulistische Regierung, die von der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwo - PiS) um Jarosław Kaczyński gestellt wird, ist seit ihrem überraschenden Wahlsieg im Oktober 2015 vor allem darum bemüht, möglichst viel Macht zu akkumulieren und letzte bürgerliche "checks and balances" auszuhebeln. Nun ist das Militär an der Reihe. Anfang Februar 2017 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) über die anhaltenden Bemühungen des polnischen Verteidigungsministers, seine Machtbasis zu verbreitern - und die Streitkräfte des Landes voll auf Linie zu bringen. Polens Verteidigungsminister Antoni Macierewicz ließ zu Jahresbeginn die Schulungsakademie der polnischen Streitkräfte umbenennen, um deren Neuausrichtung auch symbolisch festzuschreiben: an der "Akademie für Kriegskunst" soll Polens Offiziersnachwuchs künftig geschult - und indoktriniert - werden.

"Schule der Nation"

Während politisch unzuverlässige Generäle reihenweise kaltgestellt oder in den Vorruhestand genötigt werden, versucht Macierewicz zugleich, die etablierten Hierarchien zu umgehen und direkte Abhängigkeiten aufzubauen. Binnen eines Jahres hat der stramm rechte Politiker rund 21.000 Armeeangehörige der niederen Dienstgrade - zumeist Soldaten und Unteroffiziere - direkt befördert, um so die Stellung ihrer Vorgesetzten zu schwächen. Eine Anhebung des Soldes machte Macierewicz noch populärer unter den Angehörigen niedriger Dienstgrade. Zugleich kündigte er an, dass Offiziere, die "zu kommunistischen Zeiten" ihre Ausbildung absolvierten, keine weiteren Karrierechancen hätten. Inzwischen ist gut ein Viertel der Generäle aus dem polnischen Generalstab hinausgedrängt worden. Die frei gewordenen Posten sollen mit linientreuen Bewerbern, ausgebildet in der "Akademie der Kriegskunst", besetzt werden.

Das Misstrauen der PiS-Führung gegenüber den Streitkräften, denen Macierewicz immer wieder mangelnde Verteidigungsbereitschaft vorwirft, geht aber weiter. Inzwischen sind Polens Rechtspopulisten dazu übergegangen, eine weitere bewaffnete Formation aufzubauen, die in der Lage sein soll, unabhängig von der Armee zu agieren. Bei der "Armee zur Territorialverteidigung" handelt es sich um eine Freiwilligenmiliz, eine "patriotisch" geschulte paramilitärische Formation, in der neben der Landesverteidigung auch ideologische Indoktrination stattfinden soll. Die mehr oder minder rechts ausgerichteten Freizeitkrieger in diesem Milizheer, die zumeist in unzähligen Wehrsportgruppen einen Guerillakrieg gegen Russland üben, sollten ursprünglich als eine kleine paramilitärische Hilfstruppe der Armee dienen. Inzwischen will die PiS die Territorialverteidigung auf rund 53.000 Mann aufstocken, womit sie die Mannstärke der regulären, 50.000 Mann umfassenden Armee übersteigen würde.

Die Miliz erhält neuste Ausrüstung, sie wird von Berufssoldaten geführt und in den Rang einer eigenen Teilstreitkraft mitsamt eigenständigem Kommando erhoben. Künftige Offiziersanwärter sollen ihre Karriere in dieser staatlich organisierten, rechten Truppe starten, um die "gewünschte Geisteshaltung zum Vollpatrioten zu entwickeln", wie es die FAZ formulierte. Der Sold der Freizeitkrieger beträgt übrigens genauso viel wie das Kindergeld, das die PiS zwecks Animierung zum Kinderkriegen massiv erhöhte: 120 Euro. Gebären und Dienen sind laut Polens Rechtspopulisten patriotische Pflichten. Die gesäuberte Armee soll wieder als "Schule der Nation" dienen.

Dabei stellen die immer wieder durchgeführten Säuberungswellen, die inzwischen nahezu alle Bereiche von Staat und öffentlichem Dienst erreichten, ein Kontinuum der PiS-Regentschaft. Die polnische Rechte hat bereits kurz nach der Machtübernahme eine riesige Säuberungskampagne im Staatsapparat entfacht, bei der binnen der ersten 40 Regierungstage alle Geheimdienstchefs, die wichtigsten Spitzenbeamten und rund 50 Prozent aller Direktoren von Staatsunternehmen gegen politisch zuverlässige Leute ausgewechselt wurden. Gegen Jahresende 2015 verabschiedete die PiS ein Gesetz, das die Entlassung von allen hochrangigen Verwaltungsangestellten nach 30 Tagen vorsieht, sollten deren Arbeitsverträge nicht von der neuen Administration verlängert werden. Rund 1.600 Führungsposten innerhalb des Staatsapparates wurden hierdurch mit PiS-Anhängern besetzt. Die PiS entfachte somit eine offen reaktionäre Politisierung des polnischen Staatsapparates. Der auch im Westen wahrgenommene Skandal um die Stürmung eines Spionageabwehrzentrums der NATO in Warschau Mitte Dezember 2015 muss im Zusammenhang mit dieser rechten Säuberungswelle gesehen werden. Damals drangen Militärpolizisten mitten in der Nacht in NATO-Büros ein, um polnische Militärs zu verhaften, die sich einem Versetzungsbefehl der neuen Regierung wiedersetzten.

Polens Reaktionäre legen beim autoritären Umbau des Staates einen wahrhaft revolutionären Elan an den Tag: Noch vor Jahresende hat die PiS das polnische Verfassungsgericht entmachtet und die öffentlichen Medien an die Kandare genommen. Den öffentlichen Rundfunk in Polen, der bislang in der Rechtsform staatlicher Aktiengesellschaften organisiert war, überführte die PiS in "nationale Kulturinstitute", deren Chefposten vom Kulturminister persönlich besetzt werden. Betroffen sind hiervon sowohl die öffentlichen Fernsehsender wie auch die Rundfunkanstalten. Politiker der PiS kritisierten - ähnlich wie Orbáns Rechtspartei in Ungarn - immer wieder die "unpatriotische" inhaltliche Ausrichtung der polnischen Medien, die nun korrigiert werden solle.

Während der ersten Regentschaft der PiS von 2005 bis 2007, als die Kaczyński-Zwillinge eine Koalition unter anderen mit der klerikalfaschistischen "Liga der Polnischen Familien" (LPR - Liga Polsich Rodzin) anführten, die dem polnischen Bildungswesen mit dem LPR-Führer Roman Giertych einen Bildungsminister bescherte, der die Gültigkeit der Evolutionstheorie anzweifelte, hat das polnische Verfassungsgericht mehrere Gesetzesvorstöße blockiert. Dies soll der Alleinregierung der PiS offensichtlich nicht mehr zustoßen. Mittels einer im Eilverfahren verabschiedeten und von der EU massiv kritisierten Gesetzesänderung, die von den Verfassungsrichtern als verfassungswidrig eingestuft wurde, ist das Gericht als Machtinstanz Ende Dezember 2015 de facto ausgeschaltet worden. Kurz nach ihrem Wahlsieg ließ die PiS im Schnellverfahren fünf neue Verfassungsrichter einsetzen, um hiernach die Abstimmungsmodalitäten in dem Kontrollgremium zu ändern: Künftig müssen Entscheidungen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gefällt werden, wobei zumindest 13 der 15 Verfassungsrichter anwesend sein müssen. Somit hat sich die polnische Rechte eine Sperrminorität verschafft, da bei umstrittenen Gesetzesvorhaben einfach die PiS-Leute in dem Verfassungsgericht den Abstimmungen fernbleiben müssen, um es zu blockieren.

Sozial- und Nationalpopulismus

Ideologisch wird diese gigantische Säuberungswelle mit dem üblichen Verfolgungswahn und irren Verschwörungstheorien legitimiert. Kaczyński sieht sich im ewigen Windmühlenkampf gegen den Układ (wörtlich übersetzt: Das Netz). Damit meint der PiS-Führer ein Machtsystem von Netzwerken in Teilen der Geheimdienste, der Politik, der organisierten Kriminalität und der Wirtschaft, das sich während der Systemtransformation etabliert haben und in dem alte kommunistische Seilschaften wirksam sein sollen. Ironischerweise beschrieb Kaczyński mit diesem politischen Slogan nur den realdemokratischen Machtalltag in den meisten Staaten der Semiperipherie - und zunehmend auch in den Zentren. Offenbar handelt es sich hier um eine verschwörungstheoretische Projektion von "zu kurz gekommenen" rechten Wenderevolutionären, die nun daran gehen, die konkurrierenden neoliberalen Seilschaften im Namen des Antikorruptionskampfes durch eigene rechte Seilschaften zu ersetzen. Die polnische Rechte beschimpft somit erfolgreiche neoliberale Karrieristen als "Kommunisten".

Die rechten Säuberungen in Polen fügen sich somit in das Muster rechtspopulistischer oder ordinär faschistischer "Regierungspolitik", wie sie auch in den USA Trumps oder - hier besonders extrem - in der Türkei Erdogans praktiziert wird. Zum einen wird so Opposition ausgeschaltet und Macht akkumuliert, zum anderen können hierdurch die eigenen Seilschaften und bewegungsinterne Rackets versorgt und befriedigt werden. Deswegen scheinen die Säuberungen auch kein Ende zu nehmen, immer neue Staatsbereiche zu erfassen, in denen es de facto keinen Widerstand gegen das Regime mehr gibt. Es geht nicht mehr um die Ausschaltung von Opposition, sondern um die Versorgung der eigenen Gefolgschaft.

Ein weiteres Charakteristikum, das Polens Populisten mit ähnlichen reaktionären Bewegungen in Europa und den USA teilen, stellt die ideologische Amalgamierung des Sozialen mit dem Nationalen dar. Die PiS hat es verstanden, soziale Demagogie mit Xenophobie zu verbinden. Insbesondere das tatsächlich eingeführte Kindergeld in Höhe von 120 Euro ab dem zweiten Kind, das vor allem verarmten kinderreichen Familien zugutekommt, hat zur Legitimierung der PiS beigetragen. Zugleich wurde die Rhetorik gegen Flüchtlinge massiv verschärft und mit dezidiert faschistischem Vokabular angereichert ("Krankheitsüberbringer" etc.) Ohne Übertreibung kann konstatiert werden, dass diese Strategie beim Sieg der PiS bei den Parlamentswahlen entscheidend war.

Zudem kann sich Kaczyński auf die konservativen Teile der polnischen Gewerkschaftsbewegung verlassen. Polens traditionsreiche Gewerkschaft NSZZ Solidarność ("Solidarität") wirkte im europäischen Vergleich schon immer wie ein Unikat, da in den Reihen ihrer Funktionäre und Mitglieder eine konservative politische Strömung dominiert. Diese konservative Grundausrichtung innerhalb der Solidarność kommt immer wieder in der kaum verhüllten Unterstützung für die PiS zum Ausdruck. Im Vorwahlkampf zu den Parlamentswahlen 2011 organisierten die Gewerkschaftler etwa eine ihrer sehr seltenen Massendemonstrationen, um von der liberalen Regierung Tusk eine Erhöhung des Mindestlohns zu fordern. Im März 2013 beteiligte sich die Solidarność auch an dem groß angelegten "Generalstreik" in Südpolen, der ebenfalls der neoliberalen Regierung Tusk sozialpolitische Zugeständnisse abringen sollte. Während der Regierungszeit der konservativen PiS trat die Solidarność hingegen kaum mit Protesten in Erscheinung.

Der Sieg der PiS kam für die meisten Beobachter aber tatsächlich überraschend, da er auf den ersten Blick ökonomisch dysfunktional ist. Polen hat als eines der wenigen Länder Europas eine Rezession während der Weltwirtschaftskrise 2008/09 vermeiden wie auch ein gutes Wirtschaftswachstum und eine spürbare Reduzierung der Arbeitslosenquote erreichen können. Doch die offiziellen, oft auch im Westen kolportierten Zahlen, die aus Polen ein neoliberales "Erfolgsmodell" machen, übersehen die enorme soziale Spaltung des Landes - zumal die nach dem EU-Beitritt sinkende Arbeitslosigkeit größtenteils auf die massive Arbeitsmigration aus Polen zurückzuführen ist. Der aufstrebenden urbanen Mittelklasse Polens steht eine große, sozial abgehängte Schicht verarmter Menschen gegenüber. Die PiS vermochte es gerade, mittels umfassender sozialer Versprechen, wie Forderungen nach Erhöhung des Mindestlohns und der Senkung des Renteneintrittsalters, diese verarmten Bevölkerungsschichten anzusprechen.

Die soziale Demagogie der polnischen Rechtspopulisten war so erfolgreich, dass sie die neoliberal deformierte polnische Sozialdemokratie, die als "Vereinigte Linke" an der für Parteienallianzen geltenden 8-Prozent-Hürde knapp scheiterte, um den Eintritt ins Parlament brachte. Somit reichten der PiS ihre knappen 37,5 Prozent, um die absolute Mehrheit im polnischen Parlament, dem Sejm, zu erringen. Neben der sozialen Demagogie war es auch die massiv geförderte Xenophobie, die zum Revival der polnischen Rechten beitrug. Es waren nicht nur polnische Nazis und Klerikalfaschisten, die auf Demonstrationen gegen die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen protestierten, auch die PiS-Führung hat im Wahlkampf die antiislamistische Hysterie massiv geschürt, indem prominente Parteimitglieder vor islamistischen Terroristen oder durch Flüchtlinge eingeschleppte Krankheiten warnten.

Konfrontationskurs mit Deutschland

Die PiS vollzog nach der Machtübernahme eine Art Schock-Strategie: Kaczyński agiert tatsächlich als das informelle Machtzentrum der neuen Rechtsregierung, die nach ungarischem Vorbild mit aller Macht in kürzester Zeit Fakten schaffen will, indem vermittels einer Flut von neuen Gesetzen, die in Windeseile durchs Parlament gepeitscht werden, alle möglichen bürgerlich-demokratischen "checks and balances" weitestgehend abgebaut werden, damit die PiS eine größtmögliche Machtfülle akkumulieren kann. Genau diese Vorgehensweise hat auch die ungarische Rechtsregierung nach dem Wahlsieg Viktor Orbáns gewählt - und genauso agiert Donald Trump Anfang 2017.

Was aber die "Graue Eminenz" Kaczyński von einem Trump unterscheidet, ist der nationalistisch-antiimperialistische Zug seiner Politik und Ideologie. Hierbei ist die außenpolitische Wirkung dieser "Entdemokratisierung" Polens entscheidend. Es geht der polnischen Rechten auch um eine Absicherung der Machtvertikale, um eine starke Machtkonzentration, da sie sich vor entscheidenden Auseinandersetzungen sieht, bei denen gewissermaßen auf eine "Kriegslogik" zurückgegriffen wird. Kaczyński geht auf offenen Konfrontationskurs mit Deutscheuropa - und in den kommenden Auseinandersetzungen will Warschau eine möglichst geringe Angriffsfläche bieten.

Die rechtsliberalen Regierungen der "Bürgerplattform" (PO - Platforma Obywatelska) kooperierten ohne größere Friktionen mit Berlin, sodass Polen als einer der zuverlässigsten Verbündeten der europaweit zunehmend isolierten BRD galt. Die FAZ formulierte das folgendermaßen: "Vor allem aber war Polen in den vergangenen Jahren eine der Stützen der von einer Krise in die andere taumelnden EU - und hat deshalb nun ein umso größeres Potential, sie in Schwierigkeiten zu stürzen." Der polnische Verbündete, der Berlin etwa während der Griechenland-Krise den Rücken freihielt, wandelt sich nun in einen geopolitischen Gegner.

Die Financial Times brachte die Folgen dieser zunehmenden nationalstaatlichen Auseinandersetzungen in der EU - die inzwischen nur noch eine institutionelle Bühne für zunehmende zwischenstaatliche Machtkämpfe darstellt - in einem Kommentar ("Germany´s Isolation Within Europe Is Growing") auf den Punkt. In den "Merkel-Jahren" sei Deutschland zu dem "unangefochtenen Führer der EU" aufgestiegen, doch habe eine Krisenkaskade (Eurokrise, Migration, Terrorismus, drohender Austritt Großbritanniens) dafür gesorgt, dass Deutschland auf europäischer Ebene nun "isolierter ist als seit vielen Jahren". Neben den Verstimmungen mit Südeuropa seien nun die Beziehungen Berlins sowohl mit Frankreich als auch mit Polen nachhaltig getrübt. Im Klartext: Der Bestand der EU in der gegenwärtigen Form steht angesichts der zunehmenden Krisendynamik offen zur Debatte - und die polnische Rechte macht hierfür mobil.

