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STREIFZÜGE/049: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 76, Sommer 2019


Streifzüge Nummer 76, Sommer 2019
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Maria Wölflingseder: Einlauf

Götz Eisenberg: Vom Recht auf Stille.
Eine Attacke auf das Universum des Lärms

Franz Schandl: Im Kontinuum des Lärms.
Beiträge zur Phänomenologie gegenwärtigen Lautseins

Maria Wölflingseder: Wider die akustische Hörigkeit.
Oder: Die Dauerlärmwurst als Nahrung & Exkrement permanenter
Vermarktung & Vernutzung

Ricky Trang: Lärm - Campaign for Musical Destruction

Günter Schneider: Alptraum Elektroauto

Maike Neunert: Vier Wände, die nicht schützen.
Schallschutz in Mietshäusern

Home Stories: mit Beiträgen von Dieter Braeg,
Dominika Meindl und Franz Schandl

Nikolaus Dimmel: Kapitalismus und Grundeinkommen

Hermann Engster: Das Drama vom Geld und dem Juden. Zu Shakespeares Kaufmann von Venedig

Kolumne
Immaterial World: Stefan Meretz
Auslauf: Petra Ziegler

Rubrik 2000 abwärts
Franz Schandl (F.S.)
Götz Eisenberg (G.E.)
Lorenz Glatz (L.G.)

Rezensionen
Maria Wölflingseder (M.Wö.) zu Irene Götz (Hg.): Kein Ruhestand - wie Frauen mit Altersarmut umgehen, und zu Franz Kolland u.a.: Wohnmonitor Alter 2018

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Einlauf

von Maria Wölflingseder

"Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest."
Robert Koch, Mediziner, Mikrobiologe und Nobelpreisträger, 1843-1910


Seit der vorletzten Jahrhundertwende hat sich der Lärm zwar stark verändert, aber er beherrscht uns immer noch. Günther Anders hat bereits in den 1950er Jahren von der "akustischen Leine" gesprochen, an der wir alle hängen. Aus dieser ist in Zeiten von Handy, Bluetooth-Box und flächendeckendem Gedudel geradezu ein akustischer Käfig geworden. Was hat es mit der "akustischen Freiheitsberaubung" auf sich, die Anders festgestellt hat? Und inwiefern hat Hören eine "Dimension der Unfreiheit", die zu Konformismus und Selbstversklavung führt?

Warum werden die Menschen staatlicherseits stets zu gesundem Lebensstil animiert, aber die massenhafte Gesundheitsgefährdung durch Zwangsbeschallung aller Art nicht einmal problematisiert? Rauchen ist in öffentlichen Räumen verboten, aber Flug- und Verkehrslärm soll uns entspannen? Warum lassen wir uns diese Beschallungswut gefallen? Lärmstörung, diese Variante von Umwelt- und Gesundheitsbelastung, wird schwer unterschätzt und missachtet.

1908 hat Theodor Lessing den ersten Antilärm-Verein in Deutschland gegründet. Seither haben sich viele um mehr Ruhe bemüht, allerdings mit wenig Erfolg. Warum ist auch von den in Linz im Zuge des Kulturhauptstadtjahres 2009 vielversprechend begonnenen Veränderungen, die die Initiative "beschallungsfrei" angestoßen haben, heute kaum mehr etwas zu bemerken?

Wir wünschen einen Sommer voll Klängen mit erquicklicher Resonanz!

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Vom Recht auf Stille
Eine Attacke auf das Universum

von Götz Eisenberg

"Zusammen mit der Zeit wird aber auch Stille zu einem raren Gut."
(Lothar Baier)

"Sollten irgendwann irgendwelche Aliens die verwüstete Erde besuchen und aus unseren Erbstücken rekonstruieren, wer bzw. was wir waren, werden sie wahrscheinlich in ihren Abschlußbericht schreiben: 'Zwei Dinge konnten diese Wesen richtig gut - Lärm und Dreck.'"
(Kay Sokolowsky)


"Tag gegen Lärm"

Während ich mir einen Kaffee zubereitete, hörte ich mit halbem Ohr aus dem Radio, dass am 24. April 2019 zum 22. Mal der Tag gegen Lärm stattfindet. Da es ein sonniger Frühlingstag war, trug ich mein Frühstück auf den Balkon und ließ mich dort nieder. Kaum saß ich und freute mich, dass vom Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses eine Amsel sang, begann ein Nachbar den Rasen zu mähen. Kurz darauf warf jemand in einem Hinterhof einen Laubbläser an. Der menschliche Laubbläser trägt, während er das Gerät benutzt, einen Ohrenschutz, aber eigentlich müssten an die Nachbarn Ohrenschützer verteilt werden. Laubbläser sollten zu den Schallwaffen gezählt und genauso geächtet werden wie Bluetooth-Boxen und Soundgeneratoren in Autos und Motorrädern, dachte ich auf meinem Balkon. Da wurde schräg gegenüber bei geöffneten Fenstern zu allem Überfluss auch noch Staub gesaugt. Die diversen MaschinenGeräusche verbanden sich mit dem städtischen Grundlärm zu einer schrillen Kakophonie. So begehen die Leute also den Tag gegen Lärm, indem sie ihn ignorieren und es noch doller treiben, dachte ich und zog mich fluchtartig ins Innere der Wohnung zurück. Was nützt einem die schönste Frühlingssonne, wenn man von allen Seiten mit Lärm traktiert wird? Im alten China hat man Kriminelle, die sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatten, durch Lärm hingerichtet. Der Verurteilte wurde unter eine große Glocke gelegt, die anschließend vom Henker geschlagen wurde. Es soll der qualvollste Tod sein, den ein Mensch erleiden kann. Ungefähr so fühle ich mich manchmal in dieser Wohnung, in dieser Stadt, in dieser Gesellschaft - wie unter einer chinesischen Hinrichtungsglocke.

Alltäglicher Krieg

Ich fahre mit dem Rad zum Einkaufen. Ein Autofahrer stößt seine Wagentür auf und holt mich beinahe aus dem Sattel. Sein Beifahrer und er amüsieren sich darüber, dass sie mich beinahe zu Fall gebracht haben. Würde ich sie zur Rede stellen, riskierte ich einen Kieferbruch. Eine Passage aus Adornos Minima Moralia fällt mir ein, wo er feststellt, dass Autofahrer dazu neigen, Fußgänger, Radfahrer und Kinder als "Ungeziefer der Straße" zu betrachten, das man zuschanden fahren kann. Beim Einkaufen fährt mir jemand mit dem Einkaufswagen in die Hacken. Kein Wort der Entschuldigung. Ein hoch aggressiver Mann wirft seine Einkäufe meterweit in seinen Wagen und brüllt herum. Lemmy Kilmister hat gegen Ende seines Lebens mal gesagt: "Die Regel lautet: acht von zehn ... Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot." Heute ist so ein Tag, der in Richtung zehn von zehn weist oder hundert von hundert oder hundertzehn von hundert. Gedränge und Geschiebe, als eine weitere Kasse aufgemacht wird. Der Kassierer redet, während er meine Einkäufe über den Scanner zieht, laut mit einer Kollegin an der Nachbarkasse. Geräusche dringen von überall her wie Speere in mich ein. Auf dem Heimweg überholt mich ein röhrendes Motorrad, wenig später ein zu einer Klangbombe umgebautes Automobil. Auspuff-Sound und Lautstärke sollen Stärke und Virilität demonstrieren: je lauter, desto männlicher! Autos als männliche Selbstwert-Prothesen und lackierte Kampfhunde, die ihre Besitzer aufeinander loslassen. Unglaubliches Gedränge in der Fußgängerzone, die ich überqueren muss. Digitale Somnambule kreuzen meinen Weg. Dumme Handysätze dringen an mein Ohr. Was ich von den anderen sehe, sind tote Augen, stumpfe oder brutale Gesichter, Hass, Ärger und Gereiztheit. Bloß ab und zu einmal ein menschliches Antlitz. Ich habe das Gefühl, in jedem Augenblick könnte jemand ein Messer hervorziehen - einfach so. Dieser Jemand könnte auch ich sein, denke ich. Es wird mir alles zu viel. Unter einer dünnen Oberfläche des Alltags herrscht Krieg.

Im Lärm steckt eine Gewalt, vor der ich fliehen muss. Ich ziehe mich für eine Weile an den Fluss zurück. Stille gibt es in der Stadt nur noch als Taubheit. Auf einem Baum, der flussabwärts auf einer kleinen Insel steht, hocken ein Dutzend Kormorane. Ein paar Spatzen fliegen zwischen Bäumen hin und her. Auf keinem Ast hält es sie lange. Kaum sitzen sie, heben sie schon wieder ab, schwirren hinüber zum Nachbarbaum, nur um rasch zurückzukehren. Schon als Kind habe ich mich gefragt, was die Vögel veranlasst, von hier nach dort zu fliegen. Es muss mehr und etwas anderes sein als Nahrungssuche. Vielleicht einfach pure Lebensfreude. Ich gehe am Fluss entlang zu einem Steg. Ich stelle mich mitten auf dem Steg ans Geländer und schaue auf den Fluss. Beim Anblick der ruhigen Strömung werde ich selbst ruhig. Zwei alte türkische Männer sitzen auf Steinen unten am Fluss. Sie sitzen schweigend nebeneinander und hängen ihren Gedanken nach. Sie tragen beide einen Wollschal. In dessen Falten, im Gewebe oder in der Art, wie sie ihn um den Hals schlingen, hängt ein Rest ihrer Vergangenheit. Dies wirkt wie eine Art von Isolierung gegen die trostlose und kalte Gegenwart.

Theodor Lessings "Antilärm-Verein"

Ständiger Lärm löst Alarm im Körper aus und wird zu einer Quelle von Gereiztheit und ohnmächtiger Wut. Um diese zu sublimieren, beginne ich unter dem Stichwort "Lärm" im Netz zu recherchieren und stoße auf Aufsätze des Philosophen Theodor Lessing, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Es handelt sich unter anderem um einen programmatischen Text für "Den ersten deutschen Antilärm-Verein", der im Jahr 1908 in Hannover gegründet wurde und dessen Vereinsorgan Der Antirüpel hieß. Verein und Zeitschrift traten für ein "Recht auf Stille" ein und wandten sich gegen "Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben". Im Zentrum der Lessing'schen akustischen Qualen standen das "Teppich-, Polster- und Bettenklopfen, das Peitschenknallen der Kutscher, das Kreischen der beschlagenen Wagenräder auf dem Pflaster und die grauenhafte Unsitte öffentlichen musikalischen Dilettierens". Die von Lessing aufgelisteten und vor ihm schon von Schopenhauer beklagten Lärmquellen muten uns heute wie die Geräuschkulisse eines romantischen Films an und gehörten auch zu Lessings Zeiten eigentlich zu einer im Untergang begriffenen agrarisch-handwerklichen Welt.

Damals fuhren die neuen Lärmquellen den Zeitgenossen wie ein Schock in die Glieder. Die Menschen mussten die überfallartigen Schübe der kapitalistischen Modernisierung über sich ergehen lassen und waren dem plötzlichen Einbruch ganz neuartiger Geräusche hilflos ausgeliefert. Stampfen, Bohren, Pressen, die Erschütterung von Materie, die Materie schlägt, und von Materie, die an Materie scheuert. Akustische Begleitung einer neuen Stufe der Naturbeherrschung. Natur wird nicht behutsam angeeignet, sondern unterworfen und vergewaltigt. Der Lärm selbst schlägt und scheuert gegen weitere Materie und dringt in die Köpfe der Menschen. Selbst nach dem Verlassen der Fabriken finden sie keine Ruhe, der Lärm hallt in ihnen nach. Die hartnäckigen, verstümmelten Rhythmen existieren immer noch in den Köpfen und Körpern und verfolgen sie bis in die Betten.

Rauchende Fabrikschlote, zersiedelte Landschaften und die um sich greifende allgemeine Beschleunigung des Lebenstempos, die Hektik und Anonymität, das waren nicht zu übersehende und zu überhörende Einschnitte in die traditionellen Lebensformen der Städte und Dörfer. Neurasthenie lautete eine neue medizinisch-psychiatrische Modediagnose, eine allgemeine Nervosität bemächtigte sich der Menschen. 1911 verabschiedete sich Lessing von den Lesern des Anti-Rüpels mit den Worten: "Unsere Sache kam noch zu früh, wird sich aber immer wieder melden und wird siegen." Einstweilen versank ganz Europa im Getöse der Geschütze und Explosionen des Ersten Weltkrieges.

Städtisches Lärmprotokoll

Die Lektüre der Lessing'schen Kampfschrift hat mir zu einer Distanz zur unmittelbaren Unerträglichkeit des Lärms verholfen und die Unmöglichkeit des Lebens unter solchen Bedingungen vorübergehend aufgehoben. "Wohin", fragte Lessing 1908, "sollen wir Träumer entfliehen? Vielleicht zu den Sternen hinauf?" Wir Heutigen liefen Gefahr, bereits auf dem Weg Zeugen eines Satelliten-Zusammenstoßes zu werden und nach unserer Ankunft selbst dort auf Bohrmaschinen, Dampframmen und andere Insignien der Zivilisation zu stoßen.

Lessings Aufsatz hat mich inspiriert, in meiner mitten in der Stadt gelegenen Wohnung eine Art Lärmprotokoll von einer beliebigen halben Stunde zu erstellen. Beim Rechtsanwalt gegenüber werden quietschend die metallenen Rollläden hochgezogen. Zwei Häuser weiter wird ein Gerüst aufgebaut. Metallstangen fallen scheppernd zu Boden. Laute Zurufe und gellende Kommandos. In der Wohnung über mir zieht jemand einen Stuhl übers Linoleum, was ein kreischendes Geräusch erzeugt, das durch Mark und Bein dringt. Stampfende Schritte von hier nach dort. Eine Tür wird krachend zugeschlagen. "Es gibt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen. Dieses Wesen ist der Nachbar", heißt es bei Imre Kertész.

Im Garten gegenüber wird ein Baum abgesägt und das Geäst geschreddert. Unten auf der Straße fahren zwei Jungen auf ihren Skateboards vorüber. Wie kann ein so kleines, harmloses Gefährt so einen Lärm erzeugen? Ein Motorradfahrer lässt die Maschine aufröhren. Beim Nachbarhaus fällt das Hoftor krachend ins Schloss. Aus vorbeifahrenden Autos dringt wummernde Musik nach oben. Ein Autofahrer tritt, obwohl ein paar hundert Meter weiter die Ampel rot ist, noch einmal das Gaspedal voll durch, um in den Genuss des Sounds zu kommen und dann quietschend zu bremsen. Der Deckel eines Müllcontainers wird scheppernd fallen gelassen. Ein hupender Autokonvoi auf dem Anlagenring zeugt davon, dass irgendwelche Menschen in die Ehefalle gegangen sind, aus der sie sich mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit in ein paar Jahren unter Schmerzen und großen Kosten, aber wenigstens ohne öffentlichen Lärm, wieder befreien werden. In der Wohnung über mir beginnt die Waschmaschine ihren Schleudergang. Minutenlang dröhnt, wackelt und klirrt alles.

Abends, wenn der allgemeine städtische Lärmpegel etwas absinkt, schlägt die Stunde der Hausmeister und Hobby-Bastler. "Das gewöhnliche Unglück tritt ein", heißt es bei Wilhelm Genazino, "wenn ein Mann und eine Maschine zueinander finden", und er stellt die Gleichung auf: Mann + Motor = Lärm. Das gilt besonders fürs Wochenende, wenn die Zeit der rasenden Heimwerker anbricht. Überall heulen Bohr-, Schleif- und Fräsmaschinen auf, Rasenmäher, elektrische Heckenscheren und Hochdruckreiniger werden angeworfen.

In Dave Eggers neuem Roman Bis an die Grenze, in dem er davon erzählt, wie eine Frau ihr bisheriges Leben aufgibt und mit ihren Kindern in einem Wohnmobil nach Alaska auf bricht, stieß ich auf folgende Passage: "Die Dummheit und die fehlgeleiteten Hoffnungen der gesamten Menschheit lassen sich am einfachsten erleben, wenn man zwanzig Minuten zuschaut, wie ein Mensch einen Laubbläser benutzt. Mit diesem Gerät, sagte der Mann, werde ich alle Stille ermorden. Ich werde die Ebene des Gehörs zerstören. Und ich werde das mit einem Gerät tun, das eine Arbeit weitaus weniger effizient erledigt, als ich es mit einer Harke könnte."

Universum des Lärms

Jeder zweite Passant telefoniert im Gehen mit seinem Handy und lässt einen, wenn man auf dem Balkon sitzt oder die Fenster offen stehen hat, an diesen Gesprächen teilhaben. "bin jetzt götestraße, gehe jetzt mc donald" ist so ein typischer Handy-Stakkato-Satz, der zu mir hinaufweht. Immer öfter frage ich mich, was in den letzten Jahren passiert ist, dass es plötzlich so viel zu sagen gibt. Und dass so vieles derart dringend ist, dass es unmittelbar gesagt werden muss und keinen Aufschub duldet. Wie haben die Menschen es vor noch nicht allzu langer Zeit ausgehalten, allein und unüberwacht durch die Straßen zu gehen? Wo ist die Scham geblieben, die die Menschen früher davon abhielt, intime Details ihres Lebens in aller Öffentlichkeit zu enthüllen? Sämtliche Peinlichkeitsschwellen, die Norbert Elias für eine zivilisatorische Errungenschaft hielt, scheinen geschliffen. Nachts ziehen betrunkene junge Männer grölend durch die Straße, stürzen Mülltonnen und Blumenkübel um und werfen leere Flaschen gegen die Häuserwände. Radfahrer und Passanten beschallen zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Umgebung mit Bluetooth-Boxen, die sie in Rucksäcken mit sich führen.

Vor zwei Jahren habe ich mich in der Lokal-Presse gegen eine drei Tage währende Beschallung mit Techno-Musik durch eine sogenannte Pop-up-Bar gewehrt, die sich in einem benachbarten Blumengeschäft eingenistet hatte. Dagegen halfen keine doppelt verglasten Fenster und keine Ohrenstöpsel. Ich fühlte mich wie ein Guantanamo-Häftling, der rund um die Uhr mit ohrenbetäubender Musik traktiert wird, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Und das nur, damit die Betreiber Pizza und Prosecco an den Mann und die Frau bringen und ihren Reibach machen konnten. Mit den Worten meines Kabarett-Heroen Gerhard Polt fragte ich die Verantwortlichen: "'Muss das sein? Braucht's des?' Wollen Sie aus der Stadt eine einzige Party-Zone machen? Sollen die (älteren) Innenstadtbewohner in nicht allzu ferner Zukunft evakuiert oder gleich ganz zwangsumgesiedelt werden, damit die Innenstadt frei wird für die sinnentleerten Exzesse der Spaßkultur und den ungehinderten Absatz der Waren rund um die Uhr? Stören wir bei der totalen Durchökonomisierung der Stadt?"

Der Tenor der auf meinen Zwischenruf folgenden Kommentare war: Wer keinen Lärm ertragen kann, gehört nicht in die Stadt! "Leute wie Herr Eisenberg gehören nicht in die Innenstadt. Wer Ruhe will, gehört in einen Vorort oder aufs Land. Eine Stadt lebt." Wenn der Lärm einer kommerziellen Veranstaltung mit Lebendigkeit gleichgesetzt wird, gehört, wer gegen ihn protestiert, auf den Friedhof - so die Logik vieler Kommentare. Es gibt aber unterschiedliche Formen von Lärm. Es gibt Lautbekundungen des Lebendigen und es gibt den Krach, den die "Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) im Dienst der Reklame und im Interesse eines gesteigerten Warenabsatzes erzeugt. Ständig dröhnt aus dem Eingang eines neu eröffneten Geschäfts laute Musik, beim Einkaufen wird der Kunde permanent mit verkaufsfördernder Musik beschallt. Dann gibt es den Lärm, den eine Demonstration für ein freies Rojava mit sich bringt, die gerade unter meinem Fenster vorüberzieht. Selbst bei gleicher Dezibel-Zahl macht es für mich einen großen Unterschied, ob Lärm im Dienst der Lebenstriebe steht oder der Geldvermehrung und letztlich der Destruktion. Aus der Psychologie ist bekannt, dass der Rasenmäher von nebenan umso mehr stört, je weniger man den Nachbarn mag. Und ich mag einfach den Beschleunigungs-, Vermehrungs- und Anpreisungslärm nicht. Den Lärm der Revolution dagegen hoffe ich ertragen zu können.

Meine innere Mongolei

Der Lärm nimmt keinen Anfang und findet kein Ende. Wie soll man da nicht krank oder verrückt werden? Vielleicht ist mein beinahe phobisches Verhältnis zum Lärm auch eine Begleiterscheinung meiner Leidenschaft fürs Schreiben und Lesen. Beides sind monologische Tätigkeiten und gedeihen nur unter leidlich ruhigen Umständen. In einem Roman von Ralf Rothmann fand ich in der Schilderung der Lärmempfindlichkeit eines Schriftstellers eine Bestätigung: "Er fühlte sich wie gehäutet von der Scharfkantigkeit der Geräusche und machte die banale Erfahrung, dass Sprache, in der mehr anklingt als das Alltägliche, nicht ohne Stille zu haben ist."

Statt "monologisch" hatte ich eben zunächst "mongolisch" geschrieben, ein keineswegs zufälliger Verschreiber, denn tatsächlich verhalte ich mich vielen Phänomenen der so genannten Modernisierung gegenüber "mongolisch", was auf Herbert Achternbuschs "Rede zum eigenen Land" zurückgeht, die er irgendwann in München gehalten hat. Dort hat er gesagt: "Die Chinesen, die ich eigentlich nur rühmend erwähnen möchte, nennen die Mongolen die Affen. Die Mongolen schauen der selbstlosen Betriebsamkeit der Chinesen blasiert zu. Die Chinesen bauen den Mongolen Schulen und Fabriken, die die Mongolen meiden. Die Mongolen machen den Eindruck, als wären sie mit etwas anderem beschäftigt, vielleicht mit nichts. Wenn die fleißigen Chinesen meine Achtung haben, so haben diese Mongolen mein, wie soll ich es nennen? Was soll ich ihr Eigenleben irgendwie noch bezeichnen? Sie haben mein Vertrauen. Ich bin ihnen irgendwie zu eigen. Die Mongolei ist das Land meiner inneren Emigration."

Von manchen traumatisierten Menschen wird berichtet, dass sie derart geräuschempfindlich werden, dass sie bereits das Ticken einer Uhr in den Wahnsinn treiben kann und sie die berühmten Flöhe husten hören. Gelegentlich liest man von Kriegsveteranen, die auf spielende Kinder schießen, die unter ihren Fenstern lärmen. Die ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber dem Lärm reflektiert die lebensgeschichtliche Beschädigung von IchFunktionen, die für die Reizverarbeitung zuständig sind und normalerweise dafür sorgen, dass Lärm durch selektive Wahrnehmungsprozesse derart gefiltert wird, dass wir nur hören, was wir hören wollen.

Während der Blütezeit der Anti-Psychiatrie war folgende Geschichte in vielen verschiedenen Varianten im Umlauf: Ein Mann schaut in einem psychiatrischen Krankenhaus aus dem Fenster und sieht Männer, die mit Motorsägen Bäume fällen. "Warum werden diese wunderbaren alten Ulmen gefällt", fragt er einen Arzt. "Wir müssen Platz schaffen für einen Erweiterungsbau", erwidert dieser. "Warum müssen Sie anbauen?", fragt der Besucher weiter. "Weil so viele Menschen wegen der gefällten Ulmen verrückt werden", erläutert der Arzt. Für Traumatisierte und andere Empfindsame hielt Kierkegaard den Rat bereit: "Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen."

Stille auf Rezept

Inzwischen ist der Kierkegaard'sche Rat in der Ratgeberliteratur und auf den Lifestyle-Seiten der Zeitschriften angekommen. Medien, Wissenschaft und Medizin entdecken die Stille, den Müßiggang, das Nichtstun und das Tagträumen. Gestresste Manager und Banker ziehen sich in Klöster und zu Schweigeretreats nach Nepal zurück. Lärmgeplagten Großstädtern wird das "Waldbaden" als Therapie empfohlen. Das Erleben von Stille und Natur senke den Blutdruck, heißt es, steigere das körperliche Wohlbefinden und sorge für emotionale Ausgeglichenheit. Nichts entgeht der Verwurstung und der Indienstnahme. Letztens hörte ich einen Radiobeitrag, in dem ein Neurowissenschaftler sagte: Musik und Tanz heilen und halten fit! Aber: Muße, die in einen von Hektik geprägten Alltag "eingetaktet" wird, ist keine Muße; Stille, die das Wachstum von Gehirnzellen fördert, ist keine wahre Stille; eine Stille, die einen fit machen soll für das Ertragen und Erzeugen von Lärm, zerstört sie. Alles, was ein Um ... zu mit sich führt, wird von der ökonomischen Vernunft angesteckt und büßt seine Transzendenz ein. Durch ihre Einbeziehung in die Sphäre der Nützlichkeit werden all diese Dinge entzaubert und um ihre Wirkung gebracht. So paradox es klingen mag: Sie wirken nur, solange sie nichts bewirken wollen und sollen. Wir dagegen sollen die Stille aufsuchen, um den Lärm besser ertragen zu können! Statt das Tempo zu drosseln, den Lärm zu reduzieren und die Arbeit menschenförmig zu gestalten, hält sich der entfesselte Kapitalismus am Leben, indem er sich noch die letzten Reservate einverleibt, in denen bislang eine alternative Logik durchgehalten hat. Je brutaler es in der Sphäre der Arbeit zugeht und je mehr die Mitarbeiter aufeinandergehetzt werden, desto mehr ist in den Leitbildern der Firmen von wechselseitiger Wertschätzung und Achtsamkeit die Rede. In der Mittagspause wird zu Powernapping und Yoga geraten.

Henry David Thoreau, der vor 200 Jahren geboren wurde, zog es in die Wälder, wo er "nur den Wind im Schilf flüstern" und "das Murmeln der Bäche" hörte. Er würde sich im Grabe rumdrehen, müsste er diese neuen Varianten des Kolonialismus miterleben. Heute drohte er am Ufer des Walden-Sees auf eine Motorsense oder einen Volkshochschulkurs in Turbo-Waldbaden zu treffen.

Amok und Lärm

Ständiger Lärm, so hatte ich gesagt, versetzt den Körper in einen Alarmzustand. Damit ruft er uns die Herkunft seines Namens ins Gedächtnis. Das Wort "Lärm" leitet sich etymologisch vom italienischen Ausruf "all'arma" ab, der so viel bedeutete wie: "Zu den Waffen!" Dieser Ruf war vor allem in den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Gebrauch, aber auch wir Heutigen werden durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie kehren? Uns bleibt gegen Lärm-Attacken nur eine hilflose Defensive: Plastik- oder Wachsstöpsel - mit begrenzter Wirksamkeit und den bekannten Nachteilen. Die Unmöglichkeit, auf eine im Grunde unerträgliche Situation mittels Angriff oder Flucht zu reagieren, wird zur Quelle von Stress, der auf Dauer krank machen kann. Zielgehemmte Aggressionen verwandeln sich in ein chiffriertes Ausdrucksgeschehen. Teilweise entspannen sie sich dabei und bleiben nach außen hin stumm, oder aber sie erzwingen einen Daueralarm vegetativer Leistungen. Wegen der blockierten Handlung kommt es zu einer Aggressionsbereitschaft im physiologischen Bereich, die sich nicht mehr zurückbildet und die Form diverser Krankheiten, zum Beispiel eines chronisch gesteigerten Blutdrucks, annehmen kann.

Angesichts eines Alltags aus Überfüllung, Lärm, Hektik und Nervosität stoßen unsere aggressiven Impulse ins Leere. Die Wut dreht sich im Kreis und wendet sich - je nach Temperament und Charakter - gegen Sündenböcke im Nahbereich (Frauen, Kinder, Haustiere) oder in Gestalt von Krankheiten gegen die eigene Person. Die ins Leere laufende Wut droht sich zum Hass zu verallgemeinern, der nach einem Ausbruch nicht mehr verraucht, sondern wächst und sich versteift, sich in uns einfrisst, unser Wesen verzehrt und schließlich zerstört. Überliefert sind als extreme Reaktionen auf lärminduzierten Stress sowohl Fälle von Selbsttötung als auch raptusartige Gewaltausbrüche, die sich gegen die Lärmquelle oder zufällig gewählte Opfer wenden und die wir "Amok" nennen. So hat im Oktober 2009 ein 55-jähriger Mann in der Nähe von Paris vier seiner Nachbarn erschossen, deren Neigung zum nächtlichen Feiern ihm offenbar schon länger auf die Nerven gegangen war. Anschließend tötete er sich selbst.

Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es oft noch lang, bis dann irgendein für sich genommen läppisches Ereignis die ganze gestaute Wut zur Explosion bringt. Michael Douglas hat in dem Film "Falling down" vorgeführt, wie am Ende ein Verkehrsstau, Hitze und eine Schmeißfliege zu Auslösern eines sich entgrenzenden Hasses werden können, der alles in den eigenen Untergang mit hineinziehen möchte. Vor einiger Zeit stieß ich in der Zeitung auf die Meldung, dass ein Rentner aus dem Elsass aus Zorn über nächtlichen Lärm in eine Gruppe Jugendlicher geschossen und dabei einen von ihnen getötet und einen anderen schwer verletzt hat.

Bedürfnis nach Stille

Der Durchschnitts-Lärmpegel in den Industrieländern ist seit Lessings Zeiten pro Jahr um rund ein Dezibel gestiegen. Hätten wir also nicht triftige Gründe, flächendeckend "Antilärmvereine" ins Leben zu rufen und angesichts der grassierenden Rücksichtslosigkeit Zeitschriften mit dem Titel Der Antirüpel zu gründen? Es stünde der Linken gut zu Gesicht, Begriffe wie Langsamkeit, Stille und Schweigen kritisch zu besetzen und für sich zu reklamieren.

Also: Weg mit diesen Fastfood-Lokalen und dem im Stehen und Gehen hinuntergeschlungenen Scheißfraß; weg mit den ganzen Fernsehprogrammen mit hohem Verblödungskoeffizienten; weg mit den lärmenden Quads und Soundgeneratoren, den Smartphones und Spielekonsolen; Schluss mit dem motorisierten Individualverkehr, der die Städte an den Rand des Kollapses gebracht hat; weg mit dem Coffee to go in diesen unsäglichen Bechern, von denen in Deutschland stündlich 320.000 verbraucht werden; weg mit den Laubbläsern und Hochgeschwindigkeitszügen und der ganzen sinnlosen Fliegerei von einem gesichtslosen Ort zum anderen. Schluss mit diesem grässlichen, krank machenden Lärm. Das Recht auf Stille wird eine entscheidende Qualität einer neuen Gesellschaft sein, die sich vom Fetisch Wachstum verabschiedet hat und ihren Zusammenhalt nicht auf Geld und Konsum gründet. Wir benötigen stattdessen Tugenden des Unterlassens, Prämien aufs Nichtstun, Kontemplation statt Produktion, Faulheit statt rastlosem Tun. "Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen", schrieb Adorno in seinem Buch Minima Moralia. Rund einhundertzwanzig Jahre früher lässt Büchner in Leonce und Lena den Valerio, einen Gefährten von Leonce, der eigentlich ein Vagabund und früher Anarchist ist, sein Programm in deftiger Sprache und ohne akademische Krawatte so formulieren: "Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht." Valerio setzt hinzu: "Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch straf bar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft für gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!"

Herbert Marcuse hielt den Lärm für die akustische Begleitung eines im Kern gewaltförmigen und destruktiven kapitalistischen Fortschritts, das Bedürfnis nach Ruhe für ein revolutionäres Ferment und Stille für eine wesentliche Qualität einer befreiten Gesellschaft. In einem 1968 geführten Gespräch "Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit" sagte er: "Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann."

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Im Kontinuum des Lärms
Beiträge zur Phänomenologie gegenwärtigen Lautseins

von Franz Schandl

Lärm dokumentiert die industrielle Bewaffnung der Gesellschaften, zeigt welche Schlachten der Alltag so schlägt. Wir sind befangen im Sound des Kapitals.


Wird es wirklich lauter oder werden wir bloß älter? Sind wir gar wehleidig? Vielleicht ist es ja ein Zeichen fortschreitender Mieselsüchtigkeit, solch ein Schwerpunktthema zu setzen. Auch für mich gab es Zeiten, da hat mich der Lärm wenig gestört, ja er wurde gesucht und gemacht. Lärm stand für Bewegung, für Aktion. Da war was los. Sich in Bewegung zu setzen, hieß alarmieren. Auff ällig war der Lärm und auffallen hieß lärmen. Lärm imponiert. Den Lärmenden sowieso, aber auch den Belärmten. Jede Demonstration war nötiger Lärm, und so demonstrierten wir als Megaphone der Kritik und Verstärker der Umwälzung unsere Anliegen. Gelegentlich tun wir es jetzt auch noch, aber zumeist wollen wir unsere Ruhe haben, kommt mir vor.

Was gestern noch beeindruckte, kann morgen schon verärgern: Lärmempfindungen sind nicht nur abhängig von Schalldruck, Tonhöhe, Toninhalt, Impulsgehalt. Lärm wirkt unterschiedlich auf Personen und in Situationen. Beim jeweiligen Subjekt geht es um Bereitschaft, Verfassung, Form, Alter, Umgebung, Kondition, Gesundheit, Gewohnheit, Gereiztheit, Begehrlichkeiten oder Unterwürfigkeiten. Lärm ist kein physikalischer Zustand, sondern erst psychische Prozesse lassen Geräusche zum Lärm werden. Die implizite Frage ist, ob das Laute inadäquat, ob es sekkant ist. Erst dann, wenn es so wirkt, ist von Lärm zu sprechen. Eine Messung in Dezibel hilft hier nur beschränkt weiter. Dass Lärm ist, ist offensichtlich, bloß ab wann etwas Lärm ist, ist um einiges schwieriger zu beantworten. Belästigung und Belastung sind ebenfalls nicht eins.

Maschinen und Automaten

Urformen des Hörbaren sind etwa der Atem, der Schritt, der Laut, der Wind, der Regen, das Gewitter, der Schrei der Tiere, später dann die Sprache der Menschen. Diese Geräusche sind sehr divers, während der heutige Lärm extensiv wie intensiv dimensioniert ist. Auch der Lärm ist zu historisieren, keineswegs an objektiven und gültigen Grenzwerten zu katalogisieren.

Die kapitalistische Gesellschaft ist viel entschiedener vom Lärm beeinflusst, ja kontaminiert als alle menschlichen Zusammenhänge zuvor. Erst in der Moderne ist es so richtig laut geworden. Das Leben der Subjekte ist vom Lärm geprägt. Er ist eine strukturelle Konstante. Lärm ist nicht mehr sporadisch, sondern beständig. Er ist eine chronischen Größe, die zwar Schwankungen kennt, aber eben nie ganz aussetzt. In keinem anderen sozialen Verhältnis spielte die Stringenz des Lärm eine solche Rolle. Der Kapitalismus setzt nicht nur seine eigenen akustischen Akzente, er hat vielmehr ein einzigartiges Kontinuum des Lärms geschaffen.

Die moderne Lautstärke ist Folge von Maschinisierung und Motorisierung, Resultat der Industrialisierung des Lebens. Maschinen und Motoren machen unnatürlichen und unerhörten Lärm. Straße und Fabrik sind Wirkung und Ursache zugleich. Die Fabrik ist als Hölle des Lärms entstanden. In ihren ungezügelten Kindheitstagen gab es da keine Rücksichtnahme. Ganze Generationen wurden den frühen Exzessen der Industrie geopfert. Im Kapital heißt es dazu: "Wir deuten nur hin auf die materiellen Bedingungen, unter denen die Fabrikarbeit verrichtet wird. Alle Sinnesorgane werden gleichmäßig verletzt durch die künstlich gesteigerte Temperatur, die mit Abfällen des Rohmaterials geschwängerte Atmosphäre, den betäubenden Lärm usw., abgesehn von der Lebensgefahr unter dicht gehäufter Maschinerie, die mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten ihre industriellen Schlachtbulletins produziert." (MEW 23, S. 448 f.)

Industrielle Laute generieren Lautstärken, die wir so früher nicht gekannt haben. Maschinen aller Art bevölkern den Planeten. Selten sind sie zurückhaltend, meist sind sie aufdringlich in ihrem Blasen, Brummen, Burren, Surren, Summen, Schneiden, Schlagen, Sprengen, Fräsen, Sägen, Hämmern, Plärren, Klappern, Sausen, Saugen, Dröhnen, Quietschen. Der Lärm weidet im Dasein. Erst im Kapitalismus geht der Lärm in Serie. Kein Rajon, den er nicht okkupieren will.

Der den Maschinen inhärente Lärm wird als unliebsames Nebenprodukt, als Kollateralschaden bagatellisiert, dezidiert nicht als zentrale Destruktivkraft gesehen. Sein Rhythmus ist jedoch der Rhythmus der Industrie und all ihrer Erledigungen: Produktion, Transport, Konsum, Deponierung. Die Musikalität des Raums verliert sich in den Hallen der Fabriken, in der seriellen Monotonie der Automaten. Man könnte auch sagen: Maschinen und Fahrzeuge lärmen nicht, sie sind einfach laut. Die Geräusche, die sie machen, entspringen keinem Verhalten, sondern einem Programm. Hier liegt auch der tendenzielle Unterschied zum Krach, den jemand absichtlich erzeugt, um Aufmerksamkeit zu erregen oder zu provozieren.

Schneller als lauter

Lapidar heißt es etwa gleich im ersten Satz einer Studie der Arbeiterkammer: "In den letzten Jahren hat der Verkehr sowohl auf Straße und Schiene als auch in der Luft sehr stark zugenommen. Aufgrund der erhöhten Mobilität hat sich auch die Lärmbelästigung der österreichischen Bevölkerung stark gesteigert." (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in Österreich. Informationen zur Umweltpolitik 135, Wien 1999, S. 1) Fortschritt wird an Mobilität gemessen. Dynamik ist allgegenwärtig, Statik war gestern. Man kann gar nicht abbrechen, ja nicht einmal mehr unterbrechen. Mobilisierung ist des Staatsbürgers Pflicht. Nicht nur schnell hat es zu gehen, es hat immer schneller zu werden. Wir leben im Zeitalter der immerwährenden Beschleunigung. Es herrscht der Komparativ.

Noch nie wurde so viel transportiert wie heute. Stets wird gefahren und geflogen. Stets müssen sie anderswo sein, als sie sind. Der Verkehr wird bestimmt von der unablässigen wie zunehmenden Ortsveränderung von Menschen und Tieren, Pflanzen und Produkten. Als Waren sind sie allesamt unruhige Geschöpfe, Gejagte und Getriebene. Der Himmel der Fahr- und Flugzeuge offenbart sich als Universum des Lärms. Wir werden zugedröhnt, aber wir nehmen es hin. Der Lärm ist der Hall des Kapitals, sein unverdauter Rülpser.

Geschwindigkeit und Lautstärke korrespondieren. Je schneller, desto lauter! Lautstärke entsteht dabei oft gar nicht direkt aus den Geräten, sie ist vielmehr der Reibung von Dingen, die als gegenständliche Resultate eigentlich keinen Lärm machen (Asphalt, Reifen), durch das Tempo geschuldet. Ein Experte schreibt: "Wichtigste Lärmquelle bei Geschwindigkeiten ab 50 Stundenkilometern sind Reifen-Fahrbahn-Geräusche sowie aerodynamische Geräusche. Die dadurch erzeugte Schallintensität steigt mit der dritten mitunter sogar vierten Potenz der Geschwindigkeit an. Konkret bedeutet dies bei Tempo 140 eine Zunahme der Schallintensität um 25 bis 35 Prozent gegenüber Tempo 130." (Christoph E. Mandl, "Lernen S' ein bisschen Physik, Herr Minister!", Der Standard, 16. Februar 2019, S. 43)

Lärm ist ein gesellschaftliches Manko, ohne allerdings als solches reflektiert zu werden: "Lärm ist im Bewusstsein der Bevölkerung kein Umweltproblem, sondern ein persönliches Problem. Man kann Lärmprobleme und die Notwendigkeit von Lärmschutz offensichtlich nicht so abstrahieren wie Luftverschmutzung oder die Ozonproblematik, sondern es ist ein persönlicher Anlassfall und die eigene Erfahrung mit Lärm erforderlich, wenn man sich mit Lärm auseinandersetzt. Diese Zusammenhänge dürften auch erklären, warum der Lärmschutz trotz der vielfachen Betroffenheit oft stiefmütterlich behandelt wird." (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in Österreich, S. 4)

Von der Fabrik in den Alltag

Fabrik bedeutete lokale Bündelung des Lärms. Die Industrie hat die Fabriken längst verlassen, sie ist überall. In der Zwischenzeit ist der Lärm viel dekonzentrierter, was überdies meint, dass er dichter geworden ist. Nicht nur in den Großstädten. Vorrangiges Alltagsproblem ist heute der Verkehrslärm, Spitzenreiter sind dabei die Kraftfahrzeuge. Der Fabriklärm hat (nicht bloß aufgrund von Arbeitsschutzmaßnahmen) seinen Zenit bereits überschritten.

Die Unwirtlichkeit der Städte ist vielfach Konsequenz pausenlosen Lärms. Ständig herrscht Traffic. Jedes Event ein Bahö, ein Spektakel. Doch wo die Sirenen stets heulen, wird man den Lärm gar nicht mehr als solchen registrieren. An den standardisierten Lärmquellen (vor allem des Individualverkehrs) sind wir alle gewohnt, wir dulden sie. Kontinuierlicher Lärm wirkt diskret, erst seine Diskontinuitäten wirken indiskret. Aufregen tun wir uns in erster Linie, wenn der Lärm das obligate Level übersteigt oder überhaupt nicht obligat ist, z.B. beim Baulärm. Baulärm stresst, er vermindert nicht nur die Wohn- und Lebensqualität, er macht Betroffene nervös und fahrig. Man wird ein anderer, noch dazu einer, der man nie sein wollte. Einmal mehr beweist sich unsere ganze Hilflosigkeit, da wir in den seltensten Fällen fliehen können. Autoaggressivität nimmt zu.

Dort, wo der Lärm unvergänglich und unumgänglich erscheint, ist der Widerstand oft auch schon erlahmt. Erfolge diverser Anti-Lärm-Initiativen halten sich in Grenzen. Gerät man bei akutem Krach schnell in Erregung, erfährt das chronische Gedröhn kaum noch eine Aversion, eher Resignation und Apathie. Bei Maschinen haben wir den Widerstand aufgegeben, es herrscht Fatalismus. Gegenüber Menschen halten wir Interventionen für zweckmäßig. Wir leben jedenfalls in Zeiten, wo Autos weniger nerven als kreischende Kinder. Es ist bezeichnend, wie eine Gesellschaft sich den Diktaten der Automaten und Maschinen fügt. Auch die Beschallung des öffentlichen Raums boomt. In den Supermärkten spielen sie John Lennons "Imagine!", möglicherweise noch in der völligen Missinterpretation von Madonna. Aber vielleicht passt es dann auch wieder.

Nicht nur gilt: Wir können mehr erkennen als wir spüren, ebenso gilt: Wir spüren mehr als wir erkennen. Für die bürgerlichen Subjekte unserer Zeit heißt das: Lärm ist vielfach etwas, das wir haben, ohne dass es uns mehr als Besonderheit auffällt. Nicht alles, was wirkt, erscheint. Während ich hier schreibe, laufen im Hintergrund sowohl die Waschmaschine als auch der Geschirrspüler. Mir fiele das unmittelbar gar nicht mehr auf, aber da ich gerade einen Beitrag zu besagtem Thema verfasse, entgehen mir diesmal die Geräusche nicht. Aber was heißt entgehen? Sie entgehen mir auch sonst nicht, bloß nehme ich sie nicht mehr als gesondert wahr. Sie gehören einfach dazu. Man müsste die Leute auf Zeitreisen schicken, um eklatante Diskrepanzen sinnlich zu erfahren. Raumreisen sind dagegen nur ein schwacher Trost, bedenkt man noch dazu den Lärmaufwand, der alleine schon für den Transport betrieben werden muss.

Nichtintendierte Folgen

Keine Entwicklung ohne Folgen auf die Lautstärke. Hoch die Beschallung der Welt. Konsequenzen jenseits der Absicht häufen sich. Der Einbau von Klimaanlagen wird zunehmend zu einem nichtintendierten Knalleffekt der Klimaerwärmung. Der Klimawandel erhöht nicht nur die Temperatur, er steigert auch Produktion und Installation von Klimageräten. Weil die Hitze nicht aufgehalten werden kann, muss es eben auch lauter werden. Niederschwelliges Surren will und will sodann nicht auf hören. Um null Uhr schalten sich die Dinger ein und um drei Uhr schalten sie sich ab. Nach geltenden Gesetzen kein Problem. Es gleicht einem externen Tinnitus. Oft nervender als jeder Krach. Gleichförmig, eintönig, unüberhörbar. Wie will man dem im Bett liegend, entfliehen? Das ist kein Meeresrauschen. Nachtruhe ist auch nicht mehr das, was sie einmal versprochen und gehalten hat. Lärm, so lehrt das Beispiel, muss nicht unbedingt laut sein. Lärmdiagnosen sind sowieso situativ, keineswegs an Dezibel gebunden.

Es wäre interessant zu wissen, wie laut es bei der Lärmsanierung zugeht, ob die Aufwände die Ergebnisse nicht übersteigen. Insbesondere werden keine Ursachen beseitigt, sondern Wirkungen minimiert. Vor allem jedoch tun sich sofort wieder Geschäftszweige auf. Probleme sind dazu da, monetarisiert zu werden. Weder Straßen noch Autos werden weniger, dafür boomen Flüsterbeläge und Schutzwände, Lärmfilter und Endschalldämpfer. Der technischen Innovation sind keine Grenzen gesetzt. Wir reagieren auf Missstände und nicht auf Zustände. Es stören die Exzesse des Lärms, kaum jedoch die lautstarke Konstitution. Die haben wir hingenommen, so als könnten wir dagegen nichts unternehmen.

Jede sinnlich-stoffliche Rechnung müsste z.B. den Lärmaufwand berücksichtigen, der nötig ist, Schallschutzwände zu produzieren, an die entsprechenden Standorte zu transportieren und dort zu installieren. Nicht nur sagen, um wie viel es an der besagten Autobahnstrecke leiser wird sondern auch um wie viel es deswegen lauter werden musste. Kurzum: Lärmschutz erzeugt Lärm. Wir steigen aus der Spirale nicht aus, sondern drehen weiter an ihr. Und irgendwann, vergessen wir auch das nicht, müssen diese Wände erneuert oder abgerissen werden. Presslufthämmer und Sprenggeräte lassen wiederum grüßen. Probleme werden multipliziert. Wohlgemerkt, wir sprechen hier dezidiert nicht von den Kosten, sondern benennen Folgen. Solche Bilanzen sind uns freilich fremd. Unserer Beeinträchtigungen sind nichts gegenüber den Geschäften, die mit alledem gemacht werden können.

Von wegen Lärmschutz: Eines der wenigen Vorteile, die Elektroautos hätten, wäre die geringere Lautstärke gegenüber Verbrennungsmotoren bei niedriger Geschwindigkeit. Doch gerade dieser Umstand führt dazu, dass besagte Fahrzeuge nicht mehr gehört, d.h. als potenzielle Gefahrenquelle im Verkehr unzureichend wahrgenommen werden. Was folgt daraus? Nun, man fragt sich nicht, wie man Automobile insgesamt langsamer und leiser dimensionieren könnte, man fragt sich, wie man Elektroautos lauter und schneller macht. Denn der Lärm ist auch notwendig, um Risken des Individualverkehrs zu minimieren. Dass solche Argumente einfach akzeptiert werden, lässt auf die Verrücktheit der automatisierten Spezies schließen.

Lärm flutet sogar Räume, denen er eigentlich entzogen ist. Wenn es mich frühmorgens zum Laufen treibt, dann suche ich in erster Linie die Bewegung, in zweiter Hinsicht auch Ruhe. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Beim Joggen im Schönbrunner Schlosspark begegnen einem Lieferwägen, Laubbläser, Motorsägen, Rasenmäher, Zwergtraktoren im Zweitaktermodus. Gelegentlich ist es drinnen lauter als draußen. Meistens geht es noch gut, ab und zu wird es ungut.

Laut und Leise

In der unmittelbaren Konfrontation hat Leise gegen Laut keine Chance. Das ist übrigens nicht bei allen Gegensätzen so. Prallen Hell und Dunkel aufeinander, so bleibt entweder der Kontrast vorhanden oder, kommt es zur Vermischung, finden sich beide Momente in der Mixtur wieder. Ähnliches gilt für Heiß und Kalt. Mischt man Flüssigkeiten unterschiedlicher Temperatur, gleichen sich Wärme und Kälte an.

Mischt man Lautstärken, wird es nicht leiser. Stille hat gegen Lärm das Nachsehen. Stets. Lärm ist eine repressive Größe. Geräusche, die unter einem gewissen Level anzusiedeln sind, verschwinden, sind unhörbar, obwohl vorhanden. Da nur noch das Lauteste registriert wird, wird alles andere, obwohl existent, verdrängt. Das Ungehörte erscheint somit als unwirklich. Leises erstirbt regelmäßig im Lauten, der Lärm in der Stille hingegen nie. Diese Antipoden heben sich nicht auf. Laut verweist Leise in die Sphäre des Nicht-Wahrgenommenen.

Lärm überdeckt vieles, nicht bloß Geräusche mit niedrigerem Pegel, er beeinträchtigt auch andere sinnliche Reize. Der Lärm bricht des Lebens Vielfalt, er reduziert unsere Rezeption. Lärm tangiert nicht nur die Lautstärke. Er verändert die gesamte Umgebung. Lärm verträgt sich schlecht, spielt sich sofort in den Vordergrund. Es schmeckt alles anders, wenn es zu laut wird.

Die permanenten Geräusche (Straße, Stadt, Fabrik, Lokale ...) verdrängen alles, was unter ihrer Frequenz liegt. Wenn allerdings etwas andauernd lästig ist, wird es nicht mehr als lästig empfunden, sondern als gegeben, also normal hingenommen. Penetranz geht in Kontinuität unter. Wir haben uns an den Lärm gewöhnt. Wir sind ihn gewohnt, er ist fast immer zugegen, und meist wirkt nur noch Außergewöhnliches unerträglich. Je ruhiger es wird, desto mehr können wir hören, vor allem nuanciert hören. Und zwar weil der gesättigte Lärmpegel gefallen ist.

Puncto Lärm sind wir nicht Hörer, wir sind Hörige. Der Bedrängnis ist nicht zu entgehen. Bei all dem Lärm nicht Schaden zu nehmen, ist kaum möglich. Auch physisch. Augen kann man schließen, Ohren dagegen nicht. Hier hat die Natur keine Klapp- und Schutzvorrichtung vorgesehen. Auslieferung erfolgt pur. Eine ganz schräge Möglichkeit äußere Geräusche zu negieren, ist es, Fremdlärm durch Eigenlärm zu ersetzen. Man stülpt sich Kopf hörer über die Ohren und begegnet der Welt fortan autistisch. Außenbeschallung wird substituiert, indem wir sie übertönen. Je lauter man hört, desto schwerhöriger man wird. "Aus heutiger Perspektive wird deshalb rund jeder dritte Jugendliche im Alter von 50 Jahren ein Hörgerät brauchen", konstatierte eine Expertin am "Tag gegen den Lärm" am 24. April.

Ruhe und Stille

Es ist schon ein Unterschied zwischen: "Sei ruhig!" und "Gib Ruhe!". Das Wort "ruhig" ist primär ein Adjektiv der Lautstärke. "Ruhe" andererseits ist ein Substantiv, das wesentlich mehr umfasst als die erwähnte Dimension. Auch ist zwischen "der Ruhe" und "dem Ruhigen" zu differenzieren. Ruhe ist leise, sie ist nicht lautlos, aber lärmarm. Sie kredenzt Absichtslosigkeit, sie muss nicht liefern, transportieren, produzieren, kommunizieren. Sie genügt sich selbst, sie ist genügsam. Ruhe schreit nicht.

Ruhe ist nicht gleich Stille. Ruhe ist vielmehr gesättigt und geladen mit leisen Tönen: dem Rauschen des Windes, dem Rascheln der Blätter, dem Gezwitscher der Vögel, vielleicht auch noch mit dem Surren der Motoren, wenn sie nur weit genug weg sind. In der Ruhe herrscht der Ton, nicht die Tonlosigkeit. Wer den Übergang von Ruhe zur Stille lauschen will, der höre Gustav Mahlers letzten Satz aus seiner Neunten Symphonie, vor allem den Schluss des Adagio. Im Gegensatz zur Stille ist Ruhe nicht gespenstisch, sondern ruhig und damit auch beruhigend. Sie liegt auf uns, ohne auf uns zu lasten. Ruhe offeriert die Gemächlichkeit einer lebendigen aber moderaten Bewegung. Sie formiert sich ohne Aufdringlichkeit und Drangsalierung. Gleitet. Besänftigt. Ist mild.

Doch auch Ruhe kann es in sich haben. Denken wir an den tückischen Frieden des Waldes, dieses wohltemperierte Rauschen, das uns angenehm berührt, unser Gemüt streichelt. Aber gerade des Waldes Klang ist, sind wir ehrlich, durchdrungen vom Töten und Getötet-Werden. Das Knistern und Knacken ist nicht so anheimelnd, wie wir uns einbilden. Was uns wohlig erscheint, kostet immerfort Leben, da west das Sterben. In dieser Behaglichkeit haust der Tod und damit ist nicht der Jäger gemeint. Lebensläufe bedeuten dort insbesondere ein Laufen um das Leben, ein Nachlaufen und ein Davonlaufen. Während wir uns erholen, werden andere ein letztes Mal abgeholt. Mit Begriffen der Sozietät ist das schwer zu fassen. Das aber nur nebenbei, damit nicht der unselige Verdacht entsteht, hier wird eine heile Natur gegen eine böse Kultur verteidigt.

Leidensschlüsse

Gehört das Geräusch zu den Räuschen? Kategorial nicht unbedingt, trotzdem sollten wir nicht vorschnell Nein sagen. Ein fulminantes Konzert ist zweifellos ein sinnlicher Rausch. Lautstärke fungiert hier als Aufputschmittel. Ohne einer bestimmte Anzahl von Dezibel würde das nicht gelingen. Man denke an diverse Rockevents. Indes, Räusche sind nicht gleich Räusche. Handygeräusche sind auch irgendwie Räusche, Räusche, die via Klingelzeichen Zustimmung erheischen. Wir sind nicht nur anrufbar, wir sind abrufbar geworden. Es gleicht einem unsinnlichen Dauerrausch. Andauernd bimmelt es. Kaum werde ich angecallt oder angesmst, habe ich zu reagieren. Nebenbei bemerkt zwingen Mobiltelefone zum ständigen Mithören von Gesprächsfetzen. Es ist so, als würde man en passant angerotzt.

Ist pulsierendes Leben ohne lautes Dasein zu haben? Sicher nicht, aber daraus ist nicht zu schließen, dass die beiden gleichzusetzen wären. Das Leben ist kein Spektakel, auch wenn es einem so präsentiert wird. Es ist zweifellos ein Unterschied, ob das Laute einen Einschnitt im Alltag darstellt oder ob es selbst das Kontinuum ausmacht. Lärm hat als positive Facette des Lebens durchaus seine Meriten, aber eben bloß als expliziter Aspekt, nicht als implizites Hintergrundrauschen gegen das es keine Mittel mehr gibt. Solch Ohnmacht ist nicht zu akzeptieren, sondern zu denunzieren.

Nicht jeder Lärm ist eine Lärmbelästigung. Auch laut mag es gelegentlich zugehen, aber wann und wo und zu welchem Anlass, das sollten wir selbst entscheiden und nicht die Geschäfte, die damit gemacht werden. Insbesondere Schweigen und Nichtstun sind zu kultivieren. Anstatt uns gegenseitig in Mitleidenschaft zu ziehen, sollten wir zur Leidenschaft anstiften.

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2000 Zeichen abwärts

Dialektik der Motorsäge

Kaum ein Gerät, das solch einen Höllenlärm erzeugt. Motorsägen minimieren die Anstrengung und maximieren deren Ertrag. So zumindest die gemeine Sicht des Fortschritts. Es ist auch nicht schlicht von der Hand zu weisen. Wollen wir Bäume fällen wie früher? War die Arbeit der Holzknechte im Forst denn wirklich eine Idylle, war sie nicht vielmehr eine Schufterei sondergleichen? Tja.

Tatsächlich ist die Holzarbeit von einer der ruhigsten zu einer der lautesten geworden. Nichts stört die Ruhe des Waldes so wie die Motorsäge. Der oft besungene Frieden des Waldes wird damit konterkariert, ja völlig auf den Kopf gestellt. Auf jeden Fall gilt nicht mehr, was man mir in jungen Jahren sagte: "Franzi, im Wald ist man leise." Derlei merkt man sich. Eine Nervensäge war ich wohl, eine Motorsäge nie.

