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STREIFZÜGE/046: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 73, Sommer 2018


Streifzüge Nummer 73, Sommer 2018
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde



INHALTSVERZEICHNIS

Petra Ziegler und Franz Schandl: Nein statt ja, aber ...

Tomasz Konicz: Die Systemfrage als Überlebensfrage

Franz Schandl: Wertrevolutionen oder: Die Krise bei Marx

Knut Hüller: Marx und das Ende des Kapitals "wie wir es kennen"

Frank Engster: Zur Aufgabe einer kategorialen Gesellschaftskritik

Karl Korsch: Zehn Thesen über Marxismus heute

Franz Schandl: Marx digital. Vom Ende der Verwertung und vom Aufstieg der virtuellen Ökonomie

Holger Schatz: Arbeit auf Abwegen
Überflüssige Arbeit bei Marx und heute

Peter Oberdammer: Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft (Teil III: Opferrituale)

Franz Schandl: Aus der Zeit gefallen

Ilse Bindseil: Im Garten der Sätze. Worüber ich nur schreiben kann, darüber kann ich nicht reden

Kolumnen
Immaterial World: Simon Sutterlütti und Stefan Meretz
Dead Men Working: Maria Wölflingseder

Rezension Franz Schandl (F.S.) zu: Christian Fuchs: Marx lesen im Informationszeitalter

Vorschau
N° 74 | Herbst 2018: Haben
N° 75 | Frühling 2019: Antipolitik
N° 76 | Sommer 2019: Lärm

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Einlauf

von Franz Schandl

In den letzten Monaten hatte man das Gefühl, dass Marx nicht nur malträtiert wird, sondern regelrecht faschiert. Was man dem Revolutionär nicht alles unterstellen kann. Wofür er da herhalten muss, das löst Verwunderung und Ernüchterung aus. Das ist wirklich Fast Food, Marx für Eilige. Diskutiert wird Marx als Marke und nicht Marx als Substanz. Da ergeht es ihm wohl wie vielen anderen. Die Kulturindustrie spuckt seriell Bände aus, die die Regale zieren und die Altpapiercontainer füllen. Mehr als Beflissenheit und Business war da nicht zu spüren. Kaum eine Neuerscheinung, von der man nicht behaupten könnte, sie würde alt erscheinen.

Eigentlich sollte man froh sein, dass der seltsame Marx-Hype vorbei ist, und dann kommen auch wir noch mit einer Marx-Ausgabe daher. Indes haben wir ihm doch einiges zu verdanken. Das wollten wir dokumentieren, ist doch Marx für unseren Zusammenhang nicht nur eine historische Bezugsgröße, sondern eine aktuelle. Wir haben uns in dieser Nummer bemüht, einige spezifische Aspekte zu beleuchten. Manch ein Beitrag reizt zum Widerspruch, wie etwa jener von Frank Engster, der, in Abgrenzung von wertkritischen Auffassungen, seine Position ausgehend von der marxschen Wertformanalyse umreißt. Die Autorinnen und Autoren - zumal die "Gäste" - vertreten in ihren Texten nicht unbedingt, was innerhalb der Redaktion als Konsens gelten dürfte. Die Artikel sollen zu Auseinandersetzung und Diskussion einladen. Kommentare, Repliken und Kritik sind daher stets willkommen, Anschreiben an die Redaktion (redaktion@streifzuege.org) ebenso.

Ansonsten wie immer das obligate Ansinnen als Ansuchen: Das ist uns und unserem Publikum zwar lästig, aber ohne gelegentliche Fütterung würde es uns nicht mehr geben. Transformation, Transponsion, Abonnement oder tatkräftige Unterstützung (siehe "We need you" auf Seite 16) - der Möglichkeiten sind viele. Dies bedenkend wünschen wir eine anregende Lektüre.

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Nein statt ja, aber ...

von Petra Ziegler & Franz Schandl

Was ist los?

Das könnte eine gute Frage sein. Vorausgesetzt man beantwortet sie nicht vorschnell dahingehend, dass derzeit eine falsche Politik betrieben wird. Alles scheint eine Frage der adäquaten Intervention zu sein, als ob es nur darauf ankomme, welche "andere" Politik anstatt der herrschenden durchzusetzen sei. Das völlig unkritische Bekenntnis zur Politik gehört immer noch zum guten Ton, obwohl die sich doch stets in allen Varianten blamiert. Bevor alles reflexartig in den Strom Welche Politik? eingeordnet wird, sollte ein Nachdenken, ob Politik überhaupt möglich sei, beginnen. Die Frage ist nämlich nicht: Wohin geht die Politik?, sondern Geht die Politik dahin? Genau das meinen wir. Politik ist ausgereizt. Innerhalb des Politischen liegt keine Perspektive, die nicht in der Immanenz befangen bleibt.

Zu einer kategorialen Kritik wollte oder konnte sich die Linke nie aufschwingen. Kategorial meint, endlich zu fragen, in welchen Koordinaten wir uns bewegen und denken, ob bestimmte Formprinzipien nicht Ergebnisse vorwegnehmen, also nicht beliebig instrumentalisierbar sind, wie man es gerne hätte oder zumindest unterstellt. Sonst erschöpft sich Kritik am Ist-Zustand in der Gebetsmühle leerer Worthülsen: Da wird die Demokratie verteidigt, der Rechtsstaat beschworen, die Gerechtigkeit eingefordert. Bourdieus Frage "Wenn ich zum Widerstand kein anderes Mittel habe als die Forderung nach dem, in dessen Namen ich beherrscht werde - ist das wirklich Widerstand?" kann nur mit "Nein" beantwortet werden. Ein solcher Widerstand ist letztlich affirmativ, er ist und bleibt Teil des ehernen kapitalistischen Gehäuses, aus dem der Jargon des Werts stammt. Wer solche Einsichten hat, hat keine Aussichten mehr. Dieses "Nein" kommt über "Ja, aber" nicht hinaus.

Die Linke wird mitunter selbst zu einem zutiefst konservativen Faktor, sie klammert sich an die Zerfallsprodukte, anstatt deren Überwindung ins Auge zu fassen und aktiv zu betreiben. Mit dem Insistieren auf Politik und Recht, Demokratie und Staat, Wirtschaft und Arbeit, Markt und Geld sind die zivilisatorischen Standards nicht zu halten. Schlimmer noch, mit jeder Wahl des vermeintlich "kleineren Übels" nähern wir uns dem Unerträglichen. Wer diesen Kosmos der Werte nicht verlässt, wer so redet und fordert, hat schon kapituliert.

Was wird geschehen?

Es wird nicht mehr so weitergehen, selbst wenn es noch einmal für einen kurzfristigen Boom und eine nächste Blase reichen mag. Immobilien-Blase, Fracking-Blase, Aktienblase. - Politik verhält sich im besten Fall so, dass da nichts vorzeitig angestochen wird. Ist die Blase erst einmal geplatzt, bleibt ihr ohnehin nur die Notstandsverwaltung.

Der Souverän, wir sehen es am Aufstieg des Populismus, vermag den Mangel an Gestaltungsmacht nur als fehlenden Willen des politischen Personals zu deuten. Doch die herbeigesehnten Macher sind zu fürchten, und nicht erst, wenn sie weitere Restriktionen oder Ausgrenzung propagieren, sondern auch, wenn sie die Hoffnung auf ein wie immer alternatives Regierungsprogramm befördern, ihren Spielraum gegenüber den Märkten großreden und selbst daran glauben. Die griechische Syriza kann als Beispiel eines entzauberten Hoffnungsträgers dienen. Ebenso - wenn auch von vornherein als negative Erscheinungen erkennbar - die Vertreter eines Neo-Autoritarismus, etwa in den USA, der Türkei oder in Ungarn. Die durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise verursachten Verwerfungen werden freilich auch diese Autokraten nicht in den Griff bekommen, im Gegenteil lassen forcierte neue Handelskriege eine deutliche Verschärfung der Krise befürchten.

Damit einher geht eine wachsende Frustration in immer größeren Teilen der Bevölkerung. Verteilungskämpfe, jeder gegen jeden, Neid und Denunziantentum bestimmen zunehmend das soziale Klima. Abstiegs- und Verlustängste lassen sich leicht gegen sogenannte Schmarotzer und immer neue Sündenböcke, die "korrupte" Elite oder jeden beliebigen lästigen Gegner instrumentalisieren. Wer sich zudem betrogen fühlt, weil sich nicht erfüllt, was - bei entsprechendem Wohlsprich Wahlverhalten - in Aussicht gestellt wurde, reagiert gekränkt und nicht selten rabiat.

Sich hingegen von Illusionen bewusst zu verabschieden wäre entschieden nicht dasselbe. Der passiven Enttäuschung wäre eine aktive Ent-Täuschung entgegenzusetzen. Anstatt von einem blindwütigen Aktionismus in den nächsten zu fallen, sollten wir ein Stück zurücktreten und aus der Distanz auf das unselige Gewimmel schauen. Wir kommen sowieso nicht mehr mit, und ehrlich gesagt, wir sollten auch gar nicht mehr die Mitgenommenen sein, was meint, einfach mitzumachen, solange es eben geht. Dabeisein ist gefährlicher als Dagegensein.

Der Blasen sind übrigens viele. Nicht nur monetäre, sondern auch mediale und mentale. Medial meint, dass wir mit Meldungen und Meinungen immer mehr zugemüllt werden, sodass es uns schwerfällt, überhaupt noch zu haltbaren, konsistenten und seriösen Urteilen zu kommen. Nicht aufgeklärt sind wir, sondern aufgezogen. Domestizierte Domestiken. Die subjektive Seite dieser objektiven Wahnwelt demonstriert sich in der Unterwelt der asozialen Medien, wo die Leute ihre aggressive und autoritäre Zurichtung ungeschminkt zeigen. Mental erleben wir ein Desaster sondergleichen. Angsthaber werden Angstmacher. Die Aufklärung geheißene bürgerliche Rationalität ist nichts anderes als die bisher größte Verzauberung, die die Menschheit kannte. Am Ende der Vorgeschichte steht sie in voller Blüte.

Zurzeit herrscht eine flächendeckende Frontpropaganda: Aufschwung, Hochkonjunktur, Vollbeschäftigung, Wachstum, Sparen, Einschnitte, Nulldefizit. Dabei jagt ein Skandal den nächsten. Jeder Anlass scheint willkommen, um vom gerade erst hochgekochten abzulenken. Im Treibhaus der Affären ist es freilich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, wo es doch darum geht, Übeltäter zu überführen. Und übel sind immer die anderen, die es irgendwie einzuschränken gelte. Freilich geht diese Rechnung nie auf, selbst wenn da jemand weggesperrt wird.

Einen Vorgeschmack, was es heißt, wenn Staatsinstanzen Staatsinstanzen überfallen, konnten wir im Zuge der Vorgänge in und um den heimischen Nachrichtendienst bekommen. Hier erproben sich, noch dazu in einer "entwickelten Demokratie" wie der österreichischen, staatliche Institutionen am Failed State, ohne es allerdings zu vermuten. Die Akteure untergraben einander wechselseitig, das Gewaltmonopol löst sich dabei in divergierende Gewaltpole auf, wo konkurrierende Banden versuchen, ihrem Kerngeschäft nachzugehen, ohne auf die Allgemeinheit des bürgerlichen Zusammenhalts Rücksicht zu nehmen. Das ist nicht anachronistisch, nur logisch.

Das Problem ist weniger der viel beklagte Ruck nach rechts als die Zentrifuge der Mitte. "Liberalistisch" und "rechtspopulistisch" unterscheiden sich weniger, als beide behaupten und wir glauben sollen. In allen zentralen Programmpunkten sind sie sich einig: Arbeit, Demokratie, Wachstum, Konkurrenz, Leistung, Standort. Die Differenz ist eine der Moderation. Wer mit den Liberalen den Populismus bekämpft, wird ihn bekommen. Die geradezu billigen Varianten diskutieren lediglich, ob es Herrschaft mehr nationalistisch oder globalistisch auszurichten gilt. Im gleichen bürgerlichen Boot sitzend, kämpfen sie ums Steuer.

Der Internationalismus der Globalisierungsritter ist freilich nur ein Imperialismus der kapitalistischen Zentren und seiner westlichen Werte, für die es sich in jeder Hinsicht zu bomben und zu destabilisieren lohnt. Nationalstaat gegen Globalisierung, das sind die falschen Fronten! Es geht darum, sich aus diesem Gegensatz zu lösen, nicht irgendwo Flankenschutz zu geben oder in Deckung zu gehen. Da ist nichts zu holen außer die Barbarei, die übrigens - um es nicht zu vergessen - vielen anderen auf diesem Planeten schon zugemutet wird.

Was tun?

Denken kann Tun nicht ersetzen. Auf der Eigenständigkeit von Theorie und Praxis ist zwar zu beharren, allerdings nicht dahingehend, dass sie nur ihre eigene Parzelle bedienen und sich als einziger Maßstab empfinden. Die Frage Was tun? ist so gut, wie die vorschnellen Antworten meist schlecht sind.

Es gibt jedenfalls kein historisches Subjekt der Veränderung, sondern das Subjekt selbst ist zu überwinden. Das Subjekt ist nichts anderes als das bürgerliche Exemplar. Die Subjektform ist Teil der bürgerlichen Gesellschaftlichkeit. Keine Bewegung, keine Partei, keine Klasse. In der Klasse werden wir nichts mehr finden als die Vergangenheit. Bei den Bürgern sowieso, aber auch ans Proletariat anzuknüpfen kommt über ideologischen Kitsch nicht hinaus.

Der Versuch, die Verhältnisse zu überwinden, kann nicht auf das Interesse einer sozialen Gruppe oder Bewegung kurzgeschlossen werden, die nie etwas anderes sein können als identitäre Konkurrenzkollektive. Es gilt, mit dieser Konkurrenzschleife Schluss zu machen, sich nicht in ihr, sondern gegen sie zu bewegen. Das ist freilich leichter gesagt als getan, aber es muss insistierend darauf hingewiesen werden.

Aufstehen statt liegen bleiben ist angesagt. Die Lethargie der stetigen Defensive und die zunehmende Unlust sind unerträglich. Zum Teufel mit dieser Abgeklärtheit und dem Zynismus und vor allem mit dieser elendiglichen Hosenscheißerei, die heutzutage schon die Youngsters befallen hat. Lasst uns doch stattdessen unsere Lüste magazinieren: Ich bin wer. Ich will was. Ich setze mich ein. Ich finde mich nicht ab. Jede und jeder kann Teil derselben Initialisierung als soziales und solidarisches Wesen werden. Wir unser uns uns! - Das Wollen wird stärker als das Nicht-Dürfen, wenn es sich als Können begreift. Scheitern ist erlaubt, kapitulieren nicht!

Abrechnung statt Anknüpfung an den gesunden Menschenverstand ist gefordert. Die Sachlichkeit, die Konstruktivität und wie diese seltsamen Hilfsgeister des Fetischismus allesamt heißen, sind zurückzuweisen. Sachlichkeit meint Sachzwang, Konstruktivität Opportunismus. Ebenso gilt es, die Ratschläge der gutmeinenden Realisten und Reformer auszuschlagen, die sich gegen die angeblichen Auswüchse empören, damit wieder alles "in geregelten Bahnen" weiterlaufen kann. Unser künftiges Wohlergehen oder auch nur Überleben davon abhängig zu machen, ob sich investiertes Kapital weiter und weiter und immer noch weiter vermehren lässt, muss als das bezeichnet werden, was es ist. Wem das Leiden an der verrückten Rationalität des marktwirtschaftlichen Diktats nicht Grund genug ist, sich den Verhältnissen zu widersetzen, mag sich deren Auswirkungen andernorts vor Augen führen. Nicht die "Realität", wie sie ist, gilt es anzuerkennen, sondern der Frage nach dem "Warum?" nachzugehen. Es ist gerade auch die Nicht-Notwendigkeit der herrschenden Zustände, die sie skandalös macht und unannehmbar.

Es wäre an der Zeit, die eigenen leidvollen Erfahrungen anzuerkennen und die der anderen. Ganz unmittelbar kann das heißen, weitere Zumutungen im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit zu verweigern. Drohende Repressalien gegenüber Schwächeren müssen gemeinsam abgewehrt werden. Es braucht Warmherzigkeit und Sorge gegenüber allen Drangsalierungen, aber nicht um einen alten Zustand aufrechtzuerhalten, sondern um die uns einengenden Verhältnisse insgesamt zu überwinden. Worum es geht, ist, Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Selbstorganisation zu schaffen. Aneignungen und Besetzungen sind zu entkriminalisieren. Es braucht Unterstützung bei drohenden Sanktionen, nach Verweigerung von "Maßnahmen" vonseiten des AMS etwa.

Beschäftigungsprogrammen ist offensiv entgegenzutreten. Wir sind keine Betreuungsfälle, die wieder fit für den Job gemacht werden müssen, damit sie ja nicht auf den Gedanken kommen, vorgebliche Notwendigkeiten zu hinterfragen. Schon gar kein Arbeitsmob, der bespielt und bei Laune gehalten werden muss. "Nieder mit dem Lohnsystem!", sagte Marx. Sagen wir auch. Das setzt vor allem freie Verfügung über die eigene Zeit voraus. Wir sollten sie uns nicht länger stehlen lassen.

Die Frage nach der Finanzierbarkeit ist radikal zu streichen. Lustvolles Dasein hat nicht von gelingender Geschäftstüchtigkeit genannter Wertverwertung abzuhängen, das gute Leben kann nie und nimmer Abfallprodukt eines zerstörerischen Wirtschaftens sein. Der Raubbau an Mensch, Tier und Natur ist zu beenden. Auskommen und Einkommen sind zu entkoppeln, Machbarkeit und Finanzierbarkeit sind völlig unterschiedliche Dinge.

Was wir tun oder unterlassen, darf nicht länger strukturellen Zwängen gehorchen, die sich einzig aus der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen ergeben. Nein! zu den Geboten einer Logik, die blind bleibt noch gegen jede bessere Einsicht. Andernfalls droht uns deren selbstmörderische Dynamik am Ende mitzureißen. Ein Zurück zu Kreisky, in den selig verklärten Sozialstaat, wird es nicht spielen. Bei uns nicht und in anderen Teilen der Welt sowieso nicht. Und ganz ehrlich, abgesehen vom Können: Soll man derlei Abgestandenheit wollen? Das Gestern wagen war bestenfalls ein Programm für vorgestern.

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Die Systemfrage als Überlebensfrage

von Tomasz Konicz

Irgendwann wird es schiefgehen. Irgendwann - in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren - wird es den am eskalierenden neoimperialistischen Great Game beteiligten Staaten nicht mehr gelingen, eine der sich häufenden geopolitischen Konfrontationen rechtzeitig zu entschärfen, um eine direkte militärische Konfrontation zu verhindern. Syrien, Iran, Ukraine, Türkei, Südchinesisches Meer, Taiwan - an Brandherden, die den kalten imperialistischen Machtpoker in einen verheerenden Großkrieg umschlagen lassen können, mangelt es nun wahrlich nicht.

Das spätkapitalistische Weltsystem scheint sich in einer spannungsreichen Vorkriegszeit zu befinden. Die einzelnen Machtblöcke und Staaten sind bereit, bei ihrem regionalen oder globalen Machtstreben immer mehr zu riskieren, die nackten Interessen treten immer deutlicher hervor, während die Propaganda nur noch nachlässig, oberflächlich, als eine reine Pflichtübung betrieben wird. Selbst die Propagandisten der imperialistischen Mächte, von Fox News bis Russia Today, glauben nicht mehr an die Rhetorik vom Menschen- oder Völkerrecht, mit der ihre brutale Machtpolitik, etwa in Syrien, müde gerechtfertigt wird.

Wie schnell die Stellvertreterkriege in einen Großkonflikt eskalieren können, wurde gerade bei der jüngsten Eskalation in Syrien offensichtlich, bei der angebliche Drohungen eines russischen Diplomaten, US-Raketen abzuschießen und deren Trägersysteme anzugreifen, den US-Präsidenten Donald Trump zu bizarren, stilecht per Twitter verbreiteten Drohgebärden verleiteten, die einer schwarzen Satire entsprungen sein könnten.

Trump twitterte - in der Sandkastensprache eines Internettrolls - von neuen, netten und "smarten" Raketen, auf die sich Russland vorbereiten solle, da sie bald kommen würden. Solche Drohgebärden, die für gewöhnlich über geschlossene diplomatische Kanäle verbreitet werden, haben freilich sehr reale Konsequenzen: Sie müssen wahr gemacht werden, damit das Prestige der jeweiligen Staatsmonster in der Weltarena nicht leidet, denn beide Seiten (USA und Russland) haben sich bei dieser Konfrontation selber Rückzugsmöglichkeiten ohne Gesichtsverlust durch öffentliche Verlautbarungen verbaut.

Solche bösartige Clowns, politische Borderliner wie Trump, Erdogan oder Putin treiben die Welt an den Abgrund eines Weltkrieges. Es ist lächerlich, infantil - und brandgefährlich. Es hört sich nach einer testosterongeschwängerten Schulhofprügelei an, dabei steht das Überleben der Zivilisation auf dem Spiel. Der Spätkapitalismus degeneriert in seiner Agonie zu einer blutigen Parodie seiner selbst.

Dabei sollen die Bemerkungen des russischen Diplomaten, die Trump zu seinem diplomatischen Ausraster verleiteten, sogar nur falsch übersetzt worden sein. ("Trump's Russia tweets show how misinformation can lead to global crisis", The Guardian, 11.04.2018). Eine Fehlinformation, die zu einer globalen Krise führt - dank einer neuen, in der Krise aufsteigenden Klasse an charakterlich labilen, egomanischen Rechtspopulisten scheint dieses Szenario jederzeit wiederholbar.

Ein Ende dieser Phase zunehmender geopolitischer und militärischer Konflikte ist nicht im Sicht, im Gegenteil: die Spannungen werden zunehmen. So eskalierte am 10. Mai, kurz nach der Auf hebung des iranischen Nuklearabkommens durch Donald Trump, der militärische Schlagabtausch zwischen Iran und Israel in Syrien, als die israelische Luftwaffe in Reaktion auf iranischen Raketenbeschuss der Golanhöhen dutzende von iranischen Stellungen angriff.

Auch wenn bei solchen Krisen tatsächlich das jeweilige Personal entscheidend ist, das die entsprechenden Machtpositionen besetzt, sind die Ursachen der evidenten Zunahme internationaler Spannungen damit nicht geklärt. Wieso gehen die Staatsapparate der globalen und regionalen Mächte zu einer immer aggressiveren Machtpolitik über, bei der sie immer größere Risiken eingehen?

Das Aufkommen einer populistischen Politklasse, die den global gegebenen Trend zu einer risikoreichen, imperialistischen Geopolitik exekutiert, ist dem globalen Krisenprozess geschuldet, der die sozioökonomischen Verwerfungen erst zeitigt, die Charaktere wie Trump an die Macht brachten. Die Symptome eines kapitalistischen Weltsystems, das unter einer systemischen Überproduktionskrise leidet, sind überall zu finden: In den Zentren sind es Deindustrialisierung, Verschuldung, Finanzblasen, Erosion der Mittelschicht und die zunehmenden Handelsungleichgewichte. An der Peripherie sind es schon Bürgerkriege und Staatszerfall.

Es sind eben diese inneren Verwerfungen in den spätkapitalistischen Kernländern, die deren Staatsapparate in die äußere Expansion treiben. Nicht nur die deindustrialisierten und pauperisierten USA, die Trump wieder "groß machen" will, befinden sich in einer tiefgreifenden Krise. Auch das am Rande des Zerfalls taumelnde EU-Europa und das sich rasant verschuldende China sind vom Krisenprozess erfasst, bei dem rasch fortschreitende Produktivitätssteigerungen der kapitalistischen Warenproduktion die ökonomisch überflüssige Menschheit schaffen, die derzeit der im Chaos ertrinkenden Peripherie zu entkommen versucht. Und: Das Massenelend dieser wachsenden überflüssigen Bevölkerungsteile bildete auch das Fundament der Aufstände im arabischen Raum - die erst die darauf folgenden neoimperialistischen Interventionen ermöglichten.

Die Systemfrage radikal und offensiv formulieren

Dieser Prozess des Abschmelzens von Lohnarbeit in der Warenproduktion, der die Grundlage der zunehmenden sozialen wie geopolitischen Instabilität bildet, wird aber noch weiter an Dynamik gewinnen und eine kapitalistische Arbeitsgesellschaft hervorbringen, von der immer größere Bevölkerungsteile ausgeschlossen sind. Das Auf kommen dem entsprechender Krisenideologien und geopolitischer Spannungen ist somit sicher. Es können hier Parallelen zu den frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gezogen werden, als die Weltwirtschaftskrise von 1929 dem Faschismus den Weg bereitete. Mit dem Unterschied, dass bei dem gegebenen Stand der Destruktionskräfte ein Großkrieg zu einem Zivilisationszusammenbruch führen würde.

Die Opposition gegen den drohenden Krieg müsste somit diese zunehmenden kapitalistischen Widersprüche reflektieren, die die Staaten in Konflikte treiben. Sie müsste - im besten Sinne des Wortes - radikal sein, das Problem an der Wurzel packen. Dies bedeutete folglich, die Systemfrage zu stellen, die Opposition gegen die Kriegspolitik mit dem Kampf um eine grundlegende gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen Dauerchaos zu verbinden. Nicht, weil es populär wäre. Das ist es gerade nicht, da selbst die politische Linke höchstens noch in sozialdemokratischen Kategorien denkt und die gesellschaftliche Entwicklung eher von konservativen oder reaktionären Bestrebungen geprägt ist.

Es ist aber schlicht überlebensnotwendig, die Systemfrage in aller Radikalität offensiv zu formulieren, da sich der Krisenprozess unabhängig vom gesellschaftlichen Stand des Massenbewusstseins entwickelt. Ob es die Menschen wahrnehmen wollen oder nicht: die Krise wird weiter ihre verheerende Wirkung entfalten, auch die deutsche Exportkonjunktur wird ihr Ende finden, da das Kapital gesamtgesellschaftlich eine Eigendynamik aufweist, deren zunehmenden Widersprüchen die Marktsubjekte ohnmächtig ausgeliefert sind. Konkret formuliert: Die Masse verausgabter Lohnarbeit in der Warenproduktion wird aufgrund konkurrenzvermittelter Rationalisierung weiter abschmelzen, auch wenn sich immer größere Bevölkerungsteile die Rückkehr in die Vollbeschäftigung der 70er oder 50er Jahre wünschen.

Das Kapitalverhältnis als gesellschaftliche Realabstraktion entfaltet auf den "Märkten" tatsächlich ein fetischistisches Eigenleben, das die sozialdemokratische Illusion einer "Beherrschung" oder "Zivilisierung" des Kapitalismus zerstört (der Zustand sozialdemokratischer Parteien bestätigt dies eindrucksvoll). Ein erster Schritt in die richtige Richtung bestünde gerade darin, sich diese Ohnmacht einzugestehen, ohne in Verschwörungstheorien zu versinken. Und gerade dieses dumpfe Gefühl der "Fremdbestimmung" durch eine gesamtgesellschaftliche Dynamik höchstmöglicher Kapitalverwertung, die die Subjekte unbewusst marktvermittelt selber hervorbringen, bildet die Grundlage auch der imperialistischen Ideologie, wie der Krisentheoretiker Robert Kurz bemerkte: "Jede Gesellschaft, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist und sich in pseudo-naturgesetzlichen, selbstzweckhaften Denk- und Handlungsformen bewegt, benötigt die Idee eines als fremd und äußerlich gedachten 'Bösen', um die verdrängten, nicht ins Bewusstsein integrierten Momente des eigenen Selbst zu bannen. Im rein oberflächlichen und politischen Sinne waren die 'Reiche des Bösen' natürlich die imperialistischen Konkurrenten, die entsprechend schwarzgemalt wurden." (Schwarzbuch Kapitalismus ²2002, S. 165) Eine krisenbedingte Zunahme von Widersprüchen und Verwerfungen lässt somit den Hass auf "imperialistische Konkurrenten" hochkochen.

Radikal lässt sich nun die Ursache der zunehmenden Krisentendenzen, der anwachsenden Kriegsgefahr eindeutig benennen. Es lässt sich klar sagen, was überwunden werden muss: die widerspruchsgetriebene Selbstbewegung des Kapitals, die Verwertung von Lohnarbeit als irrationaler Selbstzweck in der Warenproduktion. Die Substanz des Kapitals ist ja eben die Lohnarbeit, die das Kapital selbst durch Rationalisierungen aus dem Produktionsprozess verdrängt - diese autodestruktive Tendenz bildet den zentralen Widerspruch des Kapitalverhältnisses und der gegenwärtigen Krisenperiode mit ihren politischen, sozioökonomischen und ökologischen Verwerfungen.

Das Kapital ist die uferlose Akkumulation von verausgabter Lohnarbeit als irrationaler Selbstzweck. Alles andere - die Waren, die Konsumenten - ist nur Mittel zu diesem Zweck. Die tiefe Absurdität der gegenwärtigen Krise liegt somit gerade darin, dass das Kapital an seiner eigenen Produktivität erstickt. Die technischen Voraussetzungen, die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen, sind somit längst gegeben, während die irrationale Verwertungsbewegung des Kapitals aufgrund des immer höheren Produktivitätsniveaus der Warenproduktion immer stärker ins Stocken gerät. Es gilt somit, die vom Kapitalismus hervorgebrachten Produktionskräfte von den Ketten der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu befreien. Nicht mehr die Geldvermehrung als irrationaler Selbstzweck, sondern die direkte Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung muss zur Maxime einer neuen Produktionsweise werden. Die Kommunikationsmittel, um solch eine direkte Bedürfnisbefriedigung gesamtgesellschaftlich zu organisieren, sind in Gestalt der IT-Technologien längst gegeben.

Der gesellschaftliche Prozess, in dem die - zivilisatorisch überlebensnotwendigen - Systemalternativen zum kapitalistischen Dauerchaos gesucht werden können, ist der eines breiten, öffentlichen Diskurses. Dies ist eine notwendige, aber angesichts der gegebenen Realitäten nicht wahrscheinliche Voraussetzung. In einem öffentlichen Verständigungsprozess würden nicht nur die Grundlagen einer postkapitalistischen Gesellschaft kontrovers diskutiert, dieser Diskurs würde auch als Keimform einer solchen alternativen Produktionsweise fungieren.