Mit dem sich abzeichnenden Zerfall der EU als eines institutionellen Rahmens des europäischen Binnenmarktes wird nun auch die vorher tabuisierte wirtschaftliche Dominanz der BRD in ihrer osteuropäischen Peripherie offen thematisiert. Mittels einer "Renationalisierung" des polnischen Medienmarktes will die PiS auch die "Dominanz des deutschen Kapitals" in Polen zurückdrängen, wie die Süddeutsche Zeitung panisch berichtete. Der Kaczyński-Vertraute Krzysztof Czabański habe erklärt, dass "der hohe Anteil ausländischen Kapitals" auf dem polnischen Pressemarkt "krankhafte Ausmaße" angenommen habe: "Die Regionalpresse ist wohl schon zu hundert Prozent in fremden Händen." Auch die Regierungssprecherin Kruk thematisierte die "Dominanz deutschen Kapitals in den Medien", die nun mittels einer "Repolonisierung polnischer Medien" gemindert werde. Damit dürften schwere Zeiten auf den Verlag der Passauer Neuen Presse zukommen, der nahezu alle polnischen Regionalzeitungen aufgekauft hat. Auch bei Bauer, Burda und vor allem beim Springer-Verlag dürften die Alarmglocken läuten, da Letzterer in Polen mit dem BILD-Klon Fakt das auflagenstärkste Boulevardblatt herausgibt und mit Newsweek Polska ein besonders regierungskritisches Wochenblatt im Angebot hat. Diese drohende "Repolonisierung polnischer Medien" dürfte den materiellen Kern der inbrünstigen Sorge der deutschen Journaille um Presse- und Meinungsfreiheit in Polen bilden.

Dabei war es nicht zuletzt die rücksichtslose Durchsetzung nationaler Interessen durch die BRD im Sommer 2015, als an Griechenland ein abschreckendes Exempel statuiert wurde, um künftigen Widerstand gegen die deutsche Dominanz in Europa im Keim zu ersticken, die dieses Aufschäumen des Nationalismus in Polen und anderen Ländern Europas befeuerte. Polens Nationalisten machen gegen die nationalistische Europapolitik Berlins mobil. Die Flüchtlingskrise bot der polnischen Rechten nur den willkommenen Vorwand, um Xenophobie und die Angst vor der zunehmenden Dominanz Berlins ideologisch zu verschmelzen. Wie erwähnt, hat die PiS-Führung im Wahlkampf die antiislamistische Hysterie massiv geschürt, wobei führende Parteimitglieder auch gegen die einsame - wohl aus Publicitygründen nach der Griechenlandkrise getroffene - Entscheidung Merkels wettern, die Grenzen kurzfristig zu öffnen. Die antiislamische Xenophobie verschmilzt in dieser "polnischen Ideologie" mit dem antideutschen Element. Und selbstverständlich scheint die antiislamische Hysterie gegen Migranten in Polen einfach irre angesichts der Tatsache, dass das Land den europaweit niedrigsten Ausländeranteil mit knapp 0,5 Prozent aufweist und Millionen von Polen das Land als Arbeitsmigranten verlassen mussten. Aber hier zeigt sich auch die Logik der eskalierenden Krisenkonkurrenz: Die Migranten aus dem arabischen Raum werden unbewusst als Konkurrenten wahrgenommen, die die Preise der Ware Arbeitskraft in Europa drücken werden.

Im Umfeld der PiS wird die deutsche Dominanz ausführlich auf ebendieser verzerrten nationalistisch-xenophoben Ebene thematisiert, sodass es scheint, als ob diesmal die polnische Rechte nicht in Moskau, sondern in Berlin ihren Hauptfeind erblickt. Eine kaum übersehbare Fülle von Beiträgen beschäftigt sich mit Deutschlands drittem hegemonialen Anlauf. Das konservative Nachrichtenmagazin Wprost fragte kurz nach dem deutschen Diktat gegenüber Hellas, ob man sich "vor dem 4. Reich" fürchten müsse, da die "eiserne Kanzlerin" mit Europa das anstelle, was "die Wehrmacht vor 70 Jahren machte". In dem konservativen Wochenblatt wSieci lamentierte man über die "Sonderwege" der Deutschen, die sich als "die Lehrmeister Europas" aufführten. Die "deutsche Hegemonie" sei das "neue Problem Europas", hieß es auch Ende Oktober auf der größten polnischen Internetplattform wp.pl. Nach dem Wahlsieg fordern PiS-Leute - unter Verweis auf die offene Vernichtung der staatlichen Souveränität Griechenlands durch Berlin - offen eine "Begrenzung der Rolle Deutschlands" in der EU, wie es etwa der PiS-Politiker Zdzisław Krasnod#281;bski formulierte.

Der eingangs erwähnte polnische Verteidigungsminister Antoni Macierewicz personifiziert diesen Kurswechsel perfekt, der einer Rückkehr zur früheren außenpolitischen Konfrontationspolitik der PiS gleichkommt. Macierewicz propagiert wirre Verschwörungstheorien, wonach der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine 2010 in Smolensk, bei dem neben 94 polnischen Staatsvertretern auch der damalige Präsident Lech Kaczyński zu Tode kam, eigentlich ein russischer Mordanschlag gewesen sei. Die erste Kaczyński-Koalition hat sich bemüht, mittels der damals in Polen und Tschechien geplanten US-Raketenabwehr einen Keil zwischen Deutschland und Moskau zu treiben, nachdem Berlin und Moskau den Bau der ersten Nordseepipeline beschlossen hatten - Macierewicz bemühte sich hingegen nach dem beschlossenen Ausbau derselben, die USA und die NATO dazu zu bringen, Atomwaffen, die derzeit in Südwestdeutschland lagern, auf dem Territorium Polens zu stationieren. Auch die von Warschau durchgesetzte Verlegung von US-Truppen auf polnisches Gebiet muss im Kontext dieser Strategie gesehen werden: Die Einheiten der US-Army sollen als Sicherheitsgaranten dienen.

Nichts wäre dabei verkehrter, als in schlechter "antiimperialistischer" Tradition dem antideutschen polnischen Nationalismus eine objektiv progressive Tendenz anzudichten. Der Wahlsieg der PiS - die ähnlich der CSU über eine weit offene Flanke gegenüber faschistischen Strömungen verfügt - ist eingebettet in einen stürmischen Aufschwung der extremistischen polnischen Rechten, der zu einer krisenbedingten Renaissance des Antisemitismus führt. Während die PiS die Europafahnen aus polnischen Staatseinrichtungen entfernen ließ, haben polnische Neonazis in Wrocław den Nationalfeiertag damit begangen, dass sie neben EU-Fahnen auch Juden-Puppen verbrannten - von den reichlich vertretenen Polizeikräften absolut unbehelligt. Polens Antisemiten haben das innovative Kunststück vollbracht, den neuen europäischen Antiislamismus mit dem alten europäischen Antisemitismus zu vereinigen, indem sie "den Juden" für die gegenwärtige Flüchtlingskrise verantwortlich machten.

"Europäisierte" Rechte

Auf den alljährlichen Manifestationen der polnischen Rechten am 11. November wird das ganze Ausmaß des Aufstiegs der extremen polnischen Rechten sichtbar, die einen Prozess der Ausdifferenzierung durchlief und nicht mehr durch die klerikale Rechte dominiert ist. Von Monarchisten, führergeilen Nazis, altpolnischen Klerikalfaschisten, ordinären Rassisten bis hin zu bürgerlich auftretenden Rechtspopulisten war dort alles zu finden, was sich auch auf einer gewöhnlichen Pegida-Demo in Deutschland herumtreibt. Wobei die allgemeine Wahrnehmung Polens als einer wirtschaftlich "deutschen Kolonie" die einzige, verzerrte Spur von Realität in deren absurden und brandgefährlichen Fantasiegebilden darstellt.

An diesen Märschen, an denen landesweit zu bis 50.000 "Patrioten" aller Schattierungen teilnehmen, wird somit der Wandel der polnischen Rechten in den vergangenen Jahren evident, die seit dem Eintritt Polens in die EU einen Prozess der "Europäisierung" durchlief, bei dem sich die rechte Szene Polens denjenigen in Westeuropa anglich.

Die spezifisch polnischen rechtskatholischen Gruppierungen sind in der Defensive, obwohl sie immer noch - vor allem in der Peripherie - einen Machtfaktor darstellen können. Eine zentrale Figur ist hier der Redemptorist Tadeusz Rydzyk, der ein regelrechtes katholisches Medienimperium aufbaute. Dieser katholische Medienkonzern umfasst unter anderen den Fernsehsender Trwam ("Ich harre aus"), den wegen seiner antisemitischen Inhalte berüchtigten Radiosender Radio Maryja und eine Medienakademie, in der nationalkatholisch indoktrinierter Journalistennachwuchs ausgebildet wird. Verfolgt wird eine nationalkatholische, oftmals mit antisemitischen Projektionen und wilden Verschwörungstheorien einhergehende Politik.

Im Aufwind befinden sich in Polen hingegen rechtsextreme Kräfte, die in ihrer ideologischen Ausrichtung den faschistischen Gruppierungen anderer westeuropäischer Länder ähneln. Die wichtigste politische Partei stellt innerhalb dieses Spektrums die Nationale Wiedergeburt Polens (NOP - Narodowe Odrodzenie Polski) dar, die teilweise an die klassische nationalsozialistische Ideologie anknüpft, ohne sich jedoch gänzlich vom Katholizismus zu trennen, da dieser auch von der NOP als integraler Bestandteil des polnischen Nationalbewusstseins aufgefasst wird. Des Weiteren gibt es eine starke, gut vernetzte rechtsextreme Hooliganszene wie auch viele lose vernetzte und regional agierende Skinheadgruppen. Aus ebendiesem Spektrum rekrutiert sich ein Teil der in die staatlich organisierte Territorialverteidigung drängenden Milizionäre.

Daneben hat sich mit der Modepartei Kukiz'15 eine typische "postmoderne" rechte Kraft im Parteienspektrum etabliert, die durchaus mit den rechtspopulistischen Parteien Westeuropas - mit FPÖ, SVP oder AfD - verglichen werden kann. Die "Führerpartei" konnte bei den letzten Parlamentswahlen aus dem Stand 9 Prozent der Stimmen holen, wobei sie keine eindeutige ideologische Festlegung vornimmt und sich selber als Heimat unterschiedlicher politisch rechter, "patriotischer" Strömungen versteht. Gegründet wurde die auf glatte, gewissermaßen "warenkonforme" Ästhetik setzende Partei vom ehemaligen Rockmusiker Pawe#322; Kukiz, der einen autoritären politischen Kurs verfolgt: inklusive der Propagierung einer starken Führung, Forderungen nach dem Mehrheitswahlrecht sowie antieuropäischer, antiliberaler und antideutscher Positionen. Kukiz war ursprünglich rechtsliberal ausgerichtet, er hat sogar mit der Bürgerplattform PO des Donald Tusk zwischen 2005 und 2007 zusammengearbeitet. Sein großer Rechtsschwenk erfolgte 2010 im Zuge der Auseinandersetzungen mit Erika Steinbach und dem deutschen Revanchismus. Die gewissermaßen zivile Fassade der Bewegung täuscht aber über die mitunter rechtsextremistischen Kräfte hinweg, die in der Sammelpartei eine politische Heimat fanden. Während des Wahlkampfes arbeitete Kukiz'15 auch mit den Nazis des militanten Ruch Narodowy (Volksbewegung) zusammen, die im Gegenzug für ihre Wahlkampfhilfe etliche aussichtsreiche Listenplätze zugesprochen bekamen - und nun fünf der 42 Parlamentsplätze von Kukiz'15 im polnischen Sejm besetzen.

Die Verflechtung zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus ist charakteristisch für die polnische Rechte, die derzeit bemüht ist, Polen in eine Postdemokratie zu transformieren: Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie sind noch vorhanden, aber sie stellen bloße Attrappen dar, hinter denen gnadenlose Machtpolitik, autoritäre Tendenzen und Konkurrenzkämpfe von Rackets und Seilschaften toben. Insbesondere der eingangs erwähnte Aufbau der - von rechten Kräften durchsetzten - Territorialverteidigung hat das Potenzial, in Wechselwirkung mit der Krisendynamik der Faschisierung Polens Vorschub zu leisten. Es ist gut möglich, dass beim nächsten Krisenschub die rechte Miliz nicht zur Abwehr äußerer Bedrohungen, sondern zur Niederschlagung innerer Oppositionskräfte eingesetzt wird.

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Rückkopplungen

Pop und Populismus

von Roger Behrens

Pop, sollte man meinen, ist doch je schon und von Anfang an, seit den fünfziger Jahren, populistisch: Wie "Pop" einst, sei der Populismus heute auch und vor allem: Kampfbegriff - wenn auch jener offensiv und affirmativ, dieser hingegen negativ, als Vorwurf; sowieso stecke etymologisch, zumindest wenn "Pop" als Abkürzung für das Populäre verstanden wird, in beiden Wörtern das lateinische "populus" = Volk. Und wenn die Rede vom Rechtspopulismus ist, sind es dann nicht die Popstars, die Musikerinnen und Bands, die dagegen einen wie auch immer viralen und vitalen, energischen und fröhlichen Linkspopulismus setzen? Pink? Eminem? Madonna? Sido? Rage Against The Machine? Früher: Nena? Gil Scott-Heron, The Last Poets? Die Liste ist lang und wird immer länger. Jennifer Rostock (gegen die AfD) und selbst Roland Kaiser (gegen Pegida) sind dabei. Das hauseigene Label von Ton Steine Scherben hieß immerhin David Volksmund Produktion (s. Streifzüge 40/2007). Leichtfertig behauptete ich einmal, dass Blumfeld "mit den Mitteln der Popmusik einen linken Populismus formulier[t]en" (taz, 27.09.2001; gemeint war das als Agit-Prop oder Agit-Pop, als Widerstand gegen damals wieder groß in Hamburg aufmarschierende Nazis; Blumfeld, Tocotronic etc. hatten sich an den Gegendemonstrationen u.a. mit kostenlosen Konzerten beteiligt). Und schließlich hatte schon Woody Guthrie 1943 auf seiner Gitarre stehen: "This Machine kills Fascists"!

In seiner Naivität und Banalität ist diese Gleichsetzung von Pop und Populismus allerdings bestenfalls halbwahr und genau genommen schlechterdings falsch. Des Volkes Stimme ist indes immer noch "His Masters Voice". Denn halbwahr ist das nur hörbar als selbst schon populistisch missverstandener Pop, im Sinne oder Unsinn dessen, was Leute wie Andreas Gabalier oder Xavier Naidoo produzieren. Falsch mithin ist es, weil Pop streng genommen, also in seiner historischen Konstitutionsbewegung richtig verstanden, ja keineswegs bloß die Abkürzung für "populär" ist; und wo Pop mit dem Populären affiziert ist, ist es eben nicht Folklore, eben nicht das mystifizierte Authentische beziehungsweise eine derart authentifizierte Ideologie von Natur und Nation. Vielmehr gilt das Gegenteil und wurde auch das Gegenteil über die Jahrzehnte seit den 1950ern verteidigt: Pop ist international, modern, kommunikativ, auf die gesellschaftlichen Verkehrsformen orientiert - freilich ökonomisch strukturiert durch Kommerzialisierung und Kommodifizierung, kurzum: strukturiert als Kulturindustrie. Das jedoch, dialektisch in trivialster Weise, bildet den Umschlag wiederum ins Populistische: denn das gesellschaftliche Feld des Populismus - der Aktionsraum seiner Akteure und Gegenakteure, überhaupt seine Bühne und seine Inszenierungen - ist, bei aller Asozialität des Populismus, die auf die Gesellschaft ubiquitär ausgeweitete Kulturindustrie.

"Populistisch" am Pop ist die Struktur, sind die Verfahrens- und Vermittlungsweisen der allgegenwärtigen Kulturindustrie. Derart in den Pop integriert und heute, nachdem sich die postmoderne Beliebigkeit postmodern ins absolut Beliebige überschlagen hat, als Pop generiert, zeigt sich, inwieweit Populismus einen relativ selbstverständlichen Modus der politischen Ideologie zeitigt: er ist Ästhetisierung der Politik unter Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften, die diese Verfasstheit nicht mehr gesellschaftlich umsetzen können. Über ein "Legitimationsproblem" (Habermas) geht das hinaus: Populismus bedeutet die Aufkündigung der Öffentlichkeit als Sphäre politischen Handelns. Noch in den 1970ern und 1980ern wurde diese Sphäre medial garantiert, Pop bildete mit seinen subversiven Versprechen den Rahmen, um soziale Konflikte kulturell, ja sogar "kulturrevolutionär" auszutragen: gegen die Politik des Establishments wurde die Politik des Pop gesetzt - bis sie dann in den Pop übertragen wurde.