Im Lärmkegel einiger Kettensägen ist es zweifellos lauter als auf einer stark befahrenen Autobahn. In unseren Wäldern herrscht gegenwärtig ein Triumvirat aus Klimaerwärmung, Borkenkäfer und Motorsäge. Wir leben in der Ära der Eliminierung der Fichten. Es heulen die Sägen und erledigen ihren Teil.

Stören sie wirklich? Haben wir uns nicht inzwischen auch daran gewöhnt wie an so vieles? Haben die Sägen nicht längst unseren Segen? Wahrscheinlich. Und ist nicht gerade der Lärm auch Schutz, eine profane Warnung, die Nähe des Schlags zu meiden? Mit der Motorsäge kann man sich verletzen, auch schwer, doch fällt einem ein Baum auf Kopf oder Rücken, dann spielt es das Horvath'sche Lied vom Tod.

F.S.

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Wider die akustische Hörigkeit

Oder: Die Dauerlärmwurst als Nahrung & Exkrement permanenter Vermarktung & Vernutzung

von Maria Wölflingseder

Höchst verblüffend, von wie wenigen Menschen die "akustische Leine", an der wir hängen, heute überhaupt noch wahrgenommen wird. Oder wahrgenommen werden möchte. Günther Anders hat sie bereits in den 1950er Jahren in der "Antiquiertheit des Menschen I und II" ausführlich beschrieben. Wir werden nicht nur gezwungen, "in einer von Tag zu Tag lauter lärmenden Welt zu leben". Sondern dieser "Schürzenbandzustand", der Anders genauso peinigte wie mich, führt auch zu einer "akustischen Freiheitsberaubung". Wir müssen nicht nur hören, sondern dieses Müssen gilt sogleich als Sollen. Das heißt, "dass der Lärm nicht nur ein Ärgernis ist, sondern eine Funktion hat, eine Aufgabe; und zwar die, das Seinige zu leisten in dem Prozess unserer Deprivatisierung, dass er eines der Hauptinstrumente des Konformismus darstellt". Für Anders war "das Erschreckendste an dieser 'Konformismus' genannten Variante des Totalitarismus", dass sie "ohne Terror vor sich geht".

Günther Anders ist 1992 neunzigjährig gestorben. Ein Jahrzehnt vorm Handy-Zeitalter. Seine "philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie" hat die heutigen Verhältnisse präzise vorweggenommen. Er hat zwar gehofft, seine Voraussagen würden sich nicht bewahrheiten, jedoch haben sie sich auf noch drastischere Weise erfüllt. Aus der "akustischen Leine" Radio, Juke Box und Fernsehen ist via Handy, Internet und Kopf hörer geradezu ein akustischer Käfig geworden. Unter "Zeitalter der Technokratie" versteht er den Umstand, dass Technik nun zum Subjekt der Geschichte geworden ist, mit der wir nur noch "mitgeschichtlich" sind.

Noch verblüffender: Wie aus regelmäßigen Umfragen hervorgeht, fühlt sich ein Großteil der Menschen durch Lärm gestört. Lärm, der nicht nur Schwerhörigkeit und Tinnitus verursachen kann, sondern vielfach zu Stress führt, der wiederum die Konzentration, den Schlaf, das Wohlbefinden stört und zu Bluthochdruck, Herzinfarkt u.v.a. führen kann. Aber dennoch ist Lärm kein großes Thema. Es gibt wenig Literatur dazu und in die Medien schaffen es Umweltmediziner und Psychologinnen, die auf die damit verbundenen Gesundheitsgefahren hinweisen, höchst selten. Sonderbar, auf welche Themen sich die Gesundheitsbehörden und ihre Fürsprecher, die Medien, hingegen eingeschossen haben. Beiträge über die - recht fragwürdige - aber als unumstößlich propagierte Ernährungspyramide sind zahllos. Und dass Rauchen in allen öffentlichen Räumen verboten werden muss, ist auch nirgends zu überhören. Aber über Lärm als weitreichender Krankheitsverursacher herrscht Schweigen. Freilich, es gibt Lärmschutzgesetze, aber diese bewirken ebenso wenig wie Sozialgesetze gegen Armut. Sie dienen letztlich der Legalisierung des Lärms.

Höchst befremdlich, dass die Bevölkerung staatlicherseits stets zu gesundem Lebensstil motiviert wird, gleichzeitig aber viele unbeeinflussbare Lebensbedingungen immer ungesünder werden. Warum wird gesundheitliche Verantwortung stets individualisiert und gleichzeitig gesundheitliche Gefährdung generalisiert? Warum wird jeder kleinste Kratzer im Lack der Blechkiste anderer rechtlich verfolgt, aber massenhafte Gesundheitsgefährdung durch Zwangsbeschallung nicht einmal problematisiert? Ist die "akustische Unterwerfung", die Günther Anders beschreibt, unausweichlich? Warum haben die Lauten recht und warum sind die Beschallten ohnmächtig?

Hören - "Dimension der Unfreiheit"

"Als Hörende sind wir unfrei", stellt Günther Anders fest. Fortzuhören ist weit schwieriger als wegzusehen. Phänomenologisch gesprochen, gründet diese Schwierigkeit darin, "dass im Unterschied zur sichtbaren Welt, die hörbare ungefragt, indiskret, aufdringlich, ohne unserer ausdrücklichen intentionalen Zuwendung zu bedürfen, in uns eindringen und uns, ob wir wollen oder nicht, zur Teilnahme zwingen kann". Da der Schall stets von anderswo kommt als von dort, wo der Hörende sich auf hält und ihn hört, zwingt er ihn, immer an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Hier, wo der Hörende sich befindet und dort, wo der Ton entsteht. So wird "die Dimension des Akustischen" zur "Dimension der Unfreiheit" und eignet sich hervorragend als "Unterwerfungsgerät".

Erstaunlich, was Günther Anders im Kapitel "Die Antiquiertheit der Privatheit" bereits 1958 erkannt hat. Es tritt heute im Handy- und Online-Zeitalter noch erheblich stärker zu Tage. "In demjenigen Augenblick, in dem ein Individuum dazu verurteilt ist, in einer Welt zu leben, in der es, weil ihm kein stiller Platz übrigbleibt, hören muss, bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als dieser Welt zuzugehören, ihr gehorsam oder gar hörig zu werden. Wenn es dem Menschen versagt wird, seiner akustischen Erreichbarkeit und Greif barkeit zu entrinnen, dann ist es ihm bald auch versagt, d.h.: dann ist er bald auch außerstande, Erreichbarkeit und Greif barkeit überhaupt zu entrinnen. Erreichbarkeit und Greifbarkeit werden dann zu seiner zweiten Natur. Und am Ende wird er dann diese Versklavung sogar kultivieren, sodass er sich, wenn er zufälligerweise einmal nicht greif bar ist, verloren fühlen wird."

Hier schließt sich übrigens der Kreis zum ersten Antilärm-Verein in Deutschland, den Theodor Lessing 1908 gegründet hat (siehe Götz Eisenberg "Vom Recht auf Stille" in diesem Heft). Günther Anders hat den Text dieses Kapitels nämlich erstmals unter dem Titel "Akustische Nacktheit" im Oktober 1958 auf Einladung der Lessing-Gesellschaft in Hannover der Öffentlichkeit präsentiert.

Die Dosis macht den Lärm

In meine Klangwelt haben sich erst um die Jahrtausendwende die ersten bedrohlichen Geräuschkulissen geschoben. In den Jahrzehnten davor wurde kein Greissler beschallt, kein Bekleidungsshop wurde zugedröhnt, Gedudel gab's weder am Postamt noch in der Apotheke, keine Sphärenklänge in der Sauna und auch nicht auf den Toiletten. Schuld an meiner plötzlichen Hellhörigkeit war nicht gelegentliches Feiern von Nachbarn, nicht das Viola-Üben in der Wohnung über mir, nicht das Sirenen-Heulen von Einsatzfahrzeugen, auch nicht der Verkehrslärm - obwohl sich dieser in Wien vervielfacht hat, nachdem der Eiserne Vorhang vor den Toren Wiens gelüftet wurde. (Trotzdem ist es aus vielerlei Gründen unumgänglich, LKWs und Autos drastisch zu reduzieren! Erstmals gibt es in Österreich über fünf Millionen Autos bei knapp neun Millionen Einwohnern; vor 50 Jahren waren es eine Million Autos.)

Schuld an meinem Tinnitus und meinem chronisch erhöhten Stresspegel sind nie dagewesene Geräusche. Also ihre Qualität und die kontinuierliche Steigerung ihrer Quantität. Dem Prinzip des Immer-Höher-Schneller-Weiter der kapitalistischen Verwertung fehlt auch das "Immer-Lauter" nicht. Es ist die Begleitmusik der steten Steigerung des Zwangs zur Inwertsetzung bzw. der Vernutzung all der Must-haves. Das verursacht immer mehr Dauerlärm. Aber das vegetative Nervensystem des Menschen ist dafür nicht geschaffen. Lärm - eine völlig unterschätzte Variante von Umwelt- und Gesundheitsbelastung!

Meine Wohnung, in der ich auch arbeite, liegt zwar in einer relativ ruhigen Gasse, aber genau in der Einflugschneise zum Flughafen, die 1999 durch Wien geschlagen wurde. Vorbei war's mit der Geruhsamkeit. Im Ein- bis Drei-Minutentakt donnern die Maschinen über meinen Kopf hinweg. Die zahlreichen Bürgerinitiativen, die dagegen zehn Jahre lang unermüdlich tätig waren, haben, wie wohl alle Antilärm-Initiativen, kaum etwas erreicht. Ergebnis nach 20 Jahren: mehr Flüge denn je und kontinuierliche Ausweitung der Flugzeiten. Und da es immer öfter Wind aus der östlichen Hälfte gibt (wenn dieser weht, wird über die Stadt geflogen), konnten auch die vereinbarten maximal 11,5 Prozent aller Landungen, nicht eingehalten werden, bedauert die Austro Control. Zuletzt waren es 16 Prozent. Aber was kümmern die Lärmgeplagten Prozentzahlen. Mit der dritten Piste, die nach zahlreichen Verhinderungsversuchen nun bald gebaut wird, werden die absoluten Zahlen weiter steigen. Es gibt in Wien zwar sogenannte Ruhezonen, in denen der Lärm nicht über 50 Dezibel betragen darf, aber Flugzeuglärm ist davon ausgeschlossen.

Apropos Dezibel: Schall kann gemessen werden, Lärm jedoch nicht. Auch leise und tieffrequente Geräusche stören, etwa von haustechnischen Anlagen wie Heizungen, Kühlungen, Lüftungen, Pumpen. Und Geräusche, die in unregelmäßigen Abständen kurz aufflammen, schrecken auf: Handys, Gekrache und Gewummer aus digitalen Geräten oder Musikanlagen in Autos. Zudem ist die Dezibel-Skala keine lineare, sondern eine logarithmische. Das heißt, zehn Dezibel mehr bedeutet eine Verzehnfachung der Schallenergie. Dezibelbeschränkungen beziehen sich außerdem auf einen Durchschnittswert pro bestimmter Zeiteinheit. Das heißt, es kann in dieser Zeit mehrmals wesentlich lauter sein.

Ich wurde in den letzten 20 Jahren aber nicht nur von einer dreiviertel Million tieffliegender Flugzeuge beschallt, sondern in den letzten zwölf (!) Jahren fast durchgängig auch von Baulärm im und vorm Haus. Darunter viele Jahre von wahrem Höllenbaulärm. Sechs Tage die Woche von früh bis spät. Eine Ein- bis Zweijahres-Baustelle löste die nächste ab. Kaum waren die Kräne abgebaut und die Betonsockel, auf denen sie gestanden haben, mit Riesenpressluftbohrern eine Woche lang zerbröselt worden, wurde schon die nächste Abrissbirne gepflanzt. Schallschutzfenster hat meine Wohnung keine.

Als Lärm noch Musik in meinen Ohren war

Das waren Zeiten, als Lärm - weil wohldosiert - noch Musik in meinen Ohren war! Wenn ich mich an jenen Ort erinnere, an dem ich meine Kindheit in den 1960er Jahren verbracht habe, rauscht da nicht nur der Sommerwind durch das Kornfeld, zirpen da nicht nur die Grillen, sondern genauso wohltuend klingt die Tischkreissäge von einem der verstreuten Thalgau-Egger Bauernhöfe und das gelegentliche Brummen eines kleinen Propellerflugzeugs über dem Fuschlsee. Seltene Geräusche unterstreichen die Ruhe geradezu!

Erhart Kästner schreibt mit Bezug auf Paul Carus in "Aufstand der Dinge - Byzantinische Aufzeichnungen", dass Stille nicht Stillstand bedeuten muss. "Mit Stille kann ja nicht die Totenstille gemeint sein; es ist Stille in Spannung. Bach-Rauschen ist, was die Stille erst hörbar macht, wie die Zikaden die Mittag-Stille im Süden."

Immer öfter beschweren sich Touristen in der Provence über die Zikaden und verlangen, diese mit Insektiziden zu vernichten. Könnte es sein, dass sie eigentlich die Ruhe nicht aushalten? Und das gemächliche Tuckern des Motors der kleinen Fischerboote im Mittelmeer macht Männer wohl auch so nervös, dass sie es mit Jet-Ski-Motormonstern namens "Tsunami" oder "Master of Desaster" übertönen müssen.

Gleichzeitig mit dem Fluglärm in meiner Wohnung begann um die Jahrtausendwende auch die digitale Aufrüstung jedes Staatsbürgers mit Handys und anderen digitalen Geräten. Seit dem ist der Äther erfüllt von ständigem Gepiepse, von Klingeltönen aller Art und Lautstärke. Und von bis dahin im wahrsten Sinn des Wortes unsäglichem Dauergelaber. In Konzerten vergeht mir mittlerweile Hören und Sehen und jeglicher Genuss, weil trotz Verbots mein Blick- und Hörfeld voll klickender Fotoapparate und leuchtender Screens ist, auf denen herumgefummelt wird.

Von Traumhaftem zum Alptraum

Massenhafter Flugverkehr über bewohntem Gebiet, die Handynutzung in der Öffentlichkeit, die Beschallung nahezu aller Verkaufsräume und vor allem die neueste Errungenschaft an Lärmbewaffnung, das ultimative Must-have Bluetooth-Box haben die Geräuschkulisse im öffentlichen Raum so stark verändert wie seit der Industrialisierung bzw. der Automobilisierung in den Nachkriegsjahrzehnten nicht. Ganz zu schweigen von der Epidemie Ballermann an den einst geruhsamen Gestaden des Mittelmeers. Heute terrorisiert hier der grölende und dröhnende Party-Vollrausch-Sound die Einheimischen und die Ruhesuchenden. Jeden Tag, jede Nacht während der ganzen Saison.

Seit auch meine jahrzehntelangen Refugien zugedröhnt werden, wird es ganz und gar unerträglich. Am und im Wasser, wo ich mich am besten erholen kann - an der Unteren Alten Donau genauso wie in einer ganz besonderen, abgelegenen mediterranen Felsenbucht - herrschen nie dagewesene Disko-Klänge, die die fahrenden oder ankernden Boote absondern. Es braucht nicht mehr als einen entsprechenden Schall - heute überall digital verfügbar -, um die zauberhaftesten Plätze zu ruinieren! - Nie mehr Siesta? Nie mehr friedvolle Buchten? Traditionelle Zeiten und Orte der Ruhe, die es in jedem Kulturkreis gab, fallen immer mehr dem Verwertungszwang zum Opfer. Das Geschäftige und Laute dehnt sich zeitlich und räumlich immer mehr aus. Alles Leise und Zarte wurde längst unter den ekeligen Klangteppich gekehrt. Und je mehr wir zu hören kriegen, desto weniger wird einander zugehört.

Musik gehört zum Allerschönsten! Wenn ich aber permanent mit Getöse zwangsernährt werde, kommt das einer Vergewaltigung gleich. Als ob ich auf Schritt und Tritt Junkfood in den Mund gestopft bekommen würde. Dieses könnte ich wenigstens wieder ausspucken. Aber meine Ohren und mein Gehirn können die Misstöne nicht wieder loswerden.

Rhythmische Musik macht Lust auf Bewegung, deshalb kann sie mich beim Sporteln am Trampolin ganz schön motorisieren. Dass sie aber auch Autos antreiben kann, überrascht mich. Neuerdings ist ja kaum mehr ein "geladenes Geschoß" ohne weithin hörbares, Herz attackierendes Bass-Gewummer unterwegs. Gestern fuhren sie mit einem orientalischen Gemisch, bei dem noch Melodiöses mitklang. Heute ist weitaus härterer Stoff im Einsatz.

Hans Magnus Enzensberger fragt in seiner trefflichen Polemik "Ein musikalisches Opfer", warum Allergiker gegen musikalischen Dauerlärm verhöhnt werden, während allen anderen volles Verständnis entgegengebracht wird. "Der Schallallergiker sieht sich einem brutalen Kesseltreiben ausgesetzt. Die Vorkehrungen, die er treffen muss, um sich dem allgegenwärtigen Musikantenstadl aus Heavy Metal, Vivaldi, Techno, Blaskapelle und Tic Tac Toe zu entziehen, kommt einer Behinderung gleich."

Ich frage mich jedes Mal, wenn ich einen Supermarkt oder sonst eine lärmende Anstalt betrete: Es gibt zigtausend Lieder und Musikstücke, die mich weniger stören oder gar erfreuen würden. Aber die verkaufsfördernden Hits sind allesamt jenseits meiner Schmerzgrenze. Wenn wenigstens Neil Diamond erklingen würde: "What a beautiful noise / ... Goin' on everywhere / ... And it's sound that I love / And it's fit me as well / As a hand in a glove / Yes it does, yes it does / What a beautiful noise."

Von der "Schizotopie" ...

Geschäfte, Apotheken, Postämter, Fitness- und Beauty-Studios, alle, die etwas verkaufen wollen, scheuen keine Kosten und Mühen, um alle Sinne optimal anzusprechen - sei es lautstark oder ganz unbemerkt. Alle psychischen und physischen Mechanismen müssen ausgenützt werden, um noch einen Euro mehr aus dem Kunden zu pressen, und um die Konkurrenz auszustechen. Umsatz ist alles!

Auf verarbeitete Lebensmittel, denen Stoffe zugesetzt werden, die regelrecht süchtig machen, wird von Ärztinnen und Konsumentenschützern immer wieder hingewiesen. Dass aber in Verkaufsräumen aller Art - vom Supermarkt bis zum Wettbüro - nichts dem Zufall überlassen wird, um süchtig zu machen, zeigt kaum jemand auf. Ganze Branchen sind damit beschäftigt, nicht nur Geräusche, auch Licht, Gerüche und Einrichtungen verkaufsfördernd auszuklügeln. Diese Methoden aufzuzeigen, ist nichts für investigative Journalisten. Auch Psychologinnen schreiben keine erhellenden Berichte darüber. Sie werden ja von den Firmen dafür bezahlt, Geheimagenten gleich zu tüfteln. Manchen tut sich obendrein die neue Einkommensquelle, Kaufund Spielsüchtige zu therapieren, auf.

Die Beschallung von Verkaufsräumen soll Heimeligkeit vermitteln. Die Konsumierenden sollen sich ungezwungen fühlen oder gar enthemmt. Einfach wie zu Hause. Günther Anders beschreibt die veränderten Verhältnisse am Beispiel der ersten Juke Boxes, die in den USA in den frühen 1940er Jahren in Drugstores aufgestellt wurden. "So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus gebracht wurde, so wird umgekehrt die ZuhauseMentalität in die Außenwelt mit hinaus genommen. Die oft gemachte Beobachtung, dass sich seit einigen Jahrzehnten der Unterschied zwischen 'privat' und 'öffentlich' verwischt hat, hat in dieser 'Doppelbewegung' ihren Grund." Als "Schizotopie" bezeichnet Anders diese räumliche Doppelexistenz. - Wohin hat sich diese in den letzten 70 Jahren entwickelt? Heute leben wir längst nicht nur im globalen Dorf, sondern im globalen Supermarkt. Von jedem Ort aus zu konsumieren, heißt das oberste Gebot. Von zu Hause oder unterwegs in der ganzen Welt zu shoppen. Oder sich an jedem Ort Musik und Filme via digitaler Geräte reinzuziehen. "Stream dich frei", steht auf dem aktuellen Werbeplakat eines Streaming-Dienstes. Es zeigt ein junges Paar, das sitzend über einem langen Holzsteg schwebt, der in einen See hinausführt, dem verfärbten Himmel und der untergehenden Sonne entgegen. Diese Naturkulisse sieht das Pärchen aber nicht, weil es in die entgegen gesetzte Richtung, auf den Bildschirm des Laptops blickt.

... zur globalen Pipe-&Peep-Show

Apropos Naturkulisse: Heute lässt selten jemand die Umgebung - Natur, Stadt, Menschen - einfach auf sich wirken. Man hat dauernd busy zu sein. Mal leiser, meist lauter. Wenn die Aufmerksamkeit überhaupt einmal vom Screen auf etwas anderes gelenkt wird, dient es entweder der Selbstoptimierung oder um Aufsehen und Auf horchen zu erregen. Jogger mit zugestöpselten Ohren blicken ständig auf den Fitness-Tracker am Handgelenk. Auto-, Motorrad-, Quard- und Jet-Ski-Piloten verpesten zu Land und zu Wasser die Luft - und vor allem darf niemandem ihr brünftiges Motorengeheul entgehen. Zur Zeit auch besonders beliebt: das Fotografieren und Posten des verbotenen Eindringens in abgelegene Naturschutzgebiete, um Partys zu feiern, zu übernachten und Zerstörung zu hinterlassen. Und in Wien haben neuerdings Mountainbiker den alten verfallenen jüdischen Teil des Zentralfriedhofs als ihr Trainingsgelände entdeckt. Die breite Masse begnügt sich mit Krach aus den Bluetooth-Boxen, die faustfeuerwaffengleich in der einen Hand und die Bierdose in der anderen vor sich hergetragen werden.

Die Umgebung wird hauptsächlich zweidimensional, verkleinert, ausschnitthaft durch den Screen wahrgenommen. Sie mutiert zur Fototapete und verkommt zum Mittel der Selbstdarstellung. Worauf es ankommt, ist nicht die Umgebung selbst, nicht der Sonnenuntergang, nicht das Bergpanorama, nicht die Sehenswürdigkeit, nicht das Konzert, sondern die Digitalisierung. Also ein - meist künstlich geschöntes - Abbild der Realität. Selbst das Essen muss nicht gut schmecken, sondern gut aussehen. Es geht nicht um das sinnliche Erleben, sondern um die Herstellung einer Ware. Erst wenn ich meine Ware Food, meine Ware gewagtestes Motiv, meine Ware Körper digital und global vermarkten kann, beginne ich zu existieren und bekomme Aufmerksamkeit. Befriedigung verschafft nicht das Hier und Jetzt, sondern die Likes im Dort. Zu Hause bin ich nicht bei mir und in meiner Umgebung, sondern via Selfie in der digitalen Welt.

Warum wird für all jene, die diese Art der Weltwahrnehmung und der Kommunikation bevorzugen, nicht ein Welt-Duplikat geschaffen? Mit Echtheitszertifikat. Ein Disneyland ohne störendes Zikadenzirpen und ohne störende Ruhesuchende. Hier führen bequeme Wege zu den perfekten Selfie-Locations. Hier dürfen sie alles niedertrampeln oder sich aufgeilen an Katastrophen-Szenen. Hier gibt es sogar ein Sicherheitsnetz gegen die tödlichen Gefahren. Bei der Hetzjagd nach der aufregendsten Selbstdarstellung versagt ja oft sogar der Selbsterhaltungstrieb.

Aus der "Schizotopie", die Günther Anders in den 1950er Jahren festgestellt hat, ist mittlerweile eine globale digitale Pipe-&Peep-Show geworden. - Folgendes Hörbeispiel versinnbildlicht geradezu, genauer vertont das alltäglich und allumfassend gewordene Porn-Prinzip. Der Lokführer eines South-Western-Railway-Zuges schaute sich auf einer Fahrt zwischen den Londoner Stadtteilen Wandsworth und Clapham einen Porno am Handy an. Da das Mikrofon irrtümlich eingeschaltet war, wurden alle Fahrgäste Ohrenzeugen des sexuellen Treibens. Das musste prompt aufgenommen, ins Netz gestellt und sogleich 1,83 Millionen Mal aufgerufen werden.

"Akkumulation der Geräte"

Die digitale Revolution hat sicherlich viel Gutes gebracht. Aber unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen des real existierenden Kapitalismus dient sie nicht nur hervorragend dazu, Vermarktung und Vernutzung ad infinitum zu führen, sondern auch dazu, den von Günther Anders festgestellten Konformismus und die Selbstversklavung auf die Spitze zu treiben. Als nächster großer Entwicklungsschritt wird nicht nur die Technik der Robotik, der Drohnen und der selbstfahrenden Autos massiv ausgebaut, sondern auch die Überwachung und Steuerung des Menschen. Was diesbezüglich etwa in China bereits umgesetzt ist, geht wohl mitnichten in Richtung Befreiung. Dagegen nehmen sich folgende zwei Beispiele harmlos aus. Wie nützlich, wenn aus allem Unbill, das die Verbreitung der Technik mit sich bringt, neues Kapital geschlagen werden kann. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. In Zeiten, da Ruhe rar wird, kommt ein Gerät zur Erzeugung von Stille auf den Markt. Kopf hörer zur Active Noise Cancelling, kurz ANC. Dabei wird Schall mit gegenphasigem Schall unterdrückt, mit sogenannter destruktiver Interferenz. Oder in Zeiten, da die Fachwelt bei vielen Menschen "Technostress" durch die Handhabung oft störungsanfälliger digitaler Geräte diagnostiziert hat, wird vorsorglich ein "Technostresssensor" entwickelt.

Günther Anders: "Je größer das Elend des produzierenden Menschen wird, je weniger er seinen Machwerken gewachsen ist, um so pausenloser, um so unermüdlicher, um so gieriger, um so panischer vermehrt er das Beamtenvolk seiner Geräte, seiner Untergeräte und Unteruntergeräte; und vermehrt damit sein Elend auch wieder ..." Bis schließlich "seine Misere eine Akkumulation der Geräte, und diese wiederum die Akkumulation seiner Misere zur Folge hat. - Gute Zeiten, da die Idylle der Hydra noch als Schrecksage galt!" - Von der ökologischen Belastung durch die Massenproduktion der Geräte ganz zu schweigen.

Haben diese technischen Errungenschaften den Alltag erleichtert? Sind die Menschen dadurch glücklicher, freier und entspannter geworden? Warum haben sich Nervosität, Unruhe, Hektik, Aggression, genauso wie der Lärm, seit der Jahrtausendwende rapide vermehrt? Wo ist der funkelnde Charme geblieben? Die Leichtigkeit, der Schalk, die Phantasie und die Sinnlichkeit? Ich vermisse sie furchtbar!

Viele haben den Prometheus-Mythos aufgegriffen, wenn es um die Kritik an der Herrschaft der Technik über den Menschen geht. Günther Anders prägte den Begriff der "prometheischen Scham". Der Mensch sei zum "Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks" geworden und schäme sich seiner Unzulänglichkeit angesichts der Perfektion seiner Apparaturen.

Auch Albert Camus ruft im Buch "Hochzeit des Lichts", in seinem kleinen Essay "Prometheus in der Hölle", dazu auf, Geist und Seele nicht zugrunde gehen zu lassen. Der antike Held hat den Menschen "Feuer und Freiheit, Technik und Kunst" geschenkt. Aber "die heutige Menschheit glaubt einzig an die Technik. In ihren Maschinen entdeckt sie ihre Stärke ...

Chateaubriand rief dem nach Griechenland auf brechenden Ampère zu: "Sie werden kein Blatt der Olivenbäume, keine Traubenbeere wiederfinden, die ich in Attika sah. Ich trauere selbst dem Gras meiner Zeit nach." Camus fügt hinzu: "... wir trauern manchmal den Grashalmen aller Zeiten nach, den Olivenzweigen, die wir für uns nicht mehr sehen werden, und den Trauben der Freiheit. Der Mensch ist überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein Drohen. Inmitten so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das Zirpen der Grillen."

Aber woher nehmen wir heute Camus' Zuversicht, für den "ein Abend in der Provence, die vollkommene Linie eines Hügels, der Geschmack von Salz genügt, um zu erkennen, dass alles neu zu schaffen ist"?


Literatur über Lärm

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still - Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille, Berlin 2010.

