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VORWÄRTS/591: Nationalismus in Osteuropa


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 12. Juni 2009

Nationalismus in Osteuropa

Von Pjotr Ilitsch


Der Nationalismus darf in Osteuropa als Hauptproblem für progressive Entwicklungen gesehen werden. Anhand einiger Beispiele soll der Kulturkampf zwischen westlich orientierten und an Russland orientierten Kräften - welche nicht minder nationalistisch sein müssen - aufgezeigt werden.


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Dort, wo einst die Sowjetunion war, sind nun 15 unabhängige Länder und vier abtrünnige Republiken. Dort, wo einst Jugoslawien war, sind nun sechs Länder und eine abtrünnige Republik. Wo einst ideologisch der Internationalismus herrschte, herrscht nun Nationalismus. Nationalstaaten haben die Vielvölkerstaaten ersetzt. Mit den Kriegen in Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion wurde scheinbar gezeigt, dass es nur die eigene Ethnie, die eigene Nation ist, der man angehört und die für das Überleben zählt, und sobald das unnatürliche und zwanghafte System des Sozialismus weg sei, würden wieder alte Kämpfe zwischen den verschiedenen Kulturen ausbrechen.

So wird auch versucht, die Zeit des Realsozialismus unter nationalistischen Gesichtspunkten zu interpretieren. Kroatische Historiker wollen in der Herrschaft Titos eine Unterdrückung der Kroaten durch eine serbische Elite sehen, während serbische Historiker die Herrschaft des Kroaten Tito als eine sehen, welche die Serben unterdrückt. Insbesondere Historiker der ehemaligen Sowjetrepubliken - vor allem baltische, kaukasische und ukrainische - interpretieren die Geschichte in ihren Ländern als einen Kampf zwischen den russischen "Besatzern" und der unterdrückten Nation. Dieser Kulturkampf zwischen dem russisch-sowjetischen Erbe und den neuen, nationalistischen Machthabern, beziehungsweise zwischen Ost- und West-Orientierten, wurde insbesondere in der "Rosenrevolution" in Georgien 2003, in der "Orangenen Revolution" 2004 in der Ukraine oder bei der Entfernung des sowjetischen "Bronze-Soldaten" von einem Hauptplatz in Estland 2007 ersichtlich.

Nicht deshalb sind viele Menschen im ehemaligen Jugoslawien und in den ehemaligen Sowjetrepubliken dekonsolidiert, lehnen den Sozialismus ab, weil es ihnen unter dem Kapitalismus besser geht, sondern weil sie nicht glauben, dass er den Nationalismus überwinden kann. Die eigene Nation und Ethnie seien das einzige, an das man sich halten könne. Die Auflösung der Sowjetunion und das Auseinanderfallen Jugoslawiens bedeutete den Sieg der alleinigen Gesetze des Marktes, wo nur der Stärkere und die stärkere Gruppe überleben. So führt die jetzige Krise auch nicht zum Erstarken der sozialistischen Bewegungen, sondern von rechtsgerichteten nationalistischen, zum Teil faschistischen Kräften.

Im Folgenden sollte ein kurzer Überblick über ausgewählte osteuropäische Länder geschaffen werden:


Moldawien

Nach den Parlamentswahlen im April, welche die Kommunistische Partei für sich entschieden hatte, gab es gewalttätige Proteste von Rumänien-orientierten Studenten.

Die Kommunistische Partei Moldawiens ist insofern widersprüchlich, als sie sich als "moldawisch" betrachtet. Das heisst sie grenzt sich ganz klar von Rumänien ab, welche die gleiche kulturelle Vergangenheit und die gleiche Sprache hat, grenzt sich aber auch klar von der russischen Kultur ab und versucht sich der Europäischen Union anzunähern. Dennoch gibt es viele, welche die Vereinigung mit Rumänien fordern. Nach der Unabhängigkeit Moldawiens spaltete sich Transnistrien ab, in welchem hauptsächlich Russen wohnen, vielfach Abkömmlinge aus Soldatenfamilien, welche das Gebiet während des Zweiten Weltkriegs vom Deutschen Reich befreiten. Russland hat in Moldawien Friedenstruppen stationiert und gemäss einer Volksabstimmung im Juli 2006 will die grosse Bevölkerungsmehrheit (97 Prozent) den Beitritt Transnistriens zur Russischen Föderation.