Der unbewusste gesamtgesellschaftliche Reproduktionsprozess mittels der fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals würde der bewussten gesellschaftlichen Reproduktion weichen. An die Stelle der Produktion durch isolierte Marktsubjekte träte der Prozess einer bewussten, egalitären Verständigung der Gesellschaftsmitglieder über Form und Inhalt der Reproduktion. In einem gesamtgesellschaftlichen - über das Internet organisierten - Diskurs würden die Menschen sich über das verständigen, was produziert wird und wie es produziert wird. Das Internet, das derzeit nur als Marktplatz von Wahnideen und Bühne für Eitelkeiten dient, wäre endlich zu etwas Vernünftigem gut!

Die Tätigkeitsform der Gesellschaftsmitglieder würde sich somit radikal wandeln: Die Lohnarbeit würde in der Tendenz absterben, während die kollektive Diskussion über die Ausgestaltung und das Organisieren des weitestgehend automatisierten Produktionsprozesses mehr Zeit in Anspruch nähme. Dies wäre eine bewusste - durchaus nicht spannungsfreie! - Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion, die im Gegensatz zum Fetischismus einer entfesselten, destruktiven Kapitaldynamik stünde. Letztendlich käme dies einem Abschluss des Zivilisationsprozesses gleich, bei dem der unbewusst, fetischistisch ablaufende Reproduktionsprozess der Gesellschaft dessen bewusster Gestaltung weichen würde. Dies wäre somit der Ausgang aus der "Vorgeschichte der Menschheit" (Marx).

Ein rationaler gesamtgesellschaftlicher Diskurs über Systemalternativen wäre auch ein Gegengift zum Populismus und zum irrationalen Identitätswahn, der in Krisenzeiten um sich greift. Dessen Absurdität ist eigentlich evident: während der Spätkapitalismus in der Krise versinkt, diskutiert die Öffentlichkeit über Kopftuch und Lederhose.

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Der folgende Artikel ist bereits in der letzten Ausgabe des theoretischen Organs der KPÖ Weg und Ziel im Jahre 2000 erschienen und wandte sich primär an ein traditionslinkes Publikum. Für die Streifzüge wurde er gekürzt, aber nicht überarbeitet. Er hängt nicht nur deswegen auch sehr an der Exegese, versucht primär einen originären Marx zu entdecken und zu referieren. Der Essay ist zwar durchaus solide, aber wenig innovativ, weil er einerseits dem spezifischen marxistischen Krisendiskurs keinerlei Aufmerksamkeit widmet und andererseits (was uns viel gewichtiger erscheint) die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten, z.B. die zunehmende Rolle des fiktiven Kapitals, weitgehend unberücksichtigt lässt. Diesbezüglich verweisen wir auf die Ausgaben 45, 52 und 55 der Streifzüge resp. auf den Band von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle: Die große Entwertung. Warum Spekulation u. Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind (2012).

F.S.



Wertrevolutionen oder: Die Krise bei Marx

von Franz Schandl

Eine der zentralen Überlegungen marxscher Gesellschaftskritik ist die historische Einordnung des Kapitals und die Behauptung von dessen Endlichkeit. Vor allem im dritten Band des Hauptwerks versuchte Marx diese Endlichkeit theoretisch zu antizipieren, und sie als objektive Tendenz kapitalistischer Vergesellschaftung zu untermauern.

Auch wenn seine Erwartungen bezüglich der gesellschaftlichen Umwälzung sich als verfrüht herausstellten, so war ihm doch - und das durchzieht das ganze Werk - jede Ontologisierung kapitalistischer Herrschaft fremd. "Aber jede historische Form dieses Prozesses entwickelt weiter die materiellen Grundlagen und gesellschaftlichen Formen desselben. Auf einer gewissen Stufe der Reife angelangt, wird die bestimmte historische Form abgestreift und macht einer höheren Platz. Dass der Moment einer solchen Krise gekommen, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt. Es tritt dann ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein." (MEW 25, 891)

Krisen im Kapitalismus erscheinen unter dem Gesichtspunkt eines finalen Telos. Gegen David Ricardo gewandt, schreibt Marx: "Andrerseits hat Ricardo und seine ganze Schule die wirklichen modernen Krisen, in denen dieser Widerspruch des Kapitals [sich] in großen Ungewittern entladet, die mehr und mehr es selbst als Grundlage der Gesellschaft und Produktion selbst bedrohn, niemals begriffen." (MEW 42, 324) Auch die konjunkturellen Krisen sind nicht bloß als Wachstumskrisen dechiffrierbar, sondern Vorboten des eigenen Untergangs.

Der tendenzielle Fall

Für die kapitalistische Ware gilt: Je größer das konstante Kapital im Verhältnis zum variablen Kapital bei der Wertbildung, desto geringer die Profitrate. "Die Profitrate fällt, nicht weil die Arbeiter weniger exploitiert werden, sondern weil im Verhältnis zum angewandten Kapital überhaupt weniger Arbeit angewandt wird." (MEW 25, 256) Marx nannte diese Entwicklung das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Diesem Gesetz widmete er den dritten Abschnitt im dritten Band des Kapitals. "Diese fortschreitende relative Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten und daher zum Gesamtkapital ist identisch mit der fortschreitend höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals in seinem Durchschnitt." (MEW 25, 222) Das heißt weiters: "Jedes individuelle Produkt für sich betrachtet, enthält eine geringre Summe von Arbeit als auf niedrigern Stufen der Produktion (...)." (MEW 25, 222) "Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit." (MEW 25, 223)

Die Profitrate (m:C) nimmt ab, je größer das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital (c:v) wird: "Ein stets geringrer aliquoter Teil des ausgelegten Gesamtkapitals setzt sich in lebendige Arbeit um, und dies Gesamtkapital saugt daher, im Verhältnis zu seiner Größe, immer weniger Mehrarbeit auf, obgleich das Verhältnis des unbezahlten Teils der angewandten Arbeit zum bezahlten Teil derselben gleichzeitig wachsen mag. Die verhältnismäßige Abnahme des variablen und Zunahme des konstanten Kapitals, obgleich beide Teile absolut wachsen, ist, wie gesagt, nur ein andrer Ausdruck für die vermehrte Produktivität der Arbeit." (MEW 25, 226) Dagegen sei kein Kraut gewachsen, selbst wenn verschiedenste Maßnahmen ergriffen werden, die Marx auch taxativ anführt. (MEW 25, 242-250) Das Grunddilemma liegt hierbei im Maschinenbetrieb, der nichts anderes ist als konkretisierte Produktivkraft: "Er verwandelt einen Teil des Kapitals, der früher variabel war, d.h. sich in lebendige Arbeitskraft umsetzte, in Maschinerie, also in konstantes Kapital, das keinen Mehrwert produziert." (MEW 23, 429) "Im Fortschritt des Produktions- und Akkumulationsprozesses muss also die Masse der aneignungsfähigen und angeeigneten Mehrarbeit und daher die absolute Masse des vom Gesellschaftskapital angeeigneten Profits wachsen. Aber dieselben Gesetze der Produktion und Akkumulation steigern, mit der Masse, den Wert des konstanten Kapitals in zunehmender Progression rascher als den des variablen, gegen lebendige Arbeit umgesetzten Kapitalteils. Dieselben Gesetze produzieren also für das Gesellschaftskapital eine wachsende absolute Profitmasse und eine fallende Profitrate." (MEW 25, 229)

Durch die der allgemeinen Produktivkraftentwicklung folgende Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Gesamtkapitals untergräbt die Kapitalherrschaft - so die marxsche Theorie - sich selbst. Die Logik der kapitalistischen Produktion beseitigt ihre eigene Basis, da sie in der Tendenz fortwährend die Profitrate senkt. Wobei wachsende Profitmasse und fallende Profitrate sich nicht grundsätzlich entsprechen, diese Verknüpfung nicht zwingend ist, auch wenn sie zu Marxens Zeiten eine typische war. Die fallende Profitrate macht nur dann als objektive Grenze einen Sinn, wenn sie schlussendlich in eine fallende Profitmasse des Gesamtkapitals mündet. Die Kapitalakkumulation kennt so - im Gegensatz zum stofflichen Reichtum - objektive und absolute Grenzen. Ab einer bestimmten Stufe der Produktion wird das Wertgesetz nicht mehr greifen, seine Allmacht verlieren, statt Akkumulation wird Leerlauf eintreten. Der Wert verliert dann seine Bedeutung als gesellschaftliches Strukturprinzip.

Automatisches Wachstum

Produktivkraftentwicklung vorausgesetzt, ist Lohnarbeit unweigerlich an Kapitalwachstum geknüpft. Konstantes und variables Kapital ergänzen sich so in ihrem Interesse am Wachstum, was kapitalistisch nichts anderes als Kapitalakkumulation, Verwertung des Werts sein kann. Mit dieser Produktionssteigerung kann aber der Markt nicht mithalten. Die Zirkulationsmöglichkeiten sind geringer als die Produktionsmöglichkeiten. Markt und Produktion sind so im Kapitalismus nicht a priori synchronisiert, sondern bloß a posteriori. Friedrich Engels schreibt in seinen Ergänzungen zum Kapital: "Der täglich wachsenden Raschheit, womit auf allen großindustriellen Gebieten heute die Produktion gesteigert werden kann, steht gegenüber die stets zunehmende Langsamkeit der Ausdehnung des Markts für diese vermehrten Produkte. Was jene in Monaten herstellt, kann dieser kaum in Jahren absorbieren." (MEW 25, 453)

Hierin liegt auch ein prinzipieller Widerspruch zwischen Produktion einerseits und dem Markt andererseits. Erstgenannte greift über das Fassungsvermögen des Letztgenannten hinaus, obwohl - und das kommt als zusätzlicher Widerspruch noch hinzu - in der Sphäre der Konsumtion für diese Produkte durchaus Bedarf wäre. "Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und ihre Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die anderen durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese letztre ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft, sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationsbetrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Untergangs. Der Markt muss daher beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen." (MEW 25, 254-255)

So ist auch der unentwegte wie verzweifelte Versuch des Kapitals, noch unverwertete Felder zu erobern, verständlich. Darin ist etwa die Substanz der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Ladenschlusszeiten zu suchen, ebenso die Vermarktwirtschaftlichung der Natur, die den letzten freien Gütern wie Luft und Wasser einen Wert geben will. Eine der letzten Kapriolen etwa ist die globale via Handys bewerkstelligte In-Preis-Setzung von Gesprächen, indem man hörige Bürger nicht mehr selektiv, sondern dauerhaft ans Gerät anschließt. Nichts soll stattfinden ohne durch die fetischierten Formen (Tausch, Geld, Vertrag usw.) geschleust zu werden.

Das Kapital giert nach den letzten freien Räumen, Zeiten und Tätigkeiten, will, weil muss sich alles untertan machen, selbst wenn seine subjektiven Vertreter auf der konstanten wie auf der variablen Seite es individuell oft gar nicht mehr einsehen möchten. Hier kollidieren, wie so oft, unmittelbare Lebensinteressen mit der blinden Logik des Kapitals. Blind deshalb, weil es auf die gesellschaftlichen Folgen keine Rücksicht nehmen kann, insofern diese nicht verwertbar sind, "indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz dem Produktionsagenten sich aufzwingt, nicht als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozess ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat". (MEW 25, 267)

Was vordergründig als Profitgier der Kapitalisten und Manager erscheint, ist aber nichts anderes als die Umsetzung der objektiven Gesetze der Marktwirtschaft. Die Agenten des konstanten Kapitals verhalten sich bei Strafe des eigenen Untergangs ebenso wie ihre Gegner nur rational in der großen Irrationalität. Sie können nicht anders, wollen sie, dass ihr Kapital bestehen bleibt. Dieses Wollen können sie nicht nicht wollen! Es betreibt sie. Es ist sie.

Über das Subjekt des Unternehmers schreibt Marx: "Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operation, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital." (MEW 23, 167-168) "Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalistenseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen." (MEW 23, 247) Der Kapitalist gilt ihm als "Fanatiker der Verwertung des Werts." (MEW 23, 618)

Kapital muss wachsen, will es es bleiben. Kapital ist kein Ding, sondern nur zu fassen als ein immer wiederkehrender Prozess des sich verwertenden Werts. Wird das Kapital dingfest, verliert es sofort seinen Kapitalcharakter, wird Schatz. Insofern ist auch der Wunsch nach einem Zustand "gleichbleibenden Kapital(s)", wie er etwa vom Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 154) geäußert wurde, blanker Illusionismus. Kapital hat nun mal nicht die Fähigkeit gleichbleibend zu bleiben, sich einfach zu reproduzieren, es muss sich verwerten, koste es, was es wolle.

Übererfüllung - Entwertung - Vernichtung

Es wird also produziert um der Produktion willen, unabhängig davon, ob Produkte gebraucht werden oder nicht. Der Kapitalismus erzeugt eine "notwendig fieberhafte Produktion und drauf folgende Überfüllung der Märkte" (MEW 23, 476). Diese Überfüllung der Märkte, die nicht mit einer Überfülle der Konsumtionsmöglichkeiten gleichgesetzt werden kann, schon gar nicht global, ist heute sichtbare Tatsache und Problem, das nur mühsam durch staatliche und überstaatliche Kontingentierungen (z.B. im Rahmen der Europäischen Union oder in bilaterialen Abkommen) "gelöst" werden kann. So bleibt das Kapital auf seinen Produkten sitzen, muss sie anderweitig loswerden, um die Produktion nicht zu blockieren.

"An und für sich sind solche Überschüsse kein Übel, sondern ein Vorteil; sind aber Übel in der kapitalistischen Produktion." (MEW 24, 464) Dieser Umstand führt unweigerlich zu der bisher nur dem Kapitalismus eigenen bewussten Produktzerstörung. Waren müssen vernichtet werden, um Wert zu sichern. Tauschwert vernichtet Gebrauchswert, denn: "Eine Entwertung des Kreditgeldes (gar nicht zu sprechen von einer übrigens nur imaginären Entgeldung desselben) würde alle bestehenden Verhältnisse erschüttern. Der Wert der Waren wird daher geopfert, um das phantastische und selbständige Dasein dieses Werts im Geld zu sichern. Für ein paar Millionen Geld müssen daher viele Millionen Waren zum Opfer gebracht werden. Dies ist unvermeidlich in der kapitalistischen Produktion und bildet eine ihrer Schönheiten." (MEW 25, 532f.)

Über den Kredit schreibt Marx: "Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise." (MEW 25, 454)

Das Kreditsystem habe einen "doppelseitigen Charakter: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden". (MEW 25, 454)

"Und weiter ist die Krise nichts als die gewaltsame Geltendmachung der Einheit von Phasen des Produktionsprozesses, die sich gegeneinander verselbständigt haben." (MEW 26.2, 510) "Die Krise in ihrer ersten Form ist die Metamorphose der Ware selbst, das Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf." (MEW 26.2, 511) Krise ist also so etwas wie die nicht glückende Metamorphose des Kapitals in seinem Gesamtprozess. Eine dauernde Dekorrespondenz von Produktion und Zirkulation. Der Kapitalismus stößt dann an seine Grenzen, wenn es nicht mehr gelingt, diese Krisen zeitlich und örtlich zu beschränken, sie also zum gesellschaftlichen "Normal"zustand werden.

Immanente Schranke

Der Kapitalismus ist davon abhängig, ob Kapital gebildet werden kann, ob der Wert sich verwerten lässt. Kann das nicht mehr garantiert werden, ist der Kapitalismus an seiner historischen Schranke angelangt. "Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint, dass die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muss und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen." (MEW 25, 260)

Ziel und Mittel der kapitalistischen Produktion fallen zusehends auseinander. Jede Neuerung in den Produktivkräften ist in Tendenz eine Attacke gegen das sie hervorbringende System. Die Mittel schreien nach einer neuen Form. Der zentrale Widerspruch ist nicht jener zwischen Lohnarbeit und Kapital, ja dieser verstellt den Blick auf die Basisprozesse des Kapitalverhältnisses. Die objektive Schranke des Kapitals ist nicht die Arbeiterklasse (oder ein anderweitiges revolutionäres Ersatzsubjekt), sondern das Kapitalverhältnis selbst. Dieser Widerspruch muss aber, will die Menschheit nicht in der Barbarei enden, bewusst überwunden werden. Wir verweisen deswegen auch hier auf die Notwendigkeit einer klassenlosen Bewegung, die eben nicht mehr partielle Interessen durchsetzen will, sondern gegen alle kapitalkonformen Interessen ein alternatives Grundanliegen formuliert und realisiert.

Zusammenbruch meint somit nicht, dass der Kommunismus ausbrechen wird. Eines gibt es keinesfalls: ein bewusstloses Hinübergleiten. Bewusstlos kann man nur in die Barbarei fallen, die da meint: sozialer Niedergang, rassistische Regression, abendländische Kreuzritter, marodierende Banden.

Deklassierung der Klasse

In der fortschreitenden Entwicklung der organischen Zusammensetzung des Kapitals ist auch die substantielle Degradation der Arbeiterklasse mitbegründet: Die Verminderung des variablen Kapitals bei der Wertbildung führt zu deren Zurückdrängung. Wenn der das Kapitalverhältnis mitkonstituierende Stellenwert des variablen Kapitals verfällt, verfällt mit ihm auch die Lohnarbeit und das Proletariat. Nicht die Lohnarbeit hebelt also das Kapital aus, sondern das konstante Kapital minimiert sukzessive das variable. Freilich untergräbt es damit auch seine eigene Akkumulation.

Die Arbeiterklasse muss auf eben diese ihre objektive Schranke projiziert werden: "Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d.h., in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion, und dass sie keineswegs eine absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte und Erzeugung des Reichtums ist, vielmehr mit dieser auf einem gewissen Punkt in Kollision tritt. (...) Die absolute Überschusszeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit für die materielle Produktion überhaupt vermindert; sie bewegt sich also im Gegensatze." (MEW 25, 274)

Wertrevolution als Transvolution

Die qualitativen Revolutionen des Werts sind Voraussetzung einer möglichen Transformation: "Das Kapital als sich verwertender Wert umschließt nicht nur Klassenverhältnisse, einen bestimmten gesellschaftlichen Charakter, der auf dem Dasein der Arbeit als Lohnarbeit ruht. Es ist eine Bewegung, ein Kreislaufprozess durch verschiedne Stadien, der selbst wieder drei verschiedne Formen des Kreislaufprozesses einschließt. Es kann daher nur als Bewegung und nicht als ruhendes Ding begriffen werden. Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als bloße Abstraktionen betrachten, vergessen, dass die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist. Der Wert durchläuft hier verschiedne Formen, verschiedne Bewegungen, in denen er sich erhält und zugleich verwertet, vergrößert. Da wir es hier zunächst mit der bloßen Bewegungsform zu tun haben, werden die Revolutionen nicht berücksichtigt, die der Kapitalwert in seinem Kreislaufprozess erleiden kann; aber es ist klar, dass trotz aller Wertrevolutionen die kapitalistische Produktion nur solange existiert und fortexistieren kann, als der Kapitalwert verwertet wird, d.h. als verselbständigter Wert seinen Kreislaufprozess beschreibt, solange also die Wertrevolutionen in irgendeiner Art überwältigt und ausgeglichen werden. Die Bewegungen des Kapitals erscheinen als Aktionen des einzelnen industriellen Kapitalisten in der Weise, dass er als Warenund Arbeitkäufer, Warenverkäufer und produktiver Kapitalist fungiert, durch seine Tätigkeit also den Kreislauf vermittelt. Erleidet der gesellschaftliche Kapitalwert eine Wertrevolution, so kann es vorkommen, dass sein individuelles Kapital ihr erliegt und untergeht, weil es die Bedingung dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen werden, desto mehr macht sich die automatische, mit der Gewalt eines elementaren Naturprozesses wirkende Bewegung des verselbständigten Werts geltend gegenüber der Voraussicht und Berechnung des einzelnen Kapitalisten, desto mehr wird der Lauf der normalen Produktion untertan der anormalen Spekulation, desto größer wird die Gefahr für die Existenz der Einzelkapitale. Diese periodischen Wertrevolutionen bestätigen also, was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die der Wert als Kapital erfährt und durch seine Bewegung forterhält und verschärft." (MEW 24, 109)

Auch aus dieser Passage ist die Dialektik von konjunktureller und struktureller Krise zu begreifen. Weiters verdeutlicht Marx Dynamisierung und Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung, die ja auf der stofflichen Seite sich komplementär zur Entwicklung des Werts verhalten. Ebenso antizipiert er hier die Flucht in die Spekulation und ins fiktive Kapital. Die Kapitalherrschaft gelangt dann an ihre Grenzen, wenn sich der Wert nicht mehr verwerten lässt, wenn die Revolutionen des Werts ihn tendenziell gegen Null drücken. Die Todeskrise des Kapitals ist so identisch mit der finalen Krise des Werts.

Krise? Niemals!

"Das Geschäft ist immer kerngesund und die Kampagne im gedeihlichen Fortgang, bis auf einmal der Zusammenbruch erfolgt." (MEW 25, 502) Hört man das Wort "Zusammenbruch", meinen viele sich lustig machen zu müssen: Das sei schon so oft "prophezeit" worden, und nie habe es gestimmt. So werden nicht wenige, die es subjektiv nicht sind, zu objektiven Apologeten der Marktwirtschaft. Von der Stabilität des Kapitals sind sie mehr überzeugt als etwa die Spekulanten selbst, man denke hier nur an die Warnungen eines George Soros. Jede Drangsalierung und jedes Unglück wird heutzutage zu einer Chance umdefiniert. Volkswirtschaftliche Erfolgsziffern, Werbesendungen und Lifestyle-Magazine fiktionalisieren eine andere Welt, als die, die ist.

Gesellschaftskritik betreibt der Großteil ohne Ökonomiekritik, und jener Teil, der die Ökonomie zum Gegenstand erkoren hat, veranstaltet das in betriebsblinder Manier der Experten. Gewöhnlich kommt diese Richtung über einen linken Abklatsch der Volkswirtschaft, meist einen etwas auffrisierten Keynesianismus nicht hinaus. Nicht die Kritik der politischen Ökonomie ist ihr Anliegen, sondern das Geschäft des politischen Ökonomen.

Dass wir gegenwärtig bereits in einer Desintegrationsphase leben, nicht mehr in einer Integrationsphase, wie es Kolonialismus, Imperialismus und Fordismus darstellten, aber woher denn? Während einerseits die Mehrheit der Menschheit unter katastrophalen Zuständen vegetiert, und andererseits das Kapital und seine Apologeten unablässig das Märchen der weltweiten Modernisierung hin zu freedom and democracy predigen, bemüht sich die Restlinke bis zur letzten Selbstdemütigung, das Schlimmste zu verhindern. Je öfter sie in ihren Abwehrkämpfen geschlagen werden, desto mehr steigt der Glauben an die Unendlichkeit des Kapitals. It's a never ending story, die einzige große Erzählung, die geduldet wird, weil sie nichts neben sich duldet.

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Marx und das Ende des Kapitals "wie wir es kennen"

von Knut Hüller

Als Titel der Ausgabe vom 5.5.2018 fiel dem Spiegel "Geld für alle!" ein, und zwar - wie kleiner gedruckt darüber steht - "zum 200. Geburtstag von Karl Marx". Darunter wird - noch kleiner - ein hehres Ziel vieler fortschrittlicher (?) Bewegungen formuliert: "Wie ein besserer Kapitalismus die Welt gerechter machen kann." Kompakter lassen sich kaum die Kernelemente der "Politische Ökonomie" oder "Wirtschaftswissenschaft" genannten Ideologie zusammenfassen: Kapitalismus ist gut und Fortschritt, letzterer besteht in "mehr", und "viel" misst sich in Geld. Es verblüfft, wie man solches Denken mit dem Namen seines prominentesten Kritikers verbinden kann. Ähnlich verblüfft das Titelbild: es zeigt moderne Menschen beim wohligen Bad in einem Meer aus Goldmünzen und Dollarbündeln. Das lässt sich ebensogut kritisch deuten (Geld ist ein Fetisch) wie affirmativ (Geld ist Basis des Wohlbefindens).

Ein ähnliches Schwanken des "doppelten Marx" zwischen Verbesserung (implizit Affirmation) und Fundamentalkritik der Politischen Ökonomie thematisierte die Wertkritik von Beginn an, nicht zuletzt deshalb, weil eine sich "Marxismus" nennende Strömung völlig auf die affirmative Schiene abglitt. Der Grund ist leicht zu verstehen: jeder Kritik muss Aufarbeitung vorangehen, und jeder Schritt dazu beinhaltet die Gefahr des Abgleitens in die Affirmation. Solche Prozesse will der Artikel sichtbar machen, sowohl an heute verbreiteten Denkmustern als auch an Marx' Analyse der Ware im "Kapital" Band I. Fokussiert wird dabei weniger auf positive Inhalte als auf Lücken und Schwächen. Thematisch wird sehr weit ausgeholt, da sich anders eine "kategoriale" (Robert Kurz) Kritik nicht leisten lässt.

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Der Spiegel-Titel enthält nichts anderes als das spontane Weltbild des Lohnabhängigen: mehr Arbeit bringt mehr Geld, und mehr Geld bringt mehr nützliche Dinge. Ähnlich sieht es der Kapitalist: lässt er länger arbeiten, entstehen mehr verkäufliche Güter, also mehr Einnahmen und mehr Gewinn. Ökonomen schließen, dasselbe müsse für das Gesamtsystem gelten, und formulieren quantitative Gesetze für dessen Heil. Es fällt ihnen nicht auf, dass jedes ihrer Modelle mindestens eines der drei genannten Elemente ausklammert. Marxisten erklären den für eine Ware zu zahlenden Geldbetrag (Tauschwert) für streng proportional zur darin verkörperten Arbeitszeit (Arbeitswert); die Nützlichkeit (Gebrauchswert) spielt nur noch die (qualitative!) Rolle einer Vorbedingung. Die Proportionalsetzung entfernt faktisch noch das zweite der verbliebenen zwei Elemente Tauschwert und Arbeitswert (alias Geld und Arbeit), denn danach verhalten sich beide wie der Tauschwert in zwei Währungen. Der neoklassische Mainstream geht umgekehrt vor; er verteilt die erzeugten Warenmengen nach der Produktion gemäß einem "utility" genannten Kriterium, eliminiert also auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene die Arbeit - bis auf die stillschweigende Unterstellung des vorherigen Stattfindens. Völlig heraus aus dieser Form der Wertbestimmug fallen Produktionsanlagen und rein industriell genutzte Rohstoffe wie exotische Metalle und gefährliche Chemikalien. Am konsequentesten agiert - ohne es bisher zu bemerken - die im 20. Jhd. entstandene "neoricardianische" Strömung, indem sie der Preisbildung einzig und allein das Prinzip "Ausgleich der Profitraten" zugrundelegt. Da Profit(rate) wie Preise begrifflich rein der Geldebene angehören, erhebt sie damit Marx' Kurzbeschreibung des Kapitalismus als G→G' zum erstrebenswerten Idealbild. Immerhin lässt sich in diesem Modelltyp aber jedes beliebige Produkt behandeln, selbst die von einer Söldnertruppe aus einem Wohnhaus hergestellte Ruine. Nicht wenigen immanent kritischen (auch marxistischen) Ökonomen gilt das als Fortschritt gegenüber der Neoklassik.

Marx widerspricht solchem Denken bereits zu Beginn seiner Warenanalyse, indem er das Element "Qualität" gleichberechtigt neben die "Quantität" stellt (MEW 23, 49). Er leistet dem beschriebenen Denken aber auch Vorschub, indem er die als Beispiele dienenden konkreten Waren "Rock" und "Leinwand" immer wieder auf die Rolle von Tauschobjekten beschränkt, und "die" (jede?) Ware einem "Warenhüter" zuordnet, der als ihr Agent fungiert (MEW 23, 99ff.). Formulierungen wie "Jeder Warenbesitzer will seine Ware ..." (MEW 23, 101) sind deutbar als Keimzelle eines methodologischen Individualismus der Waren, der sich zum spontanen methodologischen Individualismus der Subjekte gesellt. Der Marxismus sieht bis heute "den Wert" Einzelware für Einzelware im Einzelbetrieb entstehen und verknüpft die dort lokal geleistete Arbeit direkt mit dessen Erlös und Gewinn. Konsequenterweise sollte dann der Kapitalismus als Anhäufung von Einzelkapitalen behandelbar sein, von denen ein "repräsentatives" (oder jedes?) alle Eigenschaften des Gesamtsystems bereits in sich enthält. Unter Berufung auf eine "von Marx gewählte Abstraktionsebene" gelang dieser (Fort-?)Schritt schließlich Michael Heinrich. (Vgl.: M. Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 3. korr. Auflage Münster 2003, S. 330ff., wörtliches Zitat S. 339) Marx' Ausführungen über "Vergesellschaftung" überlas er wohl.

Einen anderen Ausfluss desselben "multiplen methodologischen Individualismus" stellt die endlose Debatte in marxistischen und verwandten Strömungen um den Begriff der "produktiven Arbeit" dar. Oft wird Dienstleistungen und geistiger Arbeit abgestritten, Wert zu bilden bzw. zu enthalten, und letzteres auf "anfassbare" Produkte wie Leinwand und Rock begrenzt. Dabei gibt es simple, von der konkreten Form einer Ware völlig unabhängige Kriterien dafür, ob sie Wert verkörpert:

1) ihre Ersteller reproduzieren sich über Lohnarbeitsverhältnisse (zwingend über ein eigenes?)

2) sie wird gegen Geld profitabel auf dem Markt verkauft (und gekauft!)

3v) sie trägt zur Reproduktion der Arbeitskraft bei oder

3c) sie trägt zu einer anderen Produktion bei oder

3m) sie trägt zur Weiterentwicklung des Produktionssystems bei

Man erkennt unter 1 das Element "Arbeit" aus Marx' Wertbegriff, unter 2 das Element "Tauschwert" und unter 3 die klassischen Formen der Warenzirkulation: variables Kapital, konstantes Kapital und (Investition von) Mehrprodukt. Ein Konzertbesuch kann wie ein Lebensmittel die Kriterien 1, 2 und 3v erfüllen, ein Ingenieurgutachten wie ein Werkzeug die Kriterien 1, 2 und 3c bzw. (alternativ) 1, 2 und 3m. Nichts rechtfertigt dann noch eine Unterscheidung zwischen physisch fassbarer und "immaterieller" Ware (die Behandlung immaterieller Luxusprodukte wird als Übungsaufgabe gestellt).