Egal ob Rolling Stones, Abba, Donna Summer, James Brown oder Yoko Ono und John Lennon: Pop war ein politisches Statement. Zunächst wurde die kulturindustrielle Zeichenproduktion okkupiert, mit Punk, Postpunk und Hardcore sollte auch die Realproduktion übernommen werden. "Ein charakteristisches Merkmal der kulturrevolutionären Strategie der späten sechziger Jahre war der Medienoptimismus, die trügerische politische Hoffnung, aus der proletaroiden egalitären Struktur der Massenmedien lasse sich eine Umschichtung der Verfügungsgewalt über sie ableiten." (Peter Gorsen: Transformierte Alltäglichkeit, 1981, S. 249) Wenn jemand wie Bob Dylan den Nobelpreis bekommt, kann das auch als sich wehmütig erinnernder Reflex darauf verstanden werden.

Was heute als Populismus agiert, steht dem diametral entgegen, ist - in alter Terminologie - konterrevolutionär. Populismus ist die Imagination der "Macht des Volkes". Als Imagination ist der Populismus unmittelbar mit "Images", also mit Bildern verknüpft; wobei "Macht" und "Volk" gleichsam die zentralen Images sind und spektakulär überblendet werden. Populismus bewegt sich damit jenseits der Reste bürgerlicher Öffentlichkeit, wird zur Signatur dessen, was seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort "Postdemokratie" registriert wird. Die Medien sind dabei nicht mehr nur (technische) Träger von Botschaften, sondern sind identisch mit den Botschaften, so wie McLuhan es postulierte. Dass der aktuelle Populismus sich vollständig innerhalb der Medien abspielt (Trump und Twitter), die mittlerweile als "Technopol" (Postman) bzw. "integriertes Spektakel" (Debord) die alten Deutungsmuster der Popkultur absorbiert und liquidiert haben, verweist auch darauf, wie weit die bisher zwar immer auch widersprüchlichen, doch insgesamt gültigen Vermögen und Verbindlichkeiten der bürgerlichen Ideologie erodiert sind.

Das Technische löst das Politische ab; deshalb ist es auch so schwierig, den Populismus und seine Kritik formal wie inhaltlich zu definieren; gerade in der Regie der Medien wird der Populismus technisch zum politischen Funktionalismus.

Auch die Kritik ist diesem Funktionalismus unterworfen: Kritik des Populismus "funktioniert" nur in der ironischen Totalübertreibung, im drastischen und derben Witz (vgl. Hamilton: Pop sei u. a. "witty", Streifzüge 67/2016). "Mainstreammedien" wie ausgerechnet das eher konservative ZDF bieten hier die Popnischen: "Heute-Show", "Neo Magazin Royale" etc.

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Zum Grundsatzprogramm der AfD
von Manfred Sohn

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Vernunft statt Populismus(*)

von Walther Schütz

Der letzte Wahlkampf hat - wieder einmal - einen tiefen Einblick in unser System und die Geisteswelt seines politischen und ideologischen Personals geliefert. Ich möchte dies am Beispiel der Kleinen Zeitung zeigen, eines im präzisesten Sinne des Begriffes "bürgerlichen" Mediums, wie aus den folgenden Ausführungen hervorgehen soll. Indirekt vielleicht auch EINE Erklärung für den Rechtsruck in Österreich.

Eine Linie durchzieht die verschiedenen Beiträge: Der Kampf gegen den Populismus. Vernunft versus Populismus - das Urteil scheint "aufgelegt": Was wäre gegen Vernunft zu sagen? Was für den Populismus? Angesichts des Themas verlieren die Verantwortlichen für die Blattlinie der Kleinen vollkommen die Contenance und werfen sich für Vernunft und Verantwortung in die Bresche. Doch die Scheidelinie ist nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint.

Zunächst ist auffällig: Nicht jeder Populismus wird in der Kleinen Zeitung so massiv verdammt wie andere Varianten. Während kaum einmal gegen die Ausländerhetze Stellung bezogen wird, bringt der sogenannte SOZIAL-Populismus Chefredakteur Patterer vollkommen in Rage. Im Zusammenhang mit der von der SPÖ bereits im letzten Wahlkampf versprochenen Abschaffung der Studiengebühren schreibt Patterer von einer "karitativen Panikattacke", von "Zügellosigkeit" und "kopflosem Sozialpopulismus" (Kleine Zeitung, 26.9.08, S. 10).

Welche "Vernunft" liegt also dem Eintreten Patterers für die Beibehaltung der Studiengebühren zugrunde? Patterer sieht ein Studium als "Investition" in die eigene Zukunft, aus dem sich dann später die "Rendite" eines besseren Einkommens und einer gesellschaftlich höheren Stellung ergebe. So könnte man Patterer mit seinem Plädoyer schon folgen. Nur hat aber Patterer da schon was reingeschummelt: Nämlich ein liberales Bild von Gesellschaft, wie es ja tatsächlich der Mainstream ist. Insofern argumentiert Patterer folgerichtig.

Es gäbe aber auch eine andere Vernunft: Bildung als gesellschaftliche Grundleistung, bei der die Bildung der einzelnen zur Verbesserung der Lage aller beitragen soll, in der es um eine gemeinsame, bessere Zukunft, ein Abwerfen von Fesseln etc. geht.

Beispiel Pensionen: Nicht ganz zu Unrecht kritisiert Patterer die Verlängerung der Hacklerregelung als Populismus. Aber aus welcher Vernunft heraus, was ist sein Maßstab? Ist es das steigende Produktivitätsniveau der gesellschaftlichen Produktion, das tatsächlich eine Rücknahme der gesamten Pensionsverschlechterungen erlauben würde? Nein, ganz im Gegenteil, er meint in Anlehnung an den sozialliberalen Ex-Finanzminister Androsch: Der Versorgungsstaat alter Prägung aber habe ausgedient. Vollkasko sei unfinanzierbar und mit den Erfordernissen der Wissensgesellschaft, die auf Individualität und Mobilität setze, unvereinbar. (Kleine Zeitung, 28.9.08, S. 12) Der Mensch als des Menschen Wolf, der eine des anderen Feind, das ist das Leitbild, dem auch die entsprechende "Vernunft" folgt.

Die Vernunft, die sich da durch Patterer durchsetzt, ist nicht die einer Kritik der Verhältnisse, sondern ganz im Gegenteil: Es ist die Vernunft eines Systems, dessen oberstes Prinzip die Akkumulation von Kapital ist und das mittlerweile weltweit nicht nur an seine äußeren, ökologischen Grenzen stößt, sondern das an seinem eigenen angehäuften Kapital zu ersticken droht: Um die Profitraten für die ungeheuren Kapitalmassen zu gewährleisten, sind Umverteilungsmaßnahmen nicht mehr leistbar. Diese Vernunft (nach der vorletzten Nationalratswahl sprach Patterer von "Einsicht in die Notwendigkeit" - Okt. 2006) ist eine Vernunft der "Folgerichtigkeit": Indem sie ihre eigenen Voraussetzungen nicht kritisiert, sondern nur in ihren Bahnen weiter folgert, wird Vernunft zur gefährlichen Drohung!

Das direkte Engagement für die Logik des Systems

Wie sich die Systemzwänge durchsetzen, ist selten ganz einfach nachzuweisen. Und es läuft ja auch meist indirekt: Es ist halt einfach mitten in einem Meer von Geld keines mehr da, die Wettbewerbsfähigkeit müsse in der Konkurrenz der Standorte erhalten bleiben ... Wo allerdings gut ausgebaute Bastionen, Rechte, festgeschriebene Ansprüche bestehen, da kann es schon sein, dass aus dem sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzenden Systemerfordernis die soziologisch greifbare Intervention wird. Die Kleine Zeitung selbst hat aus der jüngeren Vergangenheit einen interessanten Fall dokumentiert, bei dem sie die proklamierte Objektivität verlassen hat und in einem vorgezogenen Fall von "embedded journalism" (der Begriff stammt aus dem 2. Irakkrieg 2003) selbst zum Kombattanten wurde:

Ende 1999 / Anfang 2000 liefen bereits seit Jahren die Anpassungen an die verschärften Konkurrenzverhältnisse, allerdings immer noch in sozialpartnerschaftlicher Manier unter Zustimmung der Gewerkschaften, Kammern etc.. Das ging den Vertreter/innen der Vernunft aber immer noch zu langsam, nach einem jahrelangen journalistischen Trommelfeuer gegen angebliche Blockaden von "Reformen" (und damit sind immer Verschlechterungen gemeint! ) wurde im Jahr 2000 die ÖVP-FPÖ-Koalition gebildet. Ganz vorne mit dabei der ehemalige Journalist der Kleinen Zeitung, Hans Winkler. Er beschreibt die Situation und seine Rolle ganz offen:

Die Kleine Zeitung hat die Wende des Jahres 2000 unterstützt. Nicht, weil wir große Sympathien für Haider oder die FPÖ gehabt hätten, sondern weil wir überzeugt davon waren und sind, dass es eine Alternative zur Großen Koalition geben müsse. Die Wende des Jahres 2000 brachte dann den überraschenden Beweis, dass in diesem Land noch Politik möglich ist. In einem Parforceritt wurden längst fällige Reformen durchgezogen, zu denen die große Koalition vorher nicht mehr fähig war und die das Land europareif machen und für die Herausforderungen der Globalisierung wappnen sollten: Anpassung des Pensionssystems, Universitätsreform, Privatisierungen und Sanierung der alten ÖIAG, die Schaffung der Abfertigung Neu, um nur einiges zu nennen. Vor allem aber ein Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik. (Hans Winkler, Von einer großen Koalition zur nächsten. In: Kleine Zeitung, 2.6.07)

Die so offen eingestandene Intervention für die Logik des Systems (daher auch die Bezeichnung "bürgerliche Medien") ist die Ausnahme. Festzuhalten aber ist: Eine Gegenüberstellung Populismus versus Vernunft führt nicht weiter. Die Frage ist vielmehr, welche Vernunft wir denken: Die Vernunft der Folgerichtigkeit, der Anpassung, des Sich-Einfügens in die Verhältnisse oder eine Vernunft, die davon ausgeht, welches Potenzial an Wohlstand für alle Menschen prinzipiell da ist und die Verhältnisse, die dieser Realisierung des Wohlstands im Wege stehen, überwindet.

(*) gekürzter Beitrag vom 3.10.2008

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Populismus?
Vage Notizen zu einem explodierenden Begriff

von Franz Schandl

Nicht immer galt Populismus als negative Kategorie. Das Gegenteil war der Fall. Von den russischen Narodniki bis zu den türkischen Kemalisten etwa ist der Terminus positiv konnotiert. Doch wozu in die Ferne schweifen: Die beiden staatstragenden Parteien der Zweiten Republik heißen nicht zufällig Volkspartei und Sozialdemokratie, heben also beide den Begriff des Volks positiv hervor. Auch bei den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen am Trikont war die Rede von nationalem Befreiungskampf und unterdrückten Völkern. Das war nicht zufällig, das war substanziell. Fremdherrschaft sollte durch Herrschaft ersetzt werden.

Vor allem aber ging es stets um das Volk, das als geschlossene Kraft und anrufbare Instanz für alle ihr Zugehörigen funktionieren soll. Dieses Staatsvolk bestimmte sich, wenn nicht ausschließlich, so doch primär national. Selbst wenn etwas weniger aufgeladene Vokabel wie "pueblo", "popolo" oder "people" nicht zwingend identisch mit der Kategorie des Volkes sind, sind die Überlappungen trotzdem charakteristisch.

Autoritäres Gestell

Die vorherrschende und maßgebliche (politische) Bewegung der letzten 200 Jahre war die nationale Bewegung. Es ging um die Vereinheitlichung von beherrschten Herrschenden und beherrschten Beherrschten im und als Volk. Volk erscheint als Komposition aus nationaler und sozialer Einheit. Beide Male ist es nur mit dem Staat zu denken. Politik ist die Instanz seiner Setzung. Der stete Glaube an Staat und Politik ist auch wirklich eine Schnittmenge, die traditionelle Rechte und traditionelle Linke eint. Beide wollen einen starken Staat, wenngleich ihre Akzente unterschiedlich sind.

Das Volk beschlagnahmt alle Teile der Bevölkerung für sich, außer jene, die es sich nicht einverleiben sondern die es abstoßen möchte. Es beansprucht Exklusivität und Inklusivität. Da das in unseren Breitengraden gut gelungen ist, können wir von einer reellen Imagination sprechen. Sein mag, was will, auf jeden Fall ist es so. Es gleicht einer biologischen Tatsache, es ist körperlich wahrnehmbar. Das Volk ist aber mehr als die Leute, die dem Staat zugehörig, also unterworfen sind. Das Volk sind die aufgeladenen Leute, die sich ihrem Staat via Nation "biologisch" verbunden fühlen. Der Bezug ist libidinös und findet im Patriotismus seinen Ausdruck: Wir sind von gleicher Geburt. Wir sind von gleicher Abstammung. Wir gehören zusammen. Zukunft soll sich an Herkunft klammern, statt dieses Gehäuse der Unterwerfung, diesen historischen Käfig zu sprengen. Seit 200 Jahren stellt dieser Zusammenhang einen elementaren dar. Die Nation ist ein junges Phänomen, eng verbunden mit der bürgerlichen Geschichte. Nach außen unsolidarisch, lässt es nach innen Solidaritäten für die eigenen (= anerkannten Staatsbürger) zu.

Der deutsche Volksbegriff stammt übrigens vom Indogermanischen fulka ab, was eine Kriegsschar meint. Das Volk sind ursprünglich jene, die sich zusammenrotten, um sich Terrain dauerhaft anzueignen und die ganz primitiv durch ihre in Macht übersetzte Gewalt verkünden: Hier! Wir! Immer! Unser! Der Raum ist entscheidend. Sesshaftigkeit wird angezeigt. Da wird nicht "herumzigeunert", außer wir machen einen ordentlichen Krieg. Die Inauguration der Völker ist eine blutige Wirklichkeit. Ihre Durchsetzung sowieso und ihre Fortsetzung ebenfalls. Die von der Herrschaft Verfügten haben eine Einheit gegen andere Einheiten zu bilden. Einzelne werden zu einem nationalen Glied. Geburtspflichtig. Rechtspflichtig. Steuerpflichtig. Wehrpflichtig. Doch diese Pflicht erscheint nicht als Zwang sondern als Freiheit und Freude.

Das Volk ist ein autoritäres Gestell. Mental wie real. Herde und Horde sind ihre groben Aggregate. Das Volk ist nicht der Ort der Subversion, sondern der Subordination. Emanzipation unter diesem Dach ist maximal immanenter Fortschritt gewesen. Wer das Volk zur Instanz macht, darf sich nicht wundern, dass es autoritär geführt und gelenkt werden will. Das liegt in seiner gesellschaftlichen Natur. Nicht nach Partizipation schreit das Volk, sondern nach Ordnung und Führung. Auch der autoritäre Kern der Volksparteien ist nicht zu eskamotieren. Dass deren Parteigänger jetzt Richtung Populismus flüchten, ist auch dem Verlust der traditionellen Vormundschaft geschuldet, also genau dem, was Linke gerne als "Demokratisierung" beschreiben.

Schlagwort mit Schlagseite

In der neueren Debatte hatte der Populismus-Begriff als Hilfsformel und Provisorium durchaus seine Meriten, da er abseits des unsäglichen Rechtsextremismus-Ideologem, abseits des ständigen Nazi- und Faschismusvorwurfes, eine Kategorie lancierte, die einerseits produktive Unsicherheit bezeugte und andererseits ein Maximum an Offenheit demonstrierte. Offenheit und Unsicherheit entpuppten sich aber als Fallen. Der Notterminus konnte nie hinreichend geklärt geschweige präzisiert werden (auch von uns nicht), so wurde er beliebig und zusehends irre. Heute dient er vornehmlich gegenseitiger Stigmatisierung. Die Kategorie wurde entgrenzt, d.h. sie kann sich als Schimpfwort nicht einmal mehr auf ein klares Forschungsfeld konzentrieren, sie ist expansiv und explosiv geworden.

Schwierigkeiten zu einer praktikablen Definition zu kommen, liegen auch im Folgenden: Betrachten wir den Populismus vom Formprinzip der Politik her, dann ist diese tatsächlich populistisch geworden. Der Populismus wirft die letzten Skrupel der traditionellen Politik über Bord. Die traute mehr ihren Gremien, ihren Statuten, Paragraphen und Beschlüssen als den unmittelbaren Stimmungen. Dort, wo sie das heute versucht, blamiert sie sich.