Jürgen Hellbrück, Rainer Guski: Lauter Schall - Wie Lärm in unser Leben eingreift, Darmstadt 2018.

Gerhard Paul, Ralph Schock (Hg.): Sound der Zeit - Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis heute, Göttingen 2014.

Hans Magnus Enzensberger: Ein musikalisches Opfer, in: Kursbuch 129 "Ekel und Allergie", Berlin 1997, online:
www.spiegel.de/spiegel/print/d-8778887.html


Initiativen gegen Lärm

LautsprecherAUS! www.lautsprecheraus.de

Hörstadt, Linzer Charta, beschallungsfrei, www.beschallungsfrei.at

Dudelstopp

PS: Mehr dazu ab August auf www.streifzuege.org unter "Initiativen gegen Lärm"

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Lärm - Campaign for Musical Destruction

von Ricky Trang

Lärm war eine der ersten Hardcore-Bands Europas. Radikal in jeder Hinsicht, waren der Bandname und der Titel des ersten Albums "Campaign for Musical Destruction" Programm. In bis dahin unerreichter Geschwindigkeit wurden die Songs, kaum begonnen auch schon wieder zu Ende, runtergeprügelt. Als Straight-Edge-Band war für sie Drogenkonsum nichts anderes als "ein Opiat, um die furchtbaren Bedingungen des kapitalistischen Systems" zu ertragen. Linksradikale Politik, DIY, Selbstbestimmung und ohrenbetäubender Krach - Lärm lebten und prägten die Attitüde von Hardcore in Europa. Doch auch wenn Lärm bemerkenswert waren, sollen sie uns hier als einzelne Band nicht weiter interessieren. Gehen wir ein paar Jahre zurück, zurück in die 70er.

Anarchy in the UK

Mitte der 70er suhlte sich das Spektakel wie gewohnt in der eigenen Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht, aber - es war ziemlich langweilig. Die 60er waren endgültig vorbei, die Gegenkulturen gescheitert und es schien, als müsste sich die Gesellschaft von all der Aufregung durch einen ausgedehnten Winterschlaf erholen. Alles verlief wieder in geordneten Bahnen. Stagnation und Stillstand prägten the scenery, selbst die Wirtschaft wollte nicht. Kurz: Es war nicht so prickelnd in England.

Die Zeit war reif für etwas grundlegend Neues, für etwas, das die Welt verändern und bisher ungeahnte Möglichkeiten und Perspektiven schaffen sollte. Es galt, das Spiel zu ändern, die Regeln umzuschreiben und die Stagnation zu beenden. Denn dem Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles.

Punk explodierte mit einem gewaltigen Knall. Es war die Stunde null. Gott und der Staat, Arbeit und Freizeit, die Familie, selbst das Publikum wurden als ideologische Konstrukte negiert, als etwas, das geschaffen und daher verändert oder auch aus der Welt geschaffen werden konnte. Punk war das große "Nichts ist wahr" und für kurze Zeit war alles möglich.

Rückblickend war Punk eine straighte Weiterentwicklung der Sixties, auch wenn es zur damaligen Zeit als totaler Bruch erschien. Es erhob sich in den Straßen wieder die Stimme der Zukunft, die in dem vollgedröhnten Mist, den die sechziger Jahre hinterlassen hatten, begraben gewesen war. Punk kam hervor, um seine schmutzigen Flügel zu lüften, auferstanden aus dem abgestandenen Sumpf, den das Sperma der Beach Boys in Malibu hinterlassen hat, aus der Leichenfledderei der Beatles im Central Park.

Viele sahen ihre Chance, aus der Passivität auszubrechen. Punk schuf in den Anfangstagen die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden. Während Rotten "No Future" proklamierte, erkannten viele, dass, wenn es eine Zukunft geben sollte, sie sich dafür selbst ins Zeug legen mussten, und machten sich daran, die Welt zurückzufordern.

Es ging hoch her auf den Hauptstadtstraßen, ein neuer Sound, ein neues Vokabular und der Londoner Finanzbezirk horchte auf beim Klingeln der Kassen.

Und so war die Bewegung schon wenig später aufgekauft, mit Geld erstickt. Punk war von einer innovativen Kraft zu einem weiteren Element im Medienzirkus verkommen, einer ausgebrannten Erinnerung an das, was hätte sein können. Punk war auf allen Ebenen, von der Mode über die Beschlagnahme durch die Musikpresse bis zum Aufkauf durch die Musikindustrie, in die Warenform übergegangen.

Auch wenn Reste des rebellischen und selbstbestimmten Punk weiter existierten, im Jahr 1978 sah es aus, als wäre die Kommodifizierung abgeschlossen, Punk rekuperiert und die Reste der Rebellion als harmlose differente Ware in die sicheren Hände des Spektakels überführt.

Das Spiel war beendet, doch nicht alle Spieler*innen waren damit einverstanden. Eine neue Generation von Andersdenkenden, die auf die Befehle von General Rotten gewartet hatte, bemerkte ihren Fehler. Sie war wieder auf sich selbst gestellt.

In the Beginning There Was Crass

1978 erschien auf dem kleinen "Small Wonder"-Label "The Feeding of the 5000", eine 12"-Single mit 18 Liedern und einer halben Stunde Spieldauer, welche um ganze £ 1,99 verkauft wurde. Aber nicht nur deshalb war sie wie nichts zuvor. Sie begann mit zweiminütiger Stille, dem "Sound of Free Speech", nachdem sich das Presswerk geweigert hatte, "Reality Asylum" zu pressen. Nach der Stille folgte Zeter und Mordio, die Nummern schrien und fluchten ihre Rechtschaffenheit geradezu hervor, forderten auf, mit Punk endlich Ernst zu machen. Natürlich kam die Platte mit einem Beiheft und Texten, Collagen und auf der Rückseite des Covers fand sich in der Ferne eine Gestalt wie aus einer kommunistischen Militärparade mit einer riesigen Flagge mit einem rätselhaften Logo. And the name was Crass not Clash und sie machten einen Kreis um das A in ihrem Namen.

Es war ein Neubeginn, plötzlich sollte Punk mehr als schockierender Zeitgeist, Modestatement und Musik sein. In den sieben Jahren ihrer Existenz wurden Crass unfreiwillig zur Legende. Ihre Kompromisslosigkeit und völlige Kontrolle über ihr Tun, ihre ungezügelten Angriffe gegen jede Autorität machten sie zu den Anführern der Anarcho-Punk-Bewegung, bei der es darum ging, sich von allen Führern zu emanzipieren.

Crass waren voller Tatendrang. In Paris hatten sie Schablonen-Graffitis entdeckt und überzogen nun London mit einer Graffiti-Kampagne. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die neue Form politischer Botschaften über das ganze Land. Unter den unzähligen Flugblättern, die von Crass veröffentlicht und verbreitet wurden, fanden sich auch detaillierte Hinweise über die beste Herstellung und Verwendung von Schablonen.

Eine kleine Erbschaft ermöglichte Crass, ihr eigenes Label, Crass Records, zu gründen und so Small Wonder zu entlasten, welches sich seit dem Release von "The Feeding of the 5000" einer erhöhten polizeilichen Aufmerksamkeit erfreute. Und um "Reality Asylum" zu veröffentlichen, dem "Sound of Free Speech" Inhalt zu verleihen. They've tried to ban our records. Saying that we're a threat to decent society. Fuck them. I hope we are. Die unzensierte "Reality Asylum"-Single war zutiefst verstörende Poesie, hemmungslos blasphemisch, in ebensolcher Verpackung und bescherte Crass Besuch von Scotland Yard und dank des aufgedruckten Verkaufspreises von 45 p (wobei sie vergessen hatten, die Mehrwertsteuer einzuberechnen) angesichts der hohen Verkaufszahlen einen fetten Verlust. Und bis heute unzähligen T-Shirts ihren "Jesus died for his own sins. Not mine."-Aufdruck. Wobei Crass nie Merchandise verkauften, sondern lediglich Badges verschenkten und DIY-Anleitungen zum Bedrucken von Textilien samt Schablonen.

Die folgende Doppel-LP "Stations of the Crass" schoss direkt an die Spitze der damals einflussreichen Alternative Charts, in denen sie für die nächsten zwei Jahre verblieb und verdeutlichte, welchen Einfluss Crass bereits auf die Vorstellungskraft der Jugend ausübte. I remember when 'Stations of the Crass' came out, all the 'really punk punks' had started to wear sinister Nazi-style armbands with a strange circular logo on; it was a new thing and very intriguing, so when I saw their album in the shop for only £ 3, I had to get it. I was shocked when I came home and read the cover and heard the dreadful music. I wasn't ready for it, but slowly it sank in and I got more and more revelations from the literature and the lyrics. Then I started to write to Crass ... Unexpectedly I always got a huge letter back from one of the members explaining their thoughts in great depth. And each time the letter would be accompanied by five or six button badges and a wad of flyers, all containing further explanations and slogans. It all started to make perfect sense to me.

Auf Jahre hinaus sollten Crass Records die Alternative Charts dominieren. Trotz phänomenaler Verkaufszahlen erschienen Crass Records nur selten in den National Charts, und wenn, verschwanden sie auf wunderbare Weise sofort wieder. Obwohl alle Platten mit "Pay No More"-Aufdruck versehen waren und ungefähr zum halben Preis der Major Releases verkauft wurden, hatte die Band plötzlich Geld. Die Bandmitglieder lebten von 15 Pfund die Woche und so wurden mit dem Geld unter anderem Platten anderer Bands veröffentlicht. Wobei es nie Verträge gab. All we were doing was showing people how to make a record, from the production to the artwork, everything. And that was it, one single and on your way. Many founded their own label, like Spiderleg or Mortarhate, the most important other anarcho punk labels. Dazu gab es 50 % des Erlöses, sofern es einen gab, denn Crass hatten kein Problem, extrem fordernde, schwierige und kaum verkäufliche Musik zu veröffentlichen. Lediglich die eigene Identität von Crass Records, die wunderschöne Schwarz-Weiß-Verpackung, die zu einem großen Poster ausgefaltet werden konnte, das liebevolle Artwork und der radikale Chic, sorgte oft für einen gewissen Absatz. Die Veröffentlichungen auf Crass Records waren mit geheimnisvollen Katalognummern versehen, die letzten Endes einen Countdown auf das bevorstehende ominöse Jahr 1984 darstellten und Anlass für die verschiedensten Spekulationen boten.

Crass selbst sahen sich als Kollektiv, welches verschiedene Generationen und Backgrounds vereinte und zutiefst dem DIY-Ethos verpflichtet war. Das gesamte Artwork, die Platten, Filme, Flugblätter, Fanzines, alles wurde vom Crass-Kollektiv selbst hergestellt. Dabei lebten sie zusammen im Dial House, einem alten Bauernhaus außerhalb Londons, wo sie sogar das Biogemüse für ihren vegetarischen Haushalt selbst anbauten. Für Crass gab es keine Trennung zwischen der Band und dem privaten Leben. Dial House war ein offenes Haus, in dem jedEr willkommen war. Manche Besucher*innen blieben zehn Minuten, manche eine Woche, manche halfen mit, manche brauchten Hilfe. Dass Crass dazu noch Pazifist*innen waren und die Campaign for Nuclear Disarmament (CND), welche in den frühen 80ern gewaltige Ausmaße annahm, massiv pushten, trug sicher auch dazu bei, dass sie als Hippies verrufen waren. Und das war auch nicht so verkehrt. Jeden Dienstag wurden alle der rund 200 Briefe, die in einer Woche eintrudelten, handschriftlich beantwortet. Dazu gab es zwar keine signierten Fotos, dafür aber Flyer und sonstige Literatur. Der Mittwoch war für Interviews mit Fanzines reserviert. Crass verweigerten Interviews mit der offiziellen Musikpresse, für die Punk zu dieser Zeit noch ein großes Thema war. Sie müssen keine Werbung für sich machen, denn das übernehmen ihre Anhänger für sie. Ihr Logo findet sich auf Hunderttausenden von schwarzen Lederjacken und ihr Name steht gesprüht an Bushaltestellen und Gemeindehallen von Amsterdam bis Aberdeen. Fanzines hingegen als Teil des Informations- und Kommunikationsnetzwerkes der Bewegung waren immer willkommen.

Crass spielten an jedem nur vorstellbaren Ort bei minimalem Eintritt, nur nicht in etablierten und kommerziellen Musik-Venues. Squats, Pfadfinderhütten, Kirchenhallen und Sportzentren; Crass nahmen alles, solange ihre Bedingungen erfüllt wurden. Sie teilten Musik, Filme, Literatur, Essen und Tee, erstatten den Veranstalter*innen die Ausgaben und mit dem verbliebenen Gewinn wurden Aktivist*innen vor Ort unterstützt. Während des Konzerts wurde das Publikum mit Symbolen und Slogans bombardiert, Fahnen, Banner, Videoscreens, dazwischen die Band in ihrem schwarzen Punk-Outfit, um die kollektive Identität zu betonen und den Kult um einzelne Personen so gering wie möglich zu halten. Vor und nach den Konzerten mischten sie sich unter die Zuseher*innen, sprachen und diskutierten stundenlang mit ihnen.

Es folgten kleinere Veröffentlichungen sowie die "Penis Envy"-LP, ein einziges feministisches Statement und zugleich auch ihre musikalisch eingängigste Platte. Es war eine gute Zeit für die Anarcho-Punks. Die Bewegung vibrierte, vereint in ihrer Ablehnung von "the System", den wochenendlichen Jagdsabotagen, Blockaden von Militärstützpunkten, direkten Aktionen und dem Zusammenkommen bei den Konzerten. Hinter all den dystopischen Bildern lauerte der Optimismus. Alles schien auf etwas Großes hinauszulaufen.

Und dann wurde der Falkland-Krieg ausgebrochen. Das Land versank im patriotischen Taumel, die Friedensbewegung in Schweigen und die wenigen, die daran nicht teilhaben wollten, in Schockstarre. Crass reagierten blitzschnell mit der "Sheep Farming in the Falklands"-Flexi, einer Verhöhnung der britischen Armee, über Soldaten, die Schafe vergewaltigen. Die anonym veröffentlichten 20.000 Kopien wurden von sympathisierenden Arbeiter*innen bei Rough Trade zufällig zu anderen Platten ins Cover gesteckt. Doch dann wurde die Belgrano versenkt und der Witz war nicht mehr lustig und die Antwort von Crass ebenso wenig. "How Does It Feel (To Be the Mother of a Thousand Dead)" war ein direkter Angriff auf Margaret Thatcher. You never wanted peace or solution. From the start you lusted after war and destruction. Your blood soaked reason ruled out other choices. Your mockery gagged more moderate voices. So keen to play your bloody part. So impatient that your war be fought. Iron Lady with your stone heart. So eager that the lesson be taught. That you inflicted, you determined, you created, you ordered. It was your decision to have those young boys slaughtered. Die Platte wurde im Parlament diskutiert, doch nachdem ein Tory-MP in einer für ihn katastrophalen Radiodiskussion komplett die Beherrschung verlor ob der bösartigsten, ordinärsten und widerlichsten Platte, die je produziert wurde (er kannte ganz offensichtlich "Reality Asylum" nicht), und von Crass belehrt wurde, dass die eigentliche Obszönität nicht in der Platte, sondern im Tod und der Zerstörung, die der Krieg mit sich bringt, liegt, blieb eine juristische Verfolgung aus. Und die konservative Partei befahl ihren Mitgliedern per internem Zirkular, auf keine Provokationen mehr einzugehen, um der Platte nicht noch mehr Publicity zu verschaffen.

Doch Crass waren mit dem Thema noch nicht durch. Monatelang wurde unter strenger Geheimhaltung an einem Tape gebastelt, einem geheimen Telefonat zwischen Thatcher und Reagan. Darin übernahm Thatcher die Verantwortung für die Versenkung der Belgrano und bestätigte, dass der Zerstörer Sheffield geopfert wurde, um einen Flugzeugträger zu schützen, auf dem sich Prinz Andrew befand, während Reagan kein Geheimnis aus seinen Plänen, im Falle eines Krieges große Teile Europas durch Nuklearwaffen zu zerstören, machte. Vom Festland aus wurde das Tape an die Weltpresse verschickt. Das US State Department machte zuerst den KGB für das Tape verantwortlich, bis letzten Endes aus ungeklärten Ursachen ein Journalist des Observer Crass auf die Spur kam und diese den Schwindel eingestanden. Die Medien der Welt stürzten sich begeistert auf die Story, ein Haufen Punks hatte das State Department vorgeführt. Crass waren im Frühstücksfernsehen von Amsterdam bis Tokio, gaben jedem und jeder Exklusiv-Interviews, der Sendezeit zur Verfügung stellte, um das Weltgeschehen aus anarchistischer Perspektive zu kommentieren.

Crass waren dort, wo sie nie hingewollt hatten. Sie erhielten wohlwollende Briefe von der politischen Opposition, Besuche von angeblichen Resten der RAF, Angebote vom KGB ... Dabei war die drohende nukleare Vernichtung ebenso allgegenwärtig wie das Thatcher'sche Elend. Die Euphorie war verflogen, Crass waren pessimistisch geworden. Sie waren im Jahr 1984 angekommen, der Polizeistaat stand vor der Türe und die letzte große Auseinandersetzung direkt bevor. Am 12. März 1984 begann der Bergarbeiterstreik. Die gesamte Linke war vereint, Anarcho-Punks neben Bergarbeitern, Benefizkonzerte im ganzen Land, an jedem Ort. In einem besetzten Land mit kurz zuvor noch unvorstellbarer Repression. The direction had to become changed. We became so fucking angry that we didn't know what to do with our anger, we started to split in what we felt should happen. Half the band supported the pacifist line and the other half supported direct and if necessary violent action. It was a confusion time and the records show that. Von den radikalen Pazifist*innen kamen bislang unvorstellbare Worte: If they won't listen either, what can we do? They're people. Yes. But only people oppress. If we can't go round them, we'll have to go through.

Just zu dieser Zeit wurden Crass nun endlich doch vor Gericht gezerrt - nach dem Obscene Publications Act. Angesichts dessen, was rundherum geschah, nur eine Randbemerkung, aber Crass brachte es endgültig an ihre Grenzen.

Die Verzweiflung wurde fühl- und greifbar, Crass bitter, resignativ und enttäuscht. "It's you the passive observer who has given them the power" he screamed indignantly; his arm outstretched, his finger pointing out over the crowd and sweeping slowly around every inch of the auditorium. "You are beeing used and abused and will be discarded as soon as they've bled what they want from you", he continued. No-one was excluded from his withering condemnation ... We wanted to feel together while Crass seemed to declare their separation from us. They weren't angry with us. They were disappointed. No. Hang on, they were angry and disappointed. We'd come up painfully short against Crass high standards. Crass were announcing that we'd failed them and the common cause we were all supposedly committed to.

Der Countdown ihrer Releases war zu Ende, 1984 erreicht. Crass lösten sich nach einem Bergarbeiter-Benefizkonzert mitten im Bergbaugebiet von Südwales auf.

"There is no authority but yourself" we said but we'd lost ourselves and become CRASS.

So What?

Crass durchdrangen die Privatsphäre mit subversiven Produkten, die unter kompletter Eigenkontrolle entstanden. Diese waren für alle leistbar und wurden von einem Independent-Vertrieb zu den Bedingungen von Crass vertrieben. Auch wenn sie von einigen großen Plattenläden boykottiert wurden, gelang es, ihre Aufforderung, jede Form von Autorität zu hinterfragen, und ihre absolute Negation des Bestehenden (Everything that we write is a love song!) unkompromittiert zu vermitteln. Es war der Versuch, die existierenden Herrschaftsstrukturen durch eine neue soziale Bewegung mit radikalisiertem autonomen Bewusstsein herauszufordern. The true effect of our work is not to be found within the confines of 'rock 'n' roll', but in the radicalized minds of thousands of people throughout the world. Unzählige folgten dem Ruf.

Mit Thatchers Schatten des Bösen, ökonomischer Depression und Angst vor der nuklearen Auslöschung als idyllischem Hintergrund machte sich die Anarcho-Punk-Bewegung, mehr durch gemeinsame ethische Ideale als eine musikalische Doktrin verbunden, auf in den Kampf für eine bessere Welt. Überzeugt, dass nicht nur Ideale, sondern auch Taten darüber entscheiden, wie die Zukunft aussehen würde. Einfach nur rumsitzen und warten war keine Option. Es begann damit, sich selbst zu ändern, den Lebensstil und die Art zu denken und dann entsprechende Handlungen zu setzen. Viele teilten den Pazifismus von Crass, aber alle glaubten an die direkte Aktion. Most anarchist punks were just as happy tearing down the barbed fences of military bases as they might be going to a gig. Antimilitarismus, Feminismus, Ökologie, Atheismus, Tierrechte - Anarcho-Punk umspannte das alles. Meist waren die Animal Liberation Front, Class War, Stop the City und die CND die Begünstigten von Benefizkonzerten und -platten. Ebenso wie die von Anfang an fest mit der Bewegung verwobene Hausbesetzer*innenszene.

Anarcho-Punk schwelgte in seiner selbstgeschaffenen Alternative zum Mainstream-Musik- und -Kulturbetrieb, vorgeblich von außerhalb und gegen diese Gesellschaft. Wirkungslos prallten die Vereinnahmungsversuche ab; nicht nur Crass, auch die anderen großen Anarcho-Punk-Bands, die mit Leichtigkeit an die Spitze der Alternative Charts klettern konnten, ignorierten die Angebote der Plattenindustrie, die nicht nur mit fetten Schecks, sondern auch mit der Möglichkeit "to market revolution" winkten. Sie hatten gelernt, Nein zu sagen.

Doch verlassen wir die Insel und kehren zu Lärm und der weltweiten DIY-Hardcore/Punk-Verschwörung zurück. (Die Unterscheidung und Definition von Punk und Hardcore oder gar den unzähligen Subgenres wie Crust, Grind, Straight Edge usw. soll uns hier ebenso wenig belasten wie die lokalen und zeitlichen Unterschiede und Besonderheiten. Hardcore/Punk war alles und nichts und für jedEn etwas ganz anderes. Bei dieser Betrachtung geht es ausschließlich um jene gegenkulturelle Bewegung, die ich einfachheitshalber unter DIY-Hardcore/Punk-Szene subsumiere. Um etwas, das sich auch selbst ganz vehement vom Rest abgrenzte.)

Network of Friends

Mit einem gewaltigen Knall hatte Punk die Bühne betreten, um alles Bestehende in Schutt und Asche zu legen, und war in kürzester Zeit Bestandteil geworden und in New Wave und NDW aufgegangen. Postkartenpunks in den Innenstädten verblieben als pittoreske Erinnerung an die bunte Vielfältigkeit des Spektakels.

Doch war das frühe Ende erst der eigentliche Anfang. Die ursprünglichen Gedanken des Punk, die Verweigerungshaltung gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben, die konkrete Aufforderung, aus der auferlegten Passivität auszubrechen, blieben. Doch die Idee der Teilhabe an der Unterhaltungsindustrie war vorbei. Punk ging in den Untergrund.

Der DIY-Gedanke wurde zentrales ideologisches Dogma. Er stand für den Aufbruch aus der Fremdbestimmung und die Wiederaneignung des Alltags. JedEr konnte in einer Band spielen, doch damit war es nicht getan.

Es war der Beginn von tatsächlichen DIY-Plattenlabels, nirgends hat sich die Ablehnung jeglicher Form von "Business" stärker durchgesetzt als in dieser Szene aus hunderten von selbstverwalteten Kleinstlabels. Hier wurde tatsächlich alles selbst oder mit den Bands gemeinsam gemacht und das Endprodukt mehr oder weniger zum Selbstkostenpreis verkauft oder mit anderen Labels getauscht. Wobei das umfangreiche Begleitmaterial oft weit über bloße Textblätter hinausging. It was great to take DIY to the next level beyond tape copying just to show that if we could do it, everyone could do it. We included all the contact details for the pressing and printing, along with a cost breakdown. There wasn't yet this established distro people who would trade with you. We just sold records at gigs or through friends. And did our first trades with an italian label. It was the very beginning of the DIY record network. In der Folge wurde die Welt von einem dichten Vertriebsnetz aus Kleinstdistros überzogen. Oft waren es die Labels selbst, die Platten mit anderen Labels tauschten, oder Kids, die ihren eigenen kleinen Mailorder gründeten und Platten auf Konzerten verkauften. Fanzines waren das Kernstück des Kommunikationsnetzwerkes. So verbreiteten sich Nachrichten und Ideen in aller Welt. Sie richteten sich an Gleichgesinnte und waren Zeugnis des Unmittelbaren und Spontanen. Die meist kopierten Kleinauflagen wurden auf Konzerten, in Infoläden, per Post oder durch das Netz der kleinen Distros vertrieben.

So öffneten sich komplett neue Kommunikationswege. Die alternativen Medien berichteten und dokumentierten nicht nur, sie erzeugten eine Gegenerzählung, die eine alternative Wirklichkeit bot. It cannot be understated how much of an impact hardcore had on kids like me back then. It was my education about the world.

Zentrales Element in der Konstitution und Behauptung von widerständigen Kulturen gegen die herrschende Kultur ist die Schaffung eigener Räume. Für Hardcore wurden dies die überall in Europa auftauchenden autonomen Veranstaltungsorte und Zentren, welche das Netzwerk vollendeten. Die Szene basierte darauf, dass viele aktiv daran teilnahmen, ihren Teil beitrugen und nicht bloß Musik konsumierten. Es brauchte auch Menschen, die bei Konzerten mithalfen, für Bands kochten, diese bei sich am Boden schliefen ließen ... Es gab so viel zu tun und alles wurde getan.

Der Vernetzungsgrad ging weit über die lokale Szene hinaus. Unzählige Briefe mit eingeseiften Briefmarken gingen um die ganze Welt; Ideen, Informationen, Tapes, Flyer und Fanzines wurden mit Gleichgesinnten auf der ganzen Welt ausgetauscht.

The degree of trust and cooperation was pretty phenomenal. Like the concept of 'punk post' - touring bands or people just travelling would deliver your trades half way across the world, passing them from one person to the next until they reached their intended destination. It was archaic, uncoordinated, unregulated, but it was an underground network that delivered. You didn't bat an eyelid when, for example someone from the US travelling with a French band turned up on your doorsteps in Yorkshire with a package of records from a label in Italy.

Losgelöst von finanziellen Aspekten war dieses network of friends die bewusste Absage an die Verwertung des Undergrounds. The kids were taking back control and making a difference.

The nature of the DIY underground punk movement in the UK and Europe had evolved dramatically. The picture-postcard punk image had now little to do with real life in squats and clubs throughout europe. Open minds, evolving communities and changing attitudes towards developing ideologies and musical styles meant that bands with radically different sounds could tour together, play the same venues and be appreciated equally whether playing grindcore or postrock. To many of the people involved in the DIY network the term 'punk' had never been purely representative of an image or an sound, but rather a way of doing things, an act of dissention against corporate greed, a passion for maintaining a strong sense of ethics and equality, of a collective conscience and a development of more proactive, positive, meaningful forms of dissent.

More Than Music

Punks schufen und lebten ihre eigene vorgestellte Gemeinschaft, die außerhalb oder parallel zur herrschenden Gesellschaft existierte, formten und teilten über große Entfernungen eine gemeinsame Identität mit eigenem Ethik-Kodex. Konzerte waren die Orte des Zusammenkommens, der Bestätigung der eigenen Identität, der gegenseitigen Bestärkung, um den leidenschaftlichen Glauben an die gemeinsame Sache zu teilen. Und um Spaß zu haben. Es war ein geforderter und gelebter Gegenentwurf zur Gesellschaft. People who have truly been involved in punk rock, have had it alter the way they live their lives, how they conduct themselves, it was a personal political revolution.

Es war der Versuch, gegenkulturelle Strukturen aufzubauen und erste Ansätze eines befreiten Lebens zu erreichen. Damit einhergehend war zwingend der Prozess der inneren Veränderung verknüpft, die Ablehnung der herrschenden Verhältnisse durfte nicht auf die gesellschaftliche Ebene beschränkt bleiben, sondern musste die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit einschließen. They shaped my politics, my aesthetics, diet and approach to life.

Hardcore definierte sich geradezu aus dem scheinbaren Paradox, Musik und Lebenseinstellung von Menschen zu sein, die ein hyperkorrektes Leben führten und trotz aller No-Future-Sprüche auf die Umwälzung sämtlicher Verhältnisse zugunsten einer humanen Zukunft hofften, sich aber (zumindest in ästhetischer Hinsicht) kompromisslos gewalttätig gebärdeten, da in dieser Gesellschaft jegliche Form von Sanftheit Kooperation mit dem Existierenden bedeuten würde.

