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VORWÄRTS/652: In der Amoktat zeigt sich die absolute Entgrenzung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 20/21/2010 vom 28. Mai 10

BLICKPUNKT AMOKLAUF
In der Amoktat zeigt sich die absolute Entgrenzung

Von Silvia Nyffenegger


Karl Weilbach ist Amok-Spezialist und Mitglied einer interdisziplinären Fachstelle für Gefahrenmanagement im öffentlichen Raum. In seinen Studien zeigt sich, dass Amoktaten in der Regel geplant, gezielt und militärähnlich verlaufen. Die Täter verlieren den Blick für Menschlichkeit und überwinden jegliche Tötungshemmung. Der vorwärts sprach mit dem Kriminologen, der in St. Gallen lebt.


VORWÄRTS: Männer haben eine absolute Vormachtstellung in der Gesellschaft. Wo stecken die Probleme, wenn sich ein Mann in eine Amoktat hineinsteigert?

KARL WEILBACH: In der Regel ist ein Amoktäter tief in seiner Männlichkeit gekränkt. Es gelingt ihm nicht, unter anderen Männern zu bestehen. Erleidet er beispielsweise Niederlagen in der Arbeitswelt, kann er einen ureigenen männlichen Anspruch nicht erfüllen. Es sind meist Kränkungen und Versagensängste, die Männer gefährlich werden lassen. Der verunsicherte Mann baut sich zum Ausgleich eine Pseudomännlichkeit auf, die gefährlich ist. Nicht zuletzt deshalb tragen Amoktäter bei ihrer Tat oft militär- oder polizeiähnliche Kleider und fühlen sich so zu ihrer Aktion legitimiert. Mit dieser Maskierung verändert sich das Selbstgefühl des Täters. Er wird wieder ein ganzer Mann, der sich martialisch gebärden darf. Die Waffe in den Händen macht ihn unbezwingbar.

VORWÄRTS: Sie haben zwei Bücher über Amok geschrieben. Was ist Ihre Motivation?

KARL WEILBACH: Die Zuger Amoktat von 2001 ereignete sich während meines Studiums zum Diplom-Kriminologen an der Universität Hamburg. Ich wollte daraufhin verstehen, wie es zu einer solchen Form extremer Gewalt kommt. Zunächst verglich ich in einer ersten kriminologischen Studie einige Amokfälle miteinander. Im zweiten Buch widmete ich mich der Zuger Tat. Beide Studien zeigen letztlich: Das öffentliche Bild vom durchgedrehten, psychotischen Täter bestätigt sich nur in wenigen Fällen. Amoktäter handeln im Gegenteil überlegt und gezielt.

VORWÄRTS: Wie erklären Sie die tiefe Betroffenheit, die der Amoklauf von Zug in der Schweiz auslöste?

KARL WEILBACH: Die Bluttat im Zuger Kantonsparlament gehört zu den schrecklichsten Berührungen mit dem Tod, sie geschah für viele SchweizerInnen im nahen Umfeld. Friedrich Leibacher tötete in nicht einmal drei Minuten 14 Menschen. Er bereitete seinen Überfall akribisch vor und handelte nicht spontan. Das war eine massenmörderische Tat. Er liess keinem seiner Opfer eine Möglichkeit zur Gegenwehr. Mit seinem tödlichen und schonungslosen Vorgehen verletzte er grundlegende soziale Regeln und Werte. Darin lag ein Angriff auf die ganze Gesellschaft. Die Brutalität, das ausgelöste Leid und die Verletzbarkeit einer Gesellschaft erschütterten enorm.

VORWÄRTS: Wie kommt es, dass ein schwer bewaffneter Mensch in ein Parlament stürmt, Menschen und schliesslich sich selbst tötet?