Betrachten wir den Begriff jedoch auf die Akteure und ihre Inhalte bezogen, dann wird er insbesondere in der Tagespolitik heillos und infam. Populismus ist sukzessive zu einem Schlagwort geworden, besser zu einem Totschlagwort. Ratlosigkeit schlägt in Haltlosigkeit um. Anstatt einer handhabbaren oder gar fundierten Kategorie, haben wir einen Brei, in den alles eingerührt werden kann. Wir haben es nunmehr mit einem liberalen Kampfbegriff zu tun. Jede Forderung und jedes Argument abseits des kapitalistischen Sachzwangs und somit des liberalen Mainstreams kann heute als populistisch denunziert werden. Diese Methode ist billig, aber wirksam.

Bewertung funktioniert als Abwertung. Was den Populisten egal, ist für die anderen fatal. Das Ziel wird verfehlt, je höher die Trefferquote. Als Populisten gelten Bernie Sanders, die Grazer KPÖ, Gewerkschafter, die Lohnerhöhung fordern oder sogar Kanzler Kern, wenn er die Parteimitglieder zu CETA/TTIP befragen lässt. Exponenten wie Tsipras und Strache, die Pegida und Attac kommen unter dem gleichen Label daher und die bürgerliche Öffentlichkeit klatscht eifrig sich Beifall. Da haben sie aber alle Extremisten mit einer Klappe erwischt. Die neuen Rechten allerdings trifft dieser Kampfbegriff nicht, einerseits weil sie sich mit ihm positiv identifizieren, andererseits weil ihnen und ihrem Publikum diese Etikettierungen herzlich egal sind.

Inzwischen hat die Populismus-Debatte eine suspekte Schlagseite. Letztendlich wird mit der unscheinbaren Zwillingsformel von Rechts- und Linkspopulismus einmal mehr auf die Totalitarismustheorie abgestellt. Da wird eine goldene Mitte gegen die Bedrohungen von links und rechts installiert. Populismus gerät damit zu einem Randphänomen gegen die Demokratie und nicht zu einem Strukturproblem der Demokratie. Diese krude Betrachtung gehört in ihrem systemkonformen Credo spätestens seit 1947 zum ideologischen Arsenal bürgerlicher Demokratie und unkritischer Theorie. Ein forscher Geselle dieser Betrachtungsweise ist übrigens der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka, der ein ganzes Buch vollgeschrieben hat, wo er vor der unheiligen Allianz rechter und linker Extremisten in Europa warnt. Anstatt über substanzielle Identitäten zu sprechen, führt er immer akzidentelle Analogien ins Treffen um seine Thesen zu untermauern.

Der rechte Populismus tritt auch nicht wie Sebastian Reinfeldt meint, "mit dem Ziel auf, die politische und soziale Mitte zu erobern, politisch zu infizieren und somit eine etwas andere Denk- und Machart des Staates durchzusetzen, besonders hinsichtlich der demokratischen Verfahren und Prozesse." ("Wir für Euch". Die Wirksamkeit des Rechtspopulismus in Zeiten der politischen Krise, Münster 2013, S. 33) Dies hieße, er ist der Mitte ein Äußeres, aber er ist ihr ein Inneres, er ist eine ihrer negativen Entpuppungen, muss ihr nicht von außen gebracht und aufgedrängt werden. Infiziert wird da gar nichts. Im Populismus realisiert sich der Extremismus dieser Mitte selbst.

Analytischer GAU

Gerade die Liberalen unterschiedlichster Couleur (Marktliberale, Sozialliberale, Grüne) versuchen jede Kritik dieser Modernisierung als populistischen Dünkel zu diskreditieren. Doch nur weil es Vorurteile gibt, ist nicht jedes Unbehagen schon als Ressentiment zu entlarven. Geschieht dies zu häufig, noch dazu in monotoner Wucht, dann wird solch Unbehagen direkt in eine reaktionäre Richtung abgedrängt. Nicht bloß bei den Populisten regiert der monokausale Kurzschluss. Gefährlicher als die Verhältnisse erscheinen nunmehr die Ressentiments. Daraus folgt eine Strategie der Immunisierung, der es stets gelingt, nicht über die Zustände zu reflektieren, sondern nur noch über populistische Reflexe. Durch dieses Tabu werden erstens die Populisten gestärkt, da sie als einzige Alternative zur Konvention erscheinen, zweitens wird der Liberalismus konsolidiert, da er sich als Schutzmacht gegen den Populismus profiliert; und schlussendlich wird drittens alles was jenseits dieser seltsamen Front ist, gar nicht mehr als existent wahrgenommen.

Analytisch erleben wir einen GAU. Wir reden in Worten, die wenig besagen, aber viel versprechen. Das Versprechen im doppelten Wortsinn tritt wahrlich auf die Bühne. Assoziationen werden willkürlich. Oft geäußert, bleiben sie hängen. Präzise und treffend ist da wenig. Die gängige Populismusforschung ist weitgehend zu einer Legitimationswissenschaft des Status quo geworden.

Man muss den Populismus also anders kritisieren als liberale oder linksliberale Direktiven es fordern. Vor allem ist der Populismus nicht Gegensatz zur Demokratie, sondern dessen logische Fortsetzung, eine Art Komparativ des Gehabten. Es ist immer notwendig, diese Identität hervorzuheben und nicht die Differenz. Identität ist primär, Differenz sekundär. Womit natürlich keineswegs Indifferenz das Wort geredet wird. Die Unterschiede sehen wir schon, aber sie sind graduell, nicht prinzipiell. Aus dem Inneren oder der Mitte der Gesellschaft kommend, ist der Populismus nicht deren äußere Bedrohung, sondern deren innere Konsequenz.

Bestimmte Verwandtschaftsverhältnisse werden betont (und sogar erfunden), viel näher liegende glattweg übersehen oder abgestritten. So geriert sich eine Mitte als Hüterin zivilisatorischer Standards und brandmarkt alles, was ihr nicht passt als "populistisch". Der Vorwurf ist mittlerweile so inflationär geworden, dass alles, was dem liberalen Konsens widerspricht, unter dieses Verdikt gestellt werden kann. Gängige Verdächtigungen der Querfront, der Verschwörungstheorie oder gar des Antisemitismus toppen dann noch dieses unselige Szenario seliger Bezichtigung. Natürlich gibt es das alles, es soll nicht bagatellisiert, aber ebensowenig maßlos übertrieben werden. Es ist jeweils genau hinzuschauen. Verschwörungen (gerade auch im medialen Trommelfeuer akkordierter Westmedien) gibt es gar nicht so wenige. Nicht jede Verschwörung ist eine Verschwörungstheorie. Dass in der Presse systematisch gelogen wird, ist keine Falschmeldung, bloß weil die Pegida sie verbreitet und das Schlagwort der "Lügenpresse" offensiv vor sich herträgt. Georg Seeßlen schreibt gar: "Wir müssen die Presse verteidigen, sie ist alles, was wir haben. Kritik verbietet sich. Je suis Lügenpresse." (Jungle World 07/2016) Andersrum: Medien pauschal in Schutz zu nehmen - und sie nicht vielmehr anders anzugreifen - zeugt wahrlich von vollzogener Domestikation und nicht von Kritik. Karl Kraus würde sich im Grab umdrehen.

Entschieden geht es darum, das bürgerliche Inventar von Volk und Nation, von Populismus und Patriotismus zu entsorgen. Derlei sind nur noch als Folklore und Reminiszenz, als Spiel und Simulation zulässig und erträglich, nicht als zentrales Bestimmungsstück von Mensch und Raum. Entvolken ist also ein Gebot der Stunde. "Alle Vereinigung muss ganz freiwillig sein", sagt Oscar Wilde. "Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön."

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Das Fremde, die Grenze und die Kunst des Nein-Sagens

von Rehzi Malzahn

Ein Gespräch mit der emeritierten Professorin und Ivan Illich-Schülerin Marianne Gronemeyer.


RM: Frau Gronemeyer, in Ihrem Vortrag zur "Macht der Bedürfnisse" von 2011 kündigen Sie an, die Geschichte des Zaunes schreiben zu wollen. Was ist daraus geworden?

MG: Der Geschichte des Zaunes bin ich insofern näher gekommen, als ich angefangen habe, mich zwar noch nicht mit dem Zaun selbst, aber mit Türen und Fenstern, Schwellen und Wänden zu befassen. Mich beschäftigt das Verschwinden dieser Grenzen, welches die Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen unmöglich macht. Barrierefreiheit gilt als eine bedeutende soziale Errungenschaft, als ein Sieg der Menschenfreundlichkeit über die Rücksichtslosigkeit. Aber was sich für Rollstuhlfahrer als wahrer Segen erweisen mag, ist unter der Hand zu einer machtvollen gesellschaftlichen Norm geworden. Fast muss man sagen, dass die in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen dafür herhalten müssen, die rechtfertigenden Gründe zu liefern, damit die Beseitigung aller Irritationen, Hemmnisse und Verlangsamungen ungehinderten ihren Lauf nehmen kann. Es gibt eine Lust am Niederreißen der Grenzen, die Globalisierung ist im Grunde genommen ja nichts anderes als das.

RM: Ja, aber nur für die Ware. Für die Menschen ist das nicht gedacht, wie wir gerade an der europäischen Abschottungspolitik sehen.

MG: Das große Konzept, das dahintersteht, ist nicht die Frage der Mobilität der Menschen über diese ehemaligen Grenzen hinweg, sondern die weltweite Gleichmacherei, die Welteinheitskultur des Konsumismus. Und dazu müssen die Grenzen zum Verschwinden gebracht werden, denn Grenzen sind die Hüterinnen der Verschiedenheit. Es kommt alles darauf an, welche Vorstellung von der Grenze man entwickelt. Begreift man die Grenze als dasjenige, was das Eigene umschließt zum Schutz gegen ein Draußen, welches dieses Eigene negiert - die Grenze trennt das "Ich" vom "Nicht-Ich", das "Wir" vom "Nicht-Wir" - dann konstituiert sich das Eigene aus sich heraus und genügt sich selbst. Oder sieht man die Grenze, wie es früher selbstverständlich war, als bedingt durch das angrenzende komplementäre Andere. Dann konstituieren sich das Eigene und das Andere wechselseitig: Ich kann nur "Ich" sagen mit Bezug auf das Andere. Ich bin auf das jenseitige Andere zu meinem So-Sein angewiesen. Grenzüberschreitungen hin und her sind dann notwendig, damit das Eigene und das Andere sich immer neu aneinander bilden, verwandeln und erneuern können. Und wenn ich über das Andere jenseits der Grenze als komplementär zum Eigenen denke, dann hat die Grenze eine ganz andere Funktion: Dann entsteht sie dort, wo Verschiedenes aneinander stößt, ohne dass sie als Bollwerk aufgerichtet werden muss. Die Verschiedenheit schafft die Grenze, und die Grenze behütet die Verschiedenheit. Das ist eine ganz andere Vorstellung von Grenze, und daraus ergäbe sich eine vollkommen andere Flüchtlingspolitik.

RM: Mir fallen dazu zwei Sachen ein, die beide mit Bayern zu tun haben: das eine ist eine wunderschöne Zornesrede von Heribert Achternbusch, in der er sagt: "Früher war hier Bayern ...

MG: ... und heute ist hier Welt." Den habe ich schon oft zitiert, ja.

RM: Und das zweite ist der bayrische Ausspruch "Mia san mia", den Charlotte Knobloch kürzlich im Spiegel angesichts der Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen nicht als Ausdruck von Arroganz, sondern als "Freude am Ich" ausgelegt hat, als eine Sicherheit des Selbst, die erlaubt, das Fremde anzunehmen, weil man weiß, dass es einen nicht verbiegt.

MG: Ja, das passt sehr gut zu dem, was ich versucht habe zu sagen. Wenn wir heute über die vielen Menschen reden, die hierher kommen, dann denken wir in erster Linie an Inklusion, also an Einschluss und an Gleichmacherei, daran, dass sie untergehen sollen in der Unbemerkbarkeit. Auch das Wort Integration, das die Debatten um die Flüchtlinge beherrscht, wird ja nicht in seinem ursprünglichen Wortsinn aufgefasst: integer heißt unversehrt, unangetastet, unvermindert seiner ursprünglichen Beschaffenheit nach. Wenn ich jemanden integriere, dann nehme ich ihn auf, ohne seine Andersheit anzutasten. Wenn ich das über die Grenze Gesagte auf die Flüchtlinge anwende, dann könnte ich sagen: Nicht dass sie so fremd sind, nimmt uns gegen sie ein. Dass Problem ist, dass sie uns so ähnlich sind. Die Welteinheitskultur ist so weitgehend durchgesetzt, dass die Fremden längst wesentlich die Gleichen sind. Sie wollen das Gleiche wie wir: nämlich Teilhabe am Konsum. Unter solchen Gleichen kann es ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, der gegenseitigen Ergänzung zu beiderseitigem Nutzen nicht geben. Die Gleichen sind unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft unvermeidlich Rivalen.

Es käme also darauf an, die Fremden zu ihrer Fremdheit zu ermutigen. Das würde uns vielleicht ermöglichen, mit einem durch ihre Fremdheit verstörten Blick auf uns selbst zu sehen und uns durch das, was wir vollmundig "unsere Werte" nennen, zutiefst befremden zu lassen. Es könnte uns helfen, unsere eigene radikal ruinöse Lebensart infrage zu stellen.

Das ist die einzige Chance, die ich sehe, wie man zu so etwas wie einer Ebenbürtigkeit im Miteinander kommen könnte, ohne sich voreinander zu fürchten. Also die Erfahrung der Andersheit zu stärken, anstatt sie zu schwächen.

RM: Mir fällt dazu François Jullien ein, ein französischer Sinologe, der versucht hat, das europäische mit dem chinesischen Denken zu konfrontieren, um es so anders und besser zu verstehen. Genau so eine Befremdung. Er suchte einen Ort, der dieses komplementär Andere zu repräsentieren vermochte. Ich habe darin viel gefunden, das uns in unserer heutigen Situation der Perspektivlosigkeit und Handlungsunfähigkeit, die aus dem Verlust der Zukunft entsteht, helfen könnte. Der Kapitalismus hat es geschafft, insbesondere nach dem Mauerfall, das Denken von Alternativen, überhaupt die Idee von Zukunft, von etwas, das außerhalb von dem ist, wo wir jetzt sind, unmöglich zu machen. Man braucht also eine neue Form, an die Dinge heranzugehen, um wieder eine Perspektive zu entwickeln. Da kann das chinesische Denken hilfreich sein. Anstatt des uns vertrauten Logischen und Dialektischen findet man dort eher die Paradoxalität oder das Umfließen, Ausweichen, Entziehen. Zum Beispiel gibt es diesen taoistischen Grundsatz, "nichts zu tun, während nichts nicht getan wird". Der Weise handelt/nicht.

MG: Und das ist für uns unglaublich schwer zugänglich, aber wenn wir eine Ahnung davon hätten, dass darin etwas steckt, was uns abhanden gekommen ist, dann wäre ja schon viel gewonnen, weil es uns behutsamer machen würde in unserer Rechtschaffenheitsgewissheit.

RM: Was ich in Bezug auf das politische Handeln da so interessant finde, ist: der Widerstand macht den Gegner stärker, gibt ihm deine Widerstandsenergie. Veränderung muss man also anders angehen.

MG: Das gilt auch für die Kritik übrigens. In dem Augenblick, in dem ich Kritik an etwas äußere, ist die andere Seite schon damit beschäftigt, sie sich einzuverleiben und sie systemkonform zu machen. Die Systemkomplexität nährt sich aus der Kritik. Die Kritik läuft also ins Leere. Man kann heute manchmal nur noch schweigen, um nicht aufgesogen zu werden. Und ich glaube, dass Heimlichkeit eine ganz wichtige Tugend sein wird, um diesem gefräßigen Zugriff zu entgehen.

RM: Also es geht um das Nichtstun ohne nichts zu tun, um es chinesisch auszudrücken.

MG: Das ist das, was ich meine, wenn ich vom Widerstandswort Ohn-Macht spreche: "Lass mich mit deinem Kram in Ruhe, ich will es nicht, Danke nein." Die selbstgewählte Ohn-Macht ist inmitten des Machtgerangels radikal widerständig. Canetti hat gesagt, er habe noch nie jemanden kennengelernt, der die Macht attackierte, ohne sie für sich zu wollen. Ohnmacht setzt, anders als die Gegenmacht, die Spielregeln der Macht außer Kraft. Sie begehrt nichts von dem, was die Macht verwaltet, am allerwenigsten die Macht selber. Sie sagt im Angesicht der Macht: "Du kannst mich vernichten, aber beherrschen kannst du mich nicht". Bei Elias Canetti findet sich eine wunderbare Beschreibung der Ohnmacht: "Wenn die Bakairi mit ihrem Häuptling unzufrieden sind, verlassen sie das Dorf und bitten ihn, alleine zu regieren."