Gibt es den marxistischen Arbeitswert?

Indem man per Stechuhr Arbeitsstunden erfasst und sie durch die physische Produktmenge teilt, erhält man die in einer physischen Einheit verkörperte Arbeitszeit. Was könnte einfacher sein? Aber welche Warenmenge entsteht aus welcher Arbeit? Betrachten wir ein Heizkraftwerk. Welcher Teil der dortigen Arbeit wird für Strom geleistet und welcher für Heizwärme? Ökonomen mit Zugriff auf ein Physiklehrbuch könnten auf die Idee kommen, beides in kWh zu beziffern, und die Arbeit proportional zum Energieinhalt zuzuordnen. Scheitern würde dies aber schon an der Abwärme eines Hochofens: wie drückt man Eisen in kWh aus oder (Ab-)Wärme in Tonnen? Auch bei materiell fassbaren Gütern lassen sich unlösbare Beispiele finden. 25t tragende LKW liefern aus einem Industriedistrikt Armierungsstahl für Beton und Schaumstoff zur Gebäudeisolierung in ein Neubaugebiet. Sie werden mit 24t Stahl beladen, bevor der verbleibende (Groß-)Teil des Laderaums mit 1t Schaumstoff aufgefüllt wird. Marxist A lässt beim Laden wiegen und schließt, es werde zu 24/25 (oder 96 %) für Eisen gefahren und zu unbedeutenden 4 % für Schaumstoff. In diesem Verhältnis verteilt er Fahrerarbeitszeit, Diesel und Fahrzeugverschleiß auf beide Produkte. Marxist B verfügt am Fahrtziel nur über einen Zollstock, mit dem er abgeladene Eisen- und Schaumstoff haufen vermisst. Er findet 3cbm Stahl pro 72cbm Schaumstoff und schließt, die Transportarbeit werde zu 96 % für Schaumstoff erbracht und zu 4 % für Eisen. Die von A und B gegründeten ökonomischen Schulen würden bis heute streiten, wäre die Sowjetwirtschaft nicht längst aus anderen (?) Gründen kollabiert.

Gemeinsam ist allen Beispielen das Entstehen von (mindestens) zwei Produkten aus demselben Arbeitsvorgang, in bürgerlicher Ökonomie "Kuppelproduktion" genannt. Damit erscheint der Prozess der Vergesellschaftung auf eine Weise, die im quantitativen Marxismus ignoriert wird. Mittels der Begriffe des variablen und konstanten Kapitals kann er zwar mehrere Arbeiten einer Ware zuordnen, nicht aber mehrere Waren einem Arbeitsvorgang. Welche Reduktion des Menschen dieser Ausschluss ausführt, zeigt sich an komplexen Formen der Arbeit. Bei geistiger Arbeit ist oft schon nicht feststellbar, wo überhaupt eine Idee einfließt. Bei schöpferischer Tätigkeit (Arbeit?) wird der quantitative Arbeitswertbegriff noch sinnloser, denn kein Erfinder erfindet in doppelter Laborzeit das doppelte, und schon gar nicht erfindet er zweimal dasselbe.

Bürgerliche Ökonomen haben zwar wenig Verständnis für den Kapitalismus, aber ein umso feineres Gespür für Schwächen der Marxisten. Ian Steedman hielt ihnen Systeme mit Kuppelproduktion vor, in denen bei marxistischer Handhabung des Arbeitswertbegriffs der Wert einer Maschine während ihrer Nutzung steigt statt fällt, sowie andere, in denen er zwar wie erwartet fällt, aber bis zu "ökonomisch unsinnigen" negativen Zahlenwerten (Ian Steedman, Marx after Sraffa, London 1977). Die Marxisten konnten dem bis heute nichts entgegensetzen, weil sie sich dazu von der Vorstellung des zahlenmäßig eindeutigen Werts jeder Einzelware hätten lösen müssen. So fiel ihnen auch nicht die sich hier anbietende Retourkutsche ein: die Konstruktion von Systemen, in denen das von Steedmans neoricardianischer Schule vertretene "Gesetz" des Profitratenausgleichs einen negativen Preis der Maschine erzwingt. Aus jeder Marxismuswiderlegung des Steedmanschen Typs lässt sich mit einem simplen und eindeutigen Verfahren eine solche Widerlegung des Neoricardianismus erzeugen. Das Verfahren kann hier nicht vorgeführt werden, wohl aber seine logische Basis. Laut klassischer Ökonomie entsteht der Profitratenausgleich, indem Kapital aus niedrig profitablen Branchen abgezogen wird. Dies senkt das Angebot und steigert den Preis der Ware, mit ihm die Rendite der Branche. Das Kapital fließt in hochprofitable Branchen, wo es das Gegenteil bewirkt. Dieser Mechanismus setzt voraus, dass die Produktion der betreffenden Waren unabhängig voneinander regulierbar ist. Soll er für alle Waren funktionieren, muss das für alle Waren gelten, d.h. eine einzige Kuppelproduktion wirft ihn bereits auf der logischen Ebene über den Haufen. Der Rest ist simples Rechnen mit den "richtigen" Zahlen.

Der sich u.a. in der Zunahme von Kuppelproduktion zeigende Vergesellschaftungsprozess unterminiert so in einem Zug mehrere zentrale Begriffe der klassischen Ökonomie. Ökonomische Einzelbegriffe wie Lehrsysteme enthalten als Bestandteile des Kapitalismus dessen Verfallstendenz. Zu beachten ist dies auch bei der Lektüre von Marx' Werk - und noch mehr bei seiner Exegese.

Gibt es "physische Mengen"?

Neben Arbeit und "Nutzen" führen Ökonomen - insbes. neoricardianische - auch sogenannte "physische Mengen" als Quellen des Werts an. Da sich Ökonomie im Wesentlichen mit Größenvergleichen befasst, insbes. mit der Rendite r (Profit/Kapital) bzw. dem Verhältnis 1+r (Output/Input) wäre als erstes zu klären, wie man die Größe zweier "physischer Mengen" vergleicht. Marx erwähnt u.a. den verblüffenden (?) Umstand, dass so verschiedene Dinge wie ein Stück Eisen und ein Zuckerhut hinsichtlich ihrer Masse "gleich" sein können (MEW 23, 71). Wie können sie einerseits "gleich" und andererseits "verschieden" sein? Gleich können sie sein, weil das Wiegen von allen anderen Eigenschaften als der Masse abstrahiert, und verschieden sind sie, weil sie mindestens eine weitere Eigenschaft besitzen, hinsichtlich derer sie dann "nicht gleich" sind, wenn sie hinsichtlich ihrer Masse "gleich" sind. Erst durch diese Vielfalt lassen sich Stoffe (Plural!) unterscheiden und wird die Kategorie "Stoff" sinnvoll. Die Verschiedenheit kann rein qualitativer Art sein. Dem Eisen fehlt gänzlich ein "Nährwert" und dem Zucker das (im Eisen zur Masse proportionale) spontane magnetische Moment. Sie kann aber auch quantifizierbar sein. Eisen und Schaumstoff besitzen sowohl "Masse" als auch "Volumen", aber in stark unterschiedlichem Verhältnis. Deswegen "sinkt" Eisen, während Schaumstoff "schwimmt". In diesem speziellen Zusammenhang ist die "spezifisches Gewicht" genannte Kombination beider Eigenschaften wesentlich, eine einzelne hat keine Bedeutung. Mit genügend vielen kg oder Liter Eisen lässt sich alles versenken - aber genau das Gegenteil bewirken genügend viele kg oder Liter Schaumstoff.

Marx' Formulierung von der Arbeit als der Substanz des Werts muss deswegen im logischen Sinn verstanden werden, nicht als Gleichmacherei, auch nicht in der scheinbar schwachen Form der Proportionalsetzung. Da es neben Tauschwert und Arbeit keine weitere allen Waren zwingend zukommende Eigenschaft gibt, führt das quantitativ-marxistische Herangehen direkt in die höchste Form der Substanzlosigkeit: es gibt nur noch eine einzige Eigenschaft und damit faktisch eine einzige bzw. gar keine Substanz, das (pseudo)natürliche Gegenstück zum perfekten Warensubjekt. Die (scheinbare) marxistische Harmonisierung von Arbeit und Tauschwert versperrt insbesondere jede Einsicht in Prozesse, wo beides sich real trennt und damit den klassischen Kapitalbegriff auflöst, wie sich in der Eine-Substanz-Welt der Substanzbegriff auflöst. Beispiele sind die im Finanzwesen stattfindende Wertaneignung ohne direkt damit verbundene Wertproduktion sowie diverse, bereits im industriellen Bereich mögliche destruktive (Wert vernichtende) Formen der Arbeit, die mittlerweile bis zu kommerzieller Kriegsführung reichen.

Was ist eigentlich das paradoxe "konstante" Kapital?

Zentral in aller Politischen Ökonomie ist die Fiktion vom gerechten Tausch. Auch Marx springt sofort nach der Einführung "der Ware" anhand der Beispiele "Rock" und "Leinwand" in die Thematik des Austauschs beider. Dabei spielt Tausch allenfalls in Subsistenzwirtschaften eine nennenswerte Rolle. Im Kapitalismus wird Ware gegen Geld und Geld gegen Ware gehandelt, so dass dem Geld eine (in der Ideologie des Austauschs von Gebrauchswerten geflissentlich ignorierte) eigenständige Rolle zukommen muss. Ein beliebter, auch von Marx "der Vereinfachung halber" (MEW 23, 109) eingeschlagener Weg zum Überspielen dieser Frage ist die Einführung des "Wertstandards Gold". Indem Gold je nach Bedarf als allgemeines Äquivalent oder als gewöhnliche Ware angesehen wird, lässt sich die Frage nach Rolle und Besonderheiten des Geldes umgehen.

Anders als Adam Smith' Beispiel von Hirsch- und Biberfell enthält Marx' Warenpaar "Rock und Leinwand" aber einen Ansatzpunkt, die Tauschideologie aufzubrechen. Die Felle können zumindest noch im Hirn ausgetauscht werden, nämlich bei der Wahl, was man erwerben möchte. Dasselbe gilt zwischen Rock und Weste, kaum aber zwischen Rock und Leinwand. Es gibt sogar Leinwand, die aus rein physikalischen Gründen nie gegen den Rock getauscht werden kann, nämlich diejenige, woraus der Rock gefertigt wird. Solange es diese Leinwand gibt, gibt es keinen Rock, und sobald der Rock vorhanden ist, ist die Leinwand verschwunden.

Der Rockfabrikant kann zwar zwischen verschiedenen Lieferanten wählen, aber nach dieser Wahl besteht zwischen beiden eine durch die Art der Waren fixierte technisch/physische Beziehung: die Leinwand fungiert in der Rockfabrikation als konstantes Kapital. Während die Geldumsätze mit dieser Warenkategorie diejenigen mit Endprodukten (Röcke) längst um ein Vielfaches übersteigen, behandeln Ökonomen sie immer noch bevorzugt auf physischer Ebene, z.B. durch die Darstellung als produktivitätssteigernde Maschinerie. Es ist deswegen lehrreich, sie durch eine simple Operation verschwinden zu lassen: Weben und Schneidern erfolge in einer Firma. Es gibt keinen Grund, weshalb sich dann die (konkrete wie abstrakte) Arbeit vom alternativen Fall der separaten Weberei und Schneiderei unterscheiden sollte, so dass in reiner Form Effekte der Geldebene erscheinen sollten. In beiden Fällen sollen 10 Arbeiter tätig sein, jeder 10 Taler erhalten, und 10 Röcke entstehen, die für eine noch unbekannte Anzahl e (für: Endprodukt) Taler über die Theke gehen. Ökonomisch: der Rockfabrikant schießt 100T variables Kapital vor und erzielt bei Erlösen von e einen Gewinn von e-100T. Was könnte nach Abtrennung einer Weberei von der Schneiderei beide daran hindern, diesen Erfolg nachzuvollziehen?

Nehmen wir als einfachsten Fall an, pro Rock reiche genau eine Leinwand, und es werde je die Hälfte der Arbeitskräfte für Weben und Schneidern benötigt. Über den Tauschwert der (gesamten!) Leinwand sagt dies nichts aus; wir nennen ihn vorläufig c und erhalten: Bilanz der Weberei: Lohnkosten 50T, Einnahmen c, Gewinn c-50T Bilanz der Schneiderei: Lohnkosten 50T, Leinwandkosten c, Einnahmen e, Gewinn e-50T-c. Der Gesamtgewinn beider Firmen (Summe der Einzelgewinne) folgt als c-50T+e-50T-c=e-100T, dasselbe Ergebnis wie zuvor in der vereinigten Firma. Das wundert den klassischen Ökonomen noch nicht, denn es wurde weder an der Arbeit noch an den Löhnen noch an Warenpreisen oder Warensorten etwas geändert. Halt: Letzteres stimmt nicht, und das verblüfft den Ökonomen. Mit dem Ankauf von Tuch erscheint eine neue Warensorte (nicht aber eine neue Sorte Dinge!,)und mit ihr eine Zahlung im Umfang c, die es zuvor nicht gab. Um c hat sich das Gesamtkapital (die vorzuschießenden Kosten) erhöht, wie sich zeigt, sobald man den Beitrag 50T der Weberei zum Beitrag 50T+c der Schneiderei addiert. Gleicher Gewinn bei vergrößertem Kapital bewirkt eine Minderung der Rendite, hier der Gesamtrendite, definiert als Summe aller Einzelgewinne dividiert durch die Summe aller Kapitalvorschüsse. Obwohl diese Größe nirgends in betriebswirtschaftlichen Rechnungen erscheint, setzt sie den betrieblichen Renditen Grenzen, da nie alle Einzelkapitale eine größere (und ebensowenig alle eine kleinere) Rendite erzielen können als die Gesamtrendite. Dies stellt Heinrichs Ansatz vom Kopf auf die Füße: die Gesamtrendite setzt den Einzelrenditen Grenzen, statt dass sie aus Eigenschaften eines "repräsentativen Einzelkapitals" abgeleitet werden kann. Die Gesamtrendite ist stets kleiner als die Ausbeutungsrate M/V, wobei M den Anteil der Lohnarbeiter und V den Anteil der Kapitale am Gesamt- Endprodukt darstellt. Nicht der Preis von Gold oder irgendeiner anderen gewöhnlichen Ware ist als Fixpunkt der Rechnung(en) zu behandeln, sondern derjenige der Arbeitskraft.

Geld ist (Verrechnungs-)Zwang und konstantes Kapital ist Kampfplatz

Ökonomen würden nun Gesetze für Rock- und Leinwandpreis und damit für die Geldbeträge e und c suchen. Wir verzichten auf solche Verfeinerungen und betrachten die Röcke als das Gesamt-Endprodukt eines kapitalistischen Systems, die mit c bezahlte Leinwand als allereinfachste Form konstanten Kapitals, und stellen als erstes die (qualitative) Frage, warum es den Geldfluss c überhaupt gibt. Er existiert, weil die Weberei ihre Kosten an die Schneiderei durchberechnen muss. Daraus folgt sofort der Mindestumfang des c: die Höhe der Lohnkosten oder das variable Kapital der Weberei. So viel muss sie mindestens von der Schneiderei verlangen, d.h. das von der Weberei vorgeschossene variable Kapital muss die Schneiderei erneut vorschießen, nun als konstantes Kapital c. Auf der Geldebene stellt konstantes Kapital daher einen mehrfachen Vorschuss variablen Kapitals dar. Die Vervielfachung ist tendenziell unbegrenzt, weil dasselbe für die Aufteilung der Arbeit gilt. Hieraus entsteht die Fähigkeit des konstanten Kapitals zu unbegrenztem Anwachsen - und die zugehörige Tendenz zum Fall der Profitrate. Als nächsten Schritt könnte man aus der Weberei einen Baumwollanbau ausgliedern. Der dort gezahlte Lohn müsste dann insgesamt dreimal vorgeschossen werden, um letztendlich die Röcke fertigzustellen, das erste Mal als variables Kapital und dann noch zweimal als konstantes.

Auf der Arbeitsebene dagegen ist konstantes Kapital eine Etappe auf dem Weg zum Endprodukt, und auf der physischen Ebene, wo Ökonomen bevorzugt agieren, steht es für eine von vielen möglichen Organisationsformen. Es ist offensichtlich, dass jeder Versuch einer Harmonisierung der drei Ebenen ins Absurde führen muss, beginnend mit den "Wertgesetzen" der Ökonomen. Es lassen sich aber logische Grenzen der Preisbildung finden. Im obigen Beispiel muss c mindestens 50T betragen, da sonst die Weberei pleite wäre. Bei c=50T erzielt sie noch keinen Profit; dafür ist derjenige der Schneiderei maximal in Höhe von e-50T-50T, derselbe Gewinn, den der vereinigte Betrieb erzielt. Steigt c über 50T, fällt ein (größerer) Teil des im Gesamtprozess erzielten Mehrwerts der Weberei zu, während der Anteil der Schneiderei sinkt. Erreicht c den Zahlenwert e-50T, bleibt der Schneiderei nichts mehr, und die Weberei streicht den Gesamtgewinn e-100T des Systems ein. Letzterer ändert sich im Verlauf der Prozedur nicht.

Bemerkenswert ist hier, dass über den Preis der Güter des konstanten Kapitals Mehrwert zwischen den Kapitalen verteilt wird, und dass diese Verteilung sich ändern kann, ohne dass sich etwas an der Arbeit und der physischen Gestalt der Güter ändert. Der Marxismus akzeptiert dies ohne weiteres beim Preis der Arbeitskraft. Er wird abhängig gemacht vom Aufwand für ihre Reproduktion, der ein gesellschaftliches (Marx: "moralisches") Element beinhaltet, also (neuökonomisch formuliert) "sehr flexibel" ist. Erreicht die Lohnsumme (Tauschwert der Gesamtarbeitskraft) den Tauschwert des Gesamt- Endprodukts, besteht letzteres vollständig aus variablem Kapital V; ist die Lohnsumme niedriger, zerfällt es in einen Anteil V der Lohnarbeiter und einen Anteil M der Kapitale. Offen ist an dieser Stelle noch, welches Kapital sich welchen Anteil von M aneignet. Dies regelt die Preisbildung der Güter des konstanten Kapitals. Die dort auszutragenden Interessenkonflikte sind völlig analog zum Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital. Warum versteift der Marxismus sich an dieser Stelle auf "objektive" Gesetze für die Bildung der Warenpreise? Weil er den Kapitalismus als eine auf quasi-naturgesetzlicher Grundlage funktionierende Maschine sehen will statt als einen permanenten Kampf aller gegen alle?

Genese des Finanzwesens

Ein quantitatives Wertgesetz wurde bisher auch deshalb nicht angewandt, weil es ein Problem gibt, das keines lösen kann. Für das Endprodukt - die Röcke -steht bisher nur die Kauf kraft der Lohnarbeiter in Höhe von 100T zur Verfügung. Ein vollständiger Verkauf ist also nur bei einem Rockpreis von 10T/Stück bzw. e=100T möglich, was den Gesamtgewinn des Systems auf null senkt. Überleben kann es dann nur, wenn beide Firmen mit der Rendite null agieren; dies erzwingt c=50T. Marxisten wie Neoricardianer erzielen in diesem Spezialfall der "physisch einfachen Reproduktion" übereinstimmend die genannten Zahlenwerte für e und c, weil der Spezialfall des allgemeinen Nullprofits so wenig mit realem Kapitalismus zu tun hat wie ihre Theorien (aus demselben Grund ist er auch bei Vertretern anderer ökonomischer Richtungen beliebt).

Aber wie kann das reale System Mehrwert realisieren, beispielsweise bei einer Gesamtlohnsumme von 100T die Röcke zu insgesamt 110T verkaufen (die Gesamtrendite wäre dann 10 %)? Man muss hierzu nur den Prozess der physischen Aneignung des Mehrprodukts bzw. Mehrwerts spiegeln. Er beinhaltet - entgegen der Tauschideologie - einen Warenzufluss an die (Gesamtheit der) Kapitale ohne geldliche Gegenleistung von deren Seite. Also benötigt der Verkauf der Mehr-Röcke einen Akteur, dem Geld zufließt, ohne dass er dafür Waren liefern muss. Irgendwo muss Geld geschöpft (vulgärökonomisch: "gedruckt") werden. Um diesen Prozess und die in ihm enthaltenen Widersprüche näher zu analysieren, fehlt hier der Raum, aber seine Verselbständigung in Gestalt eines "Finanzwesens" ist mittlerweile von niemandem mehr zu übersehen.

Angelegt ist die Verselbständigung des Finanzwesens bereits darin, dass der Handel mit konstantem Kapital Wert-Umverteilungen zustandebringt, ohne dass parallel Veränderungen an Arbeit oder Physis der Ware nötig sind. Dann sollte sich auch Wert zuteilen lassen, ohne dass Arbeit und physische Ware überhaupt beteiligt sind. Arbeit erklärt zwar den nackten Fakt der Existenz von Ware und Wert, nicht aber deren Verteilung, im Fall des Mehrprodukts beginnend mit der einmal notwendigen unbezahlten Aneignung. Die Verteilung besorgt das Geldwesen und zwar logisch in zwei Stufen: die Relation zwischen Wert der Gesamtarbeitskraft und Wert des GesamtEndprodukts verteilt die Endproduktmenge V+M zwischen Arbeit und Kapital, die Preise der c-Güter bewirken die Feinverteilung des M unter die Kapitale.

Ökonomen, die im Kapitalismus den harmonischen Dreiklang von Arbeit, Geld und physischer Ware suchen, müssen die dabei entstehenden Konflikte ausblenden. Daraus entsteht u.a. die Charaktermaske des "guten industriellen" Kapitalisten, der Mehrwert nicht nur aneignet, sondern auch an seiner Entstehung mitwirkt. Kapitalistisch ist es allerdings höchst irrational, Aufwand für die Produktion von Ware zu treiben, wenn man sich Mehrwert ohne dies aneignen kann. In diesem Sinne ist das Finanzkapital fortgeschrittener als das Industriekapital. Das Ansinnen, es möge "der Realwirtschaft mehr abgeben", passt etwa so gut in die Systemlogik, wie von klassischer Industrie eine allgemeine Lohnerhöhung zu erwarten.

Resumée

Der kurze Streifzug durch einige verhärtete ökonomische Denkfiguren stieß immer wieder darauf, dass sich erst in einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung sinnvolle Erkenntnis gewinnen lässt. Im Gegensatz zur Ökonomie, die kapitalistische Gesamtsysteme aus Einzelsubjekten zusammenbauen will, ist vom Fixum Gesamtarbeit auszugehen und zu untersuchen, welche Folgen dessen Teilung in Einzelarbeiten hat. Das reale System verfolgt beide Tendenzen gleichzeitig; die Arbeitsteilung erzeugt immer mehr Warensorten, macht zugleich aber durch das Wachsen des konstanten Kapitals immer mehr Produktionsprozesse voneinander abhängig. Dies hebt die Produktion des Werts auf die gesamtwirtschaftliche Ebene, ein wichtiger Unterschied gegenüber einfacher Warenproduktion. Bereits diesen Schritt kann die Ökonomie kaum noch nachvollziehen, und endgültig scheitern ihre Vertreter an der Verselbständigung des Finanzwesens, welche die Mehrwertaneignung auf dieselbe Ebene hebt. Nächster Vergesellschaftungsschritt müsste die Aufhebung der Warenwirtschaft sein.


Literatur

Knut Hüller: Kapital als Fiktion (Paperback Hamburg 2015)
ders.: Immer mühsamer hält sich die Profitrate (demnächst im Internet)

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Zur Aufgabe einer kategorialen Gesellschaftskritik

von Frank Engster

Wie in anderen westlichen Industrienationen, begann auch in Westdeutschland Mitte der 1960er-Jahre eine Rückkehr zu Marx, und wie in den anderen Ländern ging auch in Westdeutschland mit dieser neuen Marx-Aneignung eine neue Aneignung des Kapital einher, genauer gesagt: eine neue Lesart. Unter dem unscheinbaren Begriff Lesart sind regelrechte Methoden der Interpretation und der Kritik zu verstehen. So begann in Italien die operaistische und später die post-operaistische Kapital-Lesart, in Frankreich im Kreis um Althusser die strukturale und später die poststrukturale und dekonstruktive Lesart, und im angelsächsischen Raum begannen die großen sozial-historischen Untersuchungen der Cultural Studies und des Political Marxism. In Westdeutschland, z.T. aber auch in der DDR, wurde indessen die Re-Lektüre des Kapital zu einer umfassenden Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie (KdpÖ), und im Zuge dieser Rekonstruktion bildete sich eine formanalytisch-werttheoretische Lesart heraus, die mittlerweile auch als Neue Marx-Lektüre bezeichnet wird (und die wiederum zu unterscheiden ist von der explizit wertkritischen Lesart, wie sie etwa von der Krisis, Exit und den Streifzügen vertreten wird).

Dass in Deutschland die neue Marx-Aneignung mit dem Bedürfnis nach einer solchen Rekonstruktion der KdpÖ und einer Selbstverständigung über das Ökonomische einherging, hatte verschiedene Gründe. Der entscheidende Grund war aber wohl, dass die KapitalAneignung in der BRD durch die erste Generation der Kritischen Theorie vorbereitet wurde und dass die Aneignung im Umfeld der Studentenbewegung stattfand. Die Kritische Theorie hatte in Marx' Gesellschaftskritik eine Art Vergesellschaftung der ungelösten Probleme und offenen Fragen der Philosophie gesehen und war darin ihrerseits von Georg Lukács und Karl Korsch beeinflusst worden. Zudem spielten bei ihr Überlegungen zur Methode der Kritik und der Darstellung sowie das Verhältnis von Hegel'scher zu Marx'scher Dialektik eine wichtige Rolle.

Allerdings blieb in der Kritischen Theorie, genau wie im Westlichen Marxismus insgesamt, der Umgang mit dem Kapital oft eher metaphorisch und assoziativ. Eine wirklich systematische Aufarbeitung - oder eben: eine Re-Konstruktion - war weitgehend ausgeblieben, und diese wurde nun von Studierenden im Umfeld der Kritischen Theorie in Angriff genommen; z.T. noch persönlich motiviert von den Vertretern der ersten Generation der Kritischen Theorie selbst.

Zudem hatte diese erste Generation die Rekonstruktion, trotz des unsystematischen Gebrauchs des Kapital, insofern regelrecht angeleitet, als sie die klassischen Lesarten in der Tradition der II. Internationale und des Marxismus-Leninismus bereits einer zumindest impliziten Kritik unterzogen hatte: Statt das Kapital vom Standpunkt der Arbeit und der Arbeiterklasse aus für den Klassenkampf zu erschließen, wurde es als Kritik warenförmiger Vermittlung ausgelegt. Indem in der Kritischen Theorie die Vermitteltheit der gesamten Gesellschaft durch die Totalität der Warenform - eingeschlossen die Arbeit und die Klasse, das Bewusstsein und die Subjektivität - Ausgangspunkt wie Grundzug der Gesellschaftskritik bildete, rückten bereits hier die Kategorien rund um die Wertformanalyse in den Mittelpunkt - und mit ihnen der Anfang des Kapital sowie vor allem das viel zitierte "Problem des Anfangs".

Noch vor der eigentlichen Rekonstruktion und noch vor der Frage ihres Anfangs standen indes methodologische (Vor-)Überlegungen, wie Marx' Kapital angemessen zu erschließen sei und wie im Kapital die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer wissenschaftlichen Darstellung übereinkomme. Für solche Überlegungen schien insbesondere die Wertformanalyse geradezu eigens von Marx verfasst und der eigentlichen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise vorangestellt worden zu sein, und so wurde die Marx'sche Wertformanalyse paradigmatisch für das methodische Verständnis und die Lesart des Kapital - im Gegensatz zu den bislang vorherrschenden Kapital-Lesarten, die, wenn sie die Wertformanalyse überhaupt zur Kenntnis nahmen, in ihr die Bestätigung einer "objektiven Arbeitswerttheorie" bei Marx sahen.

Tatsächlich lässt sich allein an der Interpretationsweise der Wertformanalyse bereits der Bruch mit den damals vorherrschenden Lesarten des Kapital festmachen. Es gab nämlich eine Kritik an der historisierenden Auslegung dieser Wertformanalyse und des Kapital insgesamt, wie sie schon von Engels in seiner Rezension von Zur Kritik 1857 (MEW 13, 475) und dann noch einmal in seinem Vorwort zur 3. Auflage des Kapital 1894 nahegelegt worden war. (MEW 23, 3335) Die Kritik führte in Deutschland zu einer Auseinandersetzung darüber, ob die Entwicklung der ökonomischen Kategorien im Kapital logisch-systematisch oder historisch-logisch auszulegen sei.

Durch die Konzentration auf die Wertformanalyse und auf ihre methodische Bedeutung für die logisch-kategoriale Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise gerieten in Deutschland werttheoretische Überlegungen in den Mittelpunkt der neuen Kapital-Rezeption. In Deutschland zeichnet sich die Kapital-Rezeption seitdem durch eine mitunter geradezu obsessive Beschäftigung mit der Wertformanalyse, ihren Kategorien und generell mit werttheoretischen Fragen aus - obgleich es in anderen Ländern ebenfalls werttheoretische Debatten gab, bereits in den 1920er-Jahren beim russischen Ökonomen Isaak Rubin sowie in Japan, in den 1970er-Jahren dann im angelsächsischen Raum und in Frankreich bei Suzanne de Brunhoff.