KARL WEILBACH: Der Tat ging ein jahrelanger Konflikt voraus. Der 57-jährige Täter schaute auf sein gescheitertes Leben zurück, empfand Wut und Hass auf Bessergestellte, bauschte einen Wirtshauskonflikt auf und fühlte sich dabei unterlegen. Strafanzeigen gegen ihn ängstigten ihn. Im Strafverfahren suchte er die Unterstützung von Politikern, fühlte sich aber im Stich gelassen. Nach dem Motto "viel Feind, viel Ehr" schoss er sich immer mehr auf höhere Repräsentanten ein - und machte diese für sein Versagen verantwortlich. Seine Tat passierte vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit: Leibacher fühlte sich schnell ins Unrecht gesetzt und umgekehrt moralisch den anderen überlegen. Er stellte sich selbst in den Mittelpunkt. Er glaubte, dass seine Gegner keine Gnade und Rücksicht mehr verdienen. Er wählte die Selbstjustiz, die in einer zivilisierten Gesellschaft verboten ist. Bei seiner Tat hatte er die volle Aktionsmacht. Damit er diese nicht wieder verliert und nicht als Versager dasteht, musste er sich selbst töten. Niemand sollte ihm Fehler vorwerfen und über ihn urteilen können. Leibacher nahm sich heraus, andere das Fürchten zu lehren.

VORWÄRTS: Sie behaupten, die Hemmung zu töten sei angeboren.

KARL WEILBACH: Der Konsens in unserer Gesellschaft ist, nicht zu töten. Von der Ethnologie und der Biologie ist uns bekannt, dass die meisten Tiere sich von der Tötung der eigenen Gattung zurückhalten. Auch wir Menschen haben diese Tötungshemmung. Wir werden so sozialisiert, dass wir andere nicht massiv schädigen dürfen und bauen in uns eine innere Grenze gegenüber unseren Gewaltimpulsen auf, dazu gehört die Tötungshemmung. Diese Mischung aus Instinkt und Sozialisierung dient unserem Selbstschutz und dem Erhalt der Gesellschaft.

VORWÄRTS: Sie sagen, dass gesellschaftliche Faktoren Einfluss auf die Tötungshemmung haben.

KARL WEILBACH: Es gibt persönliche und soziale Kränkungen. Soziale Kränkungen ziehen den sozialen Ausschluss, die gesellschaftliche Eliminierung nach sich. Alle müssen jedoch lernen, Machtverhältnisse zu akzeptieren. Es gilt, die Spielregeln der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu nutzen. Zum Beispiel wenn die Erfordernisse des Personenmeldeamtes erfüllt werden.

VORWÄRTS: Sanktionen schieben der Gewalt doch einen Riegel vor.

Sanktionen schrecken nicht ab, wenn jemand eine Tat durchführt. Der Täter setzt seine eigenen Interessen durch, will seine Tat verwirklichen. Die Sanktionsandrohung ist ein Teil der von aussen veranlassten Grenzdefinition. Diese akzeptiert der Täter nicht. Begeht ein Täter Suizid, wendet er sein radikal unmenschliches Verhalten bei sich selbst an.

VORWÄRTS: Was sind Ihre Erkenntnisse über den Abbau der Hemmung, andere zu töten?

KARL WEILBACH: Das Töten kann wie im Militär trainiert und legitimiert werden. Die Schulung von Soldaten zielt auf die Überwindung der Tötungshemmung. Besonders interessant finde ich die Rechtfertigungen, andere Menschen zu töten: Staaten und Soldaten führen Krieg, um den Frieden herbei zu führen. Der einzelne Amoktäter glaubt meist an den moralischen Wert seiner Tötungsaktion. Die Tötung erfolgt im Namen des Guten, zur Selbstverteidigung, zur Abwendung weiteren Unrechts und so weiter. Weil jemand seine eigene Schwäche demonstrativ in Stärke umwandeln will, verdreht er die moralischen Werte und setzt sich über das Tötungsverbot hinweg. Greift ein Täter also zur Waffe, hat er sich vom Bild der Menschlichkeit entfernt und einen selbstgenerierten militärischen Lernprozess durchlaufen.

Zwar töten sich Soldaten im Gegensatz zu Amoktätern nicht selbst. Im Amoklauf verbindet der Täter den mehrfachen Mord mit der Selbsttötung. Dabei gibt es zwei Formen: Entweder tötet sich der Täter am Tatort selbst oder er delegiert seinen Suizid an die Scharfschützen der Polizei.

VORWÄRTS: Begehen Frauen Amoktaten?

KARL WEILBACH: Frauen begehen - wie kürzlich im Fall einer amerikanischen Dozentin - äusserst selten Amoktaten.