RM: Wobei ich mit dem Begriff Ohnmacht ein ganz grässliches Gefühl der Verzweiflung verbinde.

MG: Sie ist nicht apathisch oder resignativ. Es ist eine kraftvolle Haltung, wenngleich auch nicht eine, die sich in Tatendurst umsetzt. Wenn man so ein Wort mal um seine eigene Achse dreht, entdeckt man plötzlich eine andere Bedeutungsmöglichkeit. Marcuse sagt, unsere Sprache ist eindimensionalisiert und wir haben unseren Begriffen ihren kritischen Gehalt geraubt. Deswegen muss man ihre verlorenen Bedeutungsanteile suchen und ihnen ihre Ambivalenz zurückgeben. Auch Wörter haben die Fülle ihrer Bedeutung dadurch, dass sie das komplementäre Andere ihres geläufigen Wortsinns mit einschließen.

RM: Das Nichts-tun, das Nicht-produktiv-Sein als letzte Form des Widerstandes. Es ist interessanterweise das, was im Individuum die größten Schuldgefühle hervorruft und in der Gesellschaft den Volkszorn, die Hetze gegen die sogenannten Sozialschmarotzer. Das Nichts-tun ist ein Tabu. Das finde ich, ist ein guter Hinweis darauf, dass da was dran sein könnte.

MG: Allerdings. Und der Verlust der Zukunft hängt damit zusammen, dass wir unsere Möglichkeiten nur noch im Bereich dessen, was wir technisch in den Blick nehmen können, verorten. Das Mögliche, das wir uns vorstellen, ist das, was wir aus unserer Fähigkeit zu machen, ableiten. Aber die Zukunft ist dasjenige, was auf uns zu-kommt, das sind ja gerade die ungeahnten Möglichkeiten. Das Nicht-Ahnbare, Nicht-Vorwegnehmbare, Nicht-Prognostizierbare. Wenn unsere Möglichkeiten nur in dem bestünden, was wir uns in unserem kläglichen bisschen Verstand vorstellen können, dann gäbe es keine Hoffnung mehr. Sie liegen also nicht in dem, was wir leisten können, sondern eher in dem, was wir unterlassen können; vielleicht auch in dem, was wir erleiden, aushalten, tragen können.

RM: Da stellt sich mir ganz massiv die Frage, wie das geht. Es ist ja nichts, was individuell zu lösen ist. Wenn ich einfach beschließe, nichts mehr zu tun, habe ich vermutlich sehr schnell ziemlich viele Probleme und es ändert sich gar nichts. Es ist also etwas, das entstehen muss als eine soziale Bewegung.

MG: Die Kunst des Unterlassens ist natürlich eine Kunst, die geübt werden muss. Unterlassen kann man nicht einfach so. Ivan Illich nennt die Leute, die dieses Unterlassen, die Verweigerung praktizieren, "Refuseniks", die "Danke-nein-Sager". Sie wollen nichts von dem, was eine entmündigende Expertenkaste ihnen gewährt, um sie zugehörig zu machen. Sie wollen nicht diagnostiziert, kuriert, sozialisiert, erzogen, untergebracht, zertifiziert, gefördert, geschützt werden, also all diese Zuwendungen, die heute den mächtigen Dienstleistungssektor am Leben erhalten. Das lehnen die ab und sagen: Danke, nein. Und Illich sagt, die Drop-outs können das besser als wir Arrivierte, weil wir so bedürftig sind und so viel zu verlieren haben. Er sagt natürlich nicht, dass alle Drop-outs so sind, sondern einige von ihnen können diesen Weg gehen, und mit denen sollten wir kläglich Saturierten kooperieren und teilen.

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Immaterial World

Schulden

von Stefan Meretz

Die Diskussion um transkapitalistische Veränderungen ist durchzogen von anthropologischen Annahmen. Zu diesen gehört, dass tätigkeitsteilige Gesellschaften - also alle - notwendig soziale Verpflichtungen hervorbringen, die sich als "Schulden" ausdrücken: Tut jemand etwas für mich, stehe ich in seiner oder ihrer Schuld. Solche "Schulden" werden mit Geld operabel. So kommt die Frage auf, ob mit postmonetären Verhältnissen auch soziale Verpflichtungen obsolet werden oder ob diese gar überhistorischen Charakter besitzen und sich als soziale Schuldverhältnisse Ausdrucksformen suchen, die am Ende doch wieder bei Geld landen.

Im Folgenden verwende ich den Begriff der Reziprozität (Gegenseitigkeit) in einem zweifach erweiterten Sinne. Erstens fasse ich damit allgemein die Beziehung zwischen Handelnden, also sowohl solche, in denen Geben und Nehmen - allgemeiner: Beiträge und Nutzungen - aneinander gekoppelt sind wie solche, in denen das nicht der Fall ist. Bei gekoppelt-reziproken Handlungen wird eine Gegengabe erwartet (etwa implizit beim Schenken oder explizit bei Tausch), bei entkoppelt-reziproken Handlungen nicht. Zweitens verwende ich den Begriff nicht nur für unmittelbare, sondern auch für vermittelte Beziehungen, also insbesondere gesellschaftliche Beziehungen, bei denen sich die Handelnden indirekt auf einander beziehen, sich aber nicht kennen.

Eine freie Gesellschaft ist eine, in der die Reziprozitätsverhältnisse (inter-)individuell, kollektiv und gesellschaftlich inklusiv strukturiert sind. Hier geht die Bedürfnisbefriedigung der einen nicht auf Kosten von anderen (wie im Kapitalismus), sondern schließt sie tendenziell mit ein. Die Frage bleibt jedoch, ob solche positiv-inklusiven Reziprozitätsverhältnisse entkoppelt sind oder ob auch hier soziale Verpflichtungen in Form gegenseitiger "Schuld" bestehen bleiben. Ich springe gedanklich in die freie Gesellschaft und diskutiere die Frage für die Ebenen (inter-) individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Beziehungen.

Für die Individuen in einer freien Gesellschaft verwirklicht sich die genuine Möglichkeitsbeziehung zur Realität unbeschränkt. Menschen sind zwar grundsätzlich immer frei, ihre Handlungen selbst zu bestimmen, in herrschaftsförmigen Gesellschaften werden sie jedoch dazu gedrängt, bestimmte Handlungen auszuführen (Gottesdienst, Lohnarbeit etc.) - mittels direkten Zwangs und Gewalt, ideologischer Beeinflussung oder anderen Nahelegungen. Fallen Zurichtungen und Einschränkungen weg, so bekommen Handlungen den Charakter der Freiwilligkeit.

Interindividuell, also in den unmittelbaren Beziehungen zwischen Menschen, gilt die volle Freiwilligkeit dann in gleicher Weise. Interpersonale Beziehungen sind nicht mehr von "dritten Gründen" überlagert - etwa, sich in einer unsicheren Gesellschaft sicherer zu fühlen -, sondern allein vom Grad der Zuneigung. Ob wir uns in einer freien Gesellschaft gegenüber anderen Personen in der Pflicht sehen oder ob wir die grundsätzlich strukturell entkoppelte positive Reziprozität emotional entspannt wahrnehmen können, ist heute nicht entscheidbar.

Für die kollektive Ebene bedeutet es, dass in einer freien Gesellschaft Kollektive genauso wie Individuen nicht gezwungen sind, Nutzungen und Beiträge auszugleichen. Das ist für die Phase der Transformation zu einer freien Gesellschaft anders: Hier ist es gerade eine besondere Qualität, auf kollektiver Ebene für einen Ausgleich von Nutzungen und Beiträgen zu sorgen, um eine Entkopplung auf individueller Reziprozitätsebene zu erreichen. Darauf basieren etwa solidarische Beitragssysteme in Commons, bei denen sich die individuellen Beiträge unterscheiden können, solange auf Projektebene das reinkommt, was rausgeht.

Es liegt auf der Hand, dass auf gesellschaftlicher Ebene eine Kopplung der Reziprozität, also der wechselseitigen Herstellung der Lebensbedingungen durch Schaffung und Nutzung von Mitteln und Leistungen zur Befriedigung von Bedürfnissen, nicht aufgehoben werden kann. Was genutzt wird, muss geschaffen und erhalten werden - will die Gesellschaft ihre Zukunftsfähigkeit nicht verlieren. Aus systemischer Perspektive ist es jedoch irrelevant, wer die notwendigen Beiträge leistet, sofern gewährleistet ist, dass dies durchschnittlich gesichert erfolgt. Ist das der Fall, dann gibt es individuell wie kollektiv keinen Zwang zur Kopplung von Nutzungen und Beiträgen. Eine solche Gesellschaft wäre im vollen Wortsinne frei, weil alle Beiträge freiwillig geleistet werden - in der kapitalistischen Logik von Tausch, Erpressung und Zwang schier unvorstellbar.

Die Entkopplung von Geben und Nehmen auf individueller wie kollektiver Ebene ist eine wichtige Qualität einer freien Gesellschaft. Zudem es vielfach gar nicht möglich ist, einen Ausgleich herbeizuführen - etwa im Bereich von Sorgetätigkeiten. Auch jene Menschen, die kaum oder gar nicht in der Lage sind, Beiträge zu leisten, haben Anspruch auf unreduzierte Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums. Gerade im Sorge-Bereich gibt es Tätigkeiten, zu denen wir nicht verpflichtet sind, die wir aber selbstverständlich tun. Selbstverständliche Sorge ist jedoch nicht mit Pflicht oder Schuld gleichzusetzen.

Löst man sich vom Produktionsfetisch, so wird zudem sichtbar, dass es zahlreiche Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensweise - zur Kultur im weitesten Sinne - gibt, die nicht anerkannt sind, weil sie ökonomisch nicht zählen und nicht oder nur als Nutzungen wahrgenommen werden. Genau besehen ist jedoch jede Entfaltung individueller Möglichkeiten ein Beitrag zur Lebensweise. Auch wer nur gesellschaftlich geschaffene Dinge nutzt, trägt durch die Weise der Nutzung zur Kultur bei.

Soziale Verpflichtungen und Schuldverhältnisse lösen sich in einer freien Gesellschaft strukturell auf. Gesellschaftlich bleibt eine gekoppelte Reziprozität bestehen - was alle nutzen, muss von allen geschaffen werden. Doch einmal gegeben besitzen nun die gesellschaftlichen Notwendigkeiten individuell uneingeschränkt den Charakter von Möglichkeiten. Alle Weisen der Teilhabe an der Schaffung der Lebensbedingungen erfolgen nicht nur freiwillig, sondern sind auch gesellschaftlich anerkannt. Nur in einer freien Gesellschaft können wir auch individuell frei sein.

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Katastrophisch desorganisierend?
Zur Subversivität des Lachens

von Uwe von Bescherer

Wir sind uns wahrscheinlich alle einig, dass das gemeinsame herzhafte Lachen im Kreise unserer Freunde zum Schönsten gehört, was das Leben zu bieten hat. Charles Baudelaire schrieb über das Lachen: "Es ist die Lust zu empfangen, die Lust zu atmen, die Lust sich zu öffnen, die Lust zu betrachten, zu leben, zu wachsen." Zur Grundausstattung menschlicher Äußerungsformen gehörend ist das Lachen originärer Ausdruck von Lebensfreude.

Physiologie des Lachens

Was geschieht eigentlich beim Lachen? Der Volksmund weiß es schon lange: "Lachen ist die beste Medizin." Beim Lachen schüttet unser Körper schmerzstillende und entzündungshemmende Stoffe aus, der Cholesterinspiegel, der Blutdruck und die Blutfettwerte werden gesenkt, der Ausstoß von Stresshormonen wird verringert, der Herzschlag verlangsamt und die Muskulatur entkrampft. Das Lachen stärkt unsere Abwehrkräfte und unser Immunsystem, der ganze Körper wird mit mehr Sauerstoff durchströmt. Wir fühlen uns augenblicklich vitaler.

Als reflexartige, unwillkürliche Körperreaktion auf eine Stimulation bringt das Lachen vom Kopf bis zum Bauch rund 300 Muskeln in Bewegung, allein 17 sorgen dafür, dass die Gesichtszüge entgleisen. Durch das muskuläre Spiel von Anspannung und Entspannung wird das Zwerchfell zu einem als vergnüglich empfundenen Mitschwingen provoziert. Die Lunge stößt infolgedessen in schnell aufeinander folgenden Momenten ruckartig die Luft aus, was die für das Lachen typischen Geräusche erzeugt.

Die Konsequenz aus einer rein physiologischen Betrachtung des Lachens und seiner Wirkung zog der indische Arzt Madan Kataria, der 1998 Yoga und Lachen kombinierte und das grundlose Lachen als Heilmittel gegen fast alle Leiden dieser Zeit pries. Seitdem schießen Lach-Therapeuten, Seminare und Gruppen dieser Couleur wie Pilze aus dem Boden.

Lachen, Gänsehaut und Erröten

Der Lachyoga-Erfinder stellt sich mit seinem Angebot einer suchenden Nachfrage. Laut entsprechender Studien wurde in den 50er Jahren in Deutschland rund dreimal so viel gelacht wie 2011, und es ist zu befürchten, dass die Zahl der Lacher bis heute weiterhin abgenommen hat. Zur Verstümmelung der Lebensfreude leisten das Ausbrennen der Wertlogik und die strenger werdende Herrschaft des ÜberLebens keinen geringen Beitrag. Im Ranking der Interessen und Themenvorlieben gesellschaftskritischer Kreise rangiert das Lachen allerdings trotzdem irgendwo zwischen den Plätzen Gänsehaut und Erröten. Aber was für einen Stellenwert sollte der physiologische Reflex des Lachens in den gedanklichen Reflexionen eines zur gesellschaftlichen Veränderung entschlossenen Geistes auch haben?

Betrug am Glück

"Fun ist ein Stahlbad", so wetterte Adorno 1944 in der Dialektik der Aufklärung. Diesen Satz, der zu vielen interessanten Assoziationen einlädt, richtete er gegen die Kulturindustrie. Seinen Ausführungen nach geht diese über das Lachen hinweg wie über alle anderen natürlichen Eigenschaften, indem sie sie an Entfremdung, Leistung, Konsum und Warenabstraktion bindet. Das Lachen wird ausgenutzt als eine leicht verführbare menschliche Eigenschaft, als eine leicht erregbare, positiv empfundene Lustigkeit. Sie dient nicht nur zur Ablenkung von den auferlegten Lebensbedingungen, sondern als Einfallstor, um die Realität, wie sie ist, schmackhaft zu machen, bis sie schließlich ein "schmatzend einverstandenes Behagen" verursacht. Ein Stahlbad ist etwas, um Stahl zu härten. Gehärtet wird durch das von der Kulturindustrie ausgenutzte Lachen der Konsumenten deren Konditionierung auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Kulturindustrie übernimmt damit methodisch die Goebbelsche Vorstellung, wofür das Lachen im gesellschaftlichen Maßstab denn gut sein könnte: "Wir gebrauchen zum Kriegführen ein Volk, das sich seine gute Laune bewahrt." Das "negative" Lachen trägt laut Adorno aber auch das entgegengesetzte Element in sich. Leider führte er diesen Gedanken des "versöhnenden" Lachens mit seinen Momenten von Befreiung und Selbstreflexion nicht weiter aus.

Puddingwerfen für den Umsturz

Von einer ganz anderen Seite näherte sich ein anderes zeitgeschichtliches Phänomen dem Lachen. Gemeint ist die deutsche sogenannte 68er-Bewegung mit ihren vielen verschiedenartigen Facetten - den hiesigen Hippies, der antiautoritären Bewegung, der Kommune 1, der APO, der "subversiven Aktion", den "umherschweifenden Haschrebellen" und vielen anderen weniger berühmten. Ihnen gemeinsam ist der entschiedene Protest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der getragen wurde von einer Leichtigkeit des Daseins als Folge des deutschen "Wirtschaftswunders". Damit verknüpft war nämlich der allgemein unproblematische Zugang zu verhandelbaren Arbeitsplätzen zur Sicherung individueller Lebensgestaltung. Die Protestkultur der damaligen Zeit kritisierte die nicht unerheblichen Restbestände des Faschismus im BRD-Staat - in seiner Wirtschaft, seiner Verwaltung und der Bürgermentalität -, und war auf der Suche nach dem "Anderen" der Wirtschaftswundergesellschaft. Ihre "Lebensstil-Revolte" war geprägt von gemeinsamem Lachen, Spaß und aufsässigem Humor, häufig gepaart mit dem Parodistischen, Performativen (okay, die APO ausgenommen, soweit sie vom SDS vertreten wurde).