Der kritische Ertrag der logischen Lesart

Diese logisch-kategoriale, auch formanalytisch oder werttheoretisch genannte Lesart der Wertformanalyse und des Anfangs des Kapital hatte einen klaren Ertrag, der sie von ihren bisherigen Interpretationen unterschied. Wird die Analyse nicht, wie in den historisierenden und soziologischen Auslegungen, als historisch-logische Rekonstruktion des Geldes aus einem einfachen Warentausch und einer "einfachen Warenproduktion" (Engels) ausgelegt, sondern im Gegenteil als Scheitern der Verallgemeinerung und Totalisierung unmittelbarer Austauschverhältnisse, dann holt die Analyse im Geld auf eine rein logische Weise die Notwendigkeit eines gemeinsamen ausgeschlossenen Dritten ein. Die Analyse ist mithin als Kritik einer "prämonetären Ware" und "prämonetärer Wertvorstellungen" zu lesen; dies war das Ergebnis der logischen Lesart zunächst bei Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt; mittlerweile werden eine Einheit von Wert- und Geldkritik oder eine "monetäre Werttheorie" aber von einer Reihe weiterer Autoren wie Michael Heinrich, Riccardo Bellofiore oder Fred Moseley vertreten. Dieser Einsicht zufolge setzt nicht nur das Verhältnis einer Ware zu einer anderen je schon das Geld voraus; vielmehr sind auch der innere Widerspruch der Ware (Gebrauchswert und Tauschwert) und der Doppelcharakter der Arbeit (konkrete und abstrakte Arbeit) sowie das Verhältnis von Form und Substanz des Werts (Ware und abstrakte Arbeit) nicht ohne das Geld angemessen zu bestimmen.

Auf eine logisch-kategoriale Weise in den grundlegenden Kategorien der politischen Ökonomie deren Bestimmung durch die Funktionen des Geldes einzuholen: Das ist etwas ganz anderes als eine Begründung dieser Kategorien durch eine Rekonstruktion, sei es eine Rekonstruktion aus der geschichtlichen Entwicklung oder aus der gesellschaftlichen Praxis. Es geht um, wie Marx selbst sagt, die Lösung des "Geldrätsels" (MEW 23, 94 f.), und zu lösen gilt diejenige Lösung, die das Geld in der einfachen Wertform x Ware A = y Ware B im "x" und "y" auf eine ganz offensichtliche Weise vorstellt und doch zugleich als Rätsel aufgibt: nämlich dass das Verhältnis der Waren bereits quantitativ bestimmt und in objektive und empirisch "reine" (im Kant'schen Sinne) Geltung gesetzt worden ist.

In den 1970er-Jahren wurden in der westdeutschen Marx-Diskussion aus dieser logischen Lesart der Wertformanalyse noch zwei weitere Konsequenzen gezogen. Marx' Analyse der Wertform schien nämlich außer für die Geldform noch für zwei weitere Formen relevant zu sein, und zwar zum einen, im Anschluss an die Kritische Theorie und Alfred Sohn-Rethel, für die Denkform, und zum anderen, in der sog. Staatsableitungsdebatte und, anschließend an den Russischen Marxisten Eugen Paschukanis, für die Rechtsform. In beiden Fällen ging es darum, eine Übereinstimmung zwischen der Form des Ökonomischen und der spezifisch kapitalistischen Formbestimmtheit sowohl der Erkenntnis und des abstrakt-rationalen Denkens als auch der bürgerlich-kapitalistischen Rechtsverhältnisse zu begründen.

Bereits Ende der 1970er-Jahre versandeten diese Diskussionen um die Wertformanalyse jedoch. Das war zum einen dem allgemeinen Niedergang einer am Kapital orientierten Theorieproduktion geschuldet; zum anderen schien die formanalytisch-werttheoretische Lesart aber auch erschöpft zu sein. Mehr noch, der Anspruch, über eine logisch-kategoriale Entwicklung Marx' materialistische Umstülpung der Dialektik zu begründen und eine Vergesellschaftung der Hegel'schen Logik und des Geistes schlussendlich doch noch einlösen zu können - nicht über die Arbeit, wie im bisherigen Marxismus, sondern über die wertförmige Vergesellschaftung im Sinne eines "automatischen" Subjekts (MEW 23, 168) - dieser Anspruch, den Kritiker ohnehin stets für überspannt und verfehlt gehalten hatten, schien auch den Verfechtern irgendwie undurchführbar. Jedenfalls schrak die Gesellschaftskritik fortan vor solch ebenso radikalen wie weitreichenden Ansprüchen zurück: Mit dem Niedergang der politischen Bewegung Ende des "roten Jahrzehnts" der 1970er-Jahre und dem allgemeinen Rückzug der radikalen Gesellschaftskritik wurden auch die Ambitionen in der Theorie bescheidener.

Fixierung auf Warentausch, Tauschmittel und Tauschwert

Diese Situation der Erschöpfung verweist m. E. aber auch auf eine Art Selbstblockade. Es gibt nämlich neben dem genannten Ertrag der logisch-kategorialen Lesart der Wertformanalyse auch ein grundsätzliches Problem: Auch da, wo die Analyse im Sinne einer Einheit von Wert- und Geldtheorie und als Kritik prämonetärer Wertvorstellungen ausgelegt wurde, wird sie regelmäßig weiterhin wie ein Warentausch ausgelegt. Folgerichtig werden Geld und Wert dann aus einem unmittelbaren Warentausch abgeleitet und das Geld als Tauschmittel und der Wert als Tauschwert präsentiert. Mehr noch, das Kapitalverhältnis wird insgesamt aus einer regelrechten Ökonomie des Austauschs, einer Produktion für den Tauschwert und aus dessen Verselbständigung heraus erschlossen.

Daraus hat sich mitunter eine regelrechte Tauschlogik und Tauschmetaphysik entwickelt, von Georg Lukács und Alfred Sohn-Rethel über Adorno und die Kritische Theorie bis zu aktuellen Auslegungen sowohl im Umfeld der Neuen Marx-Lektüre als auch in der Wertkritik um Krisis, Exit, Streifzüge etc. Diese Tauschlogik kreist um einen Abstraktionsvorgang, der notwendig zu sein scheint, um qualitativ verschiedene und insofern unvergleichbare Gebrauchswerte sowie die "dahinter" stehenden konkreten Arbeiten "realabstrakt" gleichzusetzen; das Geld steht dann für diese Abstraktion im Tausch und ist gleichsam eine daseiende Abstraktion. Entsprechend wird die kapitalistische Ökonomie als eine Verallgemeinerung und Totalisierung der Warenform und als Verselbständigung des Tauschwerts und des "Tauschprinzips" (Adorno) ausgelegt.

Diese Fixierung auf eine Logik des Austauschs ist allein schon darum erstaunlich, weil solche Vorstellungen gerade die bürgerliche Ökonomietheorie auszeichnen, die ja ebenfalls ihre Vorstellungen von Rationalität und Objektivität und ihre politischen Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit ebenfalls aus dem Mythos eines einfachen Warentauschs ableitet. Damit sitzen ironischerweise sowohl die bürgerliche Ökonomietheorie als auch deren marxistische Kritiker genau dem Warentausch und derjenigen Tauschlogik auf, die als Schein des Geldes zu kritisieren wären. Denn Marx will ja gerade Austausch und Zirkulation samt den objektiven Denknotwendigkeiten und samt den bürgerlichen Idealen, die sie hervorbringen, als notwendigen Schein auf der Oberfläche der Gesellschaft durchsichtig machen, und um den Schein durchsichtig zu machen, stellt er dem Austauschprozess eine Analyse voran, die gerade nicht wie ein Austausch auszulegen ist. In der einfachen Warenform x Ware A = y Ware B steht kein unmittelbarer Warentausch zur Analyse an, sondern - und das ist im "x" und "y" eigentlich ganz offensichtlich - ein je schon rein quantitativ bestimmtes Verhältnis. Die Frage muss daher sein, warum eine solche Quantifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt möglich ist, und mit ihr die Konstitution einer gesellschaftlichen Objektivität, die der quantifizierenden Naturwissenschaft entspricht und eine zweite, rein gesellschaftliche Natur hervorbringt. Diese Bedingung der Quantifizierung und der quantitativen Verwertung wird, so wird zu zeigen sein, durch die erste Funktion des Geldes als Maß des Werts und der Verwertung gegeben - und nicht durch seine zweite als Tauschmittel.

Marx hat das Problem im dritten Band des Kapital in einem einzigen Satz bündig zusammengefasst: "Die ganze Schwierigkeit kommt dadurch hinein, daß die Waren nicht einfach als Waren ausgetauscht werden, sondern als Produkt von Kapitalen." Demnach unterzieht Marx Warentausch und Warenzirkulation sogar einer doppelten Kritik. Zum einen ist dem Warentausch eine Analyse der Wertform vorangestellt, die als Notwendigkeit eines Maßes auszulegen ist und die mit dem Maß die Möglichkeit der Quantifizierung begründet. Und zum anderen wird im Anschluss an den Austausch und die Zirkulation durch die Entwicklung der Kapitalform und der Verwertung nachgewiesen, dass sich die Warenwerte und ihre Größen aus der Realisierung der Resultate eines Verwertungsprozesses ergeben - und nicht einfach aus einem geldvermittelten Austausch von Waren.

Gerade wenn der zentralen Einsicht der logischen Lesart der Wertformanalyse gemäß Wert, Arbeit und Ware immer schon als durch das Geld bestimmt dialektisch eingeholt werden müssen, dann müsste konsequenterweise wiederum das Geld, und mit dem Geld müssten die Arbeit und die Ware ebenfalls je als Kapital-bestimmt auf diese dialektische Weise eingeholt werden - ganz wie Marx das im Zuge der Entwicklung der Kapitalform und der Verwertung von Arbeit und Kapital im Fortgang der Darstellung dann auch tut. Und das Kapital müsste wiederum vom Zusammenhang der Kapitale und vom "Gesamtkapital" (Marx) her begriffen werden sowie von den Formen des finanziellen und fiktiven Kapitale her; diese Entwicklung geht Marx dann im zweiten und dritten Band an.

Es ginge somit um eine Geldtheorie des Werts, aber auch um eine Kapitaltheorie sowohl des Geldes als auch des Werts, d.h. beide sind von der kapitalistischen Verwertung durch Arbeit und Kapital her zu bestimmen. Das Kapital wäre schließlich von einer Theorie des Gesamtkapitals sowie von den Formen und Techniken des fiktiven und finanziellen Kapitals her zu entwickeln.

Die Aufgabe nach der Neuen Marx-Lektüre

Die logisch-kategoriale Lesart der Wertformanalyse hat also einerseits mit der Notwendigkeit der Einheit von Wert- und Geldtheorie den Einstieg und geradezu den Schlüssel gefunden, um die weitere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf eine logisch-kategoriale Weise zu erschließen; andererseits bleibt sie auf die Tauschmittelfunktion des Geldes und auf einen geldvermittelten Warentausch fixiert, kreist endlos um den Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert und um die Notwendigkeit einer Abstraktion sowie um die Verselbständigung des Tauschwerts. Doch eine Produktionsweise, die sich durch das Prozessieren quantitativer Größen ins Verhältnis setzt und verwertet, reproduziert und ihre Produktivkraft steigert - eine solche Produktionsweise kann nicht durch eine "Tauschlogik" und durch vermeintliche Abstraktionsvorgänge erschlossen werden. Solche Vorstellungen sind einer kapitalistischen Produktionsweise von vornherein unangemessen, deren Pointe gerade darin besteht, dass sie wie in einer Messung die zur produktiven Verwertung von Arbeit und Kapital maßgeblichen Größen ermittelt und sich durch die ermittelten Wertgrößen auf eine buchstäbliche Weise selbst angemessen wird.

Um zu verstehen, auf welche Weise die kapitalistische Produktionsweise geradezu maßgeblich wird für sich selbst, muss in die Interpretation des Kapital mit der ersten Funktion des Geldes eingestiegen werden. Wird die Analyse der Wertform statt als Genese eines Tauschmittels als "Abgeben" eines (Wert-)Maßes ausgelegt, dann geht auch die gesamte weitere Entwicklung in eine ganz andere Richtung. Wird nämlich die Realisierung der Warenwerte als eine Messung ausgelegt, so stellt der Darstellungsgang des Kapital heraus, dass das Geld in den Waren die Resultate einer Verwertung realisiert - und eben keine bloße Austausch- und Äquivalenzrelation! Mehr noch, im Zuge dieser Realisierung werden wie in einer Messung die zur Warenproduktion notwendigen Größen ermittelt und im Geld selbst im Wortsinn heraus-gestellt. Genauer gesagt, werden diejenigen Wertgrößen ermittelt, die für die produktive Verwertung der beiden Bestandteile der Warenproduktion, Arbeit und Kapital, maßgeblich sind. Was ein Austausch- und Zirkulationsprozess zu sein scheint, ist also die gesellschaftliche Form einer ebenso bewusstlosen wie objektiven Messung. Die Warenzirkulation, von Marx formalisiert als Ware-Geld-Ware, und die Kapitalbewegung Geld-Ware-Geld' sind als ein gesamtgesellschaftlicher Messprozess auszulegen, der wie in einer bewusstlosen Reflexion die zur Verwertung von Arbeit und Kapital maßgeblichen Größen erschließt. Dabei werden zudem durch das Geld aus der vergangenen Verwertung von Arbeit und Kapital - und das macht die dynamische Selbstbezüglichkeit der kapitalistischen Produktionsweise aus - diejenigen Größen ermittelt, die für die produktive Verwertung des Geldes selbst maßgeblich sind, also für die Verwandlung des Geldes in die Bestandteile der Warenproduktion. Und schließlich leiten sich aus der Verwertung diejenigen Größen ab, die für die Verwendung von Kreditgeld und für die Formen des finanziellen und fiktiven Kapitals maßgeblich sind und die sich mit Marx unter der Form G-G' zusammenfassen lassen: der "Mutter aller verrückten Formen" (Marx). Diese Formen werden von Marx zwar aus der Verwertung ebenso abgeleitet, wie sie diese Verwertung zu ihrer Bedingungen haben; sie bleiben also auf die Form G-W-G' bezogen. (Folgerichtig behandelt Marx sie erst, nachdem er die Verwertung von Arbeit und Kapital entwickelt hat, vor allem im dritten Band des Kapital.) Andererseits gehen sie der Verwertung chronologisch ebenso voraus, wie sie die Verwertung, wenn auch indirekt, gleichsam nach sich ziehen und in Kraft setzen müssen; denn nach Marx müssen in letzter Instanz alle Formen der Geldvermehrung durch die produktive Verwertung von Arbeit und Kapital gedeckt werden - oder es stehen Prozesse der Entwertung, der Kapitalvernichtung und der Krise an.

Will die werttheoretische und wertkritische Diskussion ihre Selbstblockade überwinden, wären Wert und Verwertung also vom Geld her zu entwickeln, und zwar ausgehend vom Maß des Werts und der Verwertung. Die Hauptfunktionen des Geldes wären als Technik auszulegen; als Technik, um die Verwertung ebenso in Kraft zu setzen wie zu bewältigen. Nur durch die Funktionen, die Kreisläufe und die quantitative Bestimmung des Geldes ist die Technik gegeben, mit der produktiven Kraft der Verwertung von Arbeit und Kapital umzugehen. Diese Verwertung wäre wiederum in eine "Ökonomie der Zeit" (Marx) zu übersetzen. Oder vielmehr sind die Geldfunktionen diese Übersetzung. Die Verwertung des Werts wird von Marx explizit als zeitliches (Selbst-)Verhältnis analysiert, nämlich als vergangene, in den Gestalten des Kapitals akkumulierte Arbeitszeit und gegenwärtige, lebendige Arbeitszeit in Gestalt der Ware Arbeitskraft. Dieses Verhältnis setzt aufseiten der Ware Arbeitskraft wiederum das Verhältnis von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit in Kraft. Entscheidend für diese Ökonomie der Zeit aber sind das Maß und ihre Quantifizierung: Die kapitalistische Ökonomie unterscheidet sich radikal von allen vor- und nicht kapitalistischen Gesellschaften, weil das Quantitative ihrer Ökonomie nichts mit einer Abstraktion vom Gebrauchswertigen oder mit einer Reduktion auf das Quantitative zu tun hat, auch nichts mit einem Zählen oder Rechnen im rein mathematischen Sinne. Vielmehr resultiert das Quantitative aus der In-Wert-Setzung von Arbeit und Kapital durch die Messung der Produktivkraft ihres Verhältnisses. Und die Zeit wiederum kann nicht zum Maß der Verwertung werden und eine Ökonomie der Zeit im Verhältnis von Arbeit und Kapital in Kraft setzen, ohne dass das Geld für die Zeit einspringt und für sie eingesetzt wird, und ohne dass die Zeit durch die ökonomischen Werte je auf eine quantitative Weise eintritt und anwesend wird.

Die ermittelten Werte ergeben daher auch keine Tauschwerte und kein Äquivalenzverhältnis - das ist nur der Schein der Oberfläche der Zirkulation. Vielmehr sind aus der vergangenen Zusammensetzung der Verwertung diejenigen Durchschnittsgrößen gesellschaftlich gegenwärtig notwendiger Arbeitszeit ermittelt, die zur zukünftigen Verwertung der beiden Verwertungsbestandteile maßgeblich sind. Die Wertsubstanz wäre daher, der objektiven Arbeitswertlehre und allen substanzialistischen Vorstellungen entgegen, als zeitliches Verhältnis auszulegen. Das Wertverhältnis ist letztlich das zeitliche Selbstverhältnis der kapitalistischen Gesellschaft, verkörpert in den Gestalten von Arbeit und Kapital und buchstäblich in Kraft in ihrer "organischen Zusammensetzung". Dieses Auslegen ist keine Aufgabe nur der Theorie und Kritik. Vielmehr ist Aufgabe der Kritik zu zeigen, auf welche Weise es das Geld ist, das durch seine Funktionen und seine Kreisläufe dieses zeitliche Selbstverhältnis im Realisieren und Übertragen von Werten sowie durch seine Verwandlung G-W-G' auf eine ganz praktische Weise auslegt und in den ermittelten Wertgrößen expliziert.

Ich habe mich u.a. in meinem Buch Das Geld als Maß, Mittel und Methode dieser Aufgabe gewidmet.

Der Schein des Geldes

Um es noch einmal klar zu sagen: Das Problem aller Geldtheorien und das Problem der Kapitalismuskritik schlechthin ist, dass die Technik des Quantifizierens und Verwertens gesellschaftlicher Verhältnisse nicht über die Maßfunktion des Geldes bestimmt wurde. Die Technik des Messens kam mithin gar nicht erst in den Blick und wurde zum blinden Fleck der Geldtheorie und der Kapitalismuskritik.

So konnte es auch geschehen, dass die Verwertung von Arbeit und Kapital in der Weise gedacht wurde, als ob sie vom Geld durch die realisierten Werte lediglich repräsentiert würde. Das Verhältnis wurde nicht von der Technik des Geldes und seines konstitutiven Status her gedacht, sondern als ob das Geld den gesellschaftlichen Zusammenhang lediglich neutral und passiv wiedergibt, einen Zusammenhang, wie er ohne Geld wäre. Besonders schlagend und darum beispielhaft ist etwa Moishe Postones Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, wo es scheint, als würde die Arbeit unmittelbar, ohne Dazwischenkunft des Geldes, auf die Zeit bezogen und gleichsam durch die Uhrzeit gemessen - obwohl es doch das Geld ist, durch das es scheinen muss, als würde eine abstrakte, homogene Zeit als Maß der Verwertung von Arbeit und Kapital in Anspruch genommen. Und auch die Verhältnisse, die aufseiten von Arbeit und Kapital in Kraft treten, können nur durch das Geld in Wert gesetzt und quantifiziert werden und darüber der Verwertung zur übergreifenden Form werden. Kurzum, nur durch das Geld ist diejenige "Ökonomie der Zeit" gegeben, die aufseiten der Verwertung von Arbeit und Kapital in Kraft gesetzt wird.

Genauer gesagt, ist diese Ökonomie der Zeit zwar durch das Geld gegeben. Aber sie entzieht sich einerseits ins Geld und in die Werte, die es aufseiten der Waren realisiert, überträgt und in die Gestalten von Arbeit und Kapital (zurück)verwandelt, und andererseits scheint sie, eben darum, in der Arbeit und in den Produktionsmitteln auf unmittelbare und selbständige Weise in Kraft zu sein. Erste Aufgabe für die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft wie für die Idee des Kommunismus wäre daher, diese Verschränkung eigens zum Gegenstand zu machen. Stattdessen gingen die wenigen konkreteren Entwürfe einer nicht-kapitalistischen, sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft unglücklicherweise von einer Ökonomie aus, die zwar bereits, wie es sich für eine immanente Kritik nach Marx gehört, durch das Geld bestimmt und in ein spezifisch kapitalistisches Verhältnis gesetzt und vermittelt wurde - aber ohne diese Vermitteltheit zum eigentlichen Problem zu machen. Damit ist ihnen ausgerechnet diejenige gesellschaftliche Technik entgangen, für die das Geld im Kapitalismus steht, und mit dieser Technik ist ihnen die spezifisch kapitalistische Formbestimmtheit der Gestalten entgangen, die vermeintlich von sich aus produktiv sind und die es für den Kommunismus anzueignen gilt, ja, in denen er gleichsam schon angelegt sein sollte.

Die Technik des Geldes ist nicht nur für das Bewältigen und ständige In-Kraft-Setzen der Produktivkraft entscheidend, sondern auch für das Freisetzen und ihren Ursprung, und hier lässt sich das Problem einer kommunistischen Übernahme der Produktivkraft auf den Punkt bringen. Es ist geradezu die Pointe des Marx'schen Begriffs der Produktivkraft, dass sie gerade nicht, wie gemeinhin angenommen, den Gestalten von Arbeit und Kapital entspringt. Sie entspringt im Gegenteil ihrer radikalen Trennung. Nach Marx entspringt die produktive Kraft der kapitalistischen Produktionsweise der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln; beide werden durch die Trennung als Bestandteile einer Verwertung freigesetzt und, ineins, der Notwendigkeit der Verwertung ausgesetzt. Sie erhalten dadurch einen ganz neuen Status, nämlich den von Arbeit und Kapital. Marx besteht denn auch darauf, dass das eigentliche Resultat der Verwertung nicht die berühmte "ungeheuere Warensammlung" ist. Das eigentliche Resultat der Produktion ist das Produktionsverhältnis selbst, also die fortgesetzte Trennung und Akkumulation von einerseits Arbeitskräften und andererseits Kapital.

Sowohl das Trennen als auch das Vermitteln von Arbeit und Kapital, beides wird durch die Geldfunktionen übernommen und steht keiner kommunistischen Aneignung und Anwendung zur Verfügung. Diese Technik des Geldes kann nicht kurzerhand angeeignet und in Eigenregie übernommen oder ersetzt werden, weder durch eine zentrale politische Planung noch durch den Gegenpol, die rätedemokratische und basisdemokratische Vernetzung und Kommunikation. Beide Varianten einer Vergesellschaftung der Produktivkräfte: entweder "von oben", zentral über Partei und Verwaltung, Staat und Institutionen, oder basisdemokratisch dezentral "von unten" über Räte, Vernetzung und Kommunikation - beide Varianten laufen ins Leere, weil kein sozialistischer Staat und keine politische Institution, kein Kollektiv und keine rätedemokratische Vernetzung kurzerhand auf sich nehmen oder gar ersetzen könnten, was das Geld für uns und die Gesellschaft als Ganze macht. Beide Varianten würden nur versuchen, das spezifisch kapitalistische Wesen durch die Politik zu übernehmen und irgendwie durch Planung, Bürokratie, Vernetzung, basisdemokratische Kommunikation, Absprachen usw. eine gesellschaftliche Totalität und eine produktive Kraft zu kontrollieren, zu bewältigen und auszurechnen, die unverfügbar ist. Sie sind nicht nur für den Kommunismus unverfügbar, sondern auch der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft, denn wir befinden uns in der Verlegenheit, dass dieselbe produktive Kraft, die uns durch quantitative Größen gegeben ist und mit der wir mittels des Geldes produktiv umgehen, uns zugleich entzogen und im Geld unverfügbar gehalten ist.

So lässt sich mit Marx' Fetischbegriff, demzufolge gesellschaftliche Verhältnisse als Werteigenschaften reflektiert werden müssen, zeigen, dass die bisherige Idee des Kommunismus noch als spezifisch kapitalistisch zu kritisieren wäre. Es bleibt eine spezifisch kapitalistische Idee des Kommunismus anzunehmen, dass die produktive Kraft in den Produzenten und Produktionsmitteln gleichsam materiell schon da sei und dass auch der produzierte Reichtum mittlerweile ausreichend vorhanden und die Produktivkraft ausreichend gesteigert sei, damit genug für alle da ist und Arbeitszeit sogar massiv gekürzt werden könnte. Wird die Möglichkeit oder gar die Reife einer anderen, kommunistischen Gesellschaft an der Produktivkraft der Arbeitskräfte einerseits und an den Produktionsmitteln und -bedingungen andererseits festgemacht, so scheint die Revolution folgerichtig in der Aneignung und der kollektiven Anwendung der Produktionsmittel und -bedingungen durch die Produzenten zu liegen. Es scheint, als müssten die vorhandenen Produktivkräfte, die Produktionsmittel und der produzierte Reichtum nur noch von ihrer kapitalistischen Form befreit und gebrauchswert- und bedürfnisorientiert zum Nutzen aller angewendet werden - obwohl sie doch gerade durch diese Form erst in ein ebenso produktives wie spezifisch kapitalistisches Verhältnis gesetzt werden und ihre produktive Bestimmung erhalten, und obwohl diese Form doch gerade ihrer Trennung entspringt.

Die bloße Übernahme der Produktionsmittel würde daher gerade nicht deren kapitalistische Bestimmung und die damit einhergehende Notwendigkeit eines produktiven Umgangs überwinden. Im Gegenteil, mit den Produktionsmitteln müsste genau das kapitalistische Produktionsverhältnis, das im Produktionsmittel in Kraft ist, übernommen werden. Das lässt sich am kapitalistischen Produktionsmittel schlechthin ausweisen: der Maschine. Die Maschine, ob industrielle physikalische Werkzeugmaschine, Haushaltsgerät oder Rechenmaschine, ist Marx zufolge nur produktiv, wenn sie in das gesellschaftliche und spezifisch kapitalistische Verhältnis der Umwandlung von notwendiger in zusätzliche Arbeitszeit eingeht, wenn sie also zur Reduzierung der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft beiträgt und Mehrwert freisetzt. Kurz, sie ist produktiv, wenn Arbeitskräfte und Produktionsmittel quantitativ ins Verhältnis gesetzt werden und sich dadurch im Maß einer quantifizierten Zeit produktiv verwerten. Dass dieses produktive Verhältnis, das in Mensch und Maschine in Kraft ist, wiederum nur durch die Technik des Geldes übernommen werden kann, lässt sich gerade an der Produktivkraftentwicklung und am gesellschaftlichen Fortschritt ausweisen, mithin am eigentlichen Reichtum der Gesellschaft: an der Reduzierung notwendiger Arbeitszeit. Denn nur durch das Geld kann die Umwandlung von notwendiger in zusätzliche Arbeitszeit, also der Mehrwert, als solcher angeeignet und ausgebeutet werden; nur das Geld kann diejenige zusätzliche Arbeitszeit, die durch die kapitalistischen Reproduktionskreisläufe hindurch gewonnenen wird, in einem Quantum auf bewahren. Dieses Quantum muss, um erhalten zu bleiben, zwar wieder in die Gestalten der Verwertung zurückverwandelt werden; aber die ausgebeutete Arbeitszeit kann wiederum nur durch das Geld so in die Produktions- und Verwertungsbestandteile (zurück-)verwandelt werden, dass die Gesellschaft in die Erweiterung ihrer eigenen Reproduktion überführt wird.

Auch wenn die Technik des Geldes hier allenfalls angedeutet und nicht entwickelt werden konnte, wird doch hoffentlich deutlich, dass die Gesellschaftskritik es mit dieser Technik aufnehmen muss. Die Produktionsmittel und Produzenten kommunistisch zu vergesellschaften und zusammen mit ihnen die gesellschaftliche Reproduktion - das würde verlangen, es mit dem Universalismus und mit der Ökonomie der Zeit aufzunehmen, die durch das Geld gegeben ist.

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Rezens

Christian Fuchs: Marx lesen im Informationszeitalter. Unrast Verlag 2017, 557 Seiten, ca. 29,80 Euro

Vor uns liegt ein umfangreiches Lehrbuch, bezeichnenderweise im Marxblau der MEW gehalten. Das ist Absicht und unterstreicht das Anliegen. Kapitel für Kapitel wird der Erste Band des Kapitals durchgegangen. Es ist wohl ein Buch gewordenes Vorlesungsmanuskript, was gar nicht abschätzig gemeint ist. Fuchs versucht sich als Animateur, es geht ihm um eine didaktische Zuleitung in das marxsche Oeuvre der Kritik der politischen Ökonomie. Skizzen und Tabellen sollen das Verständnis erleichtern. Und das tun sie auch. Am Ende der Kapitel finden sich praktische Übungen, auch wenn sich eins gelegentlich über die Fragen wundert.

Sehr konventionell fällt hingegen die Sichtung des Gebrauchswerts aus. Eine substanzielle Auseinandersetzung mit der Kategorie findet nicht statt. Fuchs referiert und erläutert, mehr jedoch nicht. Sätze wie: "Es ist daher wichtig, zu sehen, dass im Kapitalismus Gebrauchswerte in einer dialektisch-antagonistischen Beziehung zu den Tauschwerten stehen" (S. 39), würden wir glattweg verneinen, inhaltlich wie begrifflich. Siehe unsere Gebrauchswertnummer. Hier herrscht tatsächlich eine etwas beschränkte Orthodoxie.

Eindeutig besser sind die Passagen, wo Fuchs versucht, medientheoretische Fragen in Zusammenhang mit dem marxschen Kapital zu behandeln. Da erfährt man viel Neues. Es ist ein ambitioniertes Unternehmen, das sich Fuchs, der an der Universität Westminster in London Medien- und Kommunikationswissenschaft unterrichtet, da vorgenommen hat. Zweifellos.

F.S.

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Zehn Thesen über Marxismus heute(*)

von Karl Korsch

I. Es hat keinen Sinn mehr, die Frage zu stellen, wieweit die Lehre von Marx und Engels heute noch theoretisch gültig und praktisch anwendbar ist.

II. Alle Versuche, die marxistische Lehre als Ganzes und in ihrer ursprünglichen Funktion als Theorie der sozialen Revolution der Arbeiterklasse wiederherzustellen, sind heute reaktionäre Utopien.

III. Im Guten und Bösen sind aber wichtige Bestandteile der Marxschen Lehre mit veränderter Funktion und auf veränderten Schauplätzen noch heute wirksam. Auch aus der Praxis der vormaligen marxistischen Arbeiterbewegung sind wichtige Antriebe in die heutigen praktischen Auseinandersetzungen von Völkern und Klassen eingegangen.