Ukraine, Baltikum

In der Ukraine findet ein Kulturkampf zwischen ukrainisch orientierten bis ukrainisch-nationalistischen Kräften und russisch-orientierten Kräften statt. Die "Orangene Revolution" im Jahr 2004, bei welchem der Ost-orientierte Janukowytsch die Macht an den West-orientierten Juschtschenko verlor, gilt als Ausdruck dieses Kulturkampfes.

In der ukrainischen Hafenstadt Odessa ist dieses Jahr ein Führer der örtlichen Neo-Nazis von Antifaschisten getötet worden, als er versuchte, diese anzugreifen. Die offizielle Ukraine bezeichnet indes die Antifaschisten als "russische Spione" und ehrt den Nazi als Patrioten.

Ukrainische Historiker sprechen von der Hungersnot anfangs der 1930er in der Ukraine mit mindestens 1.5 Millionen Todesopfern als einem von den Russen verübten systematischen Völkermord. Es ist zwar erwiesen, dass die tragische Hungersnot durch die Kollektivierung unter Stalin und dem damit verbundenen Widerstand ukrainischer Grossbauern ausgelöst worden ist, welche teilweise ihre Ernte, statt abzugeben, vernichteten. Wenn aber von einem geplanten Genozid gegen die Ukrainer gesprochen wird, ist - auch in Anbetracht des Namens "Holodomor" oder "Hungerholocaust" - wohl eher die Relativierung der Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust das Ziel, als die Aufarbeitung jener Zeit.

Auch in anderen Ländern des europäischen Ostens, vor allem im Baltikum, wird bestritten, dass die sowjetischen Truppen als Befreier von den Nationalsozialisten aufgetreten seien. Als bedenklich ist dabei einzustufen, dass die einheimischen Truppen, welche auf der Seite des Dritten Reichs gegen die Sowjetunion kämpften, als Helden geehrt werden. Während es in Lettland Bestrebungen gibt, ehemalige SS-Kämpfer zu rehabilitieren, verurteilten sie im Jahr 2000 einen russischen Partisanen, weil er sich im Jahr 1944 an einem Angriff gegen Nazi-Kollaborateure beteiligte, zu anderthalb Jahren Haft. Das Urteil wurde vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wieder aufgehoben.


Georgien

Letzten Herbst führte Georgien einen Krieg mit Russland um die abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien an, welche international nur von Russland und Nicaragua anerkannt werden. Diese lösten sich nach der Auflösung der Sowjetunion von Georgien ab. Die Eskalation ist im Hinblick der nach der so genannten "Rosenrevolution" praktizierten westlich orientierten Politik zu sehen. Georgien lehnte sich wirtschaftlich und militärisch stark an die Vereinigten Staaten und die Nato an, was Russland als Bedrohung für die Sicherheit wahrnahm.

In Abchasien und Südossetien ist Russisch weit verbreitet und Amtssprache, während sie dies in Georgien nicht ist und so die russisch-sprechende Minderheit diskriminiert wird. Beim Referendum im Jahr 2006 sprachen sich gemäss offiziellen Angaben 99 Prozent der Südosseten für die Unabhängigkeit von Georgien aus. Ob die Wahlen frei waren, ist zweifelhaft. Am 8. August 2008 starteten georgische Truppen eine Militäroffensive, nachdem es kleinere Geplänkel zwischen abchasischen und georgischen Einheiten gegeben hatte, was zum Krieg mit Russland führte.


Perspektive?

Es ist unklar, welche Entwicklungen der Nationalismus in Osteuropa - sowohl der russische wie auch der anderer Länder - nehmen wird. Dass offen faschistische Parteien wie die bulgarische "Ataka" oder die ungarische "Jobbik", welche für Pogrome gegen Sinti und Roma verantwortlich gemacht werden, bei Wahlen Prozentwerte bis 15 Prozent erreichen und in den meisten osteuropäischen Ländern - insbesondere in denjenigen Jugoslawiens - nationalistische Kräfte an der Macht sind, stimmt jedoch bedenklich. Nur wenn der Nationalismus überwunden werden kann und die konkreten - positiven und negativen - Erfahrungen aus der Zeit des Realsozialismus in eine progressive und internationalistische Grundhaltung eingebracht werden können, ist eine sozialistische Perspektive in Osteuropa möglich.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24, 65. Jahrgang, 12. Juni 2009, Seite 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2009