Explizit politische Aktivitäten rückten immer mehr in den Hintergrund, Bands, Platten und Lebenseinstellung standen im Zentrum. Konzepte der Selbstverwaltung wurden weniger diskutiert als ausgeführt. We wanted to change the world! Or at least become part of something that would do so by linking up with others and all that, locally and globally.

Auf seiner kleinen Insel treibend wurde Hardcore zum sich ständig selbst bestätigenden Netzwerk, ohne zu einer direkten Konfrontation gezwungen zu sein.

Bernard, Bernard, this green youth will not last forever: the fatal hour must come when all beguiled hopes are dashed by a judgement without reprise.

I've Seen So Many Dreams Washed Away in Tears

Radikale Nonkonformität geht stets auch mit einer radikalen stilistischen Abgrenzung einher. Und eine rein ästhetische Frage des Stils ist nicht unbedingt ein uneinnehmbares Bollwerk. Das Crossover begann mit Metal, andere Stilrichtungen folgten. Crossover crap was taking over - not the music but the attitude. "Big" metal labels, glossy metal magazines, bands signing to big labels, changing their ideals and attitudes. Die Öffnung schwächte das Immunsystem von Hardcore als rebellischer, subversiver Gegenmacht erheblich, die Eingliederung in die postmoderne Käuflichkeit der Meinungsvielfalt wurde möglich, auch wenn die DIY-Szene noch lange Zeit florierte. Mit Pop-Punk folgte der nächste Hype und Geld wurde zum großen Thema. Während die Hardcore-Gegenkultur etwas war, das im Regelfall keine alltagsökonomische Grundlage hatte, keine "Jobs" bot, nicht zum Broterwerb ausgeübt wurde und ihre Produkte nur bedingt "Waren" darstellten, sollte sich das immer mehr ändern. Das Außen war dazugekommen, die imaginierte Gemeinschaft keine Gemeinschaft mehr. Metalmagazine und selbst das Spex berichteten über Hardcore, die Besucherzahlen schnellten nach oben und konventionelle Veranstaltungsorte und Agenturen traten auf den Plan. Bands mit Hardcore-Background wurden groß und wechselten zur Industrie. Hardcore war zu einem etablierten Teil der Jugendkultur geworden, seine abweisende Schärfe als solche verschwunden. Hardcore/Punk war kein glorreicher Tod vergönnt, die langsame und schleichende, dem Patienten selbst oft nur schwer erkennbare Assimilation ins Spektakel unvermeidbar. Musik wurde zu nichts anderem als Musik. Die radikalste Protestkultur der Nachkriegszeit wurde Schritt um Schritt aller Radikalität beraubt zum gleichberechtigten Bestandteil gegenwärtiger Popkultur. Spätestens das Internet bereitete der Illusion endgültig ein Ende. Der Traum der allgemeinen Teilhabe wurde in der Gleichheit von allem und aller als Bestandteil des Spektakels, in dem es kein Außerhalb mehr gibt, verwirklicht. Egal ob Crass oder Gabalier, YouTube liefert, ohne zu diskriminieren, jedes Produkt eine gleichartige Ware, jeder Klick eine Konsumtion.

Now, Dry Eyed, Do I See Any Clearer?

Es gibt keine kulturellen Erzeugnisse, die keine gesellschaftliche Funktion ausüben, oft wissen und beabsichtigen sie das nicht, aber sie tun es. Ein Musterbeispiel ist die geschickte Verstrickung von Pop und Manipulation, von Rock 'n' Roll als Ersatz von Freiheit, dem Sound, der das eigene Sein weniger zu begreifen denn zu akzeptieren hilft. Rockmusik als solche war nie systemkritisch oder antikapitalistisch, keine Anleitung zum kritischen Diskurs. Nicht, dass Pop nicht eventuell subversiv sein konnte, diese Formen der Subversion blieben aber stets in einem ästhetischen, nicht aber in einem praktischen Verhältnis zur Gesellschaft stehen. Hardcore/Punk war die Korrektur. Eine vergangene, auf wenigen Platten dokumentierte Radikalität, die gerade darin begründet liegt, nicht wiederholbar zu sein. Eine Radikalität, die durch jede Reunion, jedes Wiederbeleben melancholischer Jugenderinnerungen um das beraubt wird, was es auszeichnete. Es ist die nachträgliche Selbsteinreihung in den Kanon der Popkulturgeschichte, nachdem der Zeitpunkt der Verwirklichung und Aufhebung versäumt wurde; die Beibehaltung als toter Gegenstand in der spektakulären Kontemplation, der eigene Beitrag zur rückwirkenden Löschung aus der Geschichte.

Doch wieso unwiederholbar, wie konnte das Spektakel die unwidersprochene kulturelle Herrschaft verwirklichen?

In einer lang angelegten Entwicklungstendenz bewegte sich der Mainstream seit den 80ern auf den Libertinismus und Extremismus alternativer Ausdrucksformen zu. Die Heile-Welt-Doktrin hinter sich lassend vermochte die Popkultur Bereiche zu domestizieren, die einst gerade die Distanz zu ihr verbürgten. Explizite Sprache und Klanghärte konnten problemlos integriert werden. Was früher für Außenstehende bloßer Krach und unhörbare Geräusche waren, ist im Mainstream angekommen. In der Crossoverbeliebigkeit ist eine stilistische Abgrenzung nicht mehr möglich.

Independent und Alternative wurden zu Miniaturen der Plattenindustrie, die darum ringen, weniger verkäufliche Produkte verkäuflich zu machen, ohne damit notwendigerweise in den Prozess gesellschaftlicher Veränderung eingreifen zu wollen. Sie verbleiben als Sammelbegriff für einen Kulturproduktstil, der den Konsument*innen gleichzeitig mit der Ware identitätsstiftendes Bewusstsein und Werte verkauft, als Relikte, die sich kraft ihrer mythischen Aura in den Warenhauskatalog der kapitalistischen Jugendkultur eingeschrieben haben.

Widerstand und Subversion wurden zum Modell kultureller Emanzipation, das die Befreiung vom gesellschaftlichen Modell propagiert, ohne dieses System zu verändern, und dabei den affirmativen Charakter der Kultur bestätigt. Subversion und Widerstand als lancierte Produkte für die Welt, so wie sie ist, mit Widerstand als Werbestrategie. Das Projekt der Gegenkultur, "Pop" mit seinen eigenen Mitteln gegen sich selbst und das Spektakel zu richten, ist gescheitert.

Längst hat das Spektakel verinnerlicht, dass Differenz und Opposition nicht bekämpft, sondern vielmehr willkommen geheißen werden müssen, inkludiert, um so zu seinem ewigen Fortbestand beizutragen. Diversität und Vielfalt decken alle Scheinbedürfnisse ab, welche das Spektakel nur allzu gern vorgibt zu befriedigen. Es ist das Versprechen, durch den Konsum aktiv an etwas teilzunehmen, das nur noch als entfremdete Erinnerung, als spektakuläre Vorstellung dessen, was (nicht mehr) unmittelbar gelebt werden kann, existiert. Konformität ist nicht länger der Kitt des Bestehenden, das bewusste Zulassen der Nischenexistenz vereint alles und jedEn im Differenzkapitalismus. Der Verblendungszusammenhang, der alle Menschen umfängt, hat Teil auch an dem, womit sie den Schleier zu zerreißen wähnen.

Der Selbstausschluss, die Verweigerung, vom Spektakel definiert und kontrolliert zu werden, ist in der digitalisierten Welt nicht mehr praktizierbar. Ob gewollt oder nicht, ist nicht länger die Frage, Verweigerung keine Option. Jedes Produkt erscheint auf dem Bildschirm, beliebig nebeneinandergestellt, nicht unterscheidbar. Wenn jedes kulturelle Produkt zur Ware wird oder zumindest als solche erscheint, besteht ein totales System, das kein Außen mehr zulässt. Es ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar geworden, man sieht sogar nichts anderes mehr.

Was bleibt, ist die Erinnerung an die längst zur Ware geronnene Rebellion und Subversion der alten Gegenkulturen und das Spektakel der Teilnahme, die freie Wahl zwischen Punk oder Volksmusik auf YouTube.

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Alptraum Elektroauto

von Günter Schneider

Unter dem Titel "Alptraum Auto" fand im Jahr 1986 in München eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Automobils statt, die sich mit den Auswirkungen der Motorisierung kritisch auseinandersetzte. Jetzt, mehr als 30 Jahre später - nach der Dieselkrise -, setzt die Autoindustrie auf einen neuen Anfang und forciert die E-Mobilität. Seit den 1970er Jahren hat die weltweite Automobilbranche fünf Krisen überstanden und ist aus jeder gestärkt hervorgegangen. Wurden im Jahr 1960 weltweit 16,5 Millionen Autos gebaut, hat sich der Ausstoß nach der Ölkrise in den 70er Jahren auf 40 Millionen erhöht. Trotz diverser Rückschläge für die Autobauer wurde die Produktion inzwischen auf 100 Millionen Stück pro Jahr gesteigert.

Nunmehr soll eine weitere Steigerung mittels massenhafter Produktion von E-Autos erfolgen. Dies ist die These von Winfried Wolf, die er in seinem neuen Buch "Mit dem Elektroauto in die Sackgasse" aufstellt. Der promovierte Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit den 80er Jahren eingehend mit Verkehrspolitik. Von 1994 bis 2002 war er Abgeordneter im deutschen Bundestag für die PDS, später für die Linke. 1986 publizierte er sein Standardwerk "Eisenbahn und Autowahn". Seither hat er das Thema einschlägig bearbeitet und immer wieder Veröffentlichungen getätigt.

Mit vielen Daten gespickt beschreibt Wolf die Probleme, die bei der vermehrten Herstellung von Elektroautos auftreten. Zum einen sind es Fragen der für die E-Mobile benötigten Rohstoffe. Ist es für die E-Motoren vor allem das bereits selten gewordene und dadurch teure Kupfer, so wird für die Anfertigung von Batterien vor allem Lithium und Kobalt benötigt. Beides sind äußerst seltene Rohstoffe, die im Fall von Lithium im südlichen Teil Lateinamerikas in hochandinen, sensiblen Regionen Chiles und Argentiniens vorkommen und nur unter umweltzerstörerischen Bedingungen abgebaut werden können.

Zum anderen ist es die mit dem Autogebrauch verbundene Umweltbelastung. Winfried Wolf versucht nachzuweisen, dass die Ausweitung des E-Anteils, die vor allem in China forciert wird, gleichzeitig auch einen massenhaften Anstieg des Verbrennungssektors zur Folge hat. Und natürlich wird Strom zur Aufladung der Batterien benötigt. Dieser kommt in China, dem Land mit den meisten Elektroautos, vor allem aus Kohle- und Atomkraftwerken. Bis 2050 sollen in China deshalb an die 100 Atomreaktoren am Netz sein. Eine gefährliche Entwicklung, denn der nächste Gau ist wohl nur eine Frage der Zeit.

Der Bau einer Batterie für einen Tesla ist ähnlich umweltbelastend wie der achtjährige Betrieb eines Verbrennungsmotors. Tesla ist der Inbegriff für Elektroautos. Firmenchef Elon Musk versteht es offenbar, sich bzw. seine Autos zu verkaufen. Obwohl die Marke einschließlich des neuen, als massentauglich gepriesenen Modell 3, das in Österreich noch nicht zu haben ist, ausschließlich leistungsstarke Luxusautos in einem Preissegment von mehr als 50.000,- Euro herstellt oder verkauft. Winfried Wolf schildert die "andere Marktwirtschaft" von Tesla & Musk ausführlich, die mit öffentlichen Förderungen und Vorauszahlungen der Kunden Profite generiert. Musk, der auch in Kooperation mit der Nasa gutes Geld verdient, indem er mit seiner Firma Space X Nachschub zur Raumstation ISS transportiert, baut momentan in der Wüste von Nevada an einem riesigen Batteriewerk.

Die massenweise E-Mobilproduktion soll sich hauptsächlich in China abspielen, das mit seiner Vorgabe eines 10%-igen Anteils an strombetriebenen Autos aus der Smogbelastung herauskommen will. Diese ist aber nicht nur auf die in den letzten Jahrzehnten über China, das noch vor kurzem das Radfahrland Nummer eins in der Welt war, hereingebrochene Motorisierung zurückzuführen, sondern vor allem auf seine auf Kohle ausgerichtete Energie- und Industrieproduktion.

Können in China, das noch immer ganze Städte aus dem Boden stampft, Infrastrukturmaßnahmen für E-Autos gleich mitgeplant werden (etwa Stromtankstellen in Parkgaragen), ist in Europas Städten der Umstieg auf E-Mobilität schwer vorstellbar und wird zumindest mittelfristig eine Minderheitenveranstaltung bleiben. Hausbesitzer mit eigener Ladestation - im besten Fall Fotovoltaik - tun sich da leichter. Somit werden laut Wolf E-Autos gehobeneren Schichten als Zweitautos vorbehalten bleiben.

Die Probleme des Individualverkehrs bleiben auch bei Elektroantrieb bestehen. Das ist einerseits der enorme Platzverbrauch, der mit Zweitautos noch größer wird, andererseits das Unfallrisiko. Nur in wenigen begünstigten Ländern (Österreich, Norwegen, Schweiz) gibt es einen Energiemix, der nicht den Bau weiterer fossiler oder atomarer Kraftwerke notwendig macht. Einzig die geringe Lärmentwicklung von E-Mobilen, die von den Autoherstellern immer beworben wird, erscheint als Vorteil. Im Buch wird jedoch aufgezeigt, dass die Fahrtgeräusche von Elektroautos ab einer Geschwindigkeit von etwa 35 km/h denen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor vergleichbar sind. Das bewirken Abroll- und Windgeräusche. Ab Mitte 2019 müssen Elektroautos zusätzlich künstlichen Lärm machen. Hier wurde Forderungen von Blindenverbänden Rechnung getragen, damit Sehschwache durch entsprechende Warngeräusche vor Unfällen geschützt werden.

Einen Ausweg aus der Mobilitätskrise sieht Wolf in einer Verkehrswende: Die drei "grünen" Verkehrsarten Zufußgehen, Radfahren und öffentlicher Verkehr müssen begünstigt, die "roten", zu denen der Autoverkehr zählt, eingeschränkt werden. Bei der Ausstellung "Alptraum Auto" wurden diese Maßnahmen damals unter dem Begriff "Allgemeine Verkehrsberuhigung" zusammengefasst. Eine Maßnahme, die auch schon 40 Jahre oder länger von Umweltgruppen und Grünen Parteien gefordert wird, gar nichts kostet und eine sofortige Reduktion der giftigen Autoabgase bringt, ist die Reduzierung der Geschwindigkeit (100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Bundesstraßen).

Winfried Wolf: Mit dem Elektroauto in die Sackgasse.
Warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt,
Promedia 2019, 216 Seiten, ca. Euro 17,90

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2000 Zeichen abwärts

Lackierte Kampfhunde

Wenn die männliche Ehre auf dem Spiel steht, ist alles andere egal! Um eine Kränkung abzuwehren, wird notfalls sogar der eigene Untergang in Kauf genommen. Wie gewisse Hunde keine Tiere, sondern das nach außen verlegte Aggressionspotenzial ihrer Besitzer sind, so sind gewisse Autos keine Fortbewegungsmittel, sondern lackierte Kampfhunde, die ihre Fahrer aufeinander loslassen. Es sind männliche Selbstwertprothesen, die das schwächelnde männliche Selbstgefühl aufmöbeln. Die Kraft der Motoren entscheidet über den Status: je stärker und lauter, desto männlicher. Statt die Motorengeräusche zu dämpfen, werden sie durch Soundgeneratoren mutwillig verstärkt. Solche Autos fungieren als Viagra des männlichen Stolzes.

Das Automobil erfüllt wie der Fußball in unserer Gesellschaft eine wichtige sozialpsychologische Funktion: die gestaute Wut derer loszulassen, die in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression leben müssen und in Unmündigkeit und Ohnmacht gefangen sind. So entwickelt sich der Straßenverkehr mehr und mehr zu einer Form des Krieges. Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation fallen diesem Krieg weltweit jährlich 1,25 Millionen Menschen zum Opfer.

Der steigende Absatz von Geländewagen, SUVs und Pick-ups zeugt auch hierzulande davon, dass auf den Straßen Krieg herrscht. Jeder macht sich zum Kommandanten seiner eigenen rollenden Festung. Wie in jedem Krieg, gibt es auch in diesem Leute, die gut an ihm verdienen. Wenn es wahr ist, "dass man eine Nation erst dann wirklich kennt, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist", wie Nelson Mandela gesagt hat, so könnte man auch den Straßenverkehr als Gradmesser dafür nehmen, wie es um die Zivilisiertheit einer Gesellschaft bestellt ist. Wir sind Zeugen einer gigantischen Auto-Mobilmachung.

G.E.

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Vier Wände, die nicht schützen

Schallschutz in Mietshäusern

von Maike Neunert

Schallschutz in Mietshäusern lädt eher zu reformerischen als zu revolutionären Diskursen ein. Leichtes Klopfen auf dem Thema macht hinter dem abbröckelnden Putz immerhin ein paar Gitterstäbe zum Ansägen sichtbar.

Unabhängig von der Gesinnung zieht wer kann aus einer hellhörigen Wohnung aus, um andere leiden zu lassen. Als Objekte, die Menschen im Allgemeinen dienen sollen, werden Mietwohnungen spätestens im Recht ausgelöscht. Höchstens auf den privaten Gebrauchswert dürfen Mieter*innen pochen. Für gesellschaftlichen Gebrauchswert sind spezielle Institutionen zuständig, etwa Wohnungspflegeämter. Maßen sich Protestbewegungen Bezugnahmen auf den gesellschaftlichen Gebrauchswert von Privateigentum an, ob im Bereich des Wohnens oder anderswo, dann meist im Bestreben, sie dem Staat zu übertragen, der allein sie praktisch umsetzen kann - solange Protestierende ihre Forderungen nicht selbst erfüllen.

Staatsbezug auf Mietwohnungen kann gefährliche Folgen haben, zum Beispiel behördliche Inspektionen auf Mängel der elektrischen Sicherheit wie teilweise in den USA und Großbritannien, bei denen sich auf Überbelegungen mit illegalisierten Mitmenschen achten lässt. In Deutschland droht aus dieser Richtung vorerst keine Gefahr. Anlässlich des Todes einer Mieterin, die 2005 in ihrer frisch angemieteten Wohnung beim Duschen durch Berühren eines Handtuchhalters starb, stellte ein Gericht klar, dass anders als in anderen Ländern Vermieter*innen in Deutschland keiner Pflicht zu Prüfungen der elektrischen Sicherheit unterliegen (Landgericht Bielefeld 29.10.2009 - Az. 6 O 262/09).

Auch wenn Menschen von Lärmbelastungen nicht sofort tot umfallen, erstaunt es, dass angesichts von mindestens 15 % mangelhaft schallgeschützten Mietwohnungen kein bisschen Kollektivprotest entsteht. Im Fall von Windkraftanlagen entstand er. Von Windkraftanlagen oder auch Startbahnen lässt sich leichter Überflüssigkeit behaupten als von Mehrfamilienhäusern. Zwar wissen wir, dass Menschen Mietshäuser bauen, wie sie auch sonst die Dinge erschaffen, die wir uns von der Wiege bis zur Bahre ununterbrochen an und einverleiben, doch bleibt dieses Wissen abstrakt genug, um eher unschuldige Nachbar*innen verantwortlich zu machen als die Verhältnisse unter den Tapeten. "Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus", sagt Marx über "den Arbeiter" (MEW 40, 514). Aus der Produktion verbannt, flüchtet das Subjekt in die Konsumtion. Hier nimmt es menschliche Arbeit im Gegenständlichen hin wie andere Naturphänomene auch.

Haben nicht Klagen über Lärm sowieso etwas Spießiges an sich? "Stell dich nicht so an", vermitteln nicht selten Freund*innen, Gerichte, Täter*innen und Lärmgeplagte selber sich im Chor, "so ist halt die Natur!" Mangelhafter Schallschutz belästigt höchstens, verletzt aber niemanden. Mit ihrem natürlichen Apparatus dürfen Vermieter*innen Schläge austeilen und schlaflose Nächte bereiten. Bewirken Nachbar*innen dasselbe, ist die Polizei zuständig.

Der Vereinzelung im Lärmempfinden liegt eine Nichtkultivierung zugrunde, die im Fall sexualisierter Gewalt durchbrochen werden konnte. Wie das gehen kann, spielen Kinder vor: Ich sehe was, was du nicht siehst ... und das iiiist ... rot! Für Hörempfindungen fehlt ein Spiel, obschon sie nicht anders funktionieren als Sehempfindungen auch. Im Hirn sind alle Reize grau. Sinnesqualitäten erschließen wir aus dem zerebralen Zielgebiet. So verhelfen elektronische "Lollis" über Tastempfindungen der Zunge, die im visuellen Kortex landen, vorbei an der Blindheit zu groben Seheindrücken (youtu.be/xNkw28fz9u0).

Ein Notbehelfsgleichnis: In gut schallgeschützten Mehrfamilienhäusern fliegen den Bewohner*innen durch herkömmliche Wohngeräusche aus Nachbarwohnungen Wattebällchen an den Kopf (weiß). In mittelmäßig schallgeschützten Häusern sind es Schaumstoffbälle (rosa) und in schlecht schallgeschützten Tennisbälle (rot). Wer die Tennisbälle nicht selbst gefühlt hat, leugnet bei entsprechend autoritärem Charakter ihre Existenz. Nicht als Wahrnehmungen anerkannte Empfindungen behandelt die dominante Kultur als zu vermeidende Einbildungen oder gar psychische Störungen, nicht als Gelegenheiten, ihren Horizont zu erweitern. Urzeitlichen Gesellschaften hätte es die gegenwärtig herrschende neurophysiologische Rigidität vermutlich unmöglich gemacht, aus den Arthritis-Höhlen zu stapfen. Allein, Malereien auf den Höhlenwänden wären als Schmierereien unterbunden worden.

Normen

Welches Empfinden kultiviert wird und welches nicht, hängt nicht zuletzt vom sozialen Einfluss der Empfindenden ab. Mit abnehmendem Einfluss wächst die Vereinzelung. Reicht der Einfluss geradeso eben in die Nichtignorierbarkeit, werden Verletzungen um den Preis anerkannt, sich zum Gegenstand einer Nachweisprozedur zu machen, deren Ergebnisse ohne emotionalen Nachvollzug beurteilbar sind.

Mit dem Sieg des Neoliberalismus wurden gewisse soziale Einflüsse geschwächt.

1968 meldeten Leute der WHO noch Handlungsbedarf an: "... die meisten modernen Häuser bieten keinen ausreichenden Schutz gegen Lärm, der außerhalb oder innerhalb der Gebäude entsteht. ... Lärm innerhalb von Wohnungen besteht hauptsächlich aus tief-frequenten Geräuschen, die, obwohl von der Intensität her gering, über lange Zeiträume wirken ... Stimulierende und störende Geräusche reichen in ihrer Intensität von 30 bis 65 Dezibel (dB). ... Viele Autoren gehen davon aus, dass die von Geräuschen niedriger Intensität verursachte Reizung auf eine durch eine große Zahl von Warnsignalen verursachte Erschöpfung zurückgeht, die eine mit Furcht und Unruhe verwandte Reaktion hervorrufen." (Goromosov 1968, 68 f.)

Zur Jahrtausendwende erhielten Mieter*innen in Deutschland eine Schallschutznorm namens DIN 4109 als entscheidenden Maßstab vorgesetzt. Die DIN 4109, deren Inhalte technische Delegierte von Bauwirtschaftsführungen bestimmen, ohne Fachleute der Humwanwissenschaften mitmachen zu lassen, legt fest, wie viel Schalldruck, der auf eine Wand oder Decke trifft, auf der anderen Seite herauskommen darf. Beim Nachweis der Normerfüllung wird der Schalldruck künstlich erzeugt, damit die Messungen reproduzierbar sind. Mit herkömmlichen Wohngeräuschen hat er nichts zu tun (Mašović 2013). Tiefe Klänge bleiben unbeachtet: gemessen wird ab 100 Hz aufwärts; im Arbeitsschutz immerhin ab 50 Hz; gehört wird - wie Fachkreisen der 1930er Jahre bekannt war und auf Druck von Windenergieanlagenprotesten genau gemessen wurde - ab etwa 8 Hz (Physikalisch-Technische Bundesanstalt 2015).

Um Schallschutzverbesserungen zu erreichen, haben Mieter*innen auf eigenes Kostenrisiko Verstöße gegen diese Norm zu beweisen. Fehlt das Geld, wird eben nichts bewiesen. Proaktiv Normeinhaltungen nachweisen wie der Rest der Anbieter*innen von was auch immer brauchen Vermieter*innen nicht.

2010 erklärte der deutsche Bundesgerichtshof, durchaus passend zur DIN 4109, Wohnungen für zumutbar, in denen die Bewohner*innen nicht "im allgemeinen Ruhe finden" (Urteil vom 07.07.2010 - VIII ZR 85/09), und 2015 sah er "die Anforderungen der zur Zeit der Gebäudeerrichtung maßgeblichen DIN 4109 in der Ausgabe von 1962 (Trittschallgrenze: 63 dB) ... als ausreichend an". (Urteil vom 27.02.2015 - V ZR 73/14)

12 Jahre vor Fällung dieses Urteils hieß es in einer Fachzeitschrift zur DIN 4109 von 1989, die gegenüber der von 1962 verbessert wurde: "Zusammenfassend ist festzustellen, dass die gegenwärtigen Anforderungen nach DIN 4109" von "Bauherren, Verbrauchern, Herstellern und Sachverständigen" ... "als unzureichend betrachtet werden." (Kurz 2003, 153)

Mit den "Bauherren" sind Eigenheimbaupersonen gemeint. Weil nach DIN 4109 erbaute Häuser kein zufriedenstellendes Wohnen versprechen, schufen sie sich eine separate Schallschutznorm. Wer Häuser bauen lässt, in denen andere zur Miete wohnen, findet mangelhaften Schallschutz eher klasse, u.a. weil er häufigere Gelegenheiten zu Mieterhöhungen schafft. Mit ihren Urteilen, nach denen der "Standard bei Erbauung" zu gelten habe, sorgen die Eigenheimler*innen vom Bundesgerichtshof dafür, dass mangelhafter Schallschutz nicht auf die Mieten schlägt. Dem kommt die Natur entgegen, denn anders als ein Kohleofen in der Stube bleibt Lärmbelastung bei Anmietung unsichtbar. Absurderweise würde das Argument vom "Standard bei Erbauung", mit dem Schallschutzverbesserungen abgeblockt werden und das Mietervereine widerspruchslos schlucken, bei älteren Häusern öfters genau diese erfordern, da Alterung, Rohreinbauten, Wärmedämmung usw. den Schallschutz verschlechtern.

Gesundheitliche Grenzwerte in dem Sinn, wie sie ansatzweise für Lärm im Arbeitsschutz bestehen, legt die DIN 4109 nicht fest. Um solche Grenzwerte zu definieren, wären die Wirkungen tatsächlich auftretender Geräusche auf Menschen zu berücksichtigen und daraus Anforderungen an den Hausbau zu entwickeln.

Lärmstudien

Wie falsch Behauptungen sind, nach denen mangelhafter Schallschutz lediglich zu Belästigungen führt, zeigt eine 2002 von der WHO initiierte "Large Analysis and Review of European housing and health Status" (LARES), die acht europäische Städte mit 8.539 Menschen umfasste. Sehr grob zusammengefasst ergab die Studie, dass ein Viertel der Wohnungen Europas krank macht und diese Wohnungen der ärmere Teil der jeweiligen Bevölkerungen bewohnt (WHO 2007). Sofern eine einigermaßen funktionierende Gesundheitsversorgung besteht, werden die Kosten, die ein angemessener Minimalstandard der Wohnungsqualität verursachen würde, in den Gesundheitssektor verschoben.

Bezogen auf Lärm ergab LARES: "Bei Erwachsenen, die eine dauerhaft massive Belästigung durch Nachbarschaftslärm angaben, wurden erhöhte Erkrankungsrisiken des Herz-Kreislauf-Systems ... festgestellt. ... Stark erhöhte signifikante Risiken wurden für arthritische Symptome und Arthritis berechnet. ... Herausragende Effekte auf das neuropsychische System wurden bei langfristiger Belästigung durch Nachbarschaftslärm ebenfalls gefunden ... Die Neigung zur Depression (SALSA) wie auch medizinisch diagnostizierte Depressionen nehmen bei schwerwiegender und langfristiger Belästigung durch Nachbarschaftslärm signifikant zu. ... Darüber hinaus wurde bei schwerwiegender und langfristiger Belästigung durch Nachbarschaftslärm ein stark erhöhtes Risiko für Migräne bestätigt. ... Ein signifikanter Trend innerhalb der Belästigungskategorien konnte außerdem für ... Allergien bestätigt werden. ... Im Zusammenhang mit schwerwiegender Belästigung durch Nachbarschaftslärm zeigt die LARES-Studie, dass Nachbarschaftslärm als ernste Gesundheitsgefährdung für Erwachsene klassifiziert werden muss."