IV. Der erste Schritt zum Wiederaufbau einer revolutionären Theorie und Praxis besteht darin, mit dem monopolistischen Anspruch des Marxismus auf die revolutionäre Initiative und auf die theoretische und praktische Führung zu brechen.

V. Marx ist heute nur einer unter vielen Vorläufern, Begründern und Weiterentwickler der sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse. Ebenso wichtig sind die sog. "utopischen Sozialisten" von Thomas Morus bis zur Gegenwart. Ebenso wichtig sind auch solche großen Konkurrenten von Marx wie Blanqui und solche Erzfeinde wie Proudhon und Bakunin. Ebenso wichtig sind schließlich auch solche nachträglichen Weiterentwicklungen wie die durch den deutschen Revisionismus, den französischen Syndikalismus und den russischen Bolschewismus.

VI. Besonders kritische Punkte im Marxismus sind
1. praktische Abhängigkeit von den unentwickelten ökonomischen und politischen Bedingungen in Deutschland und in allen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, in denen er später politische Bedeutung erlangte;
2. bedingungsloses Festhalten an den politischen Formen der bürgerlichen Revolution;
3. bedingungslose Akzeptierung der fortgeschrittenen ökonomischen Zustände in England als Modell für die künftige Entwicklung aller Länder und als objektive Vorbedingung für den Übergang zum Sozialismus. - Dazu kommen
4. die Folgen seiner wiederholten, krampfhaften und widersprechenden Versuche, diese Bedingungen zu durchbrechen.

VII. Aus diesen Bedingungen entspringt
1. die Überbetonung des Staates als des entscheidenden Instruments der sozialen Revolution;
2. die mystische Identifizierung der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der sozialen Revolution der Arbeiterklasse;
3. die spätere zweideutige Weiterentwicklung dieser ersten Form der Marxschen Revolutionstheorie durch die künstliche Aufpfropfung einer teils gegen Blanqui, teils gegen Bakunin entwickelten Zwei-Phasen-Theorie der kommunistischen Revolution, die die wirkliche Emanzipation der Arbeiterklasse aus der gegenwärtigen Bewegung eskamotiert und in eine unbestimmte Zukunft verlegt.

VIII. An diesem Punkt hat die Leninsche oder bolschewistische Weiterentwicklung des Marxismus eingesetzt, und es ist diese neue Form, in der der Marxismus auf Russland und auf Asien übertragen worden ist. Gleichzeitig damit vollzog sich die Entwicklung des marxistischen Sozialismus von einer revolutionären Theorie zu einer Ideologie, die in den Dienst einer großen Reihe von verschiedenen Zielsetzungen gestellt werden kann und gestellt wurde.

IX. Von diesem Standpunkt sind die beiden russischen Revolutionen von 1917 und 1928 kritisch zu begreifen. und von diesem Standpunkt sind auch die verschiedenen heute vom Marxismus in Asien und im Weltmaßstabe erfüllten Funktionen zu bestimmen.

X. Die Bestimmung der Arbeiter über die Produktion ihres eigenen Lebens wird nicht hervorgehen aus ihrem Einrücken in die verlassenen Positionen der sich selbst aufhebenden so genannten freien Konkurrenz der monopolistischen Eigentümer der Produktionsmittel auf den internationalen Märkten und auf dem Weltmarkt. Sie kann nur noch hervorgehen aus dem planmäßigen Eingreifen aller heute ausgeschlossenen Klassen in die heute tendenziell schon allenthalben monopolistisch und planmäßig regulierte Produktion.


* Skript zu einem Vortrag in Zürich im Jahre 1950

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Marx digital
Vom Ende der Verwertung und vom Aufstieg der virtuellen Ökonomie

von Franz Schandl

Digitalisierung ist in aller Munde. Im verordneten Fortschrittsoptimismus hat sie als Chance wahrgenommen zu werden - außerdem, an ihr führt sowieso kein Weg vorbei. Auch die grassierende Zahlenmanie - aktuell sind wir bei 4.0 - lässt vermuten, dass die Zukunft nichts anderes sein kann als die Gegenwart. Bloß modernisiert. Die Dispositive stimmen. Das Modell steht und wird nur von Level zu Level gesteigert. Einmal mehr hat das Schicksal geschlagen, die Herausforderungen sind anzunehmen, die eigenen Qualifikationen entsprechend zu optimieren. Kritische Studien hingegen finden sich selten. Die vorliegende von Michael Betancourt, eines amerikanischen Kritikers und Filmtheoretikers, ist aber so eine. Eine fundierte noch dazu. Terminologisch ist der Band sehr anspruchsvoll, gelegentlich etwas überfordernd, aber es zahlt sich aus, sich darauf einzulassen.

Digitale Hochrüstung erscheint wie eine ewige Entfaltung des Gegebenen, das nie zu Ende kommen wird. Doch ist dem so? Geht das überhaupt? Unser Autor ist da skeptisch. Besonders brisant sind Betancourts krisentheoretische Überlegungen. "Die automatisierte Erzeugung von Werten kann nur fortgesetzt werden, wenn es möglich ist, diese Werte gegen andere Werte zu tauschen. Die Aura des Digitalen, wenn sie durch automatisierte Produktion verwirklicht ist, erzeugt notwendigerweise ein Paradox, bei dem sie statt einer exponentiellen Eskalation in der Schaffung von Wert Überschusswerte erzeugt, für die es exponentiell abnehmende Möglichkeiten des Tauschs gibt." (56) Wer also soll kaufen, wenn immer weniger verdienen können? "Daher destabilisiert die Eliminierung der untersten Ebene der menschlichen Arbeit aus dem Produktionsprozess die oberen Ebenen auf kaskadenförmige Weise." (57) Es ist die klassische Lohnarbeit, die faktisch ausradiert zu werden droht, wogegen auch kein Klassenkampf mehr hilft, so Betancourt. "Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte Methoden des Widerstands und der Opposition werden neutralisiert, noch bevor sie in Aktion treten können." (215) Die Stärke der Arbeiterklasse war gekoppelt an ihr numerisches Wachstum und die Stärke konzentrierter materieller Produktion. Doch diese Umstände sind schon viele Jahre nicht mehr gegeben.

Agnotologie und Daten

Die fundamentale Frage Was sind Daten? beantwortet Betancourt so: "Daten spiegeln nur die Uniformität des digitalen Protokolls wider, wodurch sie den Zustand umfassender Kenntnis anstreben und verdinglichen. Sämtliche Positionen, selbst wenn sie gegensätzlich sind und einander ausschließen, koexistieren als diskrete Datenpunkte, die auf Semiose warten." (193) Die Semiose als Deutung der Zeichen wird immer eminenter. Erzeugen Daten digitale Protokolle oder digitale Protokolle Daten? Oder noch enger: Sind Daten digitale Protokolle? Auf jeden Fall sind schon deren Setzungen struktiver Natur, nicht erst die Resultate.

"Die digitale Technologie zwingt die Dinge notwendigerweise in die Gleichförmigkeit des Rasters" (37), schreibt der Autor. Nicht nur die stofflichen Waren, das gilt ebenso für immaterielle Güter wie Wissen und Information. "Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert." (56) Ökonomisch vermag lediglich zu überleben, was sich diesem Prozess unterwirft. Immer mehr wird in Serie durch Automaten hergestellt, selbst Texte. Ganze Sparten geistiger Tätigkeit tendieren durch Digitalisierung überflüssig zu werden.

Einbildung wird zu einem gravierenden, wenn nicht dominierenden Faktor. Wir halluzinieren uns eine bestimmte, genauer gesagt vorbestimmte Realität. Der Kapitalismus ist für Betancourt inzwischen im Reich seiner eigenen Fiktionen angelangt. Daten firmieren als Fixpunkte, sind indessen aber vorgegebene Fixierungspunkte, an die wir zu glauben und mit denen wir zu rechnen haben.

Eine gängige Behauptung lautet ja: Wir wissen immer mehr. Doch wissen wir wirklich mehr?, so die Gegenfrage. Und was bedeutet dieses mehr? Ist es nicht vielmehr so, dass wir in dieser scheinbar ehernen Dynamik auch vieles verlieren? Ist nicht Lernen auch ein Verlernen? Und ist es nicht von entscheidender Größe, wovon wir wissen, wovon wir nichts wissen oder auch nichts wissen sollen? Die organische Zusammensetzung der uns bekannten Ignoranz ist kein individuelles Manko, sondern Konsequenz gesellschaftlicher Verhältnisse. Individuell ist maximal ihre Ausprägung, keineswegs ihre Prägung. Zweifellos sind Ignoranz oder auch Indifferenz große Hürden betreffend Theorie und Praxis der Emanzipation. Wenn etwas nicht erkannt und benannt werden kann, wie soll es dann erst beseitigt werden können? Ein Trumpf unserer Realität ist, dass sie nicht realisiert wird. Wir sind Arrestanten der Matrix. Rationell ist uns die Fiktionalisierung des Soseins unserer praktizierten Affirmation.

Von nicht zu unterschätzender Relevanz sind auch Betancourts Überlegungen zum Begriff der Agnotologie. "Das Problem der informationsreichen Gesellschaft besteht nicht im Zugriff auf Information - auf Information zuzugreifen, wird zu einer alltäglichen Angelegenheit durch die ständig aktivierten Computernetzwerke -, sondern ist eine Frage der Kohärenz. Die Agnotologie wirkt in der Erzeugung von Dekohärenz: Sie unterminiert die Fähigkeit, festzustellen, welche Information wahrheitsgemäß und für die Konstruktion von Interpretationen zulässig ist." (211) "Agnotologie hat die Funktion der Eliminierung des Widerspruchspotenzials." (234) Als korrekte Bezeichnung schlägt Betancourt "agnotologischer Kapitalismus" vor: "ein Kapitalismus, der systematisch auf der Produktion und Erhaltung von Unwissenheit basiert." (233) Unwissenheit ist weniger die Folge mangelnder Information, sondern im Gegenteil, Resultat uns überbordender und überfallender Information. Wir verhungern nicht, wir ersticken. Wie sollen wir überhaupt noch erkennen, was da seriös ist?

Virtuelle Ökonomie

Die neue Qualität besteht darin, dass Maschinenarbeit, die einstmals eine Erweiterung menschlicher Aktivität darstellte, inzwischen "zu ihrem Ersatz durch Modelle" geführt hat. Zusehends wird die "menschliche Vermittlungsinstanz entfernt" (55). Der Fortschritt von der physischen zur digitalen Wirklichkeit bedeutet, dass Wert für Ersteres ein "geschichtliches Zeugnis" darstellt, Letzteres aber eine "symbolische Beziehung" (64) demonstriert. Die digitale Reproduktion erschafft somit eine neue Klasse von Objekten. Diese Objekte sind keinem zeitlichen Verfall unterworfen, sie verschwinden nicht, sie können höchstens verloren gehen. "Das digitale Werk ist unsterblich" (70), schreibt der Autor. Es liefert "perfekte, identische Kopien" (72). Serielles überwindet Originäres.

"Diese Kosten dieser Arbeit, die Marx als 'variables Kapital' bezeichnete, werden beseitigt, wenn die Automation menschliche Tätigkeit durch 'konstantes Kapital' ersetzt: die Kosten der Maschinen und Rohmaterialien ohne die variablen Kosten, die für menschliche Arbeit entstehen. Das Ergebnis ist eine scheinbare Produktion von Wert ohne Kosten für irgendwelche durch menschliche Arbeit erzeugten Werte: Die Erzeugung von Bedarfsgütern durch autonome Arbeit deutete auf einen fundamentalen Bruch in der Wertproduktion im Kapitalismus hin, der die Irrelevanz der menschlichen Arbeit und gesellschaftlichen Grundlagen für die Werterzeugung im digitalen Kapitalismus impliziert." (208) Der Wert löst sich von seiner Substanz, der abstrakten Arbeit. Er tut also, was er gar nicht kann. Kapital als sich verwertender Wert wird immer mehr durch den Geldkreislauf nicht bloß stimuliert, sondern simuliert. Kapital wächst über seine Substanz hinaus, vollzieht seine eigene Vervielfältigung. Kapital scheint durch Kapitalisierung beliebig multiplizierbar und somit perpetuierbar.

Der klassische Kapitalismus ist für den Autor am Ende, was vor allem mit der Auflösung der traditionellen Definition des Werts zu tun hat, die doch eng an den Verkauf der Arbeitskraft gekoppelt gewesen ist. Die Verschiebung bedeutet: "Wert wird nicht eine gesellschaftliche Beziehung, sondern durch eine autoritäre Beherrschung abgesicherte, technische Beteuerung." (214) So wird "der Wert von Waren nicht mehr durch einen Tauschwert ausgedrückt, sondern stattdessen als transaktionale Schuld: Er wird zu einem Austausch von Ansprüchen auf eine künftige Produktion." (229) "Zukünftigkeit wird zu einem zentralen Vermögenswert transformiert." (230) Es geht zusehends um den "über Finanzialisierung vermittelten Tausch von Ansprüchen auf künftige Produktion" (231).

Der Kapitalismus organisiert sich heute zunehmend von Versprechen auf Versprechen, die wiederum von neuen Versprechen abgelöst werden. "Dramatische Vergrößerungen des Umfangs der sich in Zirkulation befindlichen Geldmenge sind ein wesentliches Merkmal des akkumulativen Verfahrens, das auf immateriellen Vermögenswerten basiert. Der Wert einer Fiat-Währung existiert nur als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns und des Vertrauens in die Fiat-Währung." (249) Es ist der Glaube, der selig macht. Und dieser Glaube scheint nicht nur mächtig, er erscheint sogar stärker denn je. Aber vielleicht, so könnte man ergänzen, erscheint er auch bloß deswegen so stark, weil nur noch er als stark erscheinen kann.

Es ist ein gigantisches Pyramidenspiel, das da abläuft, aber es läuft weiter, weil es weiterlaufen muss: "Der digitale Kapitalismus wird von sofortigem Zusammenbruch bedroht, wenn die Zirkulation von Kredit aufhört." (232) Stets muss es flutschen und flitzen. "Die Instabilität des digitalen Kapitalismus, die zu Zusammenbrüchen führt (und zur Bewegung in Richtung auf einen Untergang), ist im Wesentlichen" bestimmt durch "die Unfähigkeit der Produktion, die durch das Kapital gestellten Forderungen zu erfüllen" (251).

Wir leben im Zeitalter der "Transformation von produktiver Arbeit in semiotische Manipulation" (218f.). Das sei aber "keine Frage einer elitären Verschwörung", sondern folge den "Erfordernisse(n) des systemischen Gleichgewichts" (220). Es geht um die "spontane Erzeugung von Tauschwert ohne Arbeitsaufwand" (223). Wert ohne Arbeit wird scheinbar möglich. Man könnte auch sagen, der Kapitalismus ist in eine Phase seiner eigenen Simulation gelandet, wir haben es mit einer "virtuellen Ökonomie" (229, 249) zu tun. Die klassische Marx'sche Werttheorie sei unzureichend und muss erweitert werden, will sie die Phänomene erfassen. "Der Tauschwert traditioneller universaler Warenform ist jetzt unstabil" (227), konstatiert Betancourt. Schade, dass der Autor, der Karl Marx ja ausdrücklich seine Reverenz erweist, für seine Überlegungen nicht auch das Maschinenfragment aus den Grundrissen oder den dritten Band des Kapitals herangezogen hat. Dort analysierte Marx unter der Bezeichnung "fiktives Kapital" einige Entwicklungen, die heute erst in voller Wucht um sich greifen.


Michael Betancourt: Kritik des digitalen Kapitalismus.
Aus dem Englischen von Manfred Weltecke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018,
270 Seiten, ca. 30,80 Euro


PS: Insgesamt werden wir dem Komplex "Kapital digital" in Zukunft mehr Aufmerksamkeit widmen. Zumindest ist das ein Versprechen, das erst einmal gehalten werden muss.

Mithilfe ist erbeten. Insbesondere sollte man sich auch mit Timo Daum befassen, der in einigen wichtigen Punkten doch zu ganz anderen Einschätzungen als Betancourt kommt. (Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie, Edition Nautilus, Hamburg 2017) 

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Arbeit auf Abwegen.
Überflüssige Arbeit bei Marx und heute*

von Holger Schatz

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Immaterial World

Kapitalismus aufheben

Simon Sutterlütti & Stefan Meretz

Ohne Ziel kein Weg. Ohne Utopie ist die Überwindung des Kapitalismus nicht erforschbar. Der Großteil der emanzipatorischen Bewegungen versucht die Utopie einer befreiten Gesellschaft durch negative Bestimmungen - kein Staat, kein Markt, keine Vergesellschaftung über Arbeit etc. - anzudeuten. Innerhalb der Utopietheorie gibt es zwei Positionen.

Die beschreibende Utopie sieht kein Problem in der Bestimmung der Utopie und skizziert, plausibilisiert, pinselt die utopische Gesellschaft munter aus. Sie wird kritisiert von der zweiten Position des Bilderverbots, welche betont, dass jedes Nachdenken über die Zukunft eine Verlängerung heutiger Vorstellungen ist, und somit Herrschaft, Arbeitswut und Sphärentrennung nur verlängert. Sie verlangt eine Abkehr von der "Utopisterei" und eine Hinwendung zur reinen Kritik des Bestehenden.

In unserem Buch suchen wir den Ausweg mittels einer dritten Position, der kategorialen Utopie. Hier wird die Utopie nicht ausgepinselt, nicht in ihren Details beschrieben, sondern ihre grundlegenden Dynamiken entwickelt und diskutiert. Eine kategoriale Utopie beschreibt nicht, wie wir konkret re/produzieren oder wohnen werden, sondern versucht zu denken, wie eine Gesellschaft ohne den Zwang zur Arbeit, ohne Eigentum und ohne Staat funktionieren kann.

Eine solche freie Gesellschaft kann nur die Realisierung menschlicher Möglichkeiten sein. Diese Möglichkeiten gilt es zu ergründen. Hierfür benötigen wir eine Theorie von Mensch und Gesellschaft, die diskutiert, geprüft und hinterfragt werden kann. Durch diese explizite Begründung wird die Utopie selbst diskutierbar, und wir können sie wie jede andere Theorie verbessern und weiterentwickeln. Utopie kann mit der kategorialen Utopietheorie zur Wissenschaft, zu einer begründeten Auseinandersetzung werden.

In der gesamten Geschichte entfalteten wir unsere menschlich-gesellschaftliche Potenz bisher nur eingeschränkt. In Exklusionsgesellschaften ist es naheliegend, meine Bedürfnisse auf Kosten der Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Für mich ist es subjektiv funktional, den billigeren Käse zu kaufen, aber damit fördere ich Arbeitsverhältnisse, die anderen Menschen und der nicht-menschlichen Natur Schaden zufügen. Für mich ist es naheliegend, andere Menschen direkt oder strukturellmittelbar auszunutzen, um meine Bedürfnisse besser zu befriedigen.

Diese Exklusionslogik kann nicht einfach ethisch durch individuell anderes Handeln überwunden werden. Wir können sie nur überwinden durch gesellschaftliche Strukturen, in welchen die beste Befriedigung der eigenen Bedürfnisse daran gebunden ist, die Bedürfnisse anderer Personen einzubeziehen. Es ist eine Gesellschaft "in welcher das Glück weder zufällig, noch vom Unglück der anderen gemacht" (Jochen Schimmang) ist, eine Gesellschaft in welcher es mir besser geht, wenn ich die Bedürfnisse anderer einbeziehe.

Diese commonistische Inklusionsgesellschaft ist die kategoriale Utopietheorie, welche wir in dem Buch "Kapitalismus aufheben" entwickeln. Und wir fragen, welche gesellschaftlichen Strukturen, welche Vermittlungsformen, welche "Beziehungsweisen" (Bini Adamczak) diese Inklusionsstrukturen herstellen. Dabei stoßen wir - basierend auf der Commonsforschung - auf zwei Grundlagen: Freiwilligkeit und kollektive Verfügung.

In einer Gesellschaft, welche auf Freiwilligkeit aufbaut, kann ich niemanden dazu zwingen, für mich Erdbeeren anzubauen oder den Müll zu beseitigen. Tätigkeiten müssen so organisiert sein, dass es Menschen wichtig ist und auch Freude bereitet, diese auszuüben. Dies gilt für das Putzen und Kochen in einer WG, wie für die Straßenausbesserung in einem Stadtviertel, wie für die Tätigkeiten am Hochofen in einem Stahlwerk. Freiwilligkeit verlangt von all diesen Strukturen, die Bedürfnisse der Beitragenden zu inkludieren. Leisten sie dies nicht, müssen sie sich verändern oder untergehen.

Kollektive Verfügung verlangt, dass wir unsere gegenseitigen Bedürfnisse bei der Nutzung von Ressourcen und Mitteln einbeziehen. Ich kann nicht einfach das Haus mit dem schönsten Meerblick mittels struktureller Herrschaft - Geld - kaufen, oder mir den Stahl, den sowohl der Schulbau als auch die Käsefabrik braucht, für die Käsefabrik aneignen. Nein, wir müssen unsere Bedürfnisse miteinander in Beziehung setzen und mit begrenzten Mitteln umgehen. Wir müssen auftretende Konflikte austragen - und zwar auf eine Weise, in der es nicht möglich ist, sich auf Kosten anderer durchzusetzen.

Wir können Konflikte nur dann lösen, wenn wir für uns alle eine gute Lösung finden. Auch hier ist es nahegelegt, die Bedürfnisse anderer einzubeziehen, auch hier wirkt die Inklusionslogik. Die gesamte Gesellschaft wird somit durch ein Netz von Inklusionslinien durchzogen, die es für mich subjektiv funktional machen, die Bedürfnisse anderer einzubeziehen, und für andere, die meinigen zu inkludieren. In dieser commonistischen Inklusionsgesellschaft ist tatsächlich "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller" (Marx/Engels).

Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen Utopie und Transformation: Umso klarer wir die Utopie begreifen, desto besser können wir die Transformation bestimmen. Denn die Transformation muss jene Beziehungen und Vermittlungsformen entwickeln, welche die Zielgesellschaft ausmachen. Die freie Gesellschaft fällt nicht vom Himmel, sondern kann nur vor dem gesellschaftlichen Bruch in einer noch unentfalteten, begrenzten Form entwickelt und aufgebaut werden.

Dieser Entwicklungsprozess einer neuen Form der Vergesellschaftung verbindet die zwei zentralen Elemente von Reform und Revolution. Während die Revolution den Bruch ins Zentrum rückt, ist es für die Reform der Prozess. In unserer Aufhebungstheorie beinhaltet der Prozess einen Formbruch. Die Aufhebung muss die befreienden Strukturen der Inklusionsgesellschaft aufbauen und entwickeln. Diese Strukturen können wir in unseren heutigen Organisationsformen auf einer interpersonalen Ebene schon vielfach erkennen. Die entscheidende Frage nun aber ist: Wie werden die Beziehungen der Freiwilligkeit und kollektiven Verfügung zur gesellschaftlich bestimmenden Beziehungsweise?

Das Buch ist "eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken". Es ist als Druckwerk käuflich und auf der Website commonism.us frei erhältlich.

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Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft

von Peter Oberdammer


Teil III: Opferrituale

Wenn die Aktivitäten der staatlichen Arbeitsvermittlung in Österreich (AMS) in ihrer Substanz als versteckte Opferrituale zur quasireligiösen Verkultung der Arbeit zum Zeitpunkt ihrer realen Krise verstanden werden, müssen zwei logische Bedingungen erfüllt sein.

Der vorgebliche Zweck der Arbeitsvermittlung muss als Fassade mit wenig bis keiner realen Funktion erkennbar sein, die nur zu rituellen Zwecken fortgeführt wird, wie Ritualhandlungen oft abgewandelte Alltagstätigkeiten sind.

Ferner müssen die Arbeitslosen nicht nur als "normale", staatlichem Verwaltungsrecht unterworfene Rechtssubjekte erscheinen, sondern tatsächlich als Opfer in einem Sühneritual, d.h., es müssen Züge einer Sonderbehandlung in einer Ausnahmesituation auftreten. Letzteres bedeutet Folgendes:

• Rituale symbolisieren einen über ihre unmittelbare Funktion hinausgehenden Sinnzusammenhang, bieten alltagsweltliche Orientierung für die Bewältigung komplexer lebensweltlicher Situationen und fördern so die intersubjektive Verständigung im Kollektiv und den Gruppenzusammenhalt. Letzteres ist bei Religionsgemeinschaften empirisch nachweisbar. Im konkreten Fall transportieren und vermitteln sie die arbeitsreligiöse Glaubenslehre (siehe Teil II in Streifzüge 72), bieten (scheinbar) Orientierung angesichts des Verschwindens der Arbeit und schaffen ein (objektiv falsches) Wir-Bewusstsein.

• Sühneopfer dienen der symbolischen Wiederherstellung eines als wünschenswert empfundenen Gleichgewichtszustands, ohne die Ursache der Störung real auf heben zu können. Weder handelt es sich um Wiedergutmachung noch um Strafe, die in ihrem modernen Sinn hauptsächlich zweckrational auf die Besserung des Täters und Prävention der Tat gerichtet ist (vgl. Foucault). Die den Arbeitslosen pauschal unterstellte "Sünde wider den Glauben", sprich Arbeitsunwilligkeit, können diese nicht durch Schadenersatz - etwa für mangelnden Beitrag zu Konsum, Steuerleistung und Profitgenerierung - wiedergutmachen, noch kann Strafe deren Besserung (Beschäftigungsaufnahme) oder Prävention (Vermeidung zukünftiger Arbeitslosigkeit) sicherstellen. Der Zwang für Arbeitssuchende, sich an der Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze mit allen Mitteln und unter Hinnahme jedweder Arbeitsstandards zu beteiligen, bleibt ein rein symbolischer Akt.

• Menschenopfer sind in religiösen wie säkularen Zusammenhängen immer die höchstmögliche Opfergabe, wenn es gilt, ein zentrales Gut der Gesellschaft zu verteidigen. Auch die Moderne watet knietief in Blut, eigenem oder fremdem, wenn es darum geht, den Zweck durch Opfermythen zu adeln, und das - etwa in Revolutionen, Kriegen u. dgl. - vergossene Blut steigert allemal die Bedeutung und Legitimität des erstrebten gesellschaftlichen Zustands. Dies korrespondiert in gewisser Weise mit dem - sich in der Krise zunehmend verselbstständigenden - Gewaltkern der modernen Subjektivität, die sich in letzter Konsequenz über das Töten bzw. Tötenlassen definiert (vgl. Lohoff 2003), was im Selbstmordattentäter, einer daher originär modernen Figur, zusammenfällt. Dessen frühes Zeugnis hieß bekanntlich Carl Klinke, stammte aus der Niederlausitz und war preußischer Pionier im DeutschDänischen Krieg 1864.

Wirklichkeitssimulation als rituelle Handlung

Der Simulationscharakter der wesentlichen AMS-Agenden, wie Vermittlung, Bildungsberatung und -förderung, bzw. der Arbeitslosen vorgeschriebenen "Pflichten", wie Stellensuche, Fortbildung und subventionierte Arbeitsübungen (Maßnahmen), lässt sich am Grad ihrer realen Dysfunktionalität messen. Diese ist so weit fortgeschritten, dass man der AMS-Führung und ihren Auftraggebern absolut inferiore Managementqualitäten unterstellen müsste, wäre die eigentliche Raison d'être des Service nicht eine andere. Indes wissen die Handelnden sehr wohl, dass sie real scheitern, auch wenn sie in ihrem Dogmatismus wahrscheinlich nicht wissen warum, und machen trotzdem weiter, ohne nur ein Jota von ihrem ideologisch verselbstständigten Katechismus abzuweichen.

Potjomkin'sches Dorf "Arbeitsvermittlung"

Die voranschreitende objektive wie subjektive Unfähigkeit des AMS zur Stellenvermittlung hat einige Väter:

• Mangel an Arbeitsplätzen: Die objektive Fundamentalursache für das zunehmende Abgleiten der Vermittlungstätigkeit des AMS in die Opferbeschaffung ist das quantitative Missverhältnis zwischen Arbeitssuchenden und offenen Stellen. Dessen leichte Abschwächung im letzten Jahr ändert nichts an den Größenordnungen. Während 2016 auf einen Arbeitssuchenden durchschnittlich 0,1 sofort verfügbare Stellen in der AMS-Datenbank kamen, waren es im abgelaufenen Jahr 0,14. Auf Basis der Annahme, dass dem AMS 40 % der österreichischen Arbeitskräftenachfrage bekannt sind, fehlten durchschnittlich rein rechnerisch sofort verfügbare Stellen für 75 % (2016) bzw. 66 % (2017) der Arbeitslosen. Der frenetische Jubel in der Öffentlichkeit über die Tatsache, dass "nur" mehr für zwei Drittel der Arbeitssuchenden Arbeitsplätze fehlen, illustriert daher die wahnhafte Verdrängung des langjährig eindeutigen Trends. 1973 hatte die Arbeitslosenrate mit 1,2 % den Tiefpunkt in der Nachkriegszeit erreicht, 2016 den vorläufigen Höhepunkt von 9,1 % (nationale Berechnung). Zwischenzeitlich ist sie mehrfach über mehrere Jahre merklich zurückgegangen (in den Jahren 1999-2000 und 2005-2008 um jeweils bis zu 1,4 Prozentpunkte); auffälligerweise in den Zwischenkonjunkturen vor größeren Finanzkrisen (Dotcom-Blase 2000/01, Subprime-Krise 2007/08). Wie andere Konjunkturdaten im krisenhaften, kreditgesteuerten Spätkapitalismus auch wird die Arbeitslosigkeit von den Blasenbildungen auf den Finanzmärkten bestimmt und ist nur mehr vorübergehend auf Pump zu senken.

Die magere Ausbeute der Vermittlungstätigkeit des Service belief sich bei Arbeitslosen der Jahre 2010-2013 durchschnittlich auf 0,86 Stellen/Monat (WIFO, 7), dies, obwohl das AMS jede Stelle an bis zu 15 Arbeitssuchende gleichzeitig vergibt und meist wenig Rücksicht auf Übereinstimmung mit der Qualifikation nimmt. In einer vergleichbaren Größenordnung bewegen sich die Befragungsergebnisse bei jungen Arbeitslosen (18-28 Jahre), bei denen überdies die Hoffnung, das AMS erhöhe ihre Beschäftigungschancen, mit zunehmendem Lebensalter und höherem Bildungsgrad sinkt (Steiber u.a., 70, 76). Freilich dürfte die AMS-Vermittlung recht ungleich verteilt sein, wenn in einer Erhebung von 2007 34 % der befragten Arbeitslosen angaben, vom AMS überhaupt keine Stellen angeboten zu erhalten (AK OÖ, 6). Auch 2016 erhob die AK OÖ 40 % Befragte - schwerpunktmäßig ältere und Langzeit-Arbeitslose, die seit sechs Monaten keine Vermittlungsvorschläge erhalten hatten (OTS vom 6.2.2017).