Ein Beispiel für die Spaßaffinität der sogenannten 68er-Bewegung? Ihren ersten großen medialen Erfolg erzielte die Berliner Kommune 1 im Jahr 1967 mit ihrem Versuch, den damaligen US-Außenminister Humphrey mit Schlagsahne- und Puddingbeuteln zu bewerfen. Das professionelle Lächeln des Politikers, sein teurer Anzug und die korrekte Frisur als Zeichen seiner staatlichen Würde sollten angegriffen, seine Autorität ins Lachhafte gezogen und seine Anerkennung symbolisch verweigert werden. Leider wurden die Kommunarden schon im Vorfeld der Aktion festgenommen. Die Berliner Presse machte daraus trotzdem ein "Attentat" auf den US-Vizepräsidenten und behauptete, dass der "Sprengstoff" für die "Bomben" aus Peking angeliefert wurde. Die Zielsetzung der Kommune 1 verwirklichte sich so auf geniale Weise: "Die Lacher müssten auf unserer Seite sein" - und das Gelächter war bis weit ins bürgerliche Lager hinein zu hören.

Der Spaß mit derlei Protestaktionen diente aber nicht nur der einfachen Belustigung. Hinter dem vordergründigen Spaß stand die bewusst verfolgte Absicht, die herrschenden Verhältnisse durch Lachen und Verwirrung ins Wanken zu bringen. Die Wurzeln dieser außergewöhnlichen Protestform lassen sich bis zu der Gruppe "Situationistische Internationale" (SI) in die 50er Jahre zurückverfolgen. Die experimentelle Praxis des situationistischen Kampfs gegen die "Gesellschaft des Spektakels" umfasste das ziellose, traumwandlerische "Umherschweifen" in urbanem Umfeld und die "Zweckentfremdung", der jedes vorgefundene Material dieses gesellschaftlichen Desasters recht war, um es verdreht und mit unerwarteten Botschaften munitioniert zurückzuspucken.

Mit diesen Methoden sollten die Menschen Neues entdecken, Vertrautes als fremd wahrnehmen und so ihrer eigenen Entfremdung gewahr werden. Auf einer solchen Basis könnten sich - so hoffte die SI - schließlich neue Verhaltensweisen, neue "Begierden und Leidenschaften" entwickeln, die dem "schrecklichen Gegensatz zwischen möglichen Konstruktionen des Lebens und dem gegenwärtigen Elend" ein Ende setzen und die alltägliche Lebenswelt radikal umgestalten. Eine ganz neue "subversive" Aktionsform war geboren, die sich in der bewussten Absicht, die bestehende Ordnung zu untergraben und zu überwinden, schwer einzuschätzender und von der Obrigkeit schlecht zu regulierender Mittel bediente. Hier endet aber auch die Herleitung des Puddingattentats aus den von der SI entwickelten Aktionsformen. Spaß, Witz, Lachen und Humor wurden damals auch von Raoul Vaneigem thematisch nicht fokussiert.

Ein Weg wird erst dann ein Weg, wenn einer ihn geht (Chang Tzu)

Für ein Verständnis des Puddingattentats kommen wir an der Gruppe Spur, der deutschen Sektion der SI, nicht herum. Während sich die französischen Situationisten um Guy Debord noch von ihrer Art der Marx-Interpretation und ihrer Vision der kollektiven Beherrschung der Welt begeistern ließen, hielt die Gruppe Spur eine radikale Veränderung der Gesellschaftsform "nur durch die Erneuerung des Individualismus, nicht durch das kollektive Denken" für möglich. Wirksame Schützenhilfe erhielt sie in dieser Überzeugung von dem Philosophen Herbert Marcuse, der sich für eine Neubestimmung des "subjektiven Faktors" stark machte: "Eine der Aufgaben ist es, den Menschentypus freizulegen, der die Revolution will, der die Revolution haben muss, weil er sonst zusammenbricht: das ist der subjektive Faktor..." Es sei geboten, "jede Möglichkeit eines Risses aufzuspüren in der ungeheuer konzentrierten Machtstruktur der bestehenden Gesellschaft".

Unter dem Motto "Gaudi ist Macht" sah die Gruppe Spur im Lachen eine Möglichkeit, die Fesseln der vorgegebenen Art von Gesellschaftlichkeit zu zerreißen, blieb bei ihren Ausführungen aber deutlich hinter dem argumentativen Niveau des situationistischen Gedankenguts zurück. Für sie waren alle "herrschenden Systeme und Konventionen" nichts als "missratener Gaudi", ebenso sei eine Revolution ohne Gaudi keine Revolution. "Wir fordern allen Ernstes die Gaudi. Wir fordern die urbanistische Gaudi, die unitäre, totale, reale, imaginäre, sexuelle, irrationale, integrale, militärische, politische, psychologische, philosophische ... Gaudi."

Die Berliner Kommune 1 setzte den Ansatz der Gruppe Spur praktisch um und verkündete das Konzept der "Spaßguerilla". Die neue Form politischen Eingreifens sollte Lust auf ein Denken in politischen Zusammenhängen machen. Gewollt war der "lachende" Bruch mit den überkommenen alltäglichen Lebensformen, um neue Freiräume für Phantasien, Lust, Fröhlichkeit und Liebe, Reflexion und Widerstand zu eröffnen.

"... manche wollen einen utopischen Unsinn, manche eine ordentliche Hölle, manche ein paradiesisches Chaos, wer aber hat recht? Die Spaßguerilla, die Unsinn vorspielt, um Sinn zu ernten. Was wir brauchen, ist politischer Humor. Und ein humoristischer Klassenkrieg, wo wir den Feind, die menschliche Dummheit, überwinden können ohne Blutvergießen. Wir brauchen eine gewaltige Kriegslist, größer als die des Odysseus vor Troja. Wenn das Leben Spaß machen soll, müssen wir mehr Spaß machen."

Das Vorhaben, den Unsinn des Bestehenden bloßzulegen, um den Sinn zu ernten, beherrschte der Kommunarde Fritz Teufel meisterlich nicht nur als einer der Pudding-Attentäter, sondern vor allem vor Gericht. Teufels Umgang mit der Justiz wurde ihm oft als "Unverschämtheit" ausgelegt und entsprechend oft mit Ordnungsstrafen geahndet. Als man ihm bei richterlicher Gelegenheit schließlich einen psychiatrischen Gutachter auf den Hals hetzen wollte, konterte er mit der Frage, ob nicht vielmehr "das krankhafte Verhängen von Ordnungsstrafen" psychiatrietauglich sei. Die entblößende Antwort des Richters: zwei Tage Ordnungshaft gegen Teufel. Als Teufel an anderer Stelle aufgefordert wurde, sich zu einer der vielen Urteilsverkündungen gegen ihn zu erheben, sagte er grinsend: "Wenn's der Wahrheitsfindung dient..." Dieser Satz ist legendär, weil er den geistlosen, autoritären Formalismus der Justiz präzise auf den Punkt bringt.

Bei ihrem Versuch, durch Perspektivenwechsel zu verunsichern und psychisch-emotionale Verkrustungen in Frage zu stellen und aufzuweichen, machten die Kommunarden auch vor linken Ansichten und Konventionen nicht halt. Arbeiter verlachte die Kommune 1 als "Blödmänner mit ihren Kühlschränken" und Kunzelmann erheiterte medial mit der Äußerung: "Was geht mich der Vietnamkrieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe." Die letzte mir bekannte subversive Aktion aus dem Kreis der Spaßguerilla-Kommunarden - eine Art letztes "Happening" mit ungebrochen großer Presseresonanz - ereignete sich in der Weihnachtszeit 1995, als Reiner Kunzelmann sich vor Gericht den Anschuldigungen des damals in Berlin regierenden Bürgermeisters Diepgen stellen musste. Während der Verhandlung holte Kunzelmann ein Ei aus seiner Jacke und klatschte es mit den Worten "Frohe Ostern, du Weihnachtsmann!" auf den Kopf des Bürgermeisters.

Die Presse berichtete gerne über die "Politclowns" der Kommune 1, da mit jedem Lacher ihre Auflagenzahl in die Höhe schnellte. Während Adorno mit seiner These "Fun ist ein Stahlbad" darauf hinwies, dass die Kulturindustrie Spaß und Lachen als bewussten Hebel einsetzt, um den Leuten diese Welt als lebens- und verteidigenswert zu implantieren, wendete die Spaßguerilla Adornos These von innen nach außen. Ihre subversiven Aktionen zielten auf eine Art von Spaß und Lachen, die das alltäglich gelebte Selbstverständliche der bestehenden Gesellschaftsordnung provokant und medienwirksam in Frage stellen soll und zu Widerstand und Umsturz animiert. Adorno setzten die Spaßguerilleros so gesehen die These "Lachen ist ein Weichspüler" entgegen.

Lieber Gras rauchen als Heuschnupfen

Wer von der 68er-Bewegung und der damaligen Leichtigkeit des Daseins spricht, darf über den in dieser Zeit verbreiteten Gebrauch von Cannabis - verbreitet auch bei den politisch Aktiven - nicht schweigen. Haschisch und Marihuana schienen dem Zeitgeist der Jugendbewegung kongenial zu entsprechen. Häufig ist der Cannabis-Rausch von euphorischen Gefühlen gekennzeichnet, das Gemeinschaftserleben unter Freunden wird intensiviert und die Lachhäufigkeit deutlich erhöht. Die üblichen Denkmuster treten zurück und überlassen bunten Assoziationen und glücklichem Unsinn das Feld (sogenannte Bewusstseinserweiterung). Wer bei dieser Aufzählung positiver Seiten des Cannabis-Genusses Parallelen sieht zu Konzeption und Aktion der Spaßguerilla, liegt sicher nicht ganz verkehrt.

Mit der Auflösung der Kommune 1 zerfiel auch das Konzept der Spaßguerilla samt der Idee des subversiven Lachens. Nachfolgegruppierungen wie "Subversive Aktion" und "Umherschweifende Haschrebellen", die sich schnell der radikalen Militanz verschrieben, zeigen nachhaltig, dass das bloße Rauchen von Haschisch keine Garantie für die Produktion neuer und guter Ideen mit gesellschaftstranszendierender Intention ist. Mit Parolen wie "Mit dem Joint in der Hand Revolution im ganzen Land" und "High sein, frei sein, Terror darf dabei sein!" liefen diese Gruppen bedauerlicher Weise ins Verhängnis der "Bewegung 2. Juni" und der RAF.

Das Ende der 68er-Bewegung überließ all ihre verwertbaren Attribute der Konsumgüterindustrie und wurde so aktiver Teil des gesellschaftlichen "Spektakels". Die Zeiger der Zeit stellten sich wieder auf "Fun ist ein Stahlbad".

And now for something completely different (Monty Python)

Gibt es das überhaupt: subversives Lachen? Oder handelt es sich dabei nur um gewagte Assoziationen einiger bekiffter Berliner Jugendlicher zu den experimentellen Praxisansätzen der SI? Die Literatur bietet wenig Erhellendes, schon gar keine fundierten Untersuchungen. Einer wissenschaftlichen Herangehensweise erschließt sich wohl nur die Physiologie des Lachens. Darüber hinaus entzieht sich das Lachen durch seine Vielfältigkeit anscheinend jeder professionellen Herangehensweise. Wir lachen froh, zufrieden, offen, hinterhältig, höhnisch, bitter, dumm, freundlich, liebevoll, überlegen, geheimnisvoll usw. Man lacht sich unter den Tisch oder platzt vor Lachen, lacht sich kringelig und scheckig, lacht sich kaputt oder macht sich vor Lachen gar in die Hose. Vielleicht gibt es so viele Arten von Lachen wie Muster der Lachproduktion und Typen der humorvollen Interaktion. Sie alle auf das Potential ihrer Subversivität hin untersuchen zu wollen, würde in der Tat jeden Rahmen sprengen. Die wenigen Ausführungen zum Thema "Subversives Lachen", die ich auf meiner literarischen Erkundungsreise fand, lassen sich - angelehnt an die Darstellung des Lachvorgangs durch den Anthropologen Helmut Plessner - komprimiert etwa so zusammenfassen:

Nach Ansicht von Plessner wird der vom Lachen überwältigte Mensch katastrophisch desorganisiert. Der Geist als den Körper besetzendes und instrumentalisierendes Subjekt verliert beim Lachen seine Selbstbeherrschung und entgleitet in seinen Körper, überlässt den Körper sich selbst. Überwältigt durch einen "anonymen Automatismus" lacht der Mensch somit eigentlich nicht selbst, "es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang". Plessners Beschreibung erweckt den Eindruck, als ob das Lachen ein Daimon im Getriebe des instrumentalisierten Körpers wäre und nichts bewirkt als sich selbst. Stimulanz und Wirkung des Lachens interessieren dabei nicht.

Das Bild, das Plessner vom Lachvorgang entwirft, lässt sich weiterentwickeln. Der Geist, der durch das Lachen hinweggefegt wird und sich dem Körper fügen muss, ist die psychische Repräsentanz für bestehende Normen, Ordnungen und den daraus abgeleiteten Standpunkten. Durch das Lachen entzieht sich der Mensch dem Diktat der Vernunft, der dominanten Wirklichkeit des Alltagslebens und der Tyrannei des Realitätsprinzips. Er statuiert dabei eine andere Realität, ein spezielles Terrain der Freiheit, eine Insel im Ozean der Alltagserfahrung, einen widerspenstigen Hintergrund der Fassade des "Spektakels". Von diesen Orten aus wird die Welt des Normalen verlacht. Sie ist nun nicht länger die Welt, sondern nur noch eine Welt, und dazu eine lächerliche. An diesen Orten ist nichts heilig - der Subversion sind die Türen geöffnet.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Das Konzept der Stadtguerilla, einen "humoristischen Klassenkrieg ohne Blutvergießen" zu entfachen, war zweifelsohne sympathisch und wird durch die oben konturierte Argumentationslinie befeuert. Plessners Beschreibung des Lachvorgangs erweist sich im argumentativen Gegenwind aber als fragil. Warum kann der menschliche Geist, der vom Lachen angeblich hinweggefegt wird, jederzeit erklären, was das Lachen hervorgerufen hat? Kann es nicht genauso gut sein, dass die kulturhistorische Spaltung von Geist und Körper im Lachen wieder zu einer ursprünglich-friedfertigen Symbiose zurückfindet? Wenn sich der menschliche Geist aber durch den Lachvorgang nicht katastrophisch auflöst, sondern ihn entspannt begleitet, spricht auch nichts dagegen, dass die Subversivität nicht im Vorgang des Lachens, sondern schon im Voraus im Gedankengut des Lachenden zu finden ist. Die Berichterstattung über die subversive Aktion des Berliner Puddingattentats der Kommune 1 stimuliert so gesehen nichts anderes als die mit der Aktion kompatiblen subversiven Geisteszonen des Zeitungslesers, der darüber in ein solidarisches Gelächter ausbricht. Das war es dann aber auch schon - zu etwas weiterem wird er nicht animiert. Das Lachen hat in diesem Gegenmodell die Signatur des Transzendenten verloren, ist keine Überschreitung mehr und es zeigt sich nichts Anderes. Von der Subversivität übrig bleibt die distanzierende Wirkung, die der Lacher gegenüber dem Verlachten aufbaut. Sie allein reichte aus, um die Obrigkeit gegen das im Mittelalter um sich greifende Gelächter des Volkes vorgehen zu lassen (Gott und Kirche dulden keine Distanziertheit der Gläubigen), und es zeitlich als "Karneval" einzugrenzen.

Begleitet wurde der sicher vermessene Versuch der Berliner Kommunarden, aus dem Lachen eine Speerspitze gesellschaftsumstürzlerischer Praxis zu machen, von der Forderung nach einem allgemeinen Mehr an offenem, entspanntem Humor. Für diese Forderung gibt es bis heute gute Gründe: der Mensch lacht gern - und fast alles Lachen ist gemeinsames Lachen, es "steckt an". Humor wirkt "sozio-positiv", indem er den Zusammenhalt einer Gruppe stärkt, einen Raum für Gemeinschaftlichkeit öffnet und Gleichheit zwischen den Lachenden stiftet. Menschen begegnen sich durch gemeinsames Lachen mit mehr Bereitschaft zu Verständnis und Respekt, sind offener zueinander und zugänglicher füreinander. Zur Abrundung des Lachens als Moment der Überwindung zwischenmenschlicher Distanziertheit trägt auch die Fähigkeit bei, über sich selbst lachen zu können. Aus gutmütigem, authentischem Humor, der die Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben in sich trägt, könnte so im Gedankenaustausch gerade mit Nicht-Gleichgesinnten doch noch eine Art "Einfallstor" gebastelt werden - für die Durchsetzung der besseren Argumente natürlich und zur Aufrechterhaltung der Idee der Subversivität des Lachens.