"Eine langfristige Belästigung durch Nachbarschaftslärm zeigte bei Kindern (bis 17 Jahren) einen deutlichen Effekt auf das Atmungssystem ­... Signifikant erhöhte Risiken wurden für Atemwegsbeschwerden wie auch für Bronchitis bestätigt. ... Das stark erhöhte Erkrankungsrisiko des Atmungssystems unterstützt die Annahme, dass Kinder bezüglich der Belästigung durch Nachbarschaftslärm als Risikogruppe klassifiziert werden sollten." (Niemann 2006)

Menschen anstatt Wohnungen in Risikogruppen einzuordnen, demonstriert konkreten Nutzen der "Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt" (Marx: Resultate 1970, 20/124). Für als gesundheitsschädlich klassifizierte Wohnungen ließen sich kaum Durchschnittsmieten verlangen. Mangelhafter Schallschutz von Wohnungen bringt Allergien und Angst, Bronchitis, Cholesterin- und Kortisolerhöhungen, Depressionen und vieles mehr, ganz ohne dass sich die Betreffenden über Lärm beklagen. Sie brauchen ihn nicht mal zu bemerken.

Lärm, von dem Menschen nicht aufwachen, ist ziemlich leise. Trotzdem, so eine weitere Studie, "verursachen Lärmstörungen während des Schlafes erhöhten Blutdruck, beschleunigten Herzschlag, erhöhte Pulsamplituden, Gefäßverengung, Veränderungen der Atmung, Störungen des Herzrhythmus ... Bei jedem dieser Effekte können die Schwellwert/Reaktions-Beziehungen unterschiedlich sein. Einige dieser Effekte (Aufwachen zum Beispiel) können sich bei wiederholter Exposition verringern, andere, insbesondere kardiovaskuläre, nicht." (Goines 2007)

Noch nicht nachmessbar ist der Einfluss von Lärm auf Trauminhalte. Um nicht aufwachen zu müssen, träumen wir anderes, als wir zur konstruktiven Bearbeitung unserer Erlebnisse brauchen könnten. Nicht nachmessbar ist auch die Persönlichkeitsveränderung, die das Überleben in hellhörigen Wohnungen erfordert. In visueller Analogie entspricht Nachbarschaftslärm einem unregelmäßigen plötzlichen Auftauchen zusammenhangloser Bilder unterschiedlichen emotionalen Gehalts, die zu ignorieren sind.

Geht es darum, Lärmeffekte auf Organismen zu studieren, denen keine Deutung akustischer Reize zugetraut wird, kommen Wissenschaftler*innen nicht darum herum, Lärm als Gift zu betrachten. So ist in einer Arbeit über Wirkungen von Umweltlärm von "embryotoxischen Wirkungen" die Rede (Meyer 1989).

Nach einer kanadischen Studie, die rund 68.000 Geburten erfasste, senkt Straßenverkehrslärm am Wohnort das Geburtsgewicht um 19 g je 6 dB(A) (Gehring 2014). Bezüglich der Entwicklung einer Angelegenheit namens "Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse" (HHNR) heißt es in einer Dissertation: "Ist die fötale HHNR-Achse während der sensiblen Phase ihrer Ausbildung einer hohen Kortisolkonzentration ausgesetzt ..., so werden diese Kortisolkonzentrationen als 'normal bewertet' und es findet eine Sollwerteinstellung der negativen Feedbackschleifen auf höherem basalen Niveau und mit höheren Kortisolausschüttungen in Reaktion auf Stress statt." (Haselbeck 2012)

Unwissenschaftlich zusammengefasst bewirkt Wohnlärm oder anderweitiger chronischer Stress ungefähr: Der Fötus erfährt über den Mutterleib, wie stressig es "da draußen" werden wird, und stellt sich darauf ein, indem er seine Fähigkeiten zu schnellen Aktionen und Reaktionen fördert. Dafür nimmt er hin, näher an Depressionen und Angst gebaut zu sein und wahrscheinlicher Diabetes und ein schlechteres Gedächtnis zu bekommen, als es ohne diese Anpassungsmaßnahme der Fall wäre. Für welchen guten Zweck macht er das alles?

Aufwändigere nachträgliche Schallschutzmaßnahmen zum Beispiel in DDR-Plattenbauten würden bei vollständiger Umwälzung auf Mieter*innen eine Mietpreisexplosion um (anhand von Zahlen nach Küstner 1997) grob geschätzt 35 Euro für 65-m²-Wohnungen verursachen. Neubaukosten für Mehrfamilienhäuser stiegen um rund 5 %, würde der Schallschutz auf ein Niveau angehoben, das in etwa bedeutet: keine Gehgeräusche, keine Stimmen und kein Fernsehgebrabbel aus Nachbarwohnungen mehr (Kötz 1999). Unzumutbar teuer wird Schallschutz beim Vermieten: Ein Verlust von 5 m² durch dickere Wände oder Vorsatzschalen bedeutet bei 7 Euro/Monat Kaltmiete einen Einnahmeverlust von 35 Euro/Monat. Bevor es so weit kommt, ist für Ungeborene HHNR-Anpassung und für Geborene Gewöhnung angesagt.

Wissen und Herrschen

Darüber, ob Sinneseindrücke aus Ohren, Haut, Augen und Mund ins Großhirn dürfen, wacht der Thalamus. Gewöhnung an Lärm bedeutet: Diese Höreindrücke dürfen's nicht. Wie viel passiert, während der Thalamus das Tor zum Bewusstsein öffnet oder schließt, zeigen nicht nur physiologische Messungen. Von westlichen Massenmedien Vollgemüllte können das Geschehen beim Einkaufsbummel bemerken, wenn sie dicke Kinder Pommes essen oder beturbante Männer mit verdächtig ausgebeulten Plastiktüten sehen. Um weiter in Ruhe einkaufen zu können, oder auch, um sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen, korrigieren sie eine unwillkürlich-spontane Empfindung der Alarmiertheit im Großhirn.

Gewöhnung an Lärm ist so gut möglich wie etwa Gewöhnung an Alkohol. Ein Mensch kann es schon schaffen, nach dem fünften Kurzen nicht zu kotzen. Ungiftiger wird Alkohol dadurch nicht. Bei Lärm kann er in Maßen gleichwohl helfen (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism 1996). Ähnlich ist es beim Rauchen, das über Wirkungen auf Neurotransmitter Verwirrung durch Reizüberflutung reduzieren kann.

Eine nicht-normative Massenmedizin würde den Nutzen erforschen, der als Gleiche unterstellte Mitmenschen veranlasst, sich trotz einschneidender Konsequenzen diese oder jene Stoffe reinzuziehen. Heraus kämen Untergliederungen nach häuptsächlichem Nutzen. Darauf hin wäre erforschbar, wie sich der aufgefundene Nutzen mit weniger unerwünschten Wirkungen erreichen lässt. Solchen Forschungsprojekten steht die Hoheit von Geschäftsführungen der Pharmaindustrie über die Nutzenbestimmung von Drogen entgegen, die Eigenmacht diesbezüglich als unvernünftig erscheinen lässt. Wie viele Lärmgewöhnte mögen es sein, die Antiallergika, Blutdrucksenker oder Neuroleptika schlucken, wo eine Trittschalldämmmatte reichen könnte?

Unter Fremdherrschaft geriet auch die Ernährungsweise. Bei Lärmstress können Kalorienbomben helfen (Ulrich-Lai 2010). An dieser Stelle halten Ernährungsexpert*innen denen, die im Lärm zu wohnen gezwungen sind, ungesunde Ernährung vor. Günstigstenfalls, was ihre Gesundheit und Lebensdauer betrifft, ignorieren Letztere den Wissensvorsprung, der Anpassungen an suboptimale Umwelten verbietet, und zahlen beim nächsten Schokoriegel den verlangten Aufpreis des Versagensgefühls. Zuckerbrot und Peitsche: bewährtes Kombipräparat gegen Aufmüpfigkeit.

Ohne Stoffzufuhr hilft Gehörlosigkeit gegen Lärm. Eine taiwanesische Studie fand, "dass unter 7- bis 12-jährigen ... Kindern, die auf Schulen in Gebieten mit hohem Verkehrslärm in Taipeh gingen, diejenigen mit typischem Hörvermögen einen signifikant höheren Blutdruck hatten als gehörlose Kinder." (Ferguson 2013)

Eher nicht aus Unkenntnis der Zusammenhänge empfehlen biomächtige Gesundheitsexpert*innen, Kindern, die sich mit Musikabspielgeräten ein bisschen Schwerhörigkeit verpassen, einen "gesundheitsbewussteren und differenzierteren Umgang mit lauten Schallquellen" nahezubringen (Robert Koch-Institut 2008). Tagsüber durch die Straßen ziehen und Autos in Brand setzen und nachts verbrecherische Bundesgerichtshofangehörige wachklingeln, meinen sie damit nicht - ebenfalls nicht einen differenzierten Kampf gegen die Diskriminierung lärmbelasteter Kinder an Schulen.

Zu den Auswirkungen von Lärm auf den abgeprüften Teil des kindlichen Geistesapparates zählen Gedächtnisschädigungen und Schädigungen der Fähigkeit, Klänge zu unterscheiden, die zur Sprachwahrnehmung wichtig ist. Für das Kapital ausgesprochen nützlich ist eine Lärmwirkung, die "erlernte Hilflosigkeit" heißt und eine resignierte Einstellung bezeichnet, sowieso nichts ändern zu können.

"Die ersten Studien zu erlernter Hilflosigkeit verwendeten unkontrollierbaren Lärm als Reizauslöser. Seither haben viele Studien belegt, dass unkontrollierbare Lärmbelastung erlernte Hilflosigkeit verursachen kann." (Ferguson 2013)

Wäre der Kapitalismus eine Verschwörung, könnten sich die Kapitalist*innen gefragt haben: Wie erzeugen wir eine Unterklasse, deren Angehörige ihren Nichtaufstieg in der Sozialhierarchie der eigenen Doofheit zuschreiben? Antwort: Lasst uns entsprechend des gewünschten Prozentsatzes der Unterklasse schlechte Wohnverhältnisse schaffen.

"Eine kleine Anzahl von Studien in Nordamerika und Europa untersuchte Wohnqualität und kognitive Entwicklung. Einige ... deckten auf, dass ­... Kinder bei unterdurchschnittlicher Wohnqualität geringere schulische Kompetenzen aufwiesen. Diese Effekte werden durch die Dauer, während der die unterdurchschnittliche Wohnqualität besteht, verstärkt, und eine Studie zeigte, dass sich die Grundschulleistungen verbesserten, wenn Familien in Wohnungen mit besserer Wohnqualität umzogen." (Ferguson 2013)

Wahrscheinlicher entstehen schlechte Wohnverhältnisse ökonomisch-mechanisch: Der Preis von Arbeitskräften liegt wie der aller Waren unterhalb ihrer Reproduktionskosten, solange das Angebot die Nachfrage übersteigt. Ohne Gewerkschaftsmacht und staatliche Umverteilungen wären für leicht ersetzbare Arbeitskräfte keine privaten Wohnungen, keine Kinderaufzucht, keine Krankenversicherung drin. Kampf um Reformen bleibt lebenswichtig, bis der Kapitalismus unmittelbar vor seiner Aufhebung steht.

Wie um diese zu verzögern, liefert mangelhafter Schallschutz dem populistischen Überbau die Biobasis. Nach der Pharmaindustrie undienlichen soziopsychologischen Experimenten vorneoliberaler Zeiten verringern Lärmbelastungen Hilfsbereitschaft und Gutwilligkeit gegenüber Mitmenschen sowie die Komplexität im Denken. Damit keine Vorurteile aufkommen: In einem der Experimente lebten Studierende eine Woche lang in einem Wohnheim. Eine Gruppe der Studierenden wurde über einen außerhalb des Hauses stehenden Lautsprecher ständigem Verkehrslärm bis 70 dB (draußen) ausgesetzt; die andere genoss relative Ruhe. Gruppendiskussionen, bei denen die Aufgabe darin bestand, Einigkeit zu erzielen, dauerten bei den Lärmbelasteten länger und in ihren Diskussionen bestand mehr Uneinigkeit. Allgemein sprachen Studierende der lärmbelasteten Gruppe schneller als die der Vergleichsgruppe (Cohen 1985).

In einer Situation konsumorientierter Vereinzelung hängt Aufbegehren von der Möglichkeit ab, Gedankenketten zu bilden, mit deren Hilfe sich Selbstverständlichkeiten abstoßen lassen. Hellhörige Wohnungen sind Gedankenkettenschneidemaschinen, die zur Flucht in die massenmediale Verseuchung des limbischen Systems treiben. Ohne Reformen im Schallschutz kann es zur Revolution nur auf die harte Tour kommen, durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, die physischen Lebensverhältnisse einer qualitativen Mehrheit oberhalb des Rebellionsniveaus zu halten.


PS: Macht jemand mit, ein reformistisches Sachbuch zum Thema zu schreiben? Es wäre das erste deutschprachige seiner Art.
hellhoerig@hamburger-netzwerk.de


Quellen

Zitate aus englischen Quellen sind ungeprüfte Eigenübersetzungen.

Cohen S, Spacapan S (1985): The Social Psychology of Noise, in: Jones DM, Chapman AJ (Hrsg.): Noise and Society. Wiley, Chichester.

Ferguson KT, Cassells RC, MacAllister JW, Evans GW (2013): The physical environment and child development: An international review, in: International Journal of Psychology.

Gehring U, Tamburic L, Sbihi H, Davies HW, Brauer M (2014): Impact of noise and air pollution on pregnancy outcomes, in: Epidemiology.

Goines L, Hagler L: Noise Pollution (2007): A Modern Plague, in: Southern Medical Journal.

Goromosov MS (1968): The physiological basis of health standards for dwellings. WHO Public Health Paper 33.

Haselbeck C (2012): Fötale Programmierung: Der Einfluss von pränatalem Stress auf Entwicklung, Temperament und HHNR-Achsen - Funktion des Säuglings - eine prospektive Studie (Dissertation).

Kötz WD, Blecken U (1999): Forschungsbericht: Kosten des Schallschutzes im Wohnungsbau - Beispiel für kostengünstige Lösungen (Umweltbundesamt Berlin).

Küstner E, Sonntag E, Scholze J (ca. 1997): Kurzfassung - Kostenoptimierte Verbesserung des Trittschallschutzes im industriellen Wohnungsbau, Teil 2
(www.irbnet.de/daten/kbf/kbf_d_F_2357.pdf)

Kurz R, Schnelle F (2003): DIN 4109 Teil 10 - ein Fortschritt der Bauakustik? In: Fortschritte der Akustik, DAGA.

Mašović DB, Šumarac Pavlović DS, Mijić MM (2013): On the suitability of ISO 16717-1 reference spectra for rating airborne sound insulation, in: Journal of the Acoustical Society of America.

Meyer RE, Aldrich TE, Easterly CE (1989): Effects of noise and electromagnetic fields on reproductive outcomes, in: Environmental Health Perspectives.

National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (1996): Publikation Nr. 32 PH 363 (pubs.niaaa.nih.gov/publications/aa32.htm)

Niemann H et al. (2006): Noise-induced annoyance and morbidity results from the pan-European LARES study, in: Noise Health.

Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Pressemitteilung vom 10.07.2015 (www.ptb.de/)

Robert Koch-Institut (Hrsg.), Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) (2008): Erkennen - Bewerten - Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.

Ulrich-Lai YM et al. (2010): Pleasurable Behaviors Reduce Stress via Brain Pathways, Research Shows. University of Cincinnati (www.pnas.org/content/107/47/20529)

WHO Regional Office for Europe (2007): Large analysis and review of European housing and health status (LARES) - Preliminary overview.

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Home Stories
Bohren

Frau Landgrebe hat sich verabschiedet. Ihre Haushälfte gehört ihr nicht mehr. Die wurde verkauft und nun gibt es, so konnte man auf einem Blatt Papier lesen, eine neue Nachbarschaft, die sich "freuen" würde, und es gebe viel Musik.

In der Nacht träumte ich von lärmenden Riesenbohrern und Hämmern, regelmäßig, gleichbleibend. Als wäre die Firma Infernalisch & Laut bei der Arbeit. Dazwischen Klopfen. Als Kultur-Alpträume - in Salzburg ja nicht ungewöhnlich - tat ich das ab. Der Jedermann-Lärm, der jedes Jahr Salzburg reich macht, wirkt. Inge, die ich konsultierte, schob alles auf die würzige Luft in Salzburg. Würzig? Am Rand der Stadt jauchig und im Altstadtbereich Benzin geschwängert.

Zurück zum Problem. Es war anders. Es klang wie eine Baustelle, so dachte - träumte - ich nicht nur. Ich hörte es. Täglich. Ob ich früh, mittags oder zum Abend hin meine Wohnung betrat: Bohren, Vorschlaghämmern, Klopfen. Sssrrrr, tock, tock, tock, wumm, wumm, wumm. Gleichmäßig, ständig das Leben gefährdend und überaus Selbstmord fördernd.

Ich traf Herrn Winter im Flur. "Es ist nicht zum Aushalten", klagte ich. Er sah mich verwundert an, runzelte die weise Stirnhaut. "Ich hör nix", meinte er, sah seine Frau fragend an, die auch den Kopf schüttelte. Beide behaupteten, noch nie irgendwelche Geräusche gehört zu haben. Weder am Tag noch in der Nacht.

Dabei komme ich aus einem Haushalt, der schon Mitte des vorigen Jahrhunderts einen Schallplattenspieler betrieb, samt einer mir bis heute unverständlichen Plattensammlung. Ich bin geräuschgeschult! Polnische und russische, überhaupt slawische, später auch spanische und südamerikanische Folklore, jiddische Lieder und aschkenasisch-jüdische Kantoral-Liturgie, Hollywood-Film- und Mantovani-Schmachtmusik. Keine Schlagermusik und - bedauerlicherweise - kein Jazz. Dafür neapolitanischer Gesang aus dem Munde Beniamino Giglis, Werke aus dem Bereich der leichten Klassik (Operettenmusik, Ouvertüren und allgemein Bekömmliches aus der Welt des Musicals) sowie eine stattliche Zahl von Meisterschöpfungen aus dem klassischromantischen Fundus, besonders dem Repertoire der Sinfonik des Solokonzerts und virtuoser Klavierstücke, kaum je Kammermusik.

Bemerkenswert war dabei, dass unter den "klassischen" Schallplatten nicht nur das gängige Obligatorische der bekannten Beethoven-Symphonien oder etwa der großen romantischen Violinkonzerte, sondern - in jenen Jahren noch keinesfalls selbstverständlich - auch César Francks d-Moll-Symphonie zu finden war; und selbst in den Bereich leicht verdaubarer populärer "Klassik", gewöhnlich von Griegs Peer Gynt, Rimski-Korsakows Scheherazade, Smetanas Moldau und dergleichen dominiert, schlichen sich Michail Ippolitow-Iwanows in Deutschland damals (wie eigentlich noch heute) ziemlich unbekannte Kaukasische Skizzen ein. Musik musste schön sein!

Als "schön" galten damals in der Familie hinreißende, emotional überschießende Melodien, aber auch rhythmische Rasanz, satter Orchesterklang und (dem Primat des Melodischen kommensurabel) Sangbarkeit. Es erübrigt sich hervorzuheben, dass unter diesen Voraussetzungen die klassische Moderne, geschweige denn ihre rigorosen Entwicklungen in der Folge der Zweiten Wiener Schule, keinen Einzug in die Schallplattensammlung halten konnte. Dass Igor Strawinskys Sacre du printemps dennoch unter den Platten zu finden war, verdankte sich keinem revolutionären Umschwung des familiären Musikgeschmacks, sondern der niedlich-charmanten (und eben darin heteronomen) Popularisierung des Werks in Walt Disneys Fantasia, jenem Unterhaltungsklassiker der Umsetzung berühmter Kunstmusikwerke ins Medium des Zeichentricks, der die Erziehungsberechtigten aufs Höchste begeistert hatte.

Das Prekäre für mich an dieser familiären Vorstellung von musikalischer Schönheit war, dass sie sich in meinem ästhetischen Gemüt sedimentiert hatte, mir gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen war und spätestens dann zum Problem werden sollte, als ich in der Hauptschule Zell am See eine "anständige" Musikerziehung genießen musste, die vermittelte, dass amerikanische Cowboys auf keinen Fall jodeln dürften. Dies sei der Pinzgauerin und dem Pinzgauer mit Kropf (auch bekannt als Pinzgauer Sportabzeichen) vorbehalten.

Mir ist also feiner, eleganter Lärm genauso bekannt wie "grober". Ich kann mit ihm leben!

"Hören Sie das denn nicht?", fragte ich, Tag um Tag immer verzweifelter. Die Nachbarschaft, sonst ständig bemüht, mir "Schöne Tage" zu wünschen oder mit mir über das Wetter zu plaudern, manchmal sogar über den Bundeskanzler, machte um mich immer größere Bögen, die ich als Umwege wahrnahm, nur um sich nicht meinen Klagen auszusetzen.

Der Lärm war Tag für Tag immer lauter geworden. Es hörte sich so an, als würde eine polnische Truppe dafür Rache üben, dass Österreich beim zweiten Weltkriegsbeginn mit nach Polen einmarschiert war.

"Hier ist doch der Beweis", stellte ich (mit Blick auf den randvollen Schuttcontainer) fest. "Sehen Sie das denn nicht? Hier wird seit Wochen erbärmlichster unmelodischer Baulärm produziert! Da sind die Überreste, die Beweisstücke des Lärms und der Zerstörung doch zu sehen!" Nicht entsorgte Lärm-Notdurft!

"Fata Morgana", meinten die Winters; andere waren drastischer: "Gengan S' doch zum Psychiater. Sie halluzinieren!"

Der Lärm allerdings hatte in der Zwischenzeit Formen angenommen, als würden drei Divisionen polnischer und ungarischer Zahnärzte gemeinsam an meinem letzten Backenzahn herumbohren. Sirrende Geräusche, unterbrochen durch lang anhaltende Hammerschläge, versetzen meine Wohnung und mein Gemüt in einen vibrierenden Zustand der Gehörlosigkeit. Meine Geschmacksnerven versagten. Ich konnte nicht mehr den Geschmack einer Topfenpalatschinke von einem Frühstücksgulasch unterscheiden. Weinverkostungen samt Geschmacksurteil, mit denen ich meine Einkünfte bestritt, waren unmöglich. "Hören Sie denn nichts?", fragte ich jeden verzweifelt, der mir in Nähe des Gebäudes Zwieselweg 3a begegnete.

Doch niemand hörte was, niemand hörte Hammerschläge, zerberstendes Mauerwerk, bohrend sirrende Geräusche. Alle taten so, als hätten sie noch nie was gehört, sahen mich verwundert und mitleidig an. Als gäbe es diesen infernalischen Lärm nicht. Mein Nachbar, Herr Pacher - er lebt direkt neben der Lärmquelle -, sah mich verständnislos an, als ich ihn darauf ansprach. Kopfschüttelnd wandte er sich ab, als fände der Lärm nicht auf einer Baustelle, sondern nur in meinem Kopf statt.

Nun gut, wir hatten einen Winter, der kein Winter war, darauf folgte ein Frühling, der ebenfalls etwas war, nur kein Frühling, eher ein Sommer. Hatte das alles mit meinem Lärmproblem zu tun? Jedenfalls klopfte es weiter, sirrende Fräsgeräusche kamen aus der Wand neben meinem Bett. Im Arbeitszimmer klopfte ständig jemand ans Gemäuer. Kein Lärmschutz half.

Ich musste das Ganze von der seelischen Seite angehen. Vielleicht höre ich ja etwas, damit ich irgendetwas anderes nicht höre. Ich höre den Baulärm, damit andere Sachen von mir nicht gehört werden. Etwa Regierungserklärungen von Frau Merkel. In den Pausen konzentrierte ich mich auf die Stille, die es gab, zwischen den stundenlang gleichmäßigen Geräuschen. Doch dann holten sie mich ab.

In der Anstalt vermittelte man mir die Botschaft, dass das Leben höchstens ein Wispern sei. Ich hätte eigentlich alles völlig falsch wahrgenommen. Aber selbst in der Gummizelle bohrte, krachte und sirrte es unerträglich.

"Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie nicht hören", riet mir eine Krankenschwester. Jahre sind vergangen, ich lebe hinter dieser Tür.

Die Nachbarn wissen gar nicht mehr, dass ich existiere. Die Abstände zwischen den Lärmphasen wurden irgendwann immer größer. Dehnten sich aus und verloren sich irgendwann in der Stille. Sie umgibt mich nun hinter dieser Tür. Ich habe Angst, sie zu öffnen.

Vielleicht ist dann die Lärmpause zu Ende und jene Spannung auch, die mich fürchten lässt, dass irgendwann wieder das Bohren beginnt oder gar Schlagzeuggeräusche?

Dieter Braeg

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Schädliche Musik muss Privileg der Jugend bleiben von Dominika Meindl

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wer spielt wen nieder? Zum 85ten meines Alten.

Es war ein ungleicher Kampf. Wenngleich mit schlechtem Ausgang für mich und nicht für ihn. Für gewöhnlich spielten die Youngsters in den Siebzigerjahren ihre Eltern nieder. Man drehte die Steroanlange auf und ärgerte die Alten. Bei mir hat das leider nicht funktioniert. Bei dem seltsamen Machtspiel: "Wer hat die meisten Watt?", ward ich heillos unterlegen. Der Lärmaustausch endete mitunter in einer schmählichen Niederlage. Meine Pubertät konnte das zwar nicht aufhalten, aber durcheinandergebracht hat es mich schon.

Nicht dass ich meine Gerätschaft (bei mir war der Plattenspieler nicht Stereo, sondern Mono, detto der Kassettenrecorder) nicht aufdrehte, was das Zeug hergab - aber das Zeug gab nicht viel her. Mein Vater hingegen schaltete seine Apparate ein und spielte mich einfach an die Wand. Er war nämlich jahrzehntelang Mitglied diverser ländlicher Musikkapellen gewesen und so schwer bewaffnet. Souverän erledigte er mit seinen kräftigen Verstärkern und riesigen Boxen mein Aufbegehren.

"Smoke on the water" ging unter im Schmalz von "Rehbraune Augen hat mein Schatz". Viele dieser Schlager konnte ich durch die beharrliche väterliche Zwangsbeschallung sogar auswendig. Noch heute lärmen sie in meinen Ohren.

Franz Schandl

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Rezense

Irene Götz (Hg.): Kein Ruhestand - wie Frauen mit Altersarmut umgehen,
Kunstmann Verlag, München 2019, 320 Seiten, ca. 20 Euro

Viele müssen unter der Armutsgrenze leben, insbesondere Frauen in der Rente. Armut wird trotzdem kaum diskutiert, geschweige denn etwas dagegen unternommen. Umso beachtlicher, mit welcher Vehemenz Irene Götz, Professorin für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München, sich dieses Themas annimmt. Begonnen hat das Projekt "Prekärer Ruhestand" der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) 2015. Ausgangspunkt war ein Widerspruch: In Bayern waren bereits damals bis zu zwei Drittel der Rentnerinnen arm oder armutsgefährdet. Heute sind es in München fast alle allein wohnenden. Aber in der Öffentlichkeit sind sie meist "unsichtbar". Oft wird die Armut sogar den eigenen Kindern verheimlicht. Im Buch "Kein Ruhestand" gewähren 18 Frauen Einblicke in ihre schwierige Lage und berichten, wie sie diese zu bewältigen versuchen. Die Armutsgründe sind so unterschiedlich wie die Berufe, die Biografien und die sozialen Milieus der Frauen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: die Wohnkosten sind drastisch gestiegen und die Renten wurden in den letzten 20 Jahren stark gesenkt. Dass Armut bis weit in die Mittelschicht hineinreicht, will niemand wahrhaben. Selbst wer 45 Jahre lang ein mittleres Vollzeiteinkommen hatte, liegt heute mit 1300 Euro Rente in München unter der Armutsgrenze. (In Österreich beträgt Letztere zurzeit ca. 1270 Euro.)