• Mangel an Arbeitsplätzen jenseits des Prekariats: Naturgemäß zeichnet die quantitative Betrachtung der AMS-Vermittlungstätigkeit ein zu positives Bild, weil sie nichts über die qualitative Übereinstimmung aussagt. Die AMS-Datenbank straft das Gerede von der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft Lügen und enthält erstaunliche "Angebote", die schwerlich als ASVG-konforme Beschäftigung zu erkennen sind, geschweige denn eine Existenz halbwegs sichern dürften (siehe Kasten "Besondere Beschäftigungsverhältnisse ­..."). Fiktiven Stellen, die ihre Dauerausschreibung wohl nur einem Vorratsdenken der Dienstgeber, also dem Aufbau unternehmensindividueller Reservearmeen verdanken, ist das AMS gegenüber genauso aufgeschlossen wie potentiellen Personalwünschen von erst in Planung oder Gründung befindlichen Dienstgebern. All dies wird unter Sanktionsdrohung vermittelt, unabhängig davon, ob sich die Stellen jemals materialisieren werden.

Die Beschäftigungschancen auf dem gesamten österreichischen Stellenmarkt sind nicht besser. Von den Arbeitslosen, denen in den Jahren 2010-2012 der Übergang in ein Beschäftigungsverhältnis gelang, wechselten in Summe ca. 60 % in Armut und Prekariat, nämlich 16,5 % in eine "Vollzeiterwerbstätigkeit mit Niedriglohn", 18,2 % in eine "Teilzeitarbeit", 24,5 % in eine "sonstige Beschäftigung" (WIFO, 97, eigene %-Berechung). 40 % der Empfänger der Vermittlungsvorschläge hielten die vermittelten Arbeitsplätze 2016 für "unsicher" (OTS der AK OÖ vom 6.2.2017).

• Mangel an qualifizierter Stellenvermittlung: Über den Inhalt der hausinternen, dualen, 5 bis 42 Wochen dauernden "Ausbildung" seiner Mitarbeiter verlautet das AMS wenig. Man kann von einer klassischen Anlerntätigkeit ausgehen, deren Inhalte sich an den AMS-Bundesrichtlinien (BRL) orientieren dürften, die nichts anderes als praktische Anleitungen für die Bedienung der im EDV-System vorkonfigurierten Abläufe sind. Immerhin trifft man bei privaten Stellenvermittlern häufig auf akademisches Personal, während der nach Eigendefinition "größte Arbeitsmarktdienstleister" AMS mit Anlernkräften auskommt. Mangels Spezialisierung kann niemand, der vom Universitätslektor bis zum Lagerarbeiter vermitteln muss, von den "betreuten" Berufsfeldern und Branchen auch nur rudimentäre Kenntnis haben. Da Arbeitslose den AMS-Beratern nach dem Geburtsdatum zugeteilt werden, wäre nur eine Spezialisierung auf Sternzeichen möglich. Die Arbeitslosenastrologie kann offensichtlich nicht verhindern, dass nicht weniger als 46 % der von der Arbeiterkammer OÖ 2007 befragten Arbeitslosen angaben, vom AMS "lediglich unpassende Arbeitsstellen" zu erhalten. Dass die mangelnde Qualifikation der AMS-Betreuer zumindest dem Management durchaus bewusst sein dürfte, zeigt eine interne Vorschrift, sich nötigenfalls an das hauseigene Service für Unternehmen (SfU) zu wenden, um "passende" Stellen für den "Kunden" zu finden. Das SfU hat tatsächlich etwas mehr Realitätssinn, weil es schließlich Unternehmen bedient. In der Regel geht es hingegen nur darum, dass der "Berater" auf das Knöpfchen der automatisierten Suche drückt und dann entweder ehrlich zugibt, dass er nichts gefunden hat, oder die Arbeitssuchenden mit Fehlzuweisungen schikaniert.

Aber wer könnte das Simulationskarussell aus Vermittlung unter Bewerbungspflicht und Pflichtbewerbungen beim AMS besser beschreiben als die Autoren des Endberichts des u.a. vom AMS mitveranstalteten "Dialogforums zum Wiener Arbeitsmarkt 2017": "Generell entsteht aus diesen Ergebnissen der Eindruck, dass aufgrund der Bewerbungsverpflichtung der Arbeitssuchenden und der Notwendigkeit, Bewerbungen nachzuweisen, immer wieder die Qualität (passende Stelle, Interesse, Motivation) zu kurz kommt und es vor allem darum geht, sich irgendwo zu bewerben, egal wo." (Breitenfelder/Kaupa, 48)

Programmierte Dequalizierung als Opferproduktion

Will man die subjektiven Unzulänglichkeiten der AMS-Vermittlung nicht einfach Unf ähigkeit zuschreiben, lohnt es, die Besessenheit des Service mit der Vermittlung auf Hilfs- und Anlerntätigkeiten näher zu betrachten. Diese ist real ziemlich sinnlos und oft auch gesetzwidrig:

Arbeitgeber reagieren auf Überqualifikation so sensibel, dass es - gerichtlich abgesegnet - als Vereitelung einer Beschäftigung gilt, eine solche in einem Bewerbungsgespräch zu sehr durchscheinen zu lassen.

Die frommen Lippenbekenntnisse des Gesetzgebers halten wiederum explizit fest, "dass immer wenn eine Vermittlung im erlernten Beruf nicht mehr aussichtsreich oder nicht mehr möglich ist, nicht gleich auf die nächstmögliche Helferstelle vermittelt werden darf ... Die Fähigkeiten und das Entwicklungspotential der einzelnen Arbeitslosen sind zu berücksichtigen und eine Dequalifizierung zu vermeiden." (Erläuternde Bestimmungen zur Einführung von Betreuungsplänen, AMSG-Novelle 2004, § 38c).

Trotzdem wird dieses Vermittlungsziel auf Teufel komm raus jedem unabhängig von der Qualifikation per Betreuungsplan vorgeschrieben. Der Grund ist einfach: Sinnlose Bewerbungen sind nicht nur generell für den homo cogitans schwer zu ertragen, sondern müssen das auf Arbeitskraftverwertung getrimmte Warensubjekt ins Mark seines Selbstwertgefühls treffen. Diese doppelte Demütigung - als Mensch und als Arbeitsmonade - übersteigt selbst den beflissensten "Arbeitswillen" und gebiert Gelegenheiten für Sanktionen. Wäre das nur ein zuf älliger Nebeneffekt, würde das AMS diese Art des Psychoterrors nicht regelmäßig gezielt gegenüber renitenten Arbeitslosen einsetzen, die in wöchentlichen Kontrollterminen mit Fehlzuweisungen überschüttet werden (siehe die Vielzahl von Erfahrungsberichten auf www.aktive-arbeitslose.at).

Die Kombination von teilweise nicht existenzsichernden, prekären, arbeitsrechtlich problematischen und sogar fiktiven Stellen mit unterqualifizierten Anlernkräften als Vermittlern entpuppt sich somit als Asset bei der Optimierung des Nachschubs mit potentiellen Sühneopfern. Denn was sollte der überforderte Berater tun, wenn er schlechte Angebote an Arbeitslose bringen soll, deren Qualifikation er nicht wirklich beurteilen kann, als seine Fehlzuweisungen mit Sanktionsdruck durchzusetzen? So betrachtet bekommen einige Praxen des Service Sinn:

Dass das AMS sich tausende Mitarbeiter hält, um die im Web frei zugänglichen Stellenangebote auszudrucken, anstatt dies zumindest der großen Mehrheit der Arbeitslosen selbst zu überlassen, ist nicht bloße Ressourcenverschleuderung, sondern dient eben dem Aufspüren von Sanktionsmöglichkeiten.

Wenn man die verpflichtenden Betreuungspläne als Dokumente zur Herstellung von sanktionsrelevanten Akteninhalten für des Service hochnotpeinliche Verfahren sieht, wird klar, warum laut Befragung 44 % der Arbeitslosen ihren Betreuungsplan gar nicht kennen und 30 %, die ihn kennen, ihn für nicht sinnvoll halten (AK OÖ, 6).

Dass das AMS offene Stellen in seiner Datenbank hauptsächlich als Sanktionsanlässe betrachtet, lässt uns die AMS-Sanktionsstatistik 2017 durchaus freimütig wissen: "Der restliche Anstieg [bei den Sanktionen, P. O.] dürfte vor allem mit der wieder steigenden Anzahl der offenen Stellen beim AMS im Zusammenhang stehen, da hiermit den arbeitslosen Personen deutlich mehr Stellenangebote gemacht werden können", heißt es dort. Klar, mehr offene Stellen sind gleich mehr Sanktionen.

Doch selbst wenn man die Vermittlungstätigkeit künstlich von dem Opfergeschäft mit den Sanktionen trennen wollte, ergibt sich folgende sprechende Relation: Die Sanktionsproduktivität war für das Jahr 2017 21,2 Sanktionen/AMS-Planstelle (Personalstand lt. AMS-Jahresbericht 2016), während die Vermittlungsproduktivität - gemessen am 40-%-Anteil des AMS an den Abgängen aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung - 29,65/AMS-Planstelle betrug. Da eine bloße Vermittlung ohne Sanktionstätigkeit viel weniger Aufwand erfordert als selbst die rudimentären AMS-Sanktionsverfahren, setzt das Service jedenfalls mehr Ressourcen für das Strafen als für die erfolgreiche Vermittlung ein.

Im Maßnahmenvollzug

In der Realität ist schwer zu entscheiden, ob die AMS-Berater von Vermittlung oder von "Fortbildung" weniger Ahnung haben.

• Ein Sozialwissenschaftler mit reichlich Erfahrung in EDV-gestützter quantitativer Forschung möchte sich im Bereich Webprogramming fortbilden. Verzweifelt versucht die Schulungsreferentin der Regionalstellenleitung das Begehr auf das AMS-interne Plansoll umzuleiten: "ECDL hätte ich da!"

• Der Wunsch eines Arbeitslosen, seine Englischkenntnisse über das bereits zertifizierte Niveau hinaus zu verbessern, fördert nach Befragen des Computers folgende Antwort zu Tage: "Business Englisch hätte ich da", übrigens bei einem bekannten AMS-Klientel-Unternehmen. Das Niveau des Kurses? "Die machen alles, gehen sie zum Infotag." Also auch die europaweit vereinheitlichte Sprachbeherrschungsklassifikation ist in der AMS-"Bildungsberatung" noch nicht angekommen. Obwohl die Kurse des Anbieters das Sprachniveau des potentiellen Kunden unterschreiten, heißt es dort schmunzelnd: "Sie sind uns trotzdem herzlich willkommen."

• Ein AMS-Berater lehnt eine beantragte Fortbildung ab, weil der Kurs erst nach 16:00 beginnt und der Förderungswerber dann nicht aus der statistischen Rubrik "arbeitssuchend" herausfalle. Und wozu macht man eine Schulung sonst?

Die Beispiele illustrieren wesentliche Merkmale des AMS-Schulungswesens. Von einer informierten Bildungsberatung kann keine Rede sein. Der Zweck der Veranstaltung dürfte von den meisten Akteuren in allem anderen - dem Erfüllen des Plansolls, Füllen des Kurses oder Behübschung der Statistik - gesehen werden, nur nicht in tatsächlicher Qualifizierung, wie auch dieser Tage von einem ehemaligen Trainer der Boulevardpresse "gesteckt" wurde: "Trendopfer" wären die Kursteilnehmer, die eben in dem geschult würden, was bei AMS und den großen Anbietern gerade in ist, und "Kurstouristen", die den Kursträgern zum Schönen der Statistik zur Verwahrung übergeben werden, so der "Whistleblower" weiter (Kronenzeitung, 1., 2. und 4.6.2018). Und am liebsten macht es das AMS mit jenen "Systempartnern", die zum Großteil von seinen Aufträgen leben und hochkonzentriert sind (Kurier, 25.9.2014).

Eine Studie im Auftrag des AMS will für die Jahre 2010-2013 einen Schwerpunkt "auf dem Bereich der Qualifizierungen" erkennen (WIFO, 8). Soweit die aufgezählten Kategorien überhaupt Rückschlüsse auf die Inhalte der Maßnahmen geben, umfasst Qualifizierung beim AMS zumindest 42 % "Beratung und Betreuung", vom beaufsichtigten Bewerbungen-Schreiben bis zu Berufsorientierung ("18,4 % externe Betreuungs- und Beratungsleistungen, 12,3 % aktive Arbeitssuche, 11,4 % berufliche Orientierung"). Weitere 20 % durften mit AMS-Unterstützung Arbeit oder eine duale Ausbildung simulieren ("geförderte Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt 10,0 %, am 2. Arbeitsmarkt 7,9 %, in Jugendausbildung 2,6 %"), die ohne Förderung wohl nicht nachgefragt worden wäre. Die 2014 ohne nähere Quellenangabe publizierte Behauptung des AMS, es hätte im Vorjahr zu 80 % echte Aus- und Weiterbildung gefördert (Kurier, 25.9.2014), sollte man wohl mit einer Prise Salz nehmen.


KASTEN


"Besondere Beschäftigungsverhältnisse(*) für besondere Menschen"

Besondere Beschäftigungsverhältnisse sind eine der Kategorien, die ein Arbeitssuchender in der AMS-Stellendatenbank wählen kann, neben Saison- und Ferialstellen sowie Dauerdienstverhältnissen (inkl. Teilzeit und Niedriglohn). Während die Regierung die Systempresse (Kurier am 1.6.2018) darüber klagen lässt, dass Arbeitslose doch tatsächlich eine Stelle haben wollen, von der sie leben können, und Zwangsarbeit ablehnen, bevölkern fast 8000 Stellen der ersten drei Kategorien die AMS-Datenbank, und von den Dauerdienststellen sind fast 18.000 Teilzeitstellen (Abfrage 2.6.2018). Die Abfrage von Niedriglohnstellen lässt die Datenbank leider nicht zu.

"Finden Sie, was so besonders ist wie Sie selbst, Ihr AMS!"

• Eine NGO bietet Beschäftigung bei der Straßenwerbung von Mitgliedern und gibt das dabei erzielbare Einkommen mit durchschnittlich Euro 1850,- monatlich an. Bei genauerer Nachfrage erfährt man, es handle sich rechtlich um Boni, deren Auszahlung insgesamt an eine bestimmte Erfolgsquote gebunden sei. Fixgehalt daher gleich null.

• Angeboten werden 13 Stunden im Verkauf in der Woche für Euro 488,-.

• Bei den "hochqualifizierten" Saisonjobs, zu denen das AMS Wiener Arbeitslose gerne in abgelegene Tiroler Berggasthöfe verschickt, ist Flexibilität bei Bezahlung und Arbeitszeiten Trumpf. Angeboten werden etwa "leistungsgerechte Entlohnung nach Vereinbarung", "Arbeitszeit und freie Tage nach Absprache, Entlohnung nach Vereinbarung" oder "Genaue Arbeitszeit nach Vereinbarung, Entlohnung nach Vereinbarung". Immer häufiger ist in den Vermittlungsvorschlägen des AMS der Vermerk zu lesen: "Die Angabe des Mindestentgelts für dieses Stellenangebot ist nicht verpflichtend, da die gesetzlichen Bestimmungen zur Entgeltangabe hier nicht zutreffen."

• Oder ein Sicherheitsunternehmen sucht "Mitarbeiter für die unterschiedlichsten Aufgaben", gibt aber nur einen Stundenlohn und kein Beschäftigungsausmaß an.

• Ein/e SalesmanagerIn wird für ein besonderes Beschäftigungsverhältnis, "Freier Dienstnehmer" oder "Selbständig" gesucht. Entgeltangabe entfällt, aber "Boni" werden in Aussicht gestellt.

• Oder ein anonymer Dienstgeber - das ist kein Scherz - sucht LektorIn für ein Dauerdienstverhältnis. Die Entgeltangabe entfällt, aber ein "Cooles Unternehmen und Umfeld & Möglichkeiten!" werden in Aussicht gestellt.

"Chancen für Ältere sind uns ein wichtiges Anliegen", verkündet eine Marktgemeinde im Umland von Wien und meint, dass man sich nur zu 100 % von der "Aktion 50+" lohnsubventionierte Mitarbeiter für "Freibadkasse, Reinigung und Grünraumpflege" leisten will. Das ist sicher ein neuer Arbeitsplatz: Vorher war das Freibad gratis, den Dreck haben sich die Gäste selbst weggeräumt, und der Grünraum welkte alleine vor sich hin. Wegen Begrenztheit der Subvention ist die "Chance für Ältere" ebenfalls mit sechs Monaten befristet.

• Und dann noch dieses "besondere Beschäftigungsverhältnis" für eine/n Boten/Botin: Mindestentgelt auf Vollzeitbasis brutto: 425,70 EUR pro Monat (Überzahlung möglich).


(*) "Als besonderes Beschäftigungsverhältnis gelten: Freier Dienstvertrag, Werkvertrag, Neue Selbständigkeit, geringfügige Beschäftigung, befristetes Dienstverhältnis, Telearbeitsplatz, Heimarbeit."


Schulungsziel Arbeitssuchender - oder Opfer?

Hier werden Menschen, wenn überhaupt für irgendetwas, dann für ewige Arbeitssuche geschult. In welcher Stellung wird Bewerben oder Berufsorientierung sonst verlangt? Nichts illustriert den Mangel eines qualifikatorischen Zwecks vieler AMS-Maßnahmen besser als die Tatsache, dass Arbeitslose mehrmals in dieselben Kurse gesetzt werden, was etwa schon einmal 22 % der befragten Arbeitslosen angeben (AK OÖ, 6). Eine beliebte fünfwöchige Maßnahme des AMS definiert als Ziel, dass die Kursteilnehmer am Ende des Kurses acht echte Bewerbungen und einen Karriereplan in einer für das AMS direkt zugreifbaren Datenbank abgespeichert haben. Eine AMS-Betreuerin begründete dem Autor gegenüber ihre Präferenz für einen bestimmten Schulungsanbieter damit, dass das AMS direkten elektronischen Zugriff auf die Anwesenheitsdaten der Kursteilnehmer hätte. Die in bunten Hochglanzprospekten beworbenen Maßnahmen demonstrieren bei näherem Hinsehen rasch den repressiven Charakter. "Dies bedeutet auch, dass der/die Arbeitssuchende im Beratungszeitraum von sechs Monaten zwischen 8:00 und 16:00 erreichbar ist", heißt es in einer Vermittlungs- und Betreuungsvereinbarung eines renommierten AMS-Partners; also sechs Monate Freigang mit elektronischer Fußfessel, weil ja jede Minute ein Job winken könnte. So wie in vielen Schulungsformaten wird hier die rigide Zeitdisziplin eines Jobs, präziser einer Ruf bereitschaft simuliert. Das Design solcher Maßnahmen enthüllt den eigentlichen Zweck ohnehin, nämlich die Vorschreibung an sich sinnloser Ersatzhandlungen, die Anlass für Sanktionen bieten können.

Dass die Schulungen des Service auf Arbeitsloser schulen und als Pool potentieller Sanktionsopfer fungieren, dürfte auch so wahrgenommen werden. Junge Arbeitslose würden bei Verhängung von AMS-Maßnahmen verstärkt eine Stelle suchen, was die Autoren der Studie als "aktivierenden Effekt" (sei es nun in Form positiver Motivation oder durch Abschreckung) interpretieren (Steiber u.a., 78). Warum die von einer AMS-Maßnahme ausgehende "positive Motivation" zu ihrer Vermeidung motiviert, bleibe dahingestellt. In einer Befragung schwerpunktmäßig älterer Arbeitsloser schlägt sich mehr die Abschreckung nieder: Nur 1,32 % freuen sich auf eine Maßnahme, fast 30 % fürchten sich vor dem nächsten Kurs und ebenso viele bekommen gesundheitliche Beschwerden, wenn sie aufgezwungene Kurse besuchen müssen (AAÖ, Items A26, B10, B16).

Viktimisierung: "Arbeitslose haben gefälligst zu leiden"

Auf den zentralen Stellenwert der Arbeit in der Gesellschaft angesprochen, antwortete Johann Beran, ein ehemaliger Pionier von AMS-Betreuungsmaßnahmen unlängst: "... ein seltsamer Wert, der Arbeit damit zugeschrieben wird, fast schon religiös: Arbeitslose haben gefälligst zu leiden, wenn sie das nicht freiwillig tun, dann helfen wir ihnen dabei" (Standard vom 22.1.2018). Und dazu müssen nicht nur Sanktionsanlässe bereitgestellt, sondern die Ketzer auch abgeurteilt werden. Die Inquisition ging bei der Opferrekrutierung üblicherweise wie folgt vor. Zunächst wurden Bußprediger in eine Siedlung gesandt, die die - mutmaßlichen - Sünder zur Umkehr aufriefen und zur Denunziation ermunterten, bevor die nichtöffentlichen Verfahren begannen. Die Vorgangsweise des AMS ist ähnlich aufgebaut, wenn auch andere Mittel zum Einsatz kommen. Die Bußpredigt ist hier kein zeitlich distinkter Akt, sondern findet in Permanenz statt, wird nicht von der Kanzel, sondern individuell erteilt, aber von den Medien exemplarisch verlautbart und kommentiert. Vom ersten Kontakt an wird der Arbeitslose nämlich mit Pflichten und Sanktionsdrohungen in mündlicher und schriftlicher Form bombardiert.

Wie bei der Inquisition bezweckt die Bußpredigt des AMS, individuell oder medial, Angst zu verbreiten und die potentiellen Opfer als Ketzer zu stigmatisieren, was deren Widerstandswillen brechen und den Notstandscharakter der Verfahren legitimieren soll. Der Erfolg ist messbar: Ca. 36 % der Arbeitslosen fürchten sich vor dem Kontakt mit dem AMS, jeweils fast 30 % geben an, vor einem AMS-Termin öfters schlecht zu schlafen oder Herzklopfen zu haben, und ca. 13 % sind schon einmal davor krank geworden (AAÖ, Items B08, B13-B15).

Die drastischen Strafen, die unter zumindest temporärer Existenzvernichtung nicht zu haben sind, und der reichlich vorhandene Spielraum für Willkür in den Sanktionsverfahren erledigen den Rest potentieller Gegenwehr, so dass sich nur ca. 3 % der Sanktionierten juristisch wehren und nur 0,3 Promille bis zum Verwaltungsgerichtshof gehen, was immerhin in ca. 30 % der Fälle erfolgreich ist. Angesichts der Umstände, unter denen die Verfahren ablaufen, und der Tatsache, dass das AMS meist nur die Erfolg für sie versprechenden Fälle zu Gericht gehen lässt und andere lieber zurückzieht, ist dies keine schlechte Erfolgsquote. Letzteres weist den arbeitsreligiösen Opferkult als Zerfallsprodukt der Formen klassischer moderner Staatlichkeit aus, das mit diesen nicht immer kompatibel ist und daher schon im Vorfeld jegliche Gegenwehr im Keim ersticken muss.

Bußpredigt

"Wir denken, dass die Übermittlung der Mitteilung an Sie den Charakter des KundInnenservice hatte um sie an die bei uns erforderliche Vorsprache zu erinnern. Ein gutgemeinter Service, der aber in Ihrem Fall mehr zur Verwirrung bzw. Verunsicherung beigetragen hat als Sie zu unterstützen, ..." Mit diesen Worten erklärte der Leiter einer AMS-Regionalstelle die - wie üblich völlig unbegründete - schriftliche Mitteilung über die vorläufige Bezugseinstellung, die aus Anlass der Übersiedlung eines Leistungsbeziehers in die Zuständigkeit einer anderen Regionalstelle zugestellt worden war. Der Service des Service ist eben die Sanktion, wie es bei einer Opferindustrie nicht anders sein kann, und die Sanktion ist gut gemeint, dient sie doch dem Seelenheil des Delinquenten.

Das AMS agiert wie Kafkas Vater, dessen schwarze Pädagogik der Sohn in seinem Brief an den nämlichen einst so mustergültig beschrieben hat: "Es ist auch wahr, dass Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. ... Überdies sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes Schuldbewusstsein an. Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld." (Kafka, 7)

Die, wie die bereitgelegten Hosenträger des Vaters, nur angedrohten, aber doch wieder zurückgenommenen Bezugseinstellungen werden vom AMS statistisch nicht ausgewiesen. Bei Befragungen berichten schon einmal 24 % der Arbeitslosen, also ein gut doppelt so hoher Anteil wie etwa die tatsächliche Sanktionsquote 2017, von einer vorsorglichen Bezugseinstellung (AK OÖ, 6). Aber auch ohne unmittelbare Sanktionsdrohung ist der Hinweis auf ihre Schuld, sprich die Arbeitslosigkeit bzw. deren Dauer ständige Rede im Umgang mit Arbeitslosen, um den gefallenen Sohn/die gefallene Tochter unmissverständlich an die "Gnade" des bisherigen Sanktionsaufschubs zu erinnern. Diese schwarze Pädagogik mag bei Erwachsenen schlechter funktionieren als bei einem Kind, dessen emotionale und intellektuelle Abhängigkeit von den Eltern größer ist. Dafür ist die soziale Abhängigkeit des Arbeitslosen nicht geringer, und die Sanktion umso gravierender, nämlich materieller Existenzverlust, was selbst die schwärzeste Pädagogik in der Kindererziehung nicht vorsieht.

Stigmatisierung

Das AMS hängt bei der Kommunikation mit den Arbeitslosen an der (Sanktions-)Drohung wie der Heroinsüchtige an der Nadel (siehe Kasten "Hilflose Vollstrecker"), wie die freimütige nachträgliche AMS-Interpretation einer vorsorglichen Bezugseinstellung als Erinnerung an eine verhältnismäßig harmlose Meldepflicht illustriert. Eine solche impliziert, ...

• dass Arbeitslose ihre Pflichten nur unter Druck von aufrechten Strafmaßnahmen erfüllen, weshalb sie von Zeit zu Zeit ein wenig bedroht werden müssen, ...

• dass mit Arbeitslosen - Rechtsstaat hin oder her - nicht lange gefackelt werden muss, deren Bestrafung keiner großen Umstände wie Unschuldsvermutung, ordentliches Verfahren oder Parteienrechte bedarf und ihnen bestenfalls der Gnadenakt einer formlosen Vorsprache zusteht (siehe Kasten "Formlose Existenzvernichtung"), ...

• dass für Arbeitslose keine gelindere Strafe als der zumindest temporäre Entzug der materiellen Existenzmittel in Betracht kommt, auch wenn es nur um das Einhalten von Meldepflichten geht.

Kurz, so wird ansonsten nur argumentiert, wenn für bestimmte Delikte wie Terrorakte, Kindesmissbrauch u. Ä. die Wiedereinführung der Todesstrafe, Aussetzung rechtsstaatlicher Garantien oder die Anwendung von Folter, wie sie manche Rechtsprofessoren inzwischen wieder befürworten, gefordert wird. Was kommt also nächstens auf die Sünder wider die Arbeitsreligion zu? Kreuzverhör mit verbundenen Augen? Waterboarding?

Diese Notstandslogik in verwaltungsrechtlichen Vorgängen ist nur mit der arbeitsreligiösen Funktion des AMS zu erklären, gefährden doch die Arbeitslosen in diesem Wahn schon durch ihre bloße Existenz die zentralen Glaubensdogmen, was offensichtlich jede "Abwehrmaßnahme" legitimiert. Das Abstempeln der Arbeitslosen zu Schuldigen an ihrer Arbeitslosigkeit (siehe Teil II in Streifzüge 72) und der konkrete, entwürdigende und entrechtende Umgang des AMS (bzw. der Gesellschaft) mit ihnen sind kommunizierende Gefäße. Ersteres legitimiert Letzteres, und Letzteres verfestigt wieder das Stigma der Arbeitslosen als existentielle Gefahr für die Gesellschaft durch praktische Alltagserfahrung im Bewusstsein der AMS-Mitarbeiter wie der dermaßen Sonderbehandelten, und der Öffentlichkeit generell, und sorgt dafür, dass dieses Narrativ nicht mehr hinterfragt wird.


KASTEN

Formlose Existenzvernichtung!

Reden wir einmal darüber, ist die zunächst irreführende Devise der formlosen Mitteilungen zu vorläufigen Bezugseinstellungen durch das AMS, als ginge es nicht um ein normiertes Verwaltungsverfahren.

"Da sich im Zusammenhang mit Ihrem Anspruch offene Fragen ergeben haben, mussten wir Ihren Leistungsbezug (vorläufig) einstellen", heißt es dort in der Regel, ohne dem Betroffenen auch nur ein Rauchzeichen über den Grund für die Sanktion zukommen zu lassen. Das Überraschungsverbot der Rechtsordnung wird in der Anwendung des AMS somit zum Überraschungsgebot. "Hurra, es ist eine Vereitelung nach § 10", heißt es dann später.

• Anstatt einer Ladung für ein rechtskonformes Parteiengehör, wird der Betroffene formlos aufgefordert, sich selbst um einen Termin für eine "Vorsprache" beim AMS zu kümmern.

• Bei einer solchen Vorsprache könnte "üblicherweise in kurzer Zeit" entschieden werden, suggeriert das AMS in seinem "Hinweis", den es selbst nicht Rechtsmittelbelehrung zu nennen wagt, eine rasche Lösung durchs Reden.

• Dass es sich dabei verwaltungsrechtlich um ein Parteiengehör handelt, der Delinquent ein Recht hätte, vorher über alle relevanten Umstände informiert zu werden, Akteinsicht zu nehmen, eigenes Vorbringen und Beweisanträge zu erstatten usw., vermittelt der magere Hinweis freilich nicht, und auch nicht, dass jedes seiner Worte bei der Vorsprache protokolliert und gegen ihn verwendet werden kann.