Der Jahrtausende währende Streit um das richtige Verhältnis des Menschen zu seinem Humor und zu seinem Lachen ist bis heute auch in gesellschaftskritischen Kreisen nicht ausgetragen. Die ursprüngliche Konfrontationslinie lässt sich zwischen den konträren Ansichten der altgriechischen Philosophen Platon und Demokrit verorten. Der Denker platonischen Typs lacht bis heute nicht. Es ist ihm alles sehr ernst. Seine gedankliche Strenge und geistige Tiefe vertragen keine lachende Distanz, kein spielerisches Amüsement, keine leichtlebige Heiterkeit. Demokrit dagegen war der Ansicht, dass es dem Menschen am besten bekommt, wenn er sein Leben stets in frohgemuter Gelassenheit zubringt. Von der Weltanschauung Demokrits war wohl auch Friedrich Nietzsche inspiriert, als er die Zeilen schrieb: "Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird 'ernst'. Und 'wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken nichts': So lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle 'fröhliche Wissenschaft'. - Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!"

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Der Esel und das Messer

von Emmerich Nyikos

1. Es ist ein wohldurchdachtes Prinzip jeglicher Wissenschaft, die diesen Namen auch wirklich verdient, alles das an "Argumenten" sauber wegzuschneiden, was nicht notwendig ist, um einen Sachverhalt zu erhellen - das Überflüssige mit dem Messer zu entfernen, das uns Wilhelm von Ockham als ideales Instrument diesbezüglich empfiehlt.

Was nun die Wissenschaft von der Geschichte betrifft, so hat sich, mit Bezug auf das ockhamsche Messer, zwanglos ergeben, dass der Rekurs auf die actio, die agency der Akteure, nicht nur überflüssig ist, die Trajektorie der Geschichte plausibel darzustellen, sondern darüber hinaus auch noch ihr Verständnis erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.

Das Gebaren und die Transformation von historischen Systemen ist Funktion dieser Systeme selbst und nicht des bewussten Handelns irgendwelcher Akteure, eines Handelns, das freilich gleichfalls zur Geschichte gehört, aber eben nur so wie die Nahrungsaufnahme oder das Atmen - es betrifft nicht das Ganze, sondern nur dessen elementare Partikel. Und genau aus diesem Grund muss hier das ockhamsche Messer angesetzt werden.

2. Und dennoch kann es auch vorkommen, dass, wenn man das Messer Ockhams anzuwenden gedenkt, man gelegentlich in die missliche Lage gerät, dass das Resultat, was immer abgetrennt wird, sei es der eine oder der andere argumentative Komplex, sich in beiden Fällen als plausibel erweist: Entfernt man den einen Komplex, so reicht der andere hin, den Sachverhalt aufzuklären, aber auch umgekehrt gilt, dass, trennt man den anderen ab, der erstere diesbezüglich hinreichend ist.

Man befindet sich somit in der Lage von Buridans Esel, der, von zwei Heubüscheln gleich weit entfernt, sich nicht zu einem Entschluss aufraffen konnte, welchem er sich nun zuwenden sollte - und darob verhungert ist.

3. Nehmen wir etwa die Sanktionen, Blockaden und militärischen Interventionen der Tauschwertgemeinschaft, dessen, was sich selbst als "freie Welt" tituliert, so ist man versucht, all diese "Aktivitäten" aus dem Umstand abzuleiten, dass die Clique der Strategen des Westblocks, also das Personal des bürgerlichen Staatsapparats, sich hier wie dort seit langem befleißigt, die respektiven Staaten wie eine Firma zu führen, deren alleiniges Kriterium der globale Profit der Kapitalgesellschaften ist, als deren volonté générale sie agieren, ganz nach dem Motto: "Was gut ist für General Motors, ist gut für Amerika". Dies impliziert natürlich dann eine bornierte Sicht auf die Dinge, das Ausblenden all dessen, was nicht mittel- oder unmittelbar mit den Kapitalprofiten zu tun hat.

Nun ist es so, dass, um den Profit auf globalem Niveau zu bedienen, im Idealfall sämtliche Barrieren wegzuräumen sind, welcher Art sie auch seien, unter anderem auch die "Regime", die ein solches "Hindernis" sind oder zumindest als ein solches erscheinen. Das ist ein völlig normales Verhalten, da es ein Systemmerkmal ist, die Konkurrenz oder all das, was als Konkurrenz aufgefasst wird, zu zerstören. Der Staat, der sich als Firma versteht, für die der Profit der Konzerne der Angelpunkt ist, befleißigt sich all diejenigen, die als Spielverderber erscheinen, als eine Barriere des globalen Profits, mit Stiel und Stumpf zu entfernen.

4. Das wäre das eine. Man kann die Sache aber auch dergestalt sehen, dass, insofern sich das kapitalistische Prinzip nunmehr weltweit durchgesetzt hat und niemand mehr da ist, der es noch anzweifeln würde, in letzter Konsequenz alle bereit sind, den transnationalen Konzernen so oder so entgegenzukommen. Interventionen sind überflüssig geworden, weil es im Grunde keine Feinde der bürgerlichen Ordnung mehr gibt: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist hier wie dort sakrosankt. Was sich heute vielleicht noch stur und widerborstig gebärdet, das lässt sich morgen anstandslos kaufen.

So gesehen erscheinen dann all die Interventionen der "Wertegemeinschaft" als reiner Ausfluss ideologischer Praxis: des Bestrebens, die Oberfläche der Realität, die Erscheinungswelt, dem "Bild von der Welt" anzupassen, dem "Bild", das man sich von der Welt draußen macht und das der Forderung genügt - als wesentliche Bedingung -, dass es die eigene Praxis, das Alltagstun, nicht desavouiert, denn eine Diskrepanz zwischen Denken und Tun wäre mental auf Dauer kaum zu verkraften.

Nun ist es so, dass das "Bild von der Welt" für all diejenigen, die systemkonform agieren, das einer Ordnung ist, als deren Wesenskern die human rights, freedom and democracy und all die anderen bürgerlichen Stereotype erscheinen, nämlich ein "Bild", aus dem die Substanz dieser Gesellschaft, deren Perzeption die Praxis der Handelnden anfechten könnte, insofern als diese Substanz in der Perversion des Tauschwerts besteht - es wird produziert nicht der Gebrauchswerte wegen, sondern die Gebrauchswerte sind, umgekehrt, nur der Vorwand der Profitmacherei -, dadurch eliminiert ist, dass die Spotlights, das Scheinwerferlicht der Rezeption, Nebensächlichkeiten beleuchten, womit der Rest, worauf es eigentlich ankommt, gänzlich im Schatten verschwindet.

Insofern nun allerdings die krude Realität durch die Erscheinungsoberfläche immer wieder durchschimmern will, ist man beständig versucht, durch ideologische Praxis die reale Fassade dem "Bild" anzupassen, unter anderem dadurch, dass die, welche dort draußen in der Welt im Geruch stehen, "Tyrannen", "Despoten", "Regime" zu sein, erbarmungslos ausgemerzt werden, was freilich nicht dazu führt, dass sich die human rights, freedom and democracy weltweit verbreiten, sondern das Chaos, das allerdings, weil es als solches neutral ist, dem "Bild von der Welt" viel besser entspricht.

5. Was nun? Wird man wie Buridans Esel verhungern, weil man nicht weiß, was man mit Ockhams Messer wegschneiden soll?

Nun, der Esel Buridans hätte wohl nicht verhungern müssen, wenn er zuerst sich das eine der Büschel und dann noch das andere einverleibt hätte. So auch hier. Denn die beiden argumentativen Komplexe sind, wie so oft, nur die zwei Seiten ein und desselben Blattes Papier: Das eine schließt das andere nicht aus. Denn der gemeinsame Nenner beider Verhaltensweisen ist ihre Borniertheit, der Standpunkt des Partikularen und nicht der der Geschichte.

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"... ein Moment von Umzentrierung"

Ilse Bindseil hat uns einen Brief geschrieben

Nachdem mich schon das Themenheft "Nabelschau" (Streifzüge 66/2016) so angesprochen hat, weil es auf die merkwürdige Resonanzlosigkeit eines engagierten Unternehmens wie Streifzüge und damit auf ein heikles Thema eingegangen ist, will ich versuchen, anlässlich des thematisch bedrückend ähnlichen Heftes "(no)future" (68/2016) einen kritischen Gedanken vorzutragen. Und ich schöpfe meine Legitimation dazu aus dem unmittelbaren Anspruch der Streifzüge auf Veränderung, der so universal ist, dass die Kritik nur jedem offen stehen kann.

Mit der Resonanz ist es schon an sich so eine Sache, und nicht nur bei kleinen Zeitschriften von berüchtigtem intellektuellen Zuschnitt wie Streifzüge oder Ästhetik & Kommunikation. Ich könnte kaum ein erfolgreiches Beispiel anführen, es sei denn, ich verirre mich in Bereiche, wo die Resonanz ein Teil der Produktstrategie ist. Und trotzdem stellt sich mir die Frage, ob unsere Arbeit wirklich eine Lücke füllt, die ohne sie leer bliebe, oder ob sie die Lücke, indem sie sie füllt, allererst produziert. Kann eine Sache so widersprüchlich sein, dass sie allein aufgrund ihrer Defizite einen Haufen Lücken produziert, die unmöglich zu füllen sind? Vor diesem Hintergrund wäre die ausbleibende Resonanz nichts anderes als solch eine imaginäre Lücke.

Bei genauerer Betrachtung der Vorgänge, die an der Resonanz beteiligt sind, stellt sich mir die Sache weniger verhängnisvoll dar. "Brülle ich zum Fenster raus, klingt es stolz und herrlich. Laufen alle schnell davon, bin ich so gefährlich?" Der Anfang des Kinderbuches von Friedrich Karl Waechter ("Brülle ich zum Fenster raus", Weinheim und Basel 1977) spiegelt zwar eins zu eins meine Erfahrung mit dem Schreiben wider; wenn mir etwas auf dem Papier geglückt ist und die Resonanz ausbleibt. Betrachte ich diese Erfahrung aber genauer, so ergibt sich, dass hier nicht Produktion und Resonanz auseinanderklaffen, sondern meine eigene Resonanz und die der anderen klaffen auseinander: "Laufen alle schnell davon." Schnöde Wunscherfüllung ist es, daraus die Vermutung abzuleiten: "Bin ich so gefährlich?" Gelegentlich bin ich schon zu dem Schluss gekommen, dass Produktion und Resonanz, wenn sie sich nicht wie gesagt durch einen marktmäßigen Rahmen aufeinander beziehen, gar nichts miteinander zu tun haben und Resonanz zu erwarten einfach einem Missverständnis entspringt.

Wären Streifzüge oder Ä&K also ein Medium eher für die Macher als für die Leser? Und kann es nicht durchaus ehrenhaft sein, ein Medium für die Macher zu sein? Andere machen anderes, wir Texte oder eine Zeitschrift. Dabei halten wir, durchaus auch für andere, das Machen hoch. Wir halten die Idee der Reflexion und öffentlichen Verständigung, Streifzüge dazu prononciert die (Idee der) Notwendigkeit der Veränderung, hoch. An dieser Stelle trennen sich für mich die Wege von Streifzüge und Ä&K, deren Zusammenhang durch meine Person ja auch ein wenig zufällig gegeben ist. Aus der je besonderen Widersprüchlichkeit der einzelnen Zeitschrift ergibt sich eine besondere Zuspitzung. Scheitert Ä&K eher an seiner mangelnden Bestimmtheit, so Streifzüge eher an seiner Entschlossenheit. Sind bei Ä&K alle gemeint, aber keiner fühlt sich angesprochen, so fühlen sich bei den Streifzügen nur die gemeint, die sich direkt angesprochen fühlen. Auf den polemischen Punkt gebracht: Hat Ä&K als Medium einer reflektierenden Öffentlichkeit eher kein Publikum, so Streifzüge ganz im Gegenteil das sprichwörtliche kleine, aber feine Publikum, das durch eine Strategie, die auf seine Erweiterung zielt, sogar gefährdet werden könnte.

Dieses Publikum ist Partisan einer umstürzenden gesellschaftlichen Veränderung, deren unmittelbare Notwendigkeit meiner Ansicht nach theoretisch nur um den Preis von Verkürzungen vertreten werden kann, die nur durch eine Entzerrung von Reflexion und Veränderungsabsicht, scheinbar also nur um den Preis ihrer konstitutiven Absicht aufgehoben werden könnten. Dabei kann, aber muss eine solche Entzerrung das Publikum, das an einer Verklammerung von Theorie und Praxis interessiert ist, nicht unbedingt vergrämen, würde doch genau diese Verklammerung thematisiert. Wieviel Reflexion hält eine unmittelbare Veränderungsabsicht aus, frage ich mich, und wo geraten beide in einen verstörenden Gegensatz zueinander? Wo wird der Reflekteur zum Gegenspieler der Praxis, der Anspruch auf Praxis zum Gegenspieler der Reflexion? Über die Krise einer Lockerung des ultimativen Bezugs zwischen theoretischer und praktischer Absicht hinweg könnte sich eine größere Resonanz, nach innen und außen, ergeben.

"... der trigonometrische Punkt, von dem wir ausgehen"

Um nicht in die Enge einer bloß noch appellativen Theorie - "Quia absurdum!" - oder einer lebensgeschichtlichen Besonderheit zu geraten, würde ich dafür plädieren, stärker als die Notwendigkeit einer objektiven Veränderung die eigenen Voraussetzungen zu thematisieren. Dabei nicht ängstlich die Legitimität der eigenen Absichten zu überprüfen, sondern für das Konstruierte der theoretischen Gegebenheiten einen Sinn zu entwickeln, das heißt sie in Frage zu stellen. Für mich bedeutet das altersgemäß die Frage: Halten die alten Ansprüche noch, die wir auf die Aufklärung, auf Marx und Hegel nicht nur zurückzubeziehen, sondern mit "Horkheimer und Adorno" und nach Art der antiautoritären Bewegung als ein lückenloses Kontinuum darzustellen gewohnt sind? Hat die Realität sich so wenig verändert, dass wir die in jenem Kontext entwickelten Begriffe, den in ihm entwickelten Anspruch, die in ihm entwickelte Betrachtungsart so ohne weiteres übernehmen, ihre Anwendung, so als wären sie die Hardware unserer Existenz, beliebig verlängern können, und sie wären immer noch wahr und gebrauchstüchtig? Ist die Art unseres Rückbezugs überhaupt korrekt? Macht er aus mutigen Konstruktionen nicht halbherzige Herleitungen, aus kraftvoller Geschichtsphilosophie nicht einen von Mal zu Mal dünneren Aufguss? Versetzt er uns nicht in die kompromittierende Lage, dass wir stets eine doppelte Absicht verfolgen: die Realität zu erkennen und unsere Ableitung zu rechtfertigen, unseren Bezug zu retten? Müssten wir nicht genau umgekehrt der Kompromittierung unseres Anspruchs entgegen wirken? Sind wir nicht dafür kompetent?

Gegen meinen angeborenen Existentialismus würde ich gern einen einfachen quantitativen Gesichtspunkt in Stellung bringen. Sind die Begriffe und Urteile, die wir übernommen haben, vielleicht zu groß, sind sie außerhalb ihres historischen Umfelds zu groß bzw. wir, ohne hinreichenden Bezug zu unserem zeitgenössischen Umfeld, zu klein? Welches sind die klar erkannten Verhältnisse oder vielmehr, wo ist die kompakte Vorstellung vom Hier und Jetzt, die dafür sorgen würde, dass wir mit den übernommenen Begriffen richtig umgehen? Oder wo ist die permanente Kritik, nicht der Verhältnisse, sondern unserer Begriffe? Woran liegt es, dass "das Kapital" wie ein Relikt wirkt, während die kapitalistischen Verhältnisse sich beständig transformieren, und dass uns das so wenig ausmacht? Ist vielleicht nicht der Begriff falsch, sondern wir sind die Falschen, ihn zu verhandeln? Dafür spräche zum Beispiel, dass wir dank der Sozialwissenschaften, dank Soziologie, Kulturanthropologie etc. immer weniger merken, dass wir nicht Politik oder Ökonomie, sondern Kultur betreiben, mit den automatischen Folgen einer Umzentrierung, durch die sich die Verhältnisse für uns auf den Kopf stellen. Diese Verlagerung liegt nicht an uns, die Entmündigung der Gesellschaftskritik haben nicht wir zu verantworten. Aber sie könnte uns auffallen, über diesen hochinteressanten Prozess, der auch uns selbst verortet, könnten wir nachdenken.