Götz betont aber auch den dringenden politischen Handlungsbedarf bezüglich aller Armutsbetroffenen. Das Buch enthält auch einen gut lesbaren wissenschaftlichen Teil und einen Überblick über soziale Einrichtungen und Netzwerke. - Aus den Niederungen der gleichgeschalteten, marktkonformen Wissenschaft ragt eine kritische!

Auf der Suche, ob es für Österreich eine adäquate Studie gibt, stieß ich nur auf den "Wohnmonitor Alter 2018", die Veröffentlichung eines dreijährigen Forschungsprojekts (2017-2019) unter der Leitung von Franz Kolland, Professor für Sozialgerontologie der Universität Wien. Auftraggeber ist die SeneCura Kliniken- und Heimbetriebsges. m.b.H. Ziel dieser Studie, die sich v.a. an die Verwaltung, an Architekten, Planer und Träger von Pflegewohneinrichtungen richtet, "ist der Aufbau empirisch fundierten und differenzierten Wissens über Wohnbedürfnisse und Wohnvorstellungen neuer Generationen älterer Menschen". Das Ergebnis wurde in vielen Zeitungen kurz präsentiert: die Älteren seien sehr zufrieden mit ihrer Wohnsituation, insbesondere jene, die in einer Eigentumswohnung bzw. in ihrem eigenen Haus leben. Dass sich immer mehr Pensionistinnen die Wohnkosten überhaupt nicht mehr leisten können, davon ist im Buch nirgends die Rede. Es wurden 1001 Personen befragt, davon haben 805 das Haushaltseinkommen angegeben: 29 Prozent bekommen bis 1300 Euro, 21 Prozent bis 1800, 29 Prozent bis 2800, 21 Prozent über 2800. Wie passen diese Zahlen zur Tatsache, dass die Hälfte der 2,77 Millionen Pensionisten unter 1115 Euro bekommt, also unter der Armutsgrenze lebt? Franz Kolland in einer Ö1-Radiosendung am 24.5.2019 auf die Frage einer Hörerin zu dieser Ungereimtheit: "Das ist ein grundlegendes Problem, das wir in der Sozialforschung haben. Da wir ja repräsentativ sind, also die Gesamtbevölkerung zu erfassen trachten, bleiben Gruppen mit sehr kleinen oder sehr hohen Einkommen immer ein bisschen außen vor." - Welch frappierende Logik.

M.Wö.

Franz Kolland u.a.: Wohnmonitor Alter 2018 - Wohnbedürfnisse u. Wohnvorstellungen im 3. u. 4. Lebensalter in Österr., Studien Verlag, Innsbruck 2018, 230 Seiten, ca. 30 Euro

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Immaterial World

Metapersonale Instanzen

von Stefan Meretz

In unserem Buch "Kapitalismus auf heben" (Sutterlütti & Meretz 2018) haben wir einen analytischen Rahmen entwickelt, um über Utopie und Transformation sprechen zu können. Ein wichtiges Begriffspaar ist dabei für uns das der interpersonalen und transpersonalen Beziehungen. Damit können wir zwischen Nahbeziehungen und Fernbeziehungen, wie Bini Adamczak das in ihrem Buch "Beziehungsweise Revolution" nennt, unterscheiden. Nah- oder interpersonale Beziehungen sind solche zu konkreten anderen Personen, die ich in der Regel auch kenne. Fern- oder transpersonale Beziehungen sind solche zu allgemeinen anderen Personen, die für mich eine bestimmte Funktion erfüllen - zum Beispiel etwas produzieren. Wer das im Einzelnen ist, ist für mich nicht relevant. Bei beiden Beziehungsarten handelt es sich immer um aktuelle Beziehungen.

Nun argumentiert Benni Bärmann auf keimform.de, dass das soziale Netzwerk einer Gesellschaft nicht in inter- oder transpersonalen Beziehungen aufgeht und schlägt mit den metapersonalen Beziehungen eine weitere Kategorie vor. So weit ich es verstanden habe, sollen damit geronnene, überdauernde, permanent reproduzierte Beziehungen erfasst werden. Es geht also um Beziehungen zu Personen, die vielleicht gar nicht mehr leben, mit denen ich dennoch mittelbar über das früher Geschaffene verbunden bin, sowie jenen, die das Geschaffene kontinuierlich reproduzieren, weil es für sie funktional ist. Metapersonale Beziehungen als tradiertes Medium, in dem sich die aktuellen inter- und transpersonalen Beziehungen entfalten. Beispielsweise haben viele Vorfahr*innen die Sprache geschaffen, in der ich mich jetzt verständige. Und indem ich mich in der Sprache verständige, sorge ich für ihren Erhalt. Das gleiche gilt für exklusionslogische Herrschaftsformen wie Rassismus und Sexismus, die unsere aktuellen Beziehungen durchziehen, wobei hier die individuellen Funktionalitäten in Form von Privilegien ungleich verteilt sind.

Diesen Überlegungen liegt zu Grunde, dass wir alle Dinge und Angelegenheiten, die wir nutzen, auch herstellen. "Die Welt ist was Gemachtes", singt Dota Kehr, und sie ist damit auch veränderbar, ergänzt die Kritische Psychologie. Auch der Kapitalismus ist etwas Gemachtes. Wollen wir den Kapitalismus überwinden, so können wir ihn nicht einfach abschaffen, sondern wir müssen gleichzeitig etwas Neues an seine Stelle setzen. Das bedeutet, die interpersonalen, transpersonalen und, so die Ergänzung, auch die metapersonalen Beziehungen werden sich verändern - müssen.

Fast alle Beziehungen werden über Mittel hergestellt. Fast immer geht es um "etwas", um das sich die Beziehung herum bildet, um das herzustellende Produkt, den zu schreibenden Text, die zu regelnde Angelegenheit. Dieses "etwas", die Mittel, stellen wir her, wobei die Mittel materieller, symbolischer oder sozialer Art sein können. Diese Herstellung geschieht häufig gezielt, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Manchmal gehen vor allem soziale Mittel aber auch aus einem sozialen Prozess hervor.

Sprache oder Herrschaftsideologien gehören dazu, sie wurden einmal hergestellt bzw. sind einmal entstanden. Dass dahinter Menschen standen, die die sozialen Mittel, die wir heute weiter nutzen, hervorbrachten, ist heute unsichtbar und gleichsam in die Mittel übergegangen. Der Gedanke, dass ich historisch vermittelt mit verstorbenen Menschen in Beziehung stehe, ist zutreffend, gleichzeitig aber auch nicht mehr veränderbar. Interessanter ist die alltägliche Reproduktion der geschaffenen sozialen Mittel selbst. Auf die Veränderung kommt es (mir) an: Gesellschaftliche Veränderung bedeutet, die (aktuellen) inter- und transpersonalen Beziehungen und die ererbten, reproduzierten sozialen Mittel zu verändern.

In der bürgerlichen Gesellschaft kommen viele soziale Mittel nicht ohne einen Bezug auf höhere Instanzen aus - seien dies Autorität, Moralität, Ethiken oder Normen. Diese metapersonalen Instanzen sind historisch in exklusionslogisch strukturierten Gesellschaften gewachsen und haben im Kapitalismus eine besondere Qualität bekommen. In einer Gesellschaft der vereinzelten Einzelnen bieten sie sowohl sozialen Zusammenhalt wie Möglichkeiten der Konfliktregulation. Auffällig ist hierbei, dass Zusammenhalt und Konfliktregulation nicht aus der spezifisch menschlichen Existenzweise - nämlich die Lebensbedingungen gesellschaftlich-vorsorgend herzustellen - gleichsam "automatisch" hervorgehen, sondern als Zusätzliches hinzugefügt werden müssen, damit das Zusammenleben funktioniert. Hätten wir die regulativen Instanzen nicht, würden wir alle aufeinander einschlagen - so das Bild und die Rechtfertigung.

Die traditionelle Arbeiter*innenbewegung hat versucht, die Emanzipation im Medium der metapersonalen Instanzen zu erreichen. Sie schuf sich eigene Autoritäten (Partei), beanspruchte, eine eigene Moralität zu verkörpern (Aufopferung), kreierte eigene Ethiken (Neuer Mensch) oder schrieb schlicht alte Normen fort. Zum Hineinfühlen empfehle ich als Lektüre die "Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik", zu finden bei Wikipedia. Auch wenn heute moralisch-ethische Anforderungen keinen quasi-religiösen Charakter mehr haben, bleibt ihr Soll-Charakter bestehen: Du sollst politisch-korrekt, solidarisch, inklusiv usw. sein. Umgekehrt deute ich den Trumpismus als regressiven Reflex auf solche "linken" Sollenszumutungen, den destruktiven Kern kapitalistischer Vergesellschaftung nun endlich "unbeschränkt" ausleben zu können.

Wollen wir den Kapitalismus überwinden, stellt sich die Frage, ob wir dies im Medium der genannten metapersonalen Instanzen tun (können) oder ob wir darin nicht von vornherein auf verlorenem Posten stehen. Können unsere emanzipatorischen Handlungsbegründungen auch ohne Soll-Imperative auskommen? In unserem oben genannten Buch haben wir genau das versucht: Geht eine strukturelle Inklusionslogik, die wir als Kern commonistischer Vergesellschaftung bestimmen, aus den Handlungsbedingungen von Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung hervor oder müssen wir sie moralisch-ethisch grundiert voraussetzen? Anders gefragt: Können wir Autorität, Moralität, Ethik und Normen auf heben? Müssen wir es gar? Wie gehen wir mit den tradierten Formen der Regulation menschlichen Zusammenlebens im Prozess der Transformation um?

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Kapitalismus und Grundeinkommen
von Nikolaus Dimmel

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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2000 Zeichen abwärts

Kakophonie des Schönen

"Ganymed in Love", das Wiener Kunsthistorische Museum unternimmt seit ein paar Jahren eine Serie von Präsentationen seiner Kunstwerke durch Schriftsteller, Musikerinnen und Schauspieler. Immer "Ganymed" und dazu ein Thema, heuer eben "Love", etliche Male abends von Mitte März bis Mitte Juni. Elf Gemälde in zwei Stunden, knapp elf Minuten für ein Bild. Künstler haben überlegt, geplant, geprobt. Sie führen auf. Etliche Male am Abend vor wechselndem Publikum, das durch die Säle streift, von Event zu Event. Wir haben uns sogar vorbereitet, waren schon vorher da, haben die Bilder, die ja "ausgeschildert" waren, im Voraus angesehen, uns gefragt, was uns da einfällt, die Tour Bild für Bild "abgeklappert".

Dann der gebuchte Abend. Einige hundert Leute im Foyer. Wir werden schließlich in die Säle je nach der Farbe unserer Karten "kanalisiert". Vor Joseph Heintz' "Salome mit dem Haupt Johannes des Täufers" performt eine Schauspielerin einen Text "Frigide". Ich bin beeindruckt und verwirrt, versuche, Bild und Text zusammenzubringen, versäume damit gewissermaßen die nächste Station und komme etwas "umgerührt" zur Heiligen Margarete von Raffael. Der "torch song" von Ruth Weiss, interpretiert von Martin Eberle und Manako Shimokawa, packt mich. Die fromme Heilige und die satanische Schlange auf dem Weg, ein Liebespaar zu werden. Die folgenden sieben Bilder zerren an mir, schreien, flackern, die Farben und Gestalten verschwimmen zu einem eher wüsten Grau. Wir kommen als letztem Gemälde zur Rosenkranzmadonna Caravaggios, einem Propagandasujet der Gegenreformation. Hände erheben sich gierig nach den verteilten Rosenkränzen. Jean Philippe Toussaint hat zu dem Bild geschrieben. Er sieht die Hände als Gebärdensprache, alle gleichzeitg, keines spricht zum andern, alle ausgerichtet - nach dem Fetisch, würde ich sagen, einander unverständlich, kein "heiliges Rätsel", nein, eine "Momentaufnahme der Kakophonie der Welt", schreibt der Autor. Es klingt, als hätte er die Veranstaltung mit gemeint.

L.G.

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Das Drama vom Geld und dem Juden

Zu Shakespeares Kaufmann von Venedig

von Hermann Engster

Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
es wandelt auch die redliche Gesinnung um
und lehrt sie hässlichen Geschäften nachzugehn;
es unterweist die Menschen in Verschlagenheit,
und auch Verbrechen nicht zu scheun bei ihrem Tun.

(Sophokles, Antigone, I,2)


Außer dem Hamlet hat kein Stück von Shakespeare so vielfältige und einander widersprechende Interpretationen hervorgerufen wie sein Kaufmann von Venedig, ein Stück, bei dem der Streit der unterschiedlichen Deutungen sich zur Frage zuspitzt, ob das Stück eine Komödie, eine Tragikomödie oder eine Tragödie sei. Und auf die Figur des jüdischen Geldverleihers Shylock bezogen: Ist dieser ein dämonischer Bösewicht, ein komischer betrogener Betrüger oder eine mitleiderregende tragische Figur? Doch ein Wesenszug des Stücks steht fest: Es ist mit seiner Figur des bösartigen, rachsüchtigen, habgierigen Juden Shylock antisemitisch. Aus den Poren des Stücks schwitzt Rassismus: Der Jude als der aus einer anderen "Rasse" stammende wird als fremd und bedrohlich angesehen, ebenso wie eine weitere "fremde" Figur in dem Stück, ein Marokkaner, der lächerlich gemacht wird.

Das Stück weist eine komplexe Struktur auf. Drei Geschichten hat Shakespeare (unter Verwendung verschiedener Vorlagen) miteinander verwoben:

• die Geschichte der Freundschaft zwischen dem melancholischen Kaufmann Antonio und dem jungen lebensfrohen Bassanio: eine gemäß dem Renaissance-Ideal gepflegte platonische Männerfreundschaft, die zuweilen wohl auch homoerotisch eingefärbt sein konnte;

• die Geschichte vom jüdischen Geldverleiher Shylock, der Antonio einen Schuldschein ausstellt, versehen mit der Klausel, dass Shylock bei Vertragsverletzung berechtigt sei, von Antonio ein glattes Pfund / Von Ihrem eigenen Fleisch, herauszuschneiden / Aus welchem Teil von Ihrem Leib mir passt (I,3,147ff.);

• die Liebesgeschichte zwischen der reichen Venezianerin Portia und Bassanio mit der Kästchenwahl als Liebesprobe.

In diesem Aufsatz soll es um die Geschichte des Shylock gehen. (Das Stück wird zitiert nach der Arden-Ausgabe und der Übersetzung von Frank Günther, München, 3. Aufl. 2007. - Entscheidende Klarheit über dieses schwierige Stück verdanke ich seinem Essay Aus der Übersetzerwerkstatt im Anhang dort. - Um die Erinnerung an das Stück aufzufrischen, sei die Lektüre der Inhaltsangabe bei Wikipedia empfohlen.)

Das Stück heißt Der Kaufmann von Venedig; seine Hauptfigur ist der Kaufmann Antonio, und Shylock ist eine Nebenfigur, freilich eine gewichtige, die in vier von fünf Akten und damit im größten Teil des Stücks auftritt. Ihre Bedeutung wird im Untertitel der ersten Ausgabe von 1600 folgendermaßen herausgehoben:

Die ganz vorzügliche Geschichte vom Kaufmann von Venedig. Mit der extremen Grausamkeit von Shylock, dem Juden, gegen den genannten Kaufmann, ihm ein genaues Pfund Fleisch herauszuschneiden (with the extreame crueltie of Shylocke the Iewe towards the sayd Merchant, in cutting a iust pound of his flesh ...).

Die Feindseligkeit gegenüber den Juden befeuern auch andere Stücke dieser Zeit. Unter diesen ist vor allem Christopher Marlowes um 1590 verfasstes und sehr populäres Stück Der Jude von Malta hervorzuheben; Marlowe stellt hier eine derart blutrünstige, bösartige Judenfigur auf die Bühne, welche Shakespeares Shylock noch weit übertrifft.

Theateraufführungen haben sehr unterschiedliche Akzentuierungen der Shylock-Figur gesetzt: solche, welche die antisemitischen Züge bewusst betonten, bis hin zu solchen, die - erschrocken über das Anwachsen des Antisemitismus im 20. Jahrhundert und, nach 1945, erschüttert durch die Shoah - Shylock als tragisches Opfer des Judenhasses darstellten. Es ist jedoch nicht wegzuinterpretieren: "Die antijüdische Tendenz des Textes (ist) eine gewollte Kernaussage des Stückes." (Günther, S. 215) Gleichwohl ist Shakespeares Kaufmann von Venedig kein antisemitisches Pogromstück. Diesen Widerspruch gilt es zu klären.

Seit der Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290 gibt es nur noch wenige hundert Juden in London, teils getarnt als Konvertiten, teils unter dem Schutz des Hofes lebend, darunter Ärzte und wohlhabende Kaufleute. Königin Elisabeth I. hat selbst einen portugiesisch-jüdischen Leibarzt. Shakespeare schreibt sein Stück Ende 1596, im Druck erscheint es zuerst 1600. Drei Jahrhunderte nach der Vertreibung der Juden geschieht dies, und dennoch wird das Stück (wie auch das von Marlowe und anderer Autoren) mit ihren exemplarisch bösartigen Judenkarikaturen rasch ein Publikumserfolg und wird auch am königlichen Hof aufgeführt. Wie ist das zu erklären?

Dazu gilt es, zwei Stränge zu verfolgen. Der eine ist die Geschichte des Antisemitismus bis zur Abfassung dieser Stücke; der andere der gesellschaftshistorische Hintergrund der elisabethanischen Zeit: die Epoche des Frühkapitalismus mit ihren Erfordernissen der Kapitalisierung von Unternehmungen und dem damit verbundenen Problem des Kapitalzinses oder - dem damaligen Sprachgebrauch gemäß - des "Wuchers" (engl. usury).

Vom Heiligen Ungeist

Beginnen wir mit der Geschichte des Antisemitismus. Sie hat schon im frühen Christentum ihren Ursprung. Die römische Besatzungsmacht war in allen Provinzen des Reichs überaus hellhörig in Bezug auf rebellische Umtriebe, vor allem in dem als besonders aufrührerisch geltenden Palästina. Bei der Gerichtsverhandlung gegen Jesus Christus kann jedoch der Gouverneur Pontius Pilatus keine Schuld an dem Beklagten feststellen, ja, er fragt sogar: "Was für ein Verbrechen hat er denn begangen?" (Matth. 27,23) Die Kleriker verklagen jedoch Jesus wegen Gotteslästerung und fordern seine Kreuzigung als traditionelles Zeichen des Ausschlusses aus Gottes auserwähltem Volk: "Verflucht ist, wer am Holz hängt." (Deuteronomium 21,22 f.) Sie setzen Pilatus unter Druck, wollen ihn beim Kaiser in Misskredit bringen und hetzen das Volk auf. Pilatus gibt nach, wäscht sich öffentlich rituell die Hände mit den Worten "Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache." Doch der aufgepeitschte Mob schreit: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matth. 27,24 f.). Dies wurde dann folgerichtig als Selbstverfluchung des jüdischen Volks für den Gottesmord verstanden. Zwar ist in Shakespeares Stück selbst von der Anklage des Gottesmordes nicht die Rede, doch tönt diese gleichsam als Orgelpunkt der fundamentalen Judenfeindschaft unterschwellig mit.

Als Gottesmördern musste den Juden eine spezifische Qualität zugeschrieben werden. Dies tut Johannes, wenn er in seinem Evangelium Jesus (obschon selber Jude) zu den Juden sagen lässt: "Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt (...) Er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge." (Joh. 8,44)

Die Saat dieser Frohen Botschaft ist bei Luther auf fruchtbaren Boden gefallen: "Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen ... Man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, ... unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien ... ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören." (Von den Juden und ihren Lügen, Tomos 8, S. 88 ff.)

So entwickelt sich, zumal in der auf Symbole versessenen Epoche der Renaissance, eine regelrechte Ikonographie des Juden: die Juden als Jesusmörder, kannibalistische Kinderschlächter, Brunnenvergifter, Schurken, Halsabschneider, Wucherer, auf christliche Jungfrauen erpichte geile Böcke. Und dann werden sie die Beute der Dichter.

"Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern ..."
Nietzsche, Zarathustra

Weit weniger differenziert und bewusst widerspruchsvoll als in seinen anderen Stücken, ja geradezu plakativ steuert Shakespeare im Kaufmann Sympathie und Antipathie und manipuliert so sein Publikum. (Günther, S. 217) Ein Beispiel: Shylocks Tochter Jessica brennt mit ihrem christlichen Liebhaber samt ihres Vaters Geldkassette durch und bezeichnet ihr Vaterhaus als Hölle (II,3,2). Es ging dort, zumal für ein Mädchen im sinnenfroh-liberalen Venedig, sicher streng und muffig zu, aber nicht nur ist ihre Bewertung als übertrieben anzusehen - aufschlussreich ist vielmehr, dass Shakespeare ihr, einer Sympathie-Figur im Stück, den Vergleich mit der Hölle in den Mund legt, damit der Zuschauer mit dem Herrn des Hauses den Teufel assoziiere (so auch in II,2,22 und III,1,19 f.). Folgerichtig wird Jessica am Schluss Christin.

Shakespeare vermeidet immerhin, im Unterschied zu den anderen judenfeindlichen Stücken seiner Zeit, die übelsten Anwürfe - ein Genie wie er hat dies nicht nötig; sein Shylock ist komplexer, vielschichtiger, keineswegs eine "Stürmer"-Karikatur. Shakespeare schreibt kein Stück über Juden, sondern mit einem Juden. (Günther, ebd.) Doch benutzt auch er die anti-jüdischen Stereotypen. Die ersten Worte, die Shylock im Stück spricht, lauten: Three thousand ducats (I,3) - das evoziert sofort das Klischee vom Geldjuden und bedient gezielt die Vorurteile des Publikums.

Solche Stereotypen gibt es im Kaufmann von Venedig zuhauf. Hier vorerst nur ein szenisch besonders eindrückliches Beispiel: Antonio soll seinem jungen Freund Bassanio mit einer Summe von 3000 Dukaten aushelfen; Bassanio, sympathisch, aber verarmt, braucht das Geld, um bei seiner Brautwerbung um die reiche Portia bella figura zu machen: mit Kleidung, Bediensteten, Musikern und prächtigem Schiff samt Besatzung (die Begehrte wohnt auf einer Insel nahe Venedig). Es ist eine erhebliche Summe, und da Antonio sein ganzes Geld in die Übersee-Unternehmung gesteckt hat - Thou know'st that all my fortunes are at sea, sagt er zu Bassanio (I,1,176) - und deshalb im Moment nicht liquide ist, sieht er sich gezwungen, sich an Shylock zu wenden, um ihn um Kredit anzugehen. Shylock erinnert Antonio an die Beleidigungen, die dieser ihm unzählige Male angetan hat (I,3,103 ff.):

SHYLOCK
Signor Antonio, wieviel mal, wie oft
Auf dem Rialto schimpften Sie mich
Von wegen meines Gelds und meiner Zinsen:
Stets trug ich's achselzuckend mit Geduld ...
Sie nennen mich ungläubig, Halsabschneider-Hund,
Und spucken auf mein jüdisches Gewand.

(i.e. den Kaftan)

Und alles das nur, weil ich nutze, was doch mein ist.
Nun gut (...) ihr kommt zu mir und ihr sagt,
"Shylock, wir brauchen Gelder", so sagt ihr:
Sie, der Sie Ihren Rotz mir auf den Bart spien,
Und nach mir traten, wie Sie fremde Köter
Von Ihrer Schwelle jagen. (...)

Trotz seiner Zwangslage drückt Antonio unverhohlen seine Verachtung gegenüber dem Juden aus:

ANTONIO
Ich nenn dich jederzeit gern wieder so,
Bespuck dich wieder und ich tret dich auch.
(...)

So weit der edle Antonio ...

Aufschlussreich ist die Sprechhaltung, die in Günthers Übersetzung genau wiedergegeben ist: Shylock siezt Antonio, Antonio hingegen duzt Shylock. (Im Original gebraucht Shylock das damals formelle you/your, Antonio das informelle und hier herablassende thou/thee.) Weitere Beispiele werden folgen, wenn es um die im Stück diskutierte Problematik des Zinsnehmens geht.

"Wir - werden's nicht vergessen."
Mephisto zu Fausts Wetteinsatz

Es verschlägt nichts, dass im Stück Shylock dem Kaufmann Antonio das Geld nicht für eine Unternehmung leiht, sondern für dessen in Geldverlegenheit befindlichen Freund; Antonio haftet mit seinem in das Überseegeschäft gesteckten Vermögen, sodass Shylock bis zur Begleichung der Geldschuld dessen Miteigentümer wird. Und selbstredend geht Antonio davon aus, dass die Haftung mit einem Pfund eigenen Fleisches nicht realistisch ist, zumal Shylock selbst versichert, dies sei nur so zum Spaß (in a merry sport) gemeint. (I,3,144) Antonio nimmt die Sache also nicht ernst, auf Bassanios Misstrauen entgegnet er optimistisch:

Ach, keine Angst, Mann, ich werd nicht falliern, -
Innert zwei Monaten, ein Monat eher
Als dieser Schuldschein anfällt steht mir zehnmal (sic!)
Der Wert von diesem Schuldschein doch ins Haus.
(I,3,154 ff.)

Shylock spielt die Sache auch herunter, indem er sie ins Lächerliche zieht:

Wenn er am Stichtag säumig ist, was hätt
Ich wohl davon, wenn ich die Buße eintreib?
Ein Pfund von Menschenfleisch von einem Menschen
Gehaun ist nicht so wertvoll noch so nützlich
Wie Fleisch von Ochsen oder Ziegen ...

(I,3,161 ff.)

Und er trägt Antonio auf, dem Notar zu versichern, es handle sich dabei nur um einen Witz von Schuldschein (this merry bond). (I,3,170)

Neue Bühne, neue Rollen: W,G,G'

Nun zum zweiten Strang der Analyse! Dieser durchzieht den gesellschaftshistorischen Hintergrund. Das Stück spielt im Venedig des 16. Jahrhunderts. Die durch Handel und Raub reiche und mächtige Seerepublik beherrscht das östliche Mittelmeer, rivalisiert mit dem Stadtstaat Genua im Westen. Es ist die Epoche des sich herausbildenden Kapitalismus, der hier natürlich noch nicht als entwickelter Industriekapitalismus, sondern als Handelskapitalismus auftritt, als solcher jedoch mit einer schon differenzierten Geldwirtschaft als machtvoller ökonomischer Kraft.

Was für Venedig gilt, gilt analog für London. In den Jahrzehnten der elisabethanischen Epoche findet ein fundamentaler ökonomischer Wechsel statt: ein Wechsel im Handel, also im Warenverkehr, im Kauf und Verkauf. In der traditionellen Wirtschaft funktioniert der geldvermittelte Warentausch so: Man bringt Waren auf den Markt, tauscht dafür Geld ein, von dem man dann den eigenen Lebens- und Betriebsbedarf bestreitet und neue Waren produziert. Marx hat das in die allseits bekannte Formel W-G-W gebracht. (Marx, Das Kapital I , MEW 23, 162 ff.)

In der sich entwickelnden neuen Ökonomie wird eine neue Mechanik installiert: "Um die Schranken der begrenzten Individualkapitale zu durchbrechen, kommt es zur Gründung von Kreditwesen und Aktiengesellschaften." (Marx, Das Kapital II, MEW 24, 357) Um ausreichend Kapital investieren zu können und das Risiko zu mindern, schließen sich Kaufleute zu Handelsgesellschaften zusammen, so 1555 zur Muscovy Company für den Handel mit Russland, 1592 zur Levant Company für den Handel im östlichen Mittelmeerraum und schließlich 1606 zur East India Company. Das Risiko, alles zu verlieren, ist hoch, aber wenn alles gutgeht, sind die Gewinne immens: Erträge von 300 bis 400 Prozent sind die Regel, 100 Prozent gelten als Misserfolg; die Expedition von Francis Drake, der im Auftrag der Krone Piraterie betreibt, erbringt einen Rekordgewinn von 4.700 Prozent. (Quelle: Wikipedia). Diese Aktiengesellschaften eröffnen der britischen Krone nicht nur neue Märkte und bewirken im Verein mit den Gesellschaften anderer Länder, wie besonders der Niederlande, "die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts" (Marx, Das Kapital I, MEW, 23, 790); sie fungieren auch als Wegbereiter für die Unterwerfung und Ausbeutung der Völker; besonders lukrativ ist dabei der Sklavenhandel, den Shylock bei der Gerichtsverhandlung dem Dogen als einem Christen und Sklavenhalter im IV. Akt auch mokant vorhält.

"Nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles."
Faust I (entmythisiert)

An solchen so riskanten wie hochprofitablen Geschäften ist auch Antonio beteiligt. In Erwartung hoher Gewinne hat er sein gesamtes Geldvermögen eingesetzt, es zwar vorsichtigerweise nicht nur auf eines, sondern auf drei Schiffe verteilt, doch bald gelten alle drei Schiffe als verschollen, laufen aber zum glücklichen Ende reich beladen in den Hafen ein. In keinem andern Stück von Shakespeare sind Liebe und Ökonomie so eng verschwistert wie in diesem: Das Glück der Liebespaare und der wirtschaftliche Erfolg des wagemutigen Unternehmers vereinigen sich zum allgemeinen Happy End.

Was hier zur Zeit Shakespeares geschieht, stellt einen fundamentalen Wandel in der Ökonomie dar: Es wird Geld investiert, um Waren zu erwerben, und diese werden wieder zu Geld gemacht, das erneut investiert wird, um neues Kapital für neue Unternehmungen zu akkumulieren. Marxens Formel dafür: G-W-G'. Er bezeichnet dieses "Kapital in Geldform oder das Geldkapital als primus motor (i.e. erste Triebkraft) für jedes neu beginnende Geschäft und als kontinuierlichen Motor" für weitere Geschäfte (Das Kapital II, MEW 24, 357). Für den "Warenhändler ist es selbstredend, daß sein Kapital ursprünglich in der Form des Geldkapitals auf dem Markt erscheinen muß, denn er produziert keine Waren, sondern handelt nur mit ihnen, vermittelt ihre Bewegung, und um mit ihnen zu handeln, muß er sie zuerst kaufen, also Besitzer von Geldkapital sein". (Marx, Das Kapital III, MEW 25, 280)

Doch fehlt es in dieser Phase der "ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" (Marx) an eben diesem. Der Unternehmer muss Geld herbeischaffen, Kredit aufnehmen - und da kommt "der Jude" ins Spiel. Weil den Juden sowohl der Erwerb von Grund und Boden als auch der Zugang zu den Zünften verwehrt ist, müssen sie sich nach anderen Erwerbsmöglichkeiten umsehen. Die weniger Klugen und Gewandten sind auf zunftfreie und daher wenig angesehene Tätigkeiten verwiesen, sind Kesselflicker, Scherenschleifer, fahrende Händler; die Begabteren spezialisieren sich: auf Rechtswesen, Medizin und - Geldgeschäfte.

Geldgeschäfte sind besonders aussichtsreich, weil es den Christen verboten ist, Geld gegen Zins zu verleihen. Allerdings nicht allen Christen. Einer anfangs noch kleinen, aber zunehmend einflussreichen Sekte ist dies gestattet: den Puritanern. Sie sind eine radikale Gemeinschaft, sind verbohrt in Sinnenfeindlichkeit und Askese und gefallen sich in stolzer Freudlosigkeit; Marx verspottet sie als "die nüchternen Virtuosen des Protestantismus" (MEW 23, 781). Und sie sind sparsam: die idealen Wegbereiter der Kapitalakkumulation, zumal aufgrund ihrer calvinistischen Orientierung der wirtschaftliche Erfolg ihnen als Ausweis ihrer Gottgefälligkeit und Auserwähltheit für das himmlische Paradies dient. Weshalb nun, mag mancher sich fragen, platziert Shakespeare seinen Kaufmann in Venedig statt in London? Nun, weil es in Venedig eben keine Puritaner gibt und der klamme Antonio gezwungen ist, sich an einen Juden zu wenden, was eben der dramatischen Zuspitzung dient.

Shakespeare - der Konservative, die bestehende Herrschaft Affirmierende -inszeniert sein Drama als religiösen Konflikt, als einen Konflikt zwischen jüdischer und christlicher Religion, und in diesem Rahmen wird das Problem des Zinses - "Wucher" (engl. usury) genannt - auch damals diskutiert. So auch bei Shakespeare: Im Zentrum seines Kaufmanns von Venedig steht das Problem: Ist Zinsnehmen statthaft oder nicht? Das ist nicht nur ein religiös - ethischer Konflikt, in ihm steckt auch ein drängendes finanztechnisches Problem der elisabethanischen Zeit.

"... die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei ... im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt."
Marx/Engels, Kommunistisches Manifest

Blicken wir zunächst auf den christlichen Standpunkt! Dieser spricht sich eindeutig gegen das Zinsnehmen aus, weil es widernatürlich sei und gegen die christliche Nächstenliebe verstoße. Die Auffassung von der Widernatürlichkeit geht, wie so vieles in der katholischen Kirche, auf die Autorität des Aristoteles zurück. Dieser setzt die Ökonomik als die natürliche Erwerbskunst, die der grundlegenden Bedürfnisbefriedigung dient, der Chrematistik als der widernatürlichen Erwerbskunst entgegen, da sie nur darin bestehe, Geld zu akkumulieren: "So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. (...) Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur." (Politik, 1. Buch, Kap. 3) Denn lebendige Wesen vermehrten sich auf natürliche Weise; widernatürlich sei jedoch, dass lebloses Metall auf abstrakte Weise sich vermehre.

Die christliche Lehre betrachtet das Zinsnehmen als Sünde gegen das Gebot der Nächstenliebe und Brüderlichkeit. Shakespeares Sprachrohr im Stück ist der Kaufmann Antonio, der den christlichen Standpunkt vertritt. Antonio zu Shylock (I,3):

Shylock, obwohl ich weder leih noch borge
Und Wucherzinsen weder nehm noch gebe (...)
­... denn wann je nahm Freundschaft
Vom Freund die Frucht von unfruchtbarm Metall?

Shylock als glaubensfester Jude beruft sich auf Gottes Gebot, wonach man zwar von seinen Glaubensgenossen keinen Zins nehmen darf, wohl aber von Nichtjuden: "Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen, weder Zinsen für Geld noch für Getreide noch Zinsen für sonst etwas ­... Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, von deinem Bruder darfst du keine Zinsen nehmen, damit der Herr, dein Gott, dich segne in allem." (Deuteronomium 23,20 f.) So borgt Shylock, um Antonio die hohe Geldsumme zu verschaffen, von seinem reichen Glaubensgenossen Tubal Geld, ohne dass dieser Zinsen verlangt.

Die junge kapitalistische Ökonomie giert nach Kapital, um wachsen zu können. Zwar wird in zwei Publikationen noch gegen das Zinsnehmen polemisch zu Felde gezogen, so 1572 von Thomas Wilson mit seiner Schrift Discourse Upon Usury, und noch 1594 in einem von einem unbekannten Verfasser stammenden Pamphlet The Death of Usury, or, The Disgrace of Usurers, in dem die Geldverleiher als Wölfe und Teufel geschmäht werden; jedoch wird unter dem "stumme(n) Zwang der ökonomischen Verhältnisse" (Marx, MEW 23, 76) das Zinsverbot zunehmend umgegangen, und 1571 gestattet Königin Elisabeth I. Kreditgeschäfte und begrenzt den Zinssatz auf 10 Prozent. Francis Bacon, einer der bedeutendsten Wegbereiter des Rationalismus, bestätigt in seinem Essay Of Usury (3. Aufl. 1625) aufgrund der wirtschaftlichen Erfordernisse nüchtern-zweckrational die Notwendigkeit des Zinsnehmens; denn "it is certain that the greatest part of trade is driven by young merchants, upon borrowing at interest" und "that it is a vanity to conceive, that there would be ordinary borrowing without profit".

Kleiner theologischer Exkurs: Als im Hochmittelalter infolge des sich ausweitenden Handelsverkehrs auch das Zinsnehmen häufige Praxis wird, entwickeln Theologen wie z.B. Anselm von Canterbury und Petrus Lombardus ein weiteres, eben spezifisch theologisches Argument gegen das Zinsnehmen: Wucherer seien Diebe, denn sie handeln mit der Zeit; Wucher sei Diebstahl von Zeit, die Zeit sei jedoch Eigentum Gottes und daher dem Menschen unverfügbar; bemächtige sich der Mensch der Zeit, begehe er eine schwere Sünde. Dazu Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 2008 (1988), S. 43 ff. Für den Hinweis danke ich Frank Engster. - Das Argument der "gestohlenen Zeit" spielt in der elisabethanischen Epoche keine Rolle. Der Aspekt der Zeit verdiente es jedoch, mit den Kategorien der Marx'schen Theorie philosophisch-ökonomisch eingehend untersucht zu werden.

Gleichwohl haftet dem Zinsnehmen noch lange der Ruch des Unmoralischen an, und man projiziert dies, zur eigenen Entlastung, auf einen Sündenbock, als welcher traditionell "der Jude" parat steht. Das mündet im 20. Jahrhundert in die polemische Entgegensetzung des "schaffenden Kapitals" des ehrbaren Arbeiters und des im Dienst seiner Nation tätigen Unternehmers auf der einen Seite und zum "raffenden Kapital" des plutokratischen, vaterlandslosen Juden auf der andern. Ausgeblendet wird dabei, dass beides zwangsläufig zum Prozess des Kapitalismus gehört: das Kapital als "anonymes automatisches Subjekt" (Marx, MEW 23, 169), als der rastlos "sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld". (Marx, Das Kapital III, MEW 25, 405) Moishe Postone hat dies in seinem Essay Nationalsozialismus und Antisemitismus zu der ebenso kühnen wie denk-würdigen These zugespitzt, dass mit der Vernichtung der Juden in der Shoah die Vernichtung dieser abstrakten Dimension der Selbstverwertung des Werts in verborgener Weise intendiert war: "Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt."

Applaus für G'!

Mit der ökonomischen Umwälzung im 16. Jahrhundert ändert sich auch die Funktion des Geldverleihens: Aus dem traditionellen Geldverleiher Shylock wird ein prämoderner Finanzmakler. Er investiert Geld, um mehr Geld zu erzeugen. Er tut das, was Marx im Kapital so formuliert:

"Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G-G', Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozess, der die beiden Extreme vermittelt. Im Kaufmannskapital G-W-G' ist wenigstens die allgemeine Form der kapitalistischen Bewegung vorhanden, obgleich sie sich nur in der Zirkulationssphäre hält ... Die Form des Kaufmannskapitals stellt immer noch einen Prozess dar, die Einheit entgegengesetzter Phasen, eine Bewegung, die in zwei entgegengesetzte Vorgänge zerfällt, in Kauf und Verkauf von Waren. Dies ist ausgelöscht in G-G', der Form des zinstragenden Kapitals." (Das Kapital III, MEW 25, 404)

Shylock hat diese Selbstverwertung prinzipiell begriffen, formuliert den abstrakten Vorgang aber noch in naturhaften Kategorien. Er beruft sich, stolz auf seine Ahnenschaft, auf das Zeugnis der Bibel (Genesis 29): Jakob freit um Labans Tochter Rahel, wird von Laban hinters Licht geführt, hütet vierzehn Jahre lang dessen Schafe und erreicht durch einen Trick, dass er am Ende mehr Schafe besitzt als Laban selbst. Shylocks Schlussfolgerung daraus: Das war Gewinn tun, und er war gesegnet: / Ja, und Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt. (I,3,86f.) Antonio tut das ab: Dies sei vom Himmel gelenkt worden und sei daher keine Rechtfertigung fürs Zinsnehmen. Aufschlussreich ist seine eigene Deutung: Jakob habe Geschäftsglück (venture) (I,3,88) gehabt - und zieht so eine Linie zu seinen eigenen riskanten geschäftlichen Unternehmungen. Schaf und Widder, so Antonio weiter, vermehren sich, aber Gold und Silber doch nicht! (I,3,92) Shylock darauf: Ich weiß nicht, ich lass es halt ebenso rasch sich fortpflanzen (I cannot tell, I make it breed as fast). (I,3,94) Bezeichnend ist, dass Shylock für den Vorgang der abstrakten Geldvermehrung den Ausdruck breed benutzt, der züchten, brüten, fortpflanzen bedeutet. Was hier als neuartiges Phänomen sich verbirgt, aber von den Zeitgenossen analytisch noch nicht begriffen wird, ist die notwendige Scheidung der kapitalistischen Produktivfunktion im Fall von Kreditgeschäften: die Scheidung des Eigentums vom Besitz des Geldes. Diese Scheidung ist sozial bereits personifiziert und wird vom Eigentümer (samt seinen Parteigängern) gegen den Geldverleiher antisemitisch aufgeladen.

"Überall geht ein früheres Ahnen dem späteren Wissen voraus."
Alexander von Humboldt

Von diesem Prozess und dessen ideologischer Verhüllung weiß Shakespeare nichts, aber seine poetische Intuition reicht so weit, dass er in seinen Figuren des Kaufmanns und des Juden ein tertium comparationis erkennt: das Geld. Dieses gemeinsame Dritte hebt in einem entscheidenden Punkt die Verschiedenheit der beiden Figuren auf. Bezeichnend dafür ist, dass Portia, verkleidet als junger Jurist, beim Eintritt in den Gerichtssaal die Frage stellt: Wer ist der Kaufmann hier? und wer der Jude? (IV,1,172) - eine überflüssige Frage, ist doch der Jude einwandfei zu erkennen an seinem Kaftan, dem Spitzhut und den gelben Binden an den Ärmeln, da derart auffällig sich zu kleiden die Juden in Europa seit 1215 gezwungen sind. Dies ist ein vortreffliches Beispiel dafür, wie die poetische Intuition des Autors ihn eine Erkenntnis formulieren lässt, die ihm rational nicht zugänglich ist. Derlei findet sich häufig bei Shakespeare und zeugt für sein Genie.

Die berühmte Gerichtsszene im IV. Akt ist mit ihren überraschenden Wendungen raffiniert und spannend konstruiert wie Billy Wilders Gerichtsfilm Zeugin der Anklage. (By the way: Lebte Shakespeare heute, würde er Filme drehen - Hitchcock ein legitimer Nachfolger Shakespeares?) In dieser Szene funktioniert die bereits eingespielte Sympathie- und Antipathie-Steuerung aufs Allerbeste: hier der märtyrergleich geduldig in sein Schicksal sich fügende Antonio, dort der unbarmherzige, rachsüchtige Shylock. Es geht diesem nur um Rache an Antonio; dessen Fleisch, höhnt er, sei ihm zwar zu nichts nutze, allenfalls

... zum Fische ködern - wenn es sonst nichts nährt, so nährt's doch meine Rache an ihm, denn der hat mich entehrt, mir 'ne halbe Million verhindert, meine Verluste verlacht, meine Gewinne verhöhnt, mein Volk mir geschmäht ... (III,1,47 ff.)

Sein darauf folgender großer Monolog wird oft als humanistische Beschwörung der Gleichheit aller Menschen im Sinne von Lessings Nathan verstanden und wird von gutgesinnten Regisseuren und Schauspielern entsprechend in Szene gesetzt, am bewegendsten wohl in Ernst Lubitschs Filmkomödie Sein oder Nichtsein von 1942, der Zeit der schrecklichsten Judenverfolgung. Shylocks Rede lautet so:

Und was ist sein (scil. Antonios) Grund? Ich bin ein Jud. Hat nicht ein Jud auch Augen? hat nicht ein Jud auch Hände, Glieder, Körper, Sinne, Sehnsucht, Leidenschaft? genährt von gleicher Nahrung, verletzt von gleichen Waffen, anfällig gleichen Leiden, geheilt durch gleiche Mittel, fühlt er nicht warm und fühlt er nicht kalt vom gleichen Winter wie vom gleichen Sommer ganz wie ein Christ? - wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? und wenn ihr uns Unrecht tut, solln wir uns dann nicht rächen? wenn wir sind, wie ihr in allem andern seid, dann wolln wir uns auch darin ähneln. Wenn ein Jud einem Christen Unrecht tut, was wird aus dessen Demut? Rache! Wenn ein Christ einem Jud Unrecht tut, was sollt dessen Duldung sein nach christlichem Vorbild? - Rache, ja was sonst! Die Schuftigkeit, die ihr mich lehrt, die will ich ausführn, und's wird hart angehn, aber ich Lehrling will euch Meister übertreffen. (III,1,51 ff.)

Das ist kein Appell an Humanität, sondern eine Begründung der Rache. Nichts anderes.

Göttin Justitia: blind, aber schlitzohrig

Unerbittlich erweist sich Shylock bei der Gerichtsverhandlung. In ihr prallen fundamental gegensätzliche Themen aufeinander: "Gnade und Recht; Vergeltung und Vergebung; Rache und Erbarmen; Altes Testament gegen Neues Testament." (Günther, S. 250)

Alle Einigungsbemühungen, auch die doppelte Summe, die Bassanio von seiner Braut Portia erhält, lehnt er ab. Selbst der Doge, die höchste Autorität Venedigs, appelliert an Shylock, Gnade walten zu lassen: Wie hoffst du nur auf Gnade und übst keine? (IV,1,88) Er spielt damit auf das Jüngste Gericht an und zielt auf die göttliche Gnade, auf die letztlich jeder angewiesen ist und die auszuschlagen wohl die schwerste aller Sünden ist. Vergebens. Shylock setzt noch eins drauf. Er kompromittiert die Christen, indem er ihnen ihre eigene Doppelmoral vor Augen hält (und Shakespeare wäre nicht das einzigartige Genie, wenn er nicht auch dies dem Bösewicht zugutehielte). Und Shylock spricht den Dogen mit You/Yours/ Sie/Euer direkt herausfordernd an:

SHYLOCK
Tu ich kein Unrecht - was fürcht ich das Gericht?
Sie haben viel gekaufte Sklaven um sich,
Die Sie wie Ihre Esel, Hunde, Mulis
Für knechtische und niedre Dienste nutzen,
Weil Sie sie kauften. Soll ich Ihnen sagen,
Gebt sie doch frei, vermählt sie Euren Erben?
Was schwitzen sie vor Müh? gebt ihnen Kissen
Daunweich wie Ihres, kitzelt ihren Gaumen
Mit Speisen wie Ihren eignen? Da sagen Sie:
"Die Sklaven sind mein eigen", - drum sag ich:
Das Pfund an Fleisch, das ich von ihm verlang,
Ist hoch bezahlt, s'ist meins, und ich will's haben:
Wenn Sie's mir weigern - gespien auf Ihr Gesetz!
's liegt keine Macht mehr in Venedigs Recht!
Ich wart aufs Urteil: - Antwortet! soll ich's haben?
(IV,1,89 ff.)

Mittels eines sophistischen, aber juristisch einwandfreien Tricks wird Antonio gerettet: Bassanios Braut Portia, verkleidet als junger Rechtsgelehrter im Auftrag eines hochangesehenen Juraprofessors, erklärt Shylocks Vertrag für einwandfrei und gibt ihm zunächst recht. Die Szene ist von ungeheurer Dramatik, von Hitchcock-gleichem Suspense: Antonio wird am Stuhl festgebunden, seine Brust entblößt, ein Beißholz ihm zwischen die Zähne gesteckt, Shylock nähert sich ihm mit blankem Messer und setzt es an Antonios Brust an. In diesem Augenblick greift der junge Jurist ein: Portia lässt eine Waage herbeiholen, auf der - so erklärt sie streng - exakt ein Pfund von Antonios Fleisch abzuwiegen sei - nicht ein Gramm zu viel oder zu wenig sei ihm gestattet. Überdies, so erklärt sie, sei es Shylock bei Todesstrafe verboten, auch nur einen einzigen Tropfen Christenblut - one drop of Christian blood (IV,1,308) - zu vergießen. Dieser Coup hat seine höhere Weihe: Da nach der Theologie des Paulus alle Christen durch Taufe und Christi Erlösungswerk "ein Leib in Christus" sind (Röm.12,5 und 1 Kor 12,27), würde der Jude, der eines Christen Blut vergösse, abermals Christus morden. Paulus spricht vom Leib in einem geistlichen Sinn, doch wer schert sich um solche Feinheiten, wenn es gilt, dem Juden eine Falle zu stellen? Zwar ist von der Anklage des Gottesmordes im Stück nicht die Rede, doch tönt diese gleichsam als Generalbass der Judenfeindschaft unauf hörlich mit. Da kapituliert Shylock und verzichtet auf die vertraglich festgelegte Buße.

Der Gerichtsprozess hat seine eigene untergründige Symbolik. Der Jude will aus des Christen Leib Fleisch herausschneiden um kalten Metalls willen: lebendiges Fleisch gegen abstrakt gewonnenes, totes Geld; "gutes", in kühnen Unternehmungen eingesetztes Kapital gegen spekulativ erworbenes "schlechtes" Kapital; schaffendes Kapital gegen raffendes Kapital.

"Gnade erniedrigt wie Schande."
Laotse

Shylock steht aufs äußerste kompromittiert da. Doch ist der Prozess noch nicht beendet. Der Zivilprozess wandelt sich in einen Strafprozess um; juristisch zwar unzulässig, doch Dichter nehmen sich die Freiheit. Mit den Worten Damit du siehst, wie andern Geists wir sind (IV,1,366) schenkt der Doge ihm das Leben - sein Leben hat Shylock wegen seines Mordversuchs an Antonio anscheinend verwirkt. Allerdings, verfügt der Doge weiter, solle Shylocks Besitz zur einen Hälfte Antonio zufallen, zur andern dem Staatsschatz. Shylock stürzt in Verzweiflung: Eher solle man ihn töten, als ihn in den materiellen Ruin treiben: Ihr nehmt mein Leben, wenn Ihr die Mittel nehmt, wovon ich lebe. (IV,1,375) Ohne Geld ist der Geldjude ein Nichts.

Doch damit nicht genug. Der Gerichtsprozess erhöht sich zum Schauprozess. Die Gnade des Dogen wird überreicht: Der Jude solle sich zum Dank für die ihm erwiesene Gnade unverzüglich taufen lassen - for this favour he presently become a Christian. (IV,1,384f.) Tief resigniert willigt Shylock ein. Die Taufe bedeutet für ihn als tiefgläubigen Juden die Auslöschung seiner geistigen und religiösen Identität. Über den im Innersten vernichteten Juden ergießen sich nun Hohn und Spott (und das Publikum hat seinen Spaß). Für uns Heutige stellt diese Demütigung eine grausamere Strafe dar, als selbst die Hinrichtung es wäre. Doch ist es, in christlicher Sicht betrachtet, tatsächlich eine Gnade, die Shylock zuteil wird: Denn durch die Taufe bekommt er die Chance, in den Stand der Gnade zu kommen und vor der ewigen Verdammnis bewahrt zu werden. Theologie hat ihre eigene Logik: Though this be madness yet there is method in it. (Hamlet, II,2)

"Was tun?" W.I. Uljanow

Wie soll man dieses Stück heute spielen? Ein literarischer Text, von seinem Autor in die Welt entlassen, gewinnt im Lauf der Geschichte ein Eigenleben, das unabhängig von seinem Autor sich entfaltet. Der Leser stellt an den Text neue Fragen, konfrontiert ihn mit Problemen, die sich aus den Erfahrungen der Geschichte ergeben haben, und so können im Text verborgene Sinnschichten sich eröffnen, solche, die der Autor nicht bewusst, sondern intuitiv gestaltet hat, ja, sogar auch solche, die im Widerspruch zu seiner Auffassung stehen. So lange dies geschieht, bleibt Dichtung lebendig.

Dies aber ist das Problem beim Aufführen des Kaufmanns von Venedig. Shakespeare hat - ich wiederhole Günthers Auffassung - nicht ein Stück über einen Juden, sondern mit einem Juden geschrieben. Zweifellos ist "die antijüdische Tendenz des Textes eine gewollte Kernaussage des Stückes"; gleichwohl ist Shakespeares Kaufmann von Venedig "kein antisemitisches Pogromstück". (Günther, S. 215)

Doch müssen alle gutgemeinten Versuche einer "Rettung" des Stücks durch eine bemüht positive Zeichnung des Juden Shylock an der offenkundigen anti-jüdischen Tendenz des Stücks scheitern. Denn die Erfahrungen der Shoah sind allzu erschütternd und überwältigend, als dass es möglich wäre, dieses harte Bild eines bösartigen Juden weich zu zeichnen.

Wie soll man nun mit diesem Stück verfahren? Meine Meinung ist: Theatermacher sollten es für hundert Jahre aus dem Spielplan streichen und danach sehen, ob inzwischen eine Zeit eingetreten sei, in der Juden sich nicht mehr fürchten müssen. Da mag man es dann aufführen.

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Auslauf

Straßenbild mit Sirenen

von Petra Ziegler

SALE! -30%! -50%! -70%! Alles muss raus!!! Und dazu noch eine Autobahnvignette gratis! Es schreit von überallher, da muss gar kein Ton zu hören sein. Von links und rechts und oben, von den Hausfassaden, entlang der Straßen und Gehwege, in der U-Bahn, der Bim und an allen Bahnsteigen. Großformatige Plakate, Infoscreens, beleuchtete Schaufenster, blinkende Reklametafeln, haushohe Projektionen, dazwischen - beinahe will Rührung auf kommen - noch die eine oder andere Litfaßsäule. Ein grellbuntes Dauerfeuer, in tomatenrot, knallgelb und giftgrün. Oder in magenta, alles mindestens mega und giga. Versalien in Kreischfarben, neongetünchte Hinweise und aufdringliche Motive reklamieren Beachtung. Werbebanner mit schwarzorangen oder schwarz-gelben Kontrasten stechen aggressiv ins Auge. Bombastisch, überdimensional und um keinen Superlativ verlegen wird da um Aufmerksamkeit gebuhlt, egal wohin eins gerade schaut.

"Geiz ist geil" und "Ich bin doch nicht blöd" und "Abendland in Christenhand". Die halbe Stadt ist zugepflastert mit marktschreierischen Slogans von dümmlich bis gemeingefährlich. Witz ist in der Branche selten.

Schlimmer geht immer. Hierzulande beginnt nun der Wahlkampf und somit einmal mehr - sagen wir es mit den Worten von Wiens Ex-Bürgermeister Michael Häupl - eine "Zeit fokussierter Unintelligenz". Der Sommer verheißt also nichts Gutes, wiewohl die Wahlsprüche der Parteien so manchen kalten Schauer erzeugen dürften. "Unser Weg hat erst begonnen", droht bereits der gegelte Altkanzler. Auch in gruseliger Erinnerung: "Aufstehen für Österreich - Deine Heimat braucht dich jetzt" ließ die FPÖ im Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016 affichieren und dazu das Konterfei von Norbert Hofer vor rot-weiß-roter Flagge. Die Parole "Holen Sie sich, was Ihnen zusteht" haben wir dagegen der SPÖ anlässlich der Nationalratswahlen 2017 zu verdanken. Da geht noch was. Von türkis bis pink reicht die Palette.

Wo viele schreien, werden nur wenige gehört. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut. Um sie zu erheischen - und sei es nur für einen Augenblick - wird in Bild und Schrift gebrüllt, aufgeregt geblinkt und hemmungslos Krach geschlagen. Bei gerade einmal drei Sekunden liegt die durchschnittliche Betrachtungsdauer eines Werbeplakats, vorausgesetzt wir sehen hin. Da sind der Einsatz von Farben, Platzierungen, Schriftgrößen und Bildkomposition von essentieller Bedeutung. Unter all den Reizen, denen wir permanent ausgesetzt sind, gilt es erst einmal aufzufallen. Was wird überhaupt wahrgenommen, welches Markenlogo kann sich durchsetzen, welches Motiv verfängt, welcher Spruch geht rein und welchem Plakatgesicht gelingt es, den schweifenden Blick auf sich zu ziehen? - "Schau mir in die Augen ...!"

Bei jedem Gang durch die Stadt ruft es von allen Seiten: "Will mich haben!", "Kauf mich!", "Wähle mich!" Auch wenn wir versuchen, dicht zu machen, ist dem schlicht nicht zu entgehen. Begehren will geweckt werden, unser aller Haben-Wollen dient nicht zuletzt als Rechtfertigung für den Status quo. Unsere Welt "besteht aus Dingen, die sich anbieten und die uns auffordern. Werbung ist ein Modus unserer Welt", heißt es bei Günther Anders. "Dasjenige, was nicht wirbt, was nicht ruft, was sich nicht zeigt, was am Lichte der Reklame nicht teilhat, das hat keine Kraft, uns zu reklamieren, das nehmen wir nicht wahr, das erhören wir nicht, das machen wir nicht mit, das erkennen wir nicht, das verwenden wir nicht, das verzehren wir nicht - kurz: das bleibt 'ontologisch unterschwellig', im pragmatischen Sinne ist das nicht 'da'."

Dass die Kinder der Marktwirtschaft bei all dem nicht nachstehen wollen, zeigen nicht nur die immer penetranteren Selbstdarstellungen auf Instagram, Pinterest und anderen Social Media-Plattformen. Eine jede und ein jeder trommelt da für sich.

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Quelle:
Streifzüge Nr. 76, Sommer 2019
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2019

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