• Notgedrungen wird zwar darauf hingewiesen, man könne sich einen Bescheid ausstellen lassen, der auf dem "Rechtsweg verfolgbar" ist, nämlich dann, "wenn Sie jedoch der Ansicht sind", die Einstellung sei unrechtmäßig. Wie jemand Ersteres wissen sollte, der keinerlei Begründung kennt, und wie der Rechtsweg zu verfolgen wäre, bleibt das Geheimnis der AMS-Inquisition.

So formlos werden die Existenzvernichtungen des AMS verhängt und soll deren Abwicklung nach dessen Willen auch bleiben: Wer erst verstehen will, wie ihm da geschieht, oder rechtliche Information einholen muss, verliert wertvolle Zeit oder übersieht die Bescheidanforderung überhaupt und begibt sich somit jeglichen Rechtsmittels.

Nur eines ist formell in Kraft und läuft gegen den Arbeitslosen: Die Sperre des Leistungsbezugs. Was motivierte den Gesetzgeber wohl 2004, ausgerechnet dem AMS die Mitteilung der Bezugseinstellung ohne Bescheid und Begründungspflicht zu erlauben?

P.O.



Entrechtung und Notstandsregime

Die AMS-Verfahren zur Sanktionierung von Arbeitslosen zielen einerseits auf deren materielle Existenzvernichtung und tendieren andererseits zu einer Art undeklariertem Notstandsregime.

Ersteres lässt sich nur aus dem Charakter der Sanktionen als Sühneopfer in Reaktion auf eine - das höchste Opfergut erfordernde - fundamentale Störung des arbeitsreligiösen Normengefüges erklären.

Zweites entspricht einerseits dem Charakter des kollektiven Sühneopfers, das aus dem Kreis der imaginierten Ketzer - also der Arbeitslosen - mehr oder weniger willkürlich Opfer für exemplarische Zwecke rekrutieren muss, und trägt andererseits den praktischen Friktionen zwischen der Opferlogik und der Rechtsform durch einen entsprechenden Spielraum für Willkür Rechnung.

Vernichtungslogik

Sein bekanntes Buch "Überwachen und Strafen" hatte Michel Foucault in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der historischen Schilderung einer Vierteilung begonnen, um hernach ausführlich zu erläutern, wie aus dem Strafwesen der Moderne physische Qualen weitgehend eliminiert und die Korrektion des Täters oder Prävention in den Mittelpunkt gestellt wurden. Auch die - mehr oder weniger schmerzfreie - physische Vernichtung durch Todesstrafe wurde nach 1945 stark zurückgedrängt. Eine auf die Vernichtung der materiellen Existenz zielende Strafe ist daher eine Anomalie, auch wenn die Sanktionen des AMS nicht zu Tod oder physischem Leiden führen müssen, sondern zunächst nur den sozialen Tod, etwa durch Obdachlosigkeit bewirken dürften. Der Entzug der Lebensmittel ist die Androhung der physischen Vernichtung durch aktives Sterbenlassen; angesichts der existentiellen Abhängigkeit von der staatlichen Versorgung eine umso dramatischere Drohung. Die Inquisition musste noch aktiv töten.

Die temporäre Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage ist in letzter Konsequenz immer eine Drohung mit der endgültigen, weil nach drei Bezugssperren ein dauerhafter Ausschluss aus dem Leistungsbezug verhängt werden kann. Dass andere Sozialeinrichtungen dies auffangen könnten, tut der Sonderstellung der Sanktionen des AMS keinen Abbruch:

Zum einen wird auch der Zugang zu anderen Transferleistungen verschärft. So ist AMS-Sanktionierten seit Februar 2018 in Wien auch die Mindestsicherung verwehrt.

Zum anderen sprechen die Strafen des Rechtssystems - außer wo die Todesstrafe noch existiert - in der Regel niemandem das materielle Existenzrecht ab. Geldstrafen sind von Gesetzes wegen so festzusetzen, dass die für ein bescheidenes Leben nötigen Mittel erhalten bleiben, bei Haftstrafen muss niemand hungern oder dergleichen.

Es ist daher zulässig, von Menschenopfern im Zusammenhang mit den Sühneritualen des AMS zu sprechen, die in höchster arbeitsreligiöser Not auf die physische menschliche Existenz als größtmögliches Opfergut zielen. Der Zwiespalt der Gesellschaft zwischen quasireligiösem Arbeitswahn und ideologischen Versatzstücken der Moderne könnte nicht besser als durch die Tatsache verdeutlicht werden, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht seit drei Jahren darüber grübelt, ob von einer auf das Existenzminimum ausgelegten Leistung wie Hartz IV strafweise noch etwas abgezogen werden darf.


KASTEN

Hilfslose Vollstrecker

Die Demonstration von Angst und Schuldgefühlen des "Klienten" gehören für das AMS bei der feierlich ernsten Abhaltung der Sanktionsrituale, die dem Namen nach normale verwaltungsrechtliche Ermittlungsverfahren zur ganz unpathetischen Vertretung der Parteieninteressen wären, zum guten Ton. Wo die ständige Drohung mit der Sanktionskeule den Widerstandsgeist nicht brechen konnte, kippen die Mitarbeiter des AMS schnell in ein hilflos-autoritäres Um-sich-Schlagen: "Kunde lächelt seine Begleitung an, das wird jetzt alles schriftlich festgehalten. Sie können jetzt weiter uns auslachen. ... Ich weiß nicht, was so lustig an der Geschichte ist"; "Sie können weiterhin lachen. Es ist sehr eigenartig, in dieser Situation zu lachen."; "Der Kunde lächelt weiterhin ...", verlautet eine ob der Entspanntheit des "Kunden" höchst angespannte Abteilungsleiterin einer Regionalstelle beim Sanktionsgeschäft.

Ein genervter AMS-"Berater", dem der Kunde anlässlich des zweiten Verfahrens zur Bezugseinstellung innerhalb kurzer Zeit nicht ernst genug ist, verfällt geradezu in Allmachtsallüren: "Ich hoffe, es ist Ihnen bewusst, dass das AMS als Behörde, wenn wir der Meinung sind, dass Sie sich selbst gefährden, Ihre Existenz gefährden, auch einen Sachwalter beantragen kann für Sie." Das können natürlich nur Gerichte, aber was faselt man nicht, wenn die eigene Sanktionsmacht irgendwie aufgeblasen werden muss.

Dieses Hilflosigkeits-Autoritarismus-Kontinuum ist nicht die Verirrung einzelner Mitarbeiter. Eine umfangreiche Dienstaufsichtsbeschwerde aus grundrechtlicher, arbeitsmarktrechtlicher, verfahrensrechtlicher und strafrechtlicher Sicht überforderte eine Landesleitung des AMS offensichtlich derart, dass sie sich darauf beschränkte, diese nur aus datenschutzrechtlicher Perspektive, vielleicht die einzige Kompetenz der beauftragten Referentin, zu kommentieren. Der Hilflosigkeit folgte der Versuch der autoritären Abwehr weiterer lästiger Eingaben, die für sich selbst spricht: "Abschließend sei festgehalten, dass Ihre zahlreichen Eingaben an das AMS hiermit - aus datenschutzrechtlicher Sicht - umfangreich beantwortet worden sind. Aus diesem Grund sei festgehalten, dass im Falle einer weitergehenden Vorgehensweise Ihrerseits, bereits mehrfach und umfangreich beantwortete Fragestellungen nochmals an das AMS zu stellen - schlicht und ergreifend, weil Sie eine andere Rechtsmeinung vertreten, als eine ungebührliche Inanspruchnahme anzusehen sein wird, zumal sämtliche Ausführungen des AMS Ihrerseits offensichtlich zu keinem Zeitpunkt erwogen oder bestenfalls akzeptiert wurden. Sollten Sie demnach bereits umfangreich beantwortete Inhalte und Stellungnahmen nochmals aufgreifen, wird das AMS auf bereits erfolgte Beantwortung verweisen und sich allerdings bei Verdacht eines künftig mutwilligen Verhaltens Ihrerseits einer diesbezüglichen ungebührlichen Inanspruchnahme des AMS weitere Schritte vorbehalten."

P.O.


Zuerst schießen, dann ermitteln

"Die immer wieder anzutreffende Verwaltungspraxis, die Leistung auf Verdacht hin einzustellen und auf eine Reaktion des Leistungswerbers zu warten, stellt eine eklatante Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Artikel 18 Bundes-Verfassungsgesetzes dar." (Pfeil, 122/8) Was der Inquisition die hochnotpeinliche Befragung war, ist dem AMS die vorläufige Bezugseinstellung, die es erlaubt, während des laufenden Verfahrens existentiellen Druck auf den Beschuldigten auszuüben, auch wenn der Zweck ein etwas anderer ist. Die Folter sollte die Opfer zum Reden bringen, die vorläufige Bezugseinstellung eher zum Schweigen, genauer gesagt zum Verzicht auf Rechtsmittel und die Wahrnehmung von Parteienrechten. War das unter Folter erzwungene Geständnis für die Inquisition notwendige Voraussetzung für die Verdammung, ist der stillschweigende Verzicht auf Gegenwehr unter materiellem Druck häufig eine solche für den Erfolg von AMS-Sanktionen.

Bis zur Aufhebung des § 56, Abs. 3 des AlVG durch den Verfassungsgerichtshof (G74/2014 ua) stellte es eine Anomalie dar, dass Rechtsmitteln gegen Sanktionsbescheide des AMS keine aufschiebende Wirkung zukam, es sei denn, das AMS gewährte eine solche auf Antrag. In der Regel ist dies umgekehrt, und seither dürfte es dem AMS noch in keinem Fall gelungen sein, den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung juristisch zu begründen. Es bleibt abzuwarten, ob auch dieses Urteil legistisch ausgehebelt werden wird. Das Aushungern des Arbeitslosen während eines Rechtsmittelverfahrens von mindestens einem halben Jahr war die große Streckbank im Arsenal des AMS.

Aber auch unter der gültigen Rechtslage läuft vor Einbringung eines Rechtsmittels die Zeit gegen die Arbeitslosen. Seit der AlVG-Novelle von 2004 kann das AMS Bezugssperren zunächst formlos per Mitteilung und ohne Bescheid verhängen, was eine empfindliche Hürde für deren rechtliche Bekämpung aufbaut. Ein Bescheid muss so bei laufender Sanktion erst angefordert werden (innerhalb von vier Wochen), und die Behörde hat dann noch weitere vier Wochen Zeit für die Ausstellung. Lässt sich der Betroffene mit der Bescheidanforderung etwas Zeit (etwa für Rechtsberatung), kommt das AMS schnell einmal auf eine Aushungerungsperiode von zwei Monaten, was zumindest den Ausfall einer Mietzahlung, eventuell drohende Obdachlosigkeit und den Verlust des Krankenversicherungsschutzes nach sechs Wochen bedeutet. Mit dieser kleinen Streckbank muss das AMS derzeit vorliebnehmen, um aus der Kombination von Rechtslage und der sozialen Abhängigkeit seiner Opfer einen widerspruchsfreien, also rechtsfreien Raum zu schaffen.

Abgesehen von diesen Hauptfolterinstrumenten, leben die Opferrituale des AMS auch ansonsten vom Vermeiden, Umgehen und Aushöhlen rechtsstaatlicher Verfahren (siehe Kasten "Formlose Existenzvernichtung!", "Benchmark Inquisition"), und sind somit als Notstandsregime erkennbar, auch wenn sie formaljuristisch nicht so kategorisiert werden.

Ritualcharakter

Obwohl in manchen Religionen auch individuelle Selbstopferungen möglich sind, werden diese meist unter strikte gemeinschaftliche Kontrolle gestellt, gilt Selbstmord als Sünde und ist das Wesen von Menschenopfern kollektiv, wobei einige Mitglieder der Gesellschaft geopfert werden, um den Fortbestand und das Wohlergehen der Gesamtheit durch Sühne zu ermöglichen. Die Rettung des arbeitsreligiösen Seelenheils des Einzelnen durch Umkehr ist nicht vorrangiges Ziel des AMS. Von der individuellen Buße wird die Welt nicht sündenfrei, wie jeder Beichtvater weiß. Zwar soll sich der Einzelne in den Ritualen des AMS als "arbeitswillig" erweisen und sehen die Sanktionsrituale sogar Absolution, "Nachsichtsgründe" genannt, für Sünder vor; vorrangig in Form von Beschäftigungsaufnahme, die für den größten Teil der Opfer nicht zu haben ist. Aber ginge es um individuelle Sühne, würde das AMS Bußkurse mit Selbstgeißelungstraining anbieten und nicht sanktionieren.

Der Anspruch der Inquisition wie des AMS ist auf das Opferspektakel gerichtet, weil sie den öffentlichen Zusammenbruch ihrer Lehren verhindern müssen. Einzelne reuige Sünder sind nur Statisten, die vom AMS bestenfalls zur moralischen Erbauung als Musterbeispiele der Arbeitswilligkeit wie kleine dressierte Äffchen in den Medien vorgeführt werden: Da strahlt der 55-jährige Akademiker, weil er nun lohnsubventioniert - ansonsten hätte er den Job nicht - für einige Zeit eine Kasse bei Billa bedienen darf; ein anderer versichert, dass es ihn nicht stört, mit seiner Gehbehinderung gemeinnützig über den Bauhof irgendeiner Gemeinde zu humpeln, usw. Hauptsache Arbeit ist die Botschaft.

Tatsächlich geht es um den Opfernachschub mit mehr oder weniger zufälligen Individuen aus dem Kreis der Ketzer, um die Rettung der kollektiven Heilserwartung durch das Sühneopfer und um die symbolische Reinigung der Gesellschaft von der Sünde der Arbeitsunwilligkeit durch exemplarische Opferung. Eine Vernichtung aller angeblich Arbeitsunwilligen würde nur beweisen, dass niemand die Lehre der Arbeitsreligion freiwillig glaubt, und diese verlöre damit ihre Glaubwürdigkeit als Erlöserreligion. So ist weder die Inquisition noch das AMS prinzipiell an einer Steigerung der Opfer ins Unendliche interessiert, noch daran, alle Sünder auszurotten, die ja "umkehren" sollen. Was die Opferspirale nach oben in Bewegung setzt, ist vielmehr die notwendige Erfolglosigkeit der AMS-Sühneopfer, so wie das Wüten der Inquisition ins Unermessliche anstieg, als die einheitliche religiöse Ordnung des Abendlandes nicht mehr zu retten war.


KASTEN

"Benchmark Inquisition"

Obwohl das AMS im Unterschied zur Inquisition technisch kein Geständnis des Ketzers benötigt, stützt es sich bei seinen Sanktionen häufig auf dem Opfer zumindest unterstellte Äußerungen in Form einer Niederschrift. Das AMS teilt schließlich mit der Inquisition, dass es Ermittler, Ankläger, Verteidiger und Richter in einem, in der Sache nicht neutral und in nichtöffentlicher Verhandlung mit dem Opfer in der Regel allein ist. Bei solchen Tribunalen, bei denen der Beschuldigte ohne vorherige Aufklärung über seine Rechte und die Beschuldigung oft mehreren AMS-Mitarbeitern gegenübersitzt, ist natürlich vieles möglich, um eine genehme Aktenlage herzustellen. Wer sich informiert wehrt, verscherzt sich schnell die Huld des Service:

• Akteneinsicht, auch in die unmittelbar beim Parteiengehör vorgehaltenen Schriftstücke, wird dringend zu vermeiden gesucht, und wenn ein Blick darauf erlaubt wird, wird die Ausfolgung einer Kopie verweigert: "Das bekommen Sie nicht, ist Eigentum des AMS, Sie sind kein Rechtsanwalt ..." Rechte haben demnach nur Parteienvertreter, nicht die Parteien. Nicht besser ergeht es dem, der schriftlich Akteneinsicht beantragt. Auf fünf Anträge auf Akteneinsicht über den Zeitraum von sieben Monaten erhielt der Autor schließlich nach Einstellung aller Verfahren einen Packen teilweise geschwärzter Akten, unter denen aber just die einzusehenden und präzise bezeichneten Aktenstücke fehlten, dies alles mit Wissen des SPÖ-Sozialministers.

• Hören will das AMS beim Parteiengehör bestenfalls das, was zu den Textbausteinen seiner vorgefertigten Niederschriften passt, und ansonsten heißt es: "Sparen Sie sich bitte Ihre ständigen Einwendungen" oder "Das können Sie alles schriftlich einbringen". Schriftlich bei einer mündlichen Verhandlung? Und für die, die immer noch Einwendungen, Vorbringen, Protokollierungen oder Anträge haben, endet das Parteiengehör abrupt durch den herbeigerufenen Security. Natürlich wird auch nicht darüber aufgeklärt, dass eine Niederschrift auch im Nachhinein beeinspruchbar ist und nicht unterschrieben werden muss, was ihren Beweiswert aufhebt.

Ein nicht unerheblicher Teil der Beweismittel in den AMS-Verfahren dürften unter solchen Umständen zustande gekommene Niederschriften sein. So kann man auch ohne körperliche Folter und anonyme Zeugen der "Qualität" der Inquisitionsverfahren durchaus nahekommen.

P.O.


"Mehr Licht" statt mehr Opfer

Betrachtete man die Arbeitslosigkeit wirklich als individuell verschuldet, müsste eine erfolgreiche Wiederherstellung der Arbeitswilligkeit per Sanktionsregime direkte reale Wirkung zeitigen. Dass dem nicht so ist, wissen selbst die arbeitsreligiösen Inquisitoren aus ihren eigenen Daten und Untersuchungen (etwa des WIFO) und begeben sich mit der Weiterführung ihres Kreuzzugs gegen den Unglauben auf metaphysisches Parkett: Der - real konsequenzlose - Glaubenseifer und die demonstrierte Opferbereitschaft sollen das Verschwinden der Arbeit irgendwie stoppen oder rückgängig machen, unterstellt man zumindest implizit und hat damit jedes säkulare und zweckrationale Mäntelchen zugunsten des Glaubens an eine metaphysische Macht abgestreift. Da die Arbeitsreligion aber nicht offen als Glauben auftreten kann, bringt dies deren Priester unter noch mehr Zugzwang, die kompensatorische Sündenbockgenerierung immer weiter voranzutreiben, um den Glauben an die Arbeitsgesellschaft mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.

Jedoch lässt sich weder die Arbeitslosigkeit durch das Sühneopfer auf wundersame Weise wegmachen, noch verschwinden die Zweifel an der Arbeitsreligion tatsächlich. Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen verstummt - der Kommentare von AMS-Vorständen zum Trotz - nicht mehr. Wiewohl viele gerne an die Arbeitsunwilligkeit der Arbeitslosen glauben, wendet sich die Aggressionsabfuhr gegen Sündenböcke nicht positiv in eine Saat für die Heilsbotschaft von zukünftiger Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzvermehrung. Auch die, die gerne auf Sündenböcke herabblicken, wissen, dass ihr Arbeitsplatz jederzeit wegrationalisiert werden kann. Bei einer Million von Arbeitslosigkeit Betroffenen im Jahr haben viele selbst mit ihr oder einem davon Getroffenen Bekanntschaft gemacht. Angesichts der Realitäten kämpft das AMS gegen Windmühlen, wenn es einen Glauben aufrechterhalten will, der in so diametralem Widerspruch zur Wirklichkeit steht. Der Sündenbockkult ist eben nur Ersatzdroge. Ein System, das um sein Überleben kämpft und gleichzeitig seine den Realitäten gegenüber blinden Dogmen nicht aufgeben kann, will es sein Ende nicht besiegeln, bleibt zum Weitermachen verdammt, in der Hoffnung, mit immer mehr Opium die Realitäten zeitweilig verdrängen zu können.

Der Bezug auf den Blutrausch der aztekischen Opferpriester am Ende des Teils II dieses Artikels hat daher seine Triftigkeit. Denn solange die Arbeitsgesellschaft ihr nahendes Ende nicht zur Kenntnis nimmt, sind der Menschenopfer nie genug. Wenn die geschilderten individuellen Rituale nicht ausreichen, werden ganze Gruppen zur Schlachtbank geführt, wie es die jetzige Regierung gerade vorbereitet; denn ums individuelle Seelenheil ist es dabei nie gegangen, sondern um den Opfernachschub für den vergeblichen Versuch, die kulturelle Hegemonie der Arbeitsreligion in einer Zeit zu petrifizieren, in der ihr die Stunde schlägt. Von der Erkenntnis, dass kein Sühneopfer daran etwas ändern kann, hatte sich die Arbeitsgesellschaft abgeschnitten, als sie sich auf die Reise machte, die Arbeitslosigkeit an den Arbeitslosen zu bekämpfen. In diese intellektuelle Finsternis bringen nur die Scheiterhaufen ein wenig Helligkeit und Wärme. Machen wir Licht, damit diese Gesellschaft nicht so unwürdig zugrunde geht, wie sie gelebt hat, und auch noch ihre letzten Wege mit dem massenweisen Arbeitsleid und Arbeitslosenleid der Opfer ihres sinnlosen Fetisches gepflastert sind!


Literatur

Aktive Arbeitslose Österreichs (AAÖ): Ergebnisse der Umfrage "Würde statt Stress" (Wien, Februar 2010).

Arbeiterkammer OÖ (AK OÖ), Arbeitslosenbefragung 2007, zitiert nach Karin Rausch: Auf dem Weg zur Arbeitslosen- und Sozialanwaltschaft, Präsentation Momentum14-Kongress (17.10.2014).

Breitenfelder, Ursula und Kaupa, Isabella: "Offen gesagt - Endbericht des Dialogforums zum Wiener Arbeitsmarkt 2017", veranstaltet von AK Wien/AMS Wien/WAFF (Wien, Jänner 2018).

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt/M. 1977).

Kafka, Franz: Brief an den Vater (Erstveröffentlichung in "Die neue Rundschau", 63. Jg., Zweites Heft 1952).

Lohoff, Ernst: Gewaltordnung und Vernichtungslogik, in: Krisis 27 (Bad Honnef 2003).

Pfeil, Walter: Arbeitslosenversicherungsrecht (Wien 2005).

Steiber, Nadia, Mühlböck, Monika, Kittel, Bernhard: Jung und auf der Suche nach Arbeit in Wien, Endbericht Modul 1 (Wien, April 2015).

WIFO - Eppel, Rainer, Horvath, Thomas, Mahringer, Helmut: Eine Typologie Arbeitsloser nach Dauer und Häufigkeit ihrer Arbeitslosigkeit 2010-2013 (Wien, Dezember 2014).

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Dead Men Working

Der andere Revolutionär

von Maria Wölflingseder

Er soll zwar dem 200-Jahres-Regenten nicht die Show stehlen. Trotzdem ein kleiner Vorgeschmack anlässlich seines runden Geburtstags, der im nächsten Frühling gefeiert wird. In jener Stadt geboren, in der der Namensgeber der Lehre der Klassenlosen Gesellschaft sechs Jahre zuvor gestorben war, wuchs er in bitterer Not auf. Etliche Jahre verbrachte er in Armen- und Waisenhäusern und bereits als Kind mit Gelegenheitsarbeiten. Lesen und Schreiben hat er in den wenigen Schuljahren nur dürftig gelernt. Wenn die Rutenschläge auf ihn niederprasselten, schwor er sich, seinen Traumberuf zu ergreifen. Das ist ihm auf wundersame Weise gelungen. Er wurde nicht nur "der berühmteste Mann der Welt" - wie Kurt Tucholsky ihn bezeichnete, sondern auch der unwiderstehlichste - so mein Prädikat.

Obwohl seine Berufsbezeichnungen ganz anders lauten, wurde in ihm allen voran der Philosoph, der Gesellschaftskritiker, der Revolutionär gesehen. Ja, ein wahres Genie! Aber selbst dieser Begriff greift zu kurz. - Auch bei seinen nicht musikalischen Tätigkeiten strahlt er "einen explosiven musikalischen Rhythmus" (Claire Goll) aus. Als ihn Claude Debussy das erste Mal sah - da war er noch jung und unbekannt -, rief er ihn zu sich, um ihm seine Bewunderung auszudrücken: "Sie haben einen angeborenen Instinkt für Musik und Tanz. Sie sind ein wahrer Künstler."

Viele haben über ihn geschrieben. Viele rätselten über sein "Geheimnis". Schon allein die Vielfalt der Erkenntnisse zeigt, was er nicht alles verkörperte. Ja, er artikulierte sich lange Zeit ohne jegliche Worte, sondern ließ nur seinen Körper sprechen - ausdrucksstärker als es Worte vermögen! "Womit er das alles erreicht, ist völlig unbegreiflich. Manchmal nur mit einer kleinen Bewegung - er kann mit den Schultern weinen. ... Und er bewegt sich nicht, und man hört ihn jeden Gedanken denken." (Tucholsky) In Windeseile eroberte er nicht nur die Herzen der Proletarier aller Länder, sondern auch jene der Reichen und Gebildeten, und natürlich die der Kinder. "Er hat eine Komik des Nichttuns entwickelt, die ganz ungeheuerlich ist. ... und ganze Völkerschaften liegen unter dem Tisch", bemerkte der bezauberte Tucholsky.

Nie habe ich die deutschsprachigen Intellektuellen der 1920er und - 30er Jahre so verzückt erlebt, wie angesichts seiner Kunst! Was haben Brecht, Eisler, Benjamin, Adorno, Kracauer, Arendt, Kafka, Kisch, Polgar, Roth nicht alles in ihr gesehen.

Eine profunde Erklärung für die universelle Resonanz dieses kleinen, zarten, komischen Mannes mit den großen Augen gibt Siegfried Kracauer 1931. Er "vollbringt das Wunder, das Könige nicht mehr bewirken". Er hat sich "in einem Jenseits der Politik" behauptet. Ihm ist es gelungen, "an diesem schwer erreichbaren Ort seine Residenz aufgeschlagen zu haben und dennoch allen Menschen erreichbar zu sein". Der Triumphator ist ein Habenichts, ein Heimatloser. "Dass ihm fehlt, was die anderen besitzen, ist aber eines der Geheimnisse seiner Macht. Religionsbekenntnis, Vaterland, Reichtum und Klassenzugehörigkeit setzen Unterschiede zwischen den Menschen, und nur der Ausgestoßene, der keinen Anteil an ihnen hat, lebt unabhängig von jeder Begrenzung. ­... Was bleibt noch übrig, wenn die Merkmale fortfallen, durch die sich die Menschen gemeinhin erst in bestimmte Menschen verwandeln. Übrig bliebt (bei ihm) der Mensch schlechthin, oder doch ein Mensch, wie er allerorten zu verwirklichen ist. ... Denn nur, wenn die Attribute ausgeschieden sind, die den einen eignen und den andern nicht, kann der Mensch sichtbar werden, der eine Möglichkeit sämtlicher Menschen wäre. Vielleicht ist der eigentliche Grund für seinen Triumph: zum ersten Mal seit unvordenklicher Zeit wieder den bündigen Beweis erbracht zu haben, dass dieser Mensch kein Abstraktum ist, sondern leibhaftig unter uns umgeht."

Die Rede ist von dem, den viele nur als Schauspieler wahrgenommen haben. Aber seine Bedeutung als erster wahrer Filmdichter, als Regisseur und als Komponist ist mindestens genauso hervorragend: Charlie Chaplin!

Trotz seiner tristen Kindheit und der schier aussichtslosen Zukunft spürte Chaplin, was er wollte. Als Fünfjähriger stand er das erste Mal auf der Bühne in einer "schmutzigen, widerwärtigen Kantine", die hauptsächlich von Soldaten besucht wurde. Seiner Mutter, Sängerin und Tänzerin, versagte die Stimme beim Vortragen eines irischen Gassenhauers. Im lärmenden Durcheinander der Zuschauer hörte er, wie der Direktor vorschlug, ihn auf die Bühne zu schicken, da er seine kleinen Vorstellungen vor Mutters Freunden kannte. "Ich war noch nicht halb zu Ende, da regnete es schon Geld auf die Bühne. Ich hörte sofort auf und verkündete, ich wolle erst das Geld aufsammeln und dann weitersingen. Dies rief großes Gelächter hervor. ... Als ich den Refrain wiederholte, imitierte ich in aller Unschuld, wie Mutters Stimme brach, und ich war überrascht über die Wirkung, die das bei den Zuschauern hatte. Es gab Gelächter und Beifall ..."

Chaplins Eltern waren von Jugend an talentierte und erfolgreiche Music-Hall-Künstler in London. Die Mutter Sängerin und Tänzerin. Der Vater Sänger, der auch in den USA tourte. Von ihnen hat Chaplin offenbar seine hohe Musikalität geerbt. - Die Eltern trennten sich bereits, als Charlie ein Jahr alt war. Der Vater zahlte keinen Unterhalt, die Mutter gewann ihre Singstimme nicht mehr zurück und wurde später psychisch krank. Da von Entertainern damals erwartet wurde, das Publikum zum Trinken zu animieren, verfiel Chaplin senior dem Alkoholismus, an dem er 38-jährig starb. Trotz der deprimierenden Armut und des Hungers vermittelte die Mutter Charlie und seinem vier Jahre älteren Halbbruder Sidney das Gefühl, dass etwas "Einzigartiges" in ihnen sei. Sie konnte wunderbar Geschichten erfinden und erzählen, und weckte sein Interesse für Theater und Gesang. Auch die Schule eröffnete ihm neue Horizonte, jedoch wurden ihm "Geschichte, Poesie, die Naturwissenschaften und Arithmetik" zu langweilig und schlecht vermittelt. Aber bereits das Schreiben-Lernen seines Namens brachte eine neue Erkenntnis: "Chaplin. Das Wort faszinierte mich und sah, wie ich fand, ganz aus wie ich."

Seinen Vater hat Charlie selten gesehen. Aber wenn er anwesend war, dann "beobachte ich ihn wie ein Habicht, und keine seiner Gesten entging mir". Egal ob er seine zweite Familie zu Hause mit Varieté-Szenen überraschte oder einfach beim Essen. "Vater kam nach Hause und begrüßte uns freundlich. Er faszinierte mich. Bei den Mahlzeiten beobachtete ich jede seiner Bewegungen, wie er aß, wie er sein Messer wie einen Bleistift hielt, während er das Fleisch schnitt. Noch jahrelang habe ich ihn nachgeahmt."