Einer solchen Revision der eigenen Position haftet ja der schlechte Ruf der Nabelschau an, die in die Marginalität führt. Wenn das Vertrauen in die verändernde Kraft der eigenen Erkenntnisse aber so groß ist, dass über das Ausbleiben jeglicher Veränderung nur gerätselt werden kann, dann ist umgekehrt nicht einsichtig, warum das Vertrauen in die eigenen Begriffe zugleich so klein ist, dass die kritische Beschäftigung mit ihnen als Rückzug gewertet werden muss. Dazu kommt, dass eine solche Revision das Feld öffnen würde für Diskussion. Es ist ja sehr schwierig, einer globalen Analyse vorzuwerfen, dass sie fehlerhaft ist, wenn man nicht selbst ein Spezialist fürs Ganze ist. Dagegen müsste der rechte Gegenstand oder die rechte Form des Nachdenkens erst herausgefunden werden. Die Leitfrage lautet: Worüber müssen wir nicht nur, sondern können wir auch nachdenken? An welchem Punkt kommen beide, das Müssen und das Können, zusammen? Dieser Punkt wäre der trigonometrische Punkt, von dem wir ausgehen. Begreifen heißt eingrenzen. Die Gehirnforschung sagt: Durch Ausschalten geht die Entwicklung voran, nicht durch maximale Beleuchtung!

"Entwürfe, die ihre Reflexion erkennbar mit sich führen..."

Unter diesem Gesichtspunkt will mir der Gebrauchswert, der als Schwerpunkt für das Sommerheft der Streifzüge angekündigt wird, aufgrund seiner Doppelnatur als kapitalistischer und kapitalkritischer, als theoretischer und "natürlicher" Begriff wie ein exzellentes Beispiel für eine solche Gegenstrategie erscheinen. Mag sein, dass ich mir das Thema im Eifer des Gefechts unzulässig aneigne und auch hierin übergriffig verfahre. Aber exakt am Schnittpunkt zwischen abstrakter Theorie und konkreter Erfahrung gelegen, als eigentlich Doppelbegriff, öffnet der Begriff das Feld für Diskussion.

Dagegen gibt es Diskussionen genug, in denen wir, sobald wir uns darauf einlassen, Gejagte der Abspaltungen sind, die unserer Existenz zugrunde liegen, und nicht die Jäger: wenn wir zum Beispiel über die Doppelnatur von Arbeit und Ausbeutung, Wohlstand und Waffenexport, Frieden und Krisenexport, Freiheit und Abschottung reden, als wären sie alternativ, so als müssten - und könnten - wir uns zwischen ihnen entscheiden, wo sie doch ein Bedingungsgefüge sind; wohlgemerkt, nicht ein und dasselbe, sondern ein Gefüge. Wir haben diese Abspaltungen nicht vorgenommen, und wir brauchen sie unseren Verstand auch nicht ausbaden zu lassen, indem er sie wiederholt. Auch wenn es wahrhaftig so aussieht, als wären wir dazu verurteilt, bloß weil wir zur Nutznießerseite gehören, uns ihrer durch Scheinargumentationen zu erwehren. Sie gehören zu unseren Voraussetzungen, aber sie sind nicht unser Projekt. Sie sind meinetwegen etwas, was wir im automatischen Kampf ums Bestehende erhalten wollen, aber nichts, was wir explizit vorhaben.

Was mir anstelle solch blödsinniger Alternativen vor Augen steht, sind Entwürfe, die ihre Reflexion erkennbar mit sich führen, Entwürfe, also, von einer gewissen Vollständigkeit und Unabhängigkeit und, dadurch bedingt, von erkennbarer Begrenztheit. Gegen die kapitalistischen Verhältnisse als leitende Form und übergeordneten Auftrag eine zugegebenermaßen kleine eigene Form mit einem winzigen Auftrag zu setzen, das würde mir einleuchten. Wer sich mit ihr auseinandersetzte,der könnte gar nicht anders, als die Interaktion unserer kleinen Form mit der großen unbegriffenen in Beziehung zu setzen. Er wäre mit allen Sinnen dabei, und sein Gegenstand wäre beweglich!

Es fallen mir ja immer dieselben Beispiele ein, wahrscheinlich, weil sich bei ihnen die Dinge umgedreht haben und sie mich bewegen. Ich komme aus einer Zeit, in der der Umgang mit dem Holocaust die eigene Intellektualität geprägt hat. Raul Hilberg, zum Beispiel, hat sich dem Unvorstellbaren, um es vorstellbar zu machen, mit dem festen Willen der Begrenzung genähert. Er hat gegen die aufgeregte Scham das trockenste Aktenstudium gesetzt. Er hat die Judenvernichtung durch die Verschiebung von der unverständlichen Vernichtungsabsicht auf die verständliche Durchführung verstehbar gemacht. Seine Arbeit, die den notwendigen Bruch mit der Unmittelbarkeit so überaus deutlich macht, ist für mich das Paradigma einer unabhängigen Form. An ihm kann man sich orientieren. Eine solche unabhängige Form ist nicht notwendig eine sogenannt geistige: der Kostnixladen, zum Beispiel, vorgestellt im Heft "Nabelschau", lebt von einer nicht bis ins Letzte geklärten, aber stets virulenten Beziehung zu allem, was kostet, er lebt davon, dass er trotzdem existiert. Der Blick auf die eigene Reflexion wiederum ist geradezu gleichbedeutend mit Grenzziehung. Ihm haftet ein Moment von Umzentrierung an, das sich auf die Analyse der Verhältnisse übertragen lässt. Wenn ich über die kapitalistische Gegenwart rede, dann müsste die begleitende und mit gleicher Gründlichkeit behandelte Frage lauten: "Worüber rede ich nicht?" Mag meine Analyse noch so global, meine Kritik noch so total, mein Urteil noch so apodiktisch sein, ihr Nutzen besteht nicht in ihrer Globalität, ihrer Totalität oder Apodiktizität, sondern in ihrer Einschränkung. Die Grenzziehung ist die Analyse.

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STREIFZÜGE - Um Zustrom wird gebeten!

Nicht schon wieder! Und doch einmal mehr: Wir brauchen Euch! Das geht uns zwar auf die Nerven und Euch auch, aber wir können da nicht locker lassen. Kurzum - wir wollen intensiver unterstützt werden wie bisher!

So haben wir uns zwar stabilisiert und werden auch dank des Zuspruchs nicht von der Bildfläche verschwinden. Das erlaubt aber kaum mehr als auf dem gleichen infrastrukturellen Niveau weiterzumachen. Das ist, umso mehr in Zeiten wie diesen, viel zu wenig! Wir haben mehr drauf und mehr von uns braucht es auch. Vorausgesetzt ihr seid bereit uns mehr zu fördern. Das fordern wir auch ein. Wer uns möchte, muss nicht nur schauen, dass es uns gibt, sondern Sorge tragen, dass wir uns entwickeln können.

Die Streifzüge stehen auf zwei Säulen: Zeitschrift und Homepage. Die Printausgabe ist ein sinnliches Produkt (optisch, haptisch, aromatisch), jeweils das Beste aus einem bestimmten Zeitraum, zu einem Teil konzentriert auf ein bestimmtes Thema. Die Website erlaubt Flexibilität, nimmt auch regelmäßig zu Tagesereignissen Stellung. Alles, was aus unserem Stall kommt oder dort Einlass findet, ist verfügbar und nach diversen Kriterien abrufbar. Sie braucht Pflege und Betreuung. Unübersehbar in die Jahre gekommen, muss sie in den nächsten Monaten kräftig überholt und funktionell erweitert werden. Auf keinen Fall wird es eine Paywall geben, der kostenlose Zugang auf www.streifzuege.org bleibt.

Unsere regelmäßigen Userinnen und User scheinen sich oftmals nicht bewusst zu sein, dass sie hier ein Produkt genießen, das auch umgekehrt in den Genuss der Förderung kommen will und somit Solidarität benötigt. Wir machen hier zwar keine Rechnung auf, aber doch darauf aufmerksam, dass, solange wir über Geld verkehren, gerade wir über ein Mindestmaß verfügen müssen, um handlungsfähig zu sein. Wenn unser Verhältnis also lediglich als Einbahnstraße funktioniert, wird das Projekt letztlich unmanövrierbar. Es ist zwar fein, zu einer der meistgelesenen linken Seiten zu gehören, ziemlich unfein allerdings, wenn das anderweitig keinen Niederschlag findet.

Ganz wider Willen sind wir Profis darin, uns über Wasser zu halten. Doch eigentlich wollen wir Boden unter den Füßen spüren und Land gewinnen. Das erscheint uns nicht zu viel verlangt. Was wir brauchen ist Zuwendung: technisch und organisatorisch, infrastrukturell wie finanziell und nicht zuletzt personell. Wir bitten um regen Zustrom!

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Natürlich wissen wir, dass sich einige finanziell fast gar nichts leisten können. Aber die meisten können sich schon geringfügig was abknöpfen, damit alle an unseren Inhalten und Angeboten partizipieren können.

Und wer mehr Geld hat oder ausgeben möchte, den oder die bitten wir dem TRANSFORMATIONSclub der Streifzüge beizutreten und uns 144 Euro oder mehr jährlich zu spendieren.

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Zur besonderen Beachtung empfehlen wir unser "Repariert nicht, was euch kaputt macht!" Es ist zur weiteren Verbreitung gedacht, als Flyer und ebenso als Download auf der Homepage.

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Auslauf

Alternative Facts

von Lorenz Glatz

Trump-bashing macht bei zivilisierten Leuten in Amerika und in Europa (soweit sie sich noch trauen) Furore. Trump selbst hingegen bei der anschwellenden Zahl der eher Unzivilisierten aller sozialen Klassen, einschließlich der "politischen Klasse" auch. Deren aller Haltung ist: Es gibt kein Problem, wenn eins ihm davonläuft - speed kills. Es muss wieder so werden, wie es schon einmal war. In den Fünfzigern und Sechzigern, wo ein Großteil dieser Leute jung war. America first! - Make America great again! (So hat 1980 schließlich Reagan auch gewonnen.) Ein bescheidenes "Österreich zuerst!" und Dementsprechendes in allen anderen nationalen Pferchen gehört da zum internationalen Milieu. Trotzig schleudert man derlei dem "korrupten Establishment", der "Lügenpresse", den "sogenannten Richtern" entgegen. Die Sprüche sind für Bierzeltgröler und Twitter-Fans, die Rezepte retro, gerade deshalb für viele überzeugend: Chauvinismus, Rassismus, Sexismus, Gewaltfantasien als "alternative facts", als gefährliche Drohung.

Die Liberalen im "Establishment" aller Länder raufen sich die Haare wegen dieser Rüpel, die da als Programm etwas herausschreien, was doch alles "nicht mehr einfach so geht". Die Dynamik der Ausbeutung der Welt, der belebten wie der unbelebten für die Verwertung eingesetzten Kapitals, die Vermehrung investierten Gelds siecht dahin an der Ausmerzung des Inhalts von Wert durch die Ersetzung produktiver menschlicher Arbeit durch Automation. Auf jeden Fall aber zerschellt sie an der Endlichkeit des Planeten und an der Zerstörung unserer Biosphäre. Staaten lösen sich auf durch anthropogene Naturkatastrophen, ökonomischen Zerfall, Kriege, Verarmung, Flucht und Tod von vielen Millionen. Auf Dauer halten Zäune und Mauern nicht.

Die Funktionäre und Verwalter des Kapitalismus sind angesichts dieses Niedergangs abseits der Mikrophone ratlos. Mehr mit Gesetzen als mit Hetzen gehen sie Schritt um Schritt Trump und Konsorten nach. Diese springen aus der Ratlosigkeit um in blinde Wut gegen die "korrupten Politiker", die die alte "freie Bahn den Tüchtigen" verlegen, und Wut auf die Konkurrenz, die Schurkenstaaten, Terroristen, Migranten, "Gutmenschen" und alle "Unbrauchbaren". Sie machen sich daran, gegen diese alle die Staatsmacht zu mobilisieren, die Gewalt des Staats von den Bürokraten bis zu den Militärs, im Äußern wie im Innern.

Der Rückgriff auf offene Gewalt ist durchaus logisch und erst recht bedrohlich - der Kapitalismus ist schließlich selbst Kind der Gewalt, seine Ordnung ist zu Struktur gefrorene Gewalt, die auftaut, wenn er nicht mehr funktioniert. Retten lässt sich so die stockende Verwertung nicht, Gewalt kann aber entscheiden, wer am längsten im alten Gleis der Weltzerstörung weiterfahren darf, vor allem aber droht aus einem Meer von Not und Blut eine neue noch unbekannte Ordnung der Gewalt unter den Resten der Menschheit zu entstehen.

Dieses Leben und seine Perspektiven sind zum Abgewöhnen. Wir sind ja nicht nur im Großen, sondern ganz alltäglich in den ganz kleinen Dingen gegeneinander aufgestellt in der Ordnung der Herrschaft und der Konkurrenz, die längst in unser Denken, ja unser Fühlen eingedrungen ist. Sich behaupten können bei "Jeder ist sich selbst der Nächste" und "Nimm, was du kriegen kannst" ist heute nicht einmal mehr "das schlecht entworf'ne Skizzenbild des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt" (Jura Soyfer). Es ist schlicht zum Ekeln.

Umdenken tut not, reicht aber nicht, "Umleben" braucht es. Ein gutes Leben ist nur zu haben im Kreis von Menschen, die füreinander sorgen. Es gilt, den Alltag in unsere, der "Nachbar*innen", Hände zu bekommen, unser Essen und Trinken, unser Wohnen - das wäre schon ein großer Anfang. Schaut und hört euch um, solche Wünsche, ja die praktischen Versuche sind unterwegs. Die Wenigsten sind auf immer unbelehrbar. Umgeht, demoralisiert Gewalt! Macht sie lächerlich, wo immer es geht! Und wer zu ihr gezwungen war, braucht keinen Heldenkult, Gewalt braucht Heilung. Schlagt nach bei "Commons" und "Solidarwirtschaft", analysiert und kritisiert! Experimentiert! Das eine braucht das andere. Scheut keinen Streit, solange er zu Erkenntnis, Versöhnung und neuer Einheit führen kann! Schafft wirklich alternative Fakten! Noch ist Zeit. Vielleicht.

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AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Uwe von Bescherer, 1955. Halbherziges Studium der Philosophie, danach bis heute Kampfkunstlehrer. Zappelt schon viel zu lange in den elenden Netzen des bürgerlichen Lebens.

Ilse Bindseil, 1945. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse. Redakteurin von Ästhetik&Kommunikation.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; seit 1970 politisch aktiv. Autor von Die Illusion von 1917. Verheiratet, eine Tochter, Arzt in Rente. "Traforat" der Streifzüge.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Zuletzt erschienen: Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft (2016).

Rehzi Malzahn, 1979. Brach einst ihr Studium der Geographie ab, um sich der Revolution zu widmen. Dieses Unterfangen blieb bis heute erfolglos und so arbeitet sie nun prekär im Bereich Journalismus, Restorative Justice, Mediation und Destillation. Sie lebt in Köln und Südfrankreich, hat 2015 den Band Dabei Geblieben - Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen veröffentlicht.
rehzimalzahn.blogsport.eu

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Walther Schütz, 1958-2012. Ausbildung zum Hauptschullehrer, danach Geographie- und Geschichtestudium, langjährige Tätigkeit beim ÖIE-Kärnten / Bündnis für Eine Welt in Villach.

Manfred Sohn, 1955. Studium der Sozialwissenschaften, ehem. Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Partei "Die Linke", bis 2013 im Niedersächsischen Landtag.

Sowie: Lorenz Glatz, Franz Schandl, Maria Wölflingseder

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E-Mail-Container

Auch die Streifzüge verfügen über eine Art Newsletter, genannt E-Mail-Container. Wer Lust hat, gelegentlich von uns belästigt zu werden, der teile uns das bitte mit. Eine E-Mail mit dem Betreff "E-Mail-Container" an redaktion@streifzuege.org reicht.

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IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/1/23, 1050 Wien.
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Website: www.streifzuege.org

DRUCK
H. Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien
Auflage: 1200

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REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
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Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl,
Martin Scheuringer, Ricky Trang,
Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

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Quelle:
Streifzüge Nr. 69, Frühling 2017
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2017

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