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VORWÄRTS/651: Schlimmer als Nationalsozialismus?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 20/21/2010 vom 28. Mai 10

INTERNATIONAL
Schlimmer als Nationalsozialismus?


luk. Im Baltikum greift Antikommunismus in Rehabilitierung des Faschismus über: Während Lettland einen ehemaligen Partisanen wegen seines Kampfs gegen die deutsche Besatzung verurteilt, erlaubt Litauen das Hakenkreuz als "wertvolles Symbol der Baltenkultur" wieder, während es Hammer und Sichel weiterhin verbietet.


"Sie sassen unter den gestreiften Sonnensegeln vor dem 'Gloria Hotel' und dem 'Goldenen Schwan': Die Männer trugen helle Sommeranzüge, und auf den Dekolletés der Damen blitzten Diamanten. (...) Man sass im Schatten und beobachtete die Umgebung durch dunkle Brillengläser - und man wartete. Man wartete auf die Deutschen." So beschrieb der amerikanische Journalist Harrison Salisbury das Verhalten des estnischen Bürgertums in der Hauptstadt Tallin. Das Verhalten im Juni 1941 notabene. Die Erwartung galt dem Einmarsch von Nazi-Deutschland.

Dass die baltischen Staaten ein Hort des Antikommunismus waren, ist bekannt. Zahlreiche antikommunistische, häufig faschistische Organisationen waren in dieser Zeit im Baltikum aktiv. "Die Ehefrauen einiger Marineoffiziere weigerten sich, ihre Männer nach Riga zu begleiten. Sie hatten zu viel von den lettischen Nationalisten, den Terroristen, den Heckenschützen und den Bombenanschlägen gehört", so Salisbury. Die Sowjetunion hätte wenig klug auf die baltischen Nationalisten und Faschisten reagiert und mit einem willkürlich Verhalten den Faschisten in die Hände gespielt. "Die NKWD verschickte eine grosse Zahl von Anhängern des Sowjetregimes nach Sibirien und liess viele Gegner ungeschoren. Das fachte den schon vorhandenen Hass (...) noch mehr an". Der Einmarsch der Deutschen wurde so von vielen Balten freudig begrüsst, auf allen Ebenen fand Kollaboration mit den deutschen Besatzern statt. Erschreckend ist insbesondere die gut dokumentierte Bereitwilligkeit, mit welcher die Zivilbevölkerung in nationalistischem Eifer sich an den faschistischen Massen- und Völkermorden beteiligte. Berüchtigt sind insbesondere die SS-Verbände mit Freiwilligen aus den baltischen Staaten. So konnte die SS allein in Lettland 160.000 Freiwillige rekrutieren - bei der damaligen Bevölkerungszahl von etwa zwei Millionen sind das nicht wenige.


Zelebrierte Kollaboration

Nachdem die baltischen Staaten 1990 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärten, wurde die braune Vergangenheit nicht etwa totgeschwiegen - von Aufarbeitung kann keine Rede sein -, sondern sogar offen glorifiziert. Die Faschisten von gestern wurden als Freiheitskämpfer hingestellt. In Lettland wurde ein "Legionärstag" als offizieller Feiertag eingeführt: Er gedachte den lettischen SS-Kämpfern im Zweiten Weltkrieg, so ungeheuerlich das klingen mag. Ein Gedenken an die Opfer der faschistischen Herrschaft - zu welchen insbesondere 230.000 der 250.000 baltischen Juden gehörten - fand und findet hingegen nicht statt. Der "Feiertag" zur Huldigung der SS-Kämpfer musste im Jahr 2000 auf internationalen Druck hin abgeschafft werden.

Die europäischen Staaten haben indes die Totalitarismus-These, welche Faschismus und Kommunismus im Wesen gleichsetzt, schon längst als Ideologie akzeptiert und gebrauchen sie als willkommenes Instrument, um den Kommunismus und damit den Widerstand gegen den Kapitalismus zu diffamieren. So erklärte die Parlamentarische Versammlung der OSZE im letzten Sommer auf Antrag eines litauischen Abgeordneten, dass Nazi-Deutschland und die Sowjetunion "gleichermassen Schuld" am Zweiten Weltkrieg gewesen seien, und führte den 23. August als "Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus" ein. Revisionistische Geschichtsschreibung wurde zur offiziellen Geschichtsschreibung gemacht.


Rehabilitierung des Nazitums

Am 17. Mai dieses Jahres, gerade nach den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, bestätigte der Europäischen Menschrechtsgerichtshof ein zuvor von seiner Kleinen Kammer aufgehobenes lettisches Urteil, worin ein sowjetischer Partisan wegen "Kriegsverbrechen" verurteilt wurde. Der ehemalige Partisan, Wassilij Kononow, wurde verurteilt, weil er im Mai 1944 lettische Kollaborateure getötet haben soll. Diese waren als "Schutzmänner" im Dienst der deutschen Hilfspolizei und sollen eine Woche zuvor eine Partisaneneinheit an die Faschisten verraten und damit dem Tod ausgeliefert haben. Das europäische Gericht folgte jedoch der Argumentation Lettlands, dass die Tat sich gegen "Zivilisten" gerichtet habe, obwohl diese mit den deutschen Besatzern kollaboriert haben, und damit als Kriegsverbrechen einzustufen sei. Angesichts der Millionen von den Nazis und ihren Kollaborateuren Ermordeten ein in mehrfacher Hinsicht äusserst denkwürdiges Urteil: Der Verurteilte selber spricht von einer "Rehabilitierung des Nazitums". Und sein Anwalt von einer Kriminalisierung des Widerstandes gegen den Faschismus.

Fast schon selbstentlarvend hat ein Gericht in der litauischen Hafenstadt Klaipeda entschieden: Junge Neonazis haben bei einer Demonstration zur litauischen Unabhängigkeitsfeier am 17. Februar Plakate mit Hakenkreuzen getragen. Eine Verurteilung wegen Propaganda für den Nationalsozialismus wies das Gericht jedoch ab: Das Hakenkreuz sei ein "historisches Erbe des baltischen Staates" und ein "wertvolles Symbol der Baltenkultur". Es sei lediglich von "fremden Völkern" missbraucht worden. Angesichts der braunen Vergangenheit Litauens ist dieses Urteil ein Hohn - auch deshalb, weil Symbole, welche mit dem Kommunismus in Zusammenhang gebracht werden können wie Hammer und Sichel oder der Rote Stern gleichzeitig in Litauen - wie in Estland und Lettland auch - unter Strafandrohung verboten bleiben.

Würde er von den Entwicklungen in der "offiziellen" Geschichtsschreibung Europas erfahren: Ernst Nolte, der bekannte deutsche Geschichtsrevisionist, würde sich im Grab umdrehen. Vor Freude.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 20/21/2010 - 66. Jahrgang - 28. Mai 2010, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2010