Diese Sätze in Chaplins Memoiren verweisen auf seine großartigste Fähigkeit. "Der Mensch muss eine unerhörte Beobachtungsgabe haben, ein stehlendes Auge. Er kann die Bewegungen aller Handwerke nachmachen. Einmal frisiert er den Kopf eines Bärenbettvorlegers: mit welch femininer Grazie und mit welch gelangweilter Selbstverständlichkeit er Kamm und Bürste handhabt und nach dem Schamponieren leicht und elegant und oberflächlich den nassen Kopf abtrocknet! Das zeigt die natürliche Komik dieses großen Künstlers. Wenn unsere Mimen auf der Bühne einen Handwerker nachmachen, dann sieht man, dass sie ihn niemals beobachtet haben: so klopft kein Schuster, so schreibt kein Schreiber, so bewegt sich kein Kutscher. Chaplin kennt sie alle." (Tucholsky) - Ja, er kennt sogar die Bewegungen eines Huhns, das er im Film "The Goldrush" darstellt. "Es war der Unterschied zwischen einem Mann, der komische Szenen spielt, und einem, der sie durchlebt. Und dieser Unterschied wurde sichtbar in tausenderlei Finessen der Körperhaltung, der Gestikulation und des Gesichtsausdrucks. Diesem haaresbreiten Unterschied verdankt Chaplin den Triumph seiner Kunst." (Harvey O'Higgins)

Die unsterbliche Figur des Tramps mit den "Insignien" unmöglicher Hose (in der auch ein Hund Platz hat), zu kleinem Sakko, zu großen Schuhen, kleiner Melone, Spazierstöckchen und Bärtchen ist zwar spontan entstanden, aber letztlich geht sie auf seine Beobachtungen im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück. Auf die Beobachtung des kleinen Mannes, "der etwas auf sich hält". Genau wie die anderen Gestalten: das schüchterne Mädchen, der dicke Kerl, der gerne Faustschläge austeilt, oder der feine Herr mit Zylinder. Chaplin wandelt sie in Archetypen. So blieb der Vergleich mit Moliere, Shaw und Shakespeare nicht aus.

Charlie Chaplin entblödete das Kino. Philippe Soupault gibt zu bedenken, wie schwierig es ist, jemanden zum Lachen zu bringen und "dass viele Formen, das zu erreichen von irritierender Grobschlächtigkeit sind. Man schämt sich manchmal, weil man gelacht hat. Chaplin erzwingt das Lachen, ohne dass man das jemals bedauern würde. Seine Komik, könnte man sagen, ist von höherem Wesen."

Joseph Roth schreibt in seinem Artikel "Der Spaßmacher der Welt": "Chaplin ist ein Poet, ein Romancier, ein Satiriker. Chaplin ist ein Anarchist. Er hasst die menschliche Gesellschaft und alle ihre Einrichtungen, vom Nudelbrett und Porzellanteller angefangen bis zur Polizei. Immer lehnt er sich auf: gegen die pietistische Kirche, gegen die Ehe mit einem rabiatem Weib, gegen die Reichen, gegen die Ordnung. Er stellt die göttliche Ordnung wieder her und der menschlichen gegenüber. Er revolutioniert. ... Er ist immer geschlagen, demütig, er fällt von einer Niederlage in die andere. Er kann sich vor den Verfolgern kaum retten. Aber dass er sie zum Narren hält, dass er, ein Schwächling, die großen Riesenkerle schließlich besiegt: das ist der Sieg des Geistes über das Grobe. Der Sieg der Revolution über die Brutalität."

Chaplins Kunst ist so einfach und gleichzeitig so tiefgründig. Deshalb erreichte sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Und sie wurde überall ein wenig anders aufgenommen, ohne dass sie missinterpretiert worden wäre. In Russland weinten die Menschen bei manchen seiner Filme, während sie in England seinen Humor schätzten. In Deutschland waren sie vornehmlich an der intellektuellen Seite der Filme interessiert, und in Frankreich ernannten sie ihn gar zum Dadaisten.

Chaplin war auch der erste, der Tragisches und Komisches genial miteinander zu verbinden wusste. 1921 schuf er die erste sozialkritische Komödie "The Kid", die ebenfalls von seiner Kindheit in London geprägt ist. - Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Leben in größter Armut wird Chaplin unter vielen anderen von der "Société des Auteurs et Compositeurs Dramatique" geehrt. Roger Ferdinand hebt in seiner Rede hervor, die Größe dieses Künstlers bestehe vor allem darin, den Erinnerungen seiner Kindheit treu geblieben zu sein: "Selbst wenn wir es nicht wüssten, könnten wir uns vorstellen, welchen Preis Sie für diese wunderbare Gabe bezahlt haben, fähig zu sein, uns zum Lachen und dann plötzlich zum Weinen zu bringen. Man kann vermuten oder, noch besser, wahrnehmen, durch welches Leid Sie selbst gegangen sein müssen, um fähig zu sein, all die kleinen Dinge darzustellen, die uns so tief berühren und die Sie aus Augenblicken des eigenen Lebens übernommen haben."

Hans Siemsen, wohl der innigste Chaplin-Liebhaber unter den Publizisten seiner Zeit, verweist auf die Botschaft an die Unterdrückten zu Beginn des 20. Jahrhunderts: "Chaplin lehrt, dass man nichts ernst nehmen soll, nichts als die allereinfachsten menschlichen Dinge. Und dass man sich vor nichts fürchten soll, nicht vor den großen Bankgebäuden, nicht vor den Generalen und Unteroffizieren, nicht vor der Würde, nicht vor der Macht und nicht einmal vor dem schrecklichen, dicken Mann! Er lehrt die vollkommene, die radikale Respektlosigkeit. Gott segne ihn! Er ist ein Revolutionär."

Auch Alfred Polgar gehörte zu den "Chaplin-Forschern". Nach vielen Erkenntnissen kommt er jedoch zum Schluss: "Dass nämlich alles Gesagte, auch wenn es tausendmal richtiger und besser gesagt wäre, doch an das Geheimnis der Chaplin-Wirkung nicht rühren würde. Ganz gewiss liegen da die Dinge komplizierter, ganz gewiss auch liegen sie einfacher. Es ist ein Echtheits-Zeichen der Genialität, dass die kommentier-hungrigen Worte sie immer nur, in mehr oder minder engen Kreisen, ohnmächtige Raubvögel, umfliegen, aber nie in ihr Wesentliches stoßen können. Ließe sich das Phänomen Chaplin erklären, wäre es keines."

So bleibt nur noch mit Tucholskys Vehemenz die Aufforderung: "Versäumen Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange Sie leben."


Zur Verführung

Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens, 1964

Wilfried Wiegand (Hg.): Über Chaplin, 1978, erw: 1989

Dorothee Kimmich (Hg.): Charlie Chaplin - Eine Ikone der Moderne, 2003

Til Radevagen (Hg.): Alte Welt, Neue Welt, Charlie Chaplin - Ein Hauch von Anarchie, 1989

David Robinson: Chaplin - Sein Leben, seine Kunst, 1989, 2017

Kevin Brownlow, David Gill: Der unbekannte Charlie Chaplin, DVD, 1983, 2012

Hans Siemsen: Charlie Chaplin, 1924

Patrick Roth: Besuch bei Chaplin, 2013

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Aus der Zeit gefallen

von Franz Schandl

Wer damals mit den Achtundsechzigern zu tun hatte, dürfte von ihm wissen, dem 2010 verstorbenen Hans Peter Sagmüller, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Aramis. Nun liegt über ihn eine fingierte Autobiographie vor, die von Andreas Staudinger doch recht nahe am Objekt recherchiert worden ist. Wer Aramis kannte, erkennt ihn wieder. Der Roman behandelt das Leben eines Revolutionärs der besonderen Sorte. Wobei Sorte schon übertrieben ist, war Aramis doch zeitlebens ein Einzelgänger, beharrlich und schroff, alles andere als jedermanns Freund.

In den Anfangstagen des Aufbruches war er ein enger Gefährte von Elfriede Jelinek und Wilhelm Zobl gewesen, etwas, das bald auseinandergebrochen ist, unter anderem auch, weil er deren Einritt in die KPÖ nicht goutierte. Am Sozialismus interessierten ihn mehr die Agrarsozialisten (z.B. Gustav Landauer) als Proletariat oder Partei. Der Industrialisierung stand er ablehnend gegenüber. "ich gehörte nirgends wirklich dazu", sagt er. "die leninisten ödeten mich an in ihrer rigiden, den geist kastrierenden marxexegese, die neomarxisten gingen mir in ihren völlig von der realität abgehobenen diskursorgien auf die nerven, die feministinnen waren mir in ihrem völlig übertriebenen humorlosen penishass zutiefst zuwider, die kindergartenpädagoginnen waren mir zu theorielos tantenhaft, die friedrichshofkommunarden zu sklavenhaft ottofixiert, die hippies viel zu unreflektiert, die strukturalisten zu weltfremd." (126) "ich geriet zwischen alle fronten. fiel aus allen bindungen." (127) "ich zog mich aus der 'szene' zurück." (130) "städte wie wien atmen den pesthauch des untergangs." (140) "ich wäre in der großstadt zwangsläufig terrorist geworden." (289)

Während die meisten Achtundsechziger sich wieder reintegrierten oder für einige Jahre in autoritäre Kadergruppierungen oder gar die Mühl-Kommune abdrifteten, kehrte Aramis spätestens Mitte der Siebziger der Stadt endgültig den Rücken. Aussteiger war er, aber ohne dieses alternative Brimborium. Er machte sich keine Illusionen, sondern schritt in aller züchtigen Selbststrenge ans Werk.

Aramis zog es aufs Land, sein Leben bestand fortan darin, sich alte baufällige Gehöfte anzueignen, die von ihren Eigentümern de facto schon aufgegeben worden waren. Gebäude, die zu verfallen drohten und von ihren Besitzern pachtfrei auf Zeit übergeben wurden. "wo immer ich auch unterwegs war, sah ich landhäuser, die es herzurichten, zu bewohnen galt." (162) Sein letztes Lebensprojekt war die Baustelle Schloss Lind in der Weststeiermark. Anfang der Neunzigerjahre entlehnte er es dem Stift Lamprecht und bewahrte es so vor dem Verfall.

Aramis war eine Mischung aus Revolutionär und Ritter. Adelige Attitüden inbegriffen, der Schlossherr war reichlich ausgestattet mit einem andere düpierenden Überlegenheitsgefühl. Immer ging es ihm darum, das Leben selbst zu bestimmen, oft auch das der anderen. Es war jedenfalls eine ziemlich unorthodoxe Lebensweise. "ich simplizius" (192), heißt es an einer Stelle. Als "aus der zeit gefallen", betrachtete er sich. Sich selbst verstand der Lebenskünstler als Gesamtkunstwerk, als Maler, Schafzüchter, Gärtner, Restaurator, Museumsgründer, Liebhaber, Ofenbauer. Sieben Kachelöfen setzte er auf Schloss Lind.

Alles was er betrieb, war von hochgradiger Ernsthaftigkeit. Halbe Sachen waren seine Sachen nie. Er brachte sich nicht nur durch, er brachte auch etwas weiter. "ohne sozialversicherung, ohne steuern zu zahlen." (300) Ganz stolz war er "auf der hände schweißwerk: das ist kontinuität!" (300) Aramis war alles andere als untätig, vielmehr besessen in seinem Tun. Und auch in seinem Sein. So trug er etwa keine Jeans mehr, entwickelte für sich eine eigene Tracht. Stets ging es um den Stil. "ich wollte endgültig unverwechselbar werden" (209), sagt er.

"aber um ehrlich zu sein: ich bin auch dem gott dionysos verpflichtet, dem gott des rausches, des weins, der ausschweifung! so sehr ich mich disziplinieren kann, so sehr kann ich explodieren, falls die umstände es erlauben." (304) "ein offenes haus, ein freudenhaus, ein lusthaus im wahrsten sinne des wortes" (368), sollte seine in Staudingers Roman "Arche" genannte Wohnstatt sein. So verwegen der Ansatz gewesen ist, so beschränkt waren jedoch die Möglichkeiten. "mein hang zu mehreren frauen deutete sich schon an: eine war mir selten genug." (59) "die begriffe treue und untreue hatte ich immer für völlig unangemessen gehalten." (258) Ebenso Eifersucht. Postulat und Resultat kollidierten des öfteren gewaltig. In Liebessachen bezeichnete er sich als guten Anfänger, was jedoch auch bedeutete, dass die Beziehungen (Liebschaften wie Freundschaften) meist an den rigorosen Ansprüchen scheiterten. Rücksicht nehmen war seine Sache nicht, dafür aber war er zielstrebig, verlässlich, konsequent. Wenig ließ er gelten, aber was er gelten ließ, verehrte er heiß.

Gehasst hat er das normale Leben, diese "endlose repetition der norm" (436). Für seine Zeitgenossen hatte er wenig übrig: "im umgang mit menschen bleibt die verachtung, die nur mit ausnahmen rechnet." (436) "gut, ich bin auch gescheitert, aber immerhin habe ich mein leben lang alles erdenkliche versucht" (364), resümiert er. "wenn ich mein leben betrachte, scheint mir alles folgerichtig." (417)

"ich bin FERTIG" (332), verkündet Aramis kurz vor seinem Freitod, der freilich inszeniert, ja zelebriert werden sollte und nicht nur ihm einiges an Anstrengung abforderte. "mein eilig vorbereitetes sterbefest wurde leider nur ein schlachtfest ohne toten." Erst der zweite Versuch sollte gelingen. Der Tod erscheint nicht als Niederlage, sondern als höchste Konsequenz. Ein Kranker oder gar hilfsbedürftiger Alter, "dieses verfallende und verfallene" (420), wollte Aramis nicht sein. Immer wieder ging es auch um den Tod. "es ist die intensität des lebens, die ich immer gesucht habe. sie gewinnt man nur im angesicht des todes (des abschieds, des endes, der auslöschung?), des unwiederholbaren, unwiderruflichen." (437)

Andreas Staudinger: Paradiessucht.
Roman, Wieser, Klagenfurt-Celovec 2017,
440 Seiten, EUR 19,80

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Im Garten der Sätze
Worüber ich nur schreiben kann, darüber kann ich nicht reden

von Ilse Bindseil

Soll ich schreiben oder reden? Auch über das Reden würde ich lieber schreiben, denn es ist für mich terra incognita. Aber es ist, als drohte mir jemand mit dem Finger: Nicht einmal über das Reden kannst du reden? Über das Schreiben würde ich gerne reden können, denn es ist ja das Einzige, was ich erlebe, und das Herz ist mir voll davon. Mit dem Schreiben, möchte ich wie die kleine Lisa in "Weihnachten in Büllerbü" sagen, ist es bei mir so: Es schreibt, wenn ich schreibe. Wie bei einer gut gehenden Mutterbrust die Milch direkt aus der Drüse in den Mund des Kindes strömt, so strömt das Denken durch meinen Kopf und bildet sich auf dem Papier als Gedanke, der hier erst anfängt zu existieren. Darum ist die dümmste Frage an mich: Warum sagst du nicht einfach, was du schreiben willst? Bevor ich es aufgeschrieben habe, existiert es ja nicht! Keine Rede davon, dass mein Kopf etwa ein Speicher wäre. Im Gegenteil, nichts an mir ist so leer wie mein Kopf. Er ist leer, aber er funktioniert. Ich drücke auf den Knopf, und die Ideen wachen auf. Die eigentliche Produktion findet auf dem Papier statt, wo der Gedanke und sein Werden sich verschränken. Denn kaum ist das erste Wort auf dem Papier, will es unbedingt mitreden, glaubt in allem Ernst, es wäre der Zweck der Übung, ihm solle ein Umfeld geschaffen werden, etwas, wo alles zu ihm und es zu allem passt. Was ich beisteuere, so kommt es mir vor, ist nicht viel mehr als das "begleitende Gefühl" (Freud) der Richtigkeit. In ihm kulminiert das Ineins von Schaffen und Finden. Es ist von Zweifeln frei und apodiktisch, was nicht hindert, dass es nur im Moment gilt, denn der Kontext ist variabel. Ich brauche die Kopf haltung nur ein wenig zu verändern, metaphorisch ausgedrückt, schon ergibt sich ein anderes Bild. Ich sehe die Dinge etwas anders, genauer, ich sehe etwas anderes, und was ich soeben noch für richtig hielt, ist jetzt falsch, und was ich für einen glücklichen Fund hielt, bloß noch ein willkürliches Produkt meiner Phantasie. Das Ziel der Vereinigung von etwas mit seiner Richtigkeit bleibt indes das Gleiche, das Gefühl der Evidenz, der Eindruck von zugleich Schaffen und Finden, kurz: Erleuchtung.

Da ich mich in meinem Denken von mir weg, auf etwas Unbekanntes außerhalb von mir orientiere, wird es einleuchten, wenn ich den Schreibinstrumenten eine wichtigere Rolle zubillige als gemeinhin angenommen, ja sie als die eigentlichen Partner im Wahrheitsfindungsprozess ansehe, als Partner im Dialog der Sache mit sich selbst. So messe ich dem Unterschied zwischen Display und Papier eine bedeutende Rolle bei, rückt Ersterer das konventionelle Nacheinander des Schaffens doch in die Gleichzeitigkeit und macht das Bearbeiten so leicht und natürlich wie das Hervorbringen. Vielleicht korrigiert sich durch ihn auch nur die konventionelle Ansicht, dass das Hervorbringen ein linearer Prozess sei, der passend zur Zeit verläuft, von ihr die sinnstiftenden Elemente wie Anfang und Ziel übernimmt. Der Gedanke ist für mich eine Linie, so primitiv arbeitet nun mal mein Vorstellungsvermögen. Der Display aber ist eine Fläche; ein ideales Rechteck ist er. Bin ich eindimensional, so ist er zweidimensional. Schreiben bedeutet für mich, die Eindimensionalität meines Denkens in die Zweidimensionalität zu überführen, die dem Denken natürlich ist, wenn es nicht mein Denken, sondern sein eigenes Denken ist, bezogen nicht auf mich und meine Intention, sondern auf sich und seine Bezüge.

Das ist für mich Schreiben. Müsste ich auf eine Wahrheits-Couch und, um die Vorstellungen hinter den gepanzerten Sätzen freizulegen, wie man so sagt, "frei" assoziieren, so würde mir für die Schreibfläche das Wort "Garten" einfallen, und für die Bewegungsart, die auf den Garten passt, würde mir das Wort "herumgehen" einfallen, denn man geht ja nicht vorwärts, sondern herum. Und für das, was in diesem Garten geschieht, würde mir, nein, nicht das Wort "wachsen" einfallen, gar "reifen", und für das, was da wächst, würde mir auch nicht das Wort "Blume" einfallen, gar "Frucht". Sondern ich würde im technischen Milieu bleiben und auf den Animationsfilm zurückgreifen. Da öffnen bei der Morgentoilette des Waldes die Anemonen ihre Blüten, erst hier eine, dann dort, dann blüht der ganze Wald. (So habe ich "Bambi" im Kopf.)

Ich erlebe wenig, da ich ja schreibe und mein Vormittag unbemerkt vergeht. Wie alle, die einer regen Tätigkeit nachgehen, stelle ich fest, dass unter meiner Regie etwas entsteht, was mit mir doch wenig zu tun hat. Solange ich damit beschäftigt bin, bin ich wenig anwesend; hinterher macht es sich davon. Nicht einen Satz kann ich jemals wiedergeben, den ich aufgeschrieben habe; die Rekonstruktion ergäbe einen neuen Text. Dass ich mich auf etwas vorbereiten kann, indem ich es aufschreibe, weit gefehlt! (Siehe Kleist) Schreiben ist für mich keine Vorbereitung, es ist eine Lösung. Habe ich mir einen Gedanken notiert, kann ich ihn nur noch ablesen. Auch beim Notizzettel gelten die Regeln des Denkens. Wortwörtlichkeit gilt. Noch die kleinste Änderung ist tabu. Auch kann ich der endgültigen Gestaltung keinen Spielraum einräumen, indem ich mir lediglich Stichworte notiere, die in freier Rede verbunden werden, Ministerium für Einsamkeit, Lateralsklerose, Verblendungszusammenhang, um nur ein paar Beispiele aus den jüngsten Kommentaren zu nennen. Habe ich sie als Stichworte notiert, entfalten sie prompt ein Eigenleben, treten zueinander in eine Beziehung, die mehr mit der ehernen Form der konkreten Poesie als mit der flüchtigen eines Spickzettels zu tun hat. Ministerium für Einsamkeit, Lateralsklerose, Verblendungszusammenhang: So möchten sie von mir abgelesen werden, und wehe, ich ändere auch nur die Reihenfolge.

Das ist für mich schreiben. Und was ist für mich reden? Was am Reden ist so beschaffen, dass ich mich darüber auch schreibend äußern kann? Ich gestehe, dass ich hier zur Fehlleistung neige, denn wenn ich "Soll ich darüber reden, oder soll ich darüber ..." beginne, dann möchte ich unbedingt mit "schweigen" enden, siehe Wittgenstein: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Für das monastische Redeverbot habe ich durchaus etwas übrig, und ich vermute, dass es nicht für von Natur aus schweigsame Leute geschaffen wurde - das gibt ja wenig Sinn -, sondern für die andern, zu denen ich mich prophylaktisch rechnen würde, die vorzugsweise schweigen, aber wenn sie einmal angefangen haben zu reden, damit nicht mehr auf hören können. Den riesigen Bereich dessen, worüber man schweigen muss, habe ich für mich durch die Umkehrung ein wenig eingegrenzt: Worüber ich nur schreiben kann, darüber kann ich nicht reden. Und ganz und gar ins Pragmatische gewendet: Während ich schreibe, kann ich nicht sprechen. Niemand auf der Welt, behaupte ich, würde sich die Mühe des Schreibens antun, wenn er das, was er mitzuteilen hat, ebenso gut sagen könnte. Daher gehe ich von einem Redeverbot aus, das all die Dinge betrifft, über die man schreibt, weil man nicht über sie reden kann. Tatsächlich erschrecke ich, wenn ich erlebe, wie unbekümmert gegen diese Regel verstoßen wird, indem über Dinge geredet wird, deren Klärung an ihre sorgsame, im unendlichen Wiederholungsgang überprüfte und bearbeitete Hervorbringung gebunden wäre, die das einzige Ziel im Auge hat, einen Sachverhalt so darzustellen, wie er nicht für mich, sondern für sich existiert. Freilich kann, wer ganz allein im Kopf mit komplexen Zusammenhängen umzugehen gewohnt ist, noch den abstraktesten Sachverhalt ohne sichtbare Bearbeitungsmittel erfassen; ich denke dabei an extreme Situationen wie im Gefängnis, wobei die Situation den Gegenstand zweifellos einfärben wird. Eine meiner Angstvorstellungen beschäftigt sich mit einer solchen Situation, in der ich kein Schreibmaterial habe, ewig könnte ich mir Gedanken machen, wie ich mich dann behelfe.

Zu einem Sachverhalt jedenfalls gehört seine Darstellung, und als Ziel jeder Darstellung erweist sich die - Darstellung. Sie ersetzt den Gedanken, den ich ursprünglich als meinen Gedanken im Auge hatte. Gefühlt ist es keineswegs meine Darstellung, so wie es am Ursprung mein Gedanke war, sondern es ist die Selbstdarstellung des Gegenstands, von dem sie handelt. Es handelt sich für mich um eine Darstellung, die den Gegenstand nicht identifiziert, man hätte ihn denn vorher schon gehabt, müsste ihn nur wiedererkennen, sondern ihm, dem Unbekannten, Raum gibt, zu werden. Das entscheidende Mittel der Entfaltung, das, wenn überhaupt irgendetwas, die Regieübergabe an den Gegenstand erlaubt, das ist natürlich die Sprache mit ihren eigenen Gesetzen, und es ist, mehr noch, die Schrift. Sie macht sichtbar, dass die Sprache ein nicht an mir, sondern an sich selbst orientiertes, auf sich selbst bezogenes Regelwerk ist, das über Sein und Schein eines Sachverhalts entscheidet. Je mehr mir an der Unterschiedenheit einer Sache von mir liegt, umso mehr brauche ich die Schrift, die sie auch faktisch aus mir heraus und von mir wegrückt, sie mir face to face präsentiert, sodass ich sie immer wieder und im Ganzen betrachten und auf ihr immanentes Funktionieren hin prüfen kann. Im schreibenden Alltag und in Anflügen stiller Verzweiflung kommt es mir freilich nicht selten vor, als wäre der Gegenstand bloß die Möhre und ich der Esel, der ihr durch ein Labyrinth folgt, in dem ich statt vom bekannten A zum unbekannten B nach A' und A" gelange, nicht unbedingt im Kreis, aber in die Dürre eines am Ende restlos skelettierten Gedankens. Immer deutlicher wird mir auch, dass der ursprüngliche, der für sich seiende Gegenstand, dem ich nachforsche, nur das innere Bild ist, das ich von ihm habe. Wenn das so ist, dann werden Sprache und Schrift dafür in Anspruch genommen, dem, was seiner Natur nach unsichtbar und in seiner Existenz ungeklärt ist, zu einiger Sichtbarkeit und Objektivität zu verhelfen. Das ist nicht viel, was den Ausgangspunkt betrifft, aber es leuchtet ein.

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Auslauf

Verrückte Verhältnisse

von Petra Ziegler

Die Welt der uns umgebenden Dinge erscheint uns gewöhnlich recht gewöhnlich und wird allenfalls in ihren Auswüchsen hinterfragt. Konsumsucht wird kaum gut geheißen, allzu strenge Markengläubigkeit durchaus verspottet. Echtes Befremden löst ein beliebiges Fertigteil aber nur aus, wenn es gar zu offensichtlich für die Halde produziert ist. Ansonsten gilt die oberflächliche Vielfalt als allgemein erstrebenswert, auch wenn langsam auffallen sollte, dass der Nuancenreichtum in Wahrheit beständig schwindet.

Eine Ware - ob simpel oder raffiniert - ist uns so alltäglich, so trivial, wie irgendetwas nur sein kann. Magisch anziehend im Einzelfall, das ja, nicht selten überflüssig, nützliches Ding für den alltäglichen Gebrauch, kleiner Luxus oder zum Verzehr geeignet, vielleicht auch hässlich, trashig, unbrauchbar, ein bloßer Staubfänger, doch keinesfalls nachhaltig verstörend.

Ganz anders in der Marx'schen Analyse. Hier erweist sich, was uns so selbstverständlich erscheint, als "ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken", als "sinnlich übersinnliches Ding", "wunderlich" und "geheimnisvoll". Von "Zauber und Spuk" ist da die Rede, von "Mystizismus" und einer ganz und gar "verrückten Form".

"Das Geheimnisvolle der Warenform", führt Marx dazu aus, bessteht darin, "dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt."

In einer entwickelten Marktwirtschaft wird der gesellschaftliche Zusammenhang auf ganz spezifische, historisch einzigartige Weise hergestellt. Der nachdrückliche Hinweis mag überraschen, dass wir für den Tausch produzieren oder Leistungen erbringen, will uns partout nicht als bemerkenswert auffallen. Kaufen und Verkaufen ist uns zur zweiten Natur geworden. Na, sicher doch! Was sonst?, reißt eins die Augen auf. Wir tun es und tun es tagtäglich wieder, doch - ganz ohne Absicht - handeln wir uns damit was ein. Im Effekt, darauf verweist uns Marx, erscheinen unsere eigenen wechselseitigen Beziehungen als gegenständliche Eigenschaften der Arbeitsprodukte selbst. Als ob sie Wert von Natur aus hätten, gerade so, wie sie Ecken und Kanten haben, oder rosa Farbe. Wie in der religiösen Welt, so Marx, "scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten." Den Gesetzen der Warennatur folgend beziehen wir uns nicht aufeinander, sondern stets auf eine andere Ware als selbstständige Gestalt des Werts. Im gesellschaftlichen Prozess wird sie zur ausgeschlossenen Ware und damit zu Geld.

Der Fetischismus, der der Warenwelt anhaftet, verschwindet nicht einfach, indem wir uns die Augen reiben oder ihn ins Bewusstsein heben. Als blindes Resultat unserer gesellschaftlichen Praxis (der Warenproduktion) bleibt er wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Die bewusste Überwindung des gesellschaftlich Unbewussten geht mit dem Abschied von den uns so vertrauten Formen (Ware, Geld, Arbeit) einher. Der Fetisch verliert seine Macht, sobald unser Tun, unsere Erzeugnisse und Zuwendungen, unmittelbar zum gesellschaftlichen Ganzen beitragen und nicht zuvor eine "von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt" annehmen müssen. Wenn wir also unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form koordinieren.

Zuallererst heißt das, die Akzeptanz des Gegebenen zu zerstören. Nichts muss so bleiben, allein weil es so ist. Das "ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" war Marx' selbstgestellte Aufgabe. Sein Ergebnis ist eine Untersuchung in Form umfassender Kritik mit dem Ziel, eben diese Verhältnisse umzuwerfen.

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AutorInnen

Ilse Bindseil, 1945. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

Frank Engster, 1972. Autor von Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit (2014) sowie weiterer Texte, die um den Zusammenhang von Maß, Geld, Zeit und um die Verschränkung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik kreisen. Zuletzt erschienen: Die Klasse. Begriff und Gebrauch in der Gesellschaftskritik vor, bei und nach Marx (2018)

Knut Hüller, 1953. Studium (Physik), wiss. Mitarbeiter (Chemie), 20 Jahre reale Wirtschaft und Juristerei alias gnadenloser Kampf aller gegen alle (Untersuchungsausschuß "Steuervollzug im Saarland", ARD-Titel: Die Abschöpfer). Autor von Kapital als Fiktion (2015).

Tomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Zuletzt erschienen: Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft (2016).

Karl Korsch (1886-1961), marxistischer Sozialphilosoph, ab 1920 Mitglied der KPD, kurzzeitig Justizminister in Thüringen. Reichstagsabgeordneter. 1926 im Zuge der Stalinisierung aus der KPD ausgeschlossen, ab 1933 im Exil, zuletzt in den USA. Zahlreiche Publikationen.

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Peter Oberdammer, Historiker, Geograph, Trainer und Coach, "Langzeitarbeitsloser".

Holger Schatz, 1967. Promovierter Soziologe, mal freiberuflich erwerbstätig, mal nur tätig. Lebt in Freiburg. Autor von Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion (2004). Weitere Texte auf: holgerschatz.net

Simon Sutterlütti, Soziologe, aktiv im Commons-Institut und bei der Gruppe 180grad.

Sowie: Franz Schandl, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

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E-Mail-Container

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AUS DEM IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/1/23, 1050 Wien.
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Quelle:
Streifzüge Nr. 73, Sommer 2018
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2018

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