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VORWÄRTS/655: Nothilferegime ohne Wirkung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.22/23/2010 vom 11. Juni 2010

INLAND
Nothilferegime ohne Wirkung

Von Michi Stegmaier


Was von Beginn an klar war, hat nun die Studie "Langzeitbezüger in der Nothilfe", die vom Bundesamt für Migration (BFM) in Auftrag gegeben wurde, bestätigt. Das Nothilferegime zeigt wenig Wirkung und hat das angedachte Ziel, die Zermürbung und Ausreise der Gestrandeten zu erzwingen, nicht erreicht.


Obwohl abgewiesene Asylsuchende seit zwei Jahren nur noch eine minimale Nothilfe in Form von Lebensmitteln, Notunterkünften und medizinischer Versorgung in Notfällen erhalten, bleiben viele in der Schweiz. Gerade bei den Personen, die schon über mehrere Jahre Nothilfe beziehen, verfehlten die "Massnahmen" ihre Wirkung. Von den 4699 Personen, die im ersten Quartal 2009 Nothilfe bezogen, haben 44 Prozent einen negativen Entscheid vor 2008 erhalten und 30 Prozent besitzen gar eine Wegweisung aus dem Jahr 2005 oder früher. Das sind fürs BFM verheerende Zahlen und zeigen klar, dass die ganze Übung wenig Sinn macht. Vor allem bei denen, die schon lange in der Schweiz leben, bleibt der erwünschte Effekt aus. Die Studie hält weiter fest, dass es vor allem die Schwächsten sind, die hier bleiben: Familien mit Kindern, Alte und psychisch Kranke. Überrascht über das Resultat der Studie ist man beim Flüchtlingscafé "Refugees Welcome" nicht, wie Sibylle Dirren erklärt: "Dass das Nothilferegime ein Leerlauf ist, war schon länger klar. Die Studie zeigt, dass mittels Repression und Kriminalisierung alleine die Situation im Asylbereich nicht entschärft werden kann, auch wenn sie weitere Schritte in diese Richtung plant". Dirren fügt hinzu: "Letztendlich geht es den Behörden nicht um Lösungen, sondern vor allem um die abschreckende Wirkung gegen aussen. Offensichtlich ist man sich bei den Behörden sehr wohl bewusst, dass die ganze Situation mittels eines Bleiberechts entschärft werden könnte. Jedoch verzichtet man auf diesen Schritt, weil man Angst hat, dass dies eine Signaiwirkung für andere Flüchtlinge haben könnte". Sie kritisiert auch, dass in der Studie zivilgesellschaftliche Kräfte sowie Fachleute nicht zu Wort kommen. Die Studie zeigt zudem, dass es einen tiefen Graben zwischen der Romandie und der deutschsprachigen Schweiz gibt, auch wenn sich der Röschtigraben in den letzten beiden Jahren etwas verkleinert hat.


Widerstand lohnt sich

Als einer der wesentlichen Faktoren, die für den langen Verbleib in der Schweiz verantwortlichen seien, nennt die Studie die Asylbewegung und UnterstützerInnenkreise. Gemäss dem Bericht hätten Angebote wie Mittagstische, juristische Beratung und das Stellen von Härtefallgesuchen einen direkten Einfluss auf die Aufenthaltsdauer unerwünschter Personen. Zitat aus dem Bericht: "In der Waadt sind in der Wahrnehmung der Interviewpartner politische, juristische und zivilgeseilschaftliche Kreise sehr effizient miteinander verknüpft, können Proteste rasch und wirksam in die politische Diskussion einbringen und so die Regierung unter Druck setzen. Auch in Zürich sehen sich die Behörden unter einer permanenten Beobachtung, was ihnen zufolge dazu führt, dass der effektive Handlungsspielraum bezüglich der verschiedenen Elemente des Wegweisungsvollzug schwindet". Sibylle Dirren fühlt sich zwar durch soviel Lob der Gegenseite geehrt, trotzdem hat es einen schalen Beigeschmack. "Mag sein, dass durch unseren Mittagstisch und die Gutscheinbörse die Betroffenen in ihrem Alltag unterstützt werden, trotzdem habe ich das Gefühl, dass man jetzt einfach nach Sündenböcken und faulen Ausreden für eine gescheiterte Politik sucht". Dirren sieht andere Faktoren im Vordergrund. "Zum Einen leben die meisten BesucherInnen unseres Treffpunktes seit über zehn Jahren in der Schweiz. Zürich ist in der Frage der Härtefälle sicher der repressivste Kanton, auch wenn man gerne auf liberal macht. Das