VORWÄRTS: Gibt es neue Erkenntnisse für die Prävention?

KARL WEILBACH: Einer Amoktat gehen viele persönliche und soziale Konflikte des Täters voraus. Dessen Belastung spitzt sich prozesshaft zu. In der vordeliktischen Phase ist ein möglicher Täter zunächst gekränkt und in seinen Wahrnehmungen und Konflikten gefangen. Das sollte und könnte zur Sprache gebracht werden können. Neue Verletzungen, zum Beispiel indem man jemanden als Spinner hinstellt, führen den Betroffenen in die Isolation. Feindbilder und Gewaltphantasien entstehen. Mit ihnen beginnt eine Gefährdungsphase, der Hass will umgesetzt werden. Wenn in dieser Phase jemand durch Handlungen wie Bedrohen oder Nachstellen auffällt, sollte dies vom Umfeld ernst genommen werden. In der Gefährdungsphase kann noch auf Hilfsangebote zurückgegriffen werden, eine weitere Eskalation noch gestoppt werden. Beratung- und Schlichtungsstellen, der Herbeizug der Sicherheitspolizei, Massnahmen wie Rayonverbote aufgrund von Drohung oder Stalking, sind einige Möglichkeiten. Plant und bereitet ein potenzieller Täter ein Gewaltprojekt bereits vor, um so schwieriger wird es. In dieser Phase geschieht das Meiste im Verborgenen. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt sollte die Polizei um Abklärung oder Einschreiten gebeten werden. Später, nämlich in der Aktions- und Tötungsphase, ist dies kaum mehr möglich. Dem Amoktäter gelingt es in der Regel, in einem generalstabsmässigen Angriff seine Aktionsmacht blitzschnell auszuführen. Die Interventionsmöglichkeit der Polizei bewegt sich im Minutenbereich.

VORWÄRTS: Ist eine Früherkennung mit technologischen Mitteln möglich?

KARL WEILBACH: Es gibt eine Software, mit der man die Gefahr von schweren Gewalttaten an Schulen ermitteln will. In diesem Programm wurde ein Raster von 32 erkennbaren Warnsignalen erstellt. Solche und ähnliche Softwareprogramme sind in einer ständigen Entwicklung. Im Glauben an die Technik und der Suche nach Sicherheit werden Software-Produkte überschätzt. Immer braucht es den Menschen, die einen Konfliktträger als solchen wahrnehmen. Die Früherkennung von Amok wird gestärkt, wenn wir viel Wissen zusammentragen: Alltagswissen, Forschungswissen, Polizeiwissen.

VORWÄRTS: Wird nicht die Verantwortung des Täters gemindert, wenn "soziale Spannungen" oder Verständnis für den "betroffenen" Täter ins Feld geführt werden?

KARL WEILBACH: Wer gekränkt ist, interpretiert die Welt nach seinen eigenen Massstäben, verliert den Blick fürs Ganze, spaltet die Realität auf. Dieses Fragmentieren mündet beim Amoktäter in Bestrebungen, andere zu schädigen, zu verletzen und zu vernichten bis hin zur Tötung und Selbsttötung. In der Amoktat zeigt sich die absolute Entgrenzung.


Karl Weilbach
Als Täter- und Sexualtherapeut hat Karl Weilbach beruflich mit schweren Gewalt- und Sexualstraftätern zu tun. Er begreift diese Männer als sozial beeinträchtigte Menschen, die aber durch die Therapie eine Chance für eigene Veränderungen und konstruktivere Lebensgestaltung erhalten.
Geboren 1954, verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder. 1988 bis 1990 Weiterbildung zum Sexualtherapeuten IPS im bayerischen Würzburg. 2003 Diplom-Kriminologe, Kriminologisches Institut, Universität Hamburg. 2006 Abschluss einer Fachausbildung zum forensischen Prognostiker an der Universität Zürich. 2008 Dissertation zu Amok, Universität Hamburg.

Neuste Studie:
"Amok. Es sieht so aus, als würde ich der Wolf sein", Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt, 2009.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 20/21/2010 - 66. Jahrgang - 28. Mai 2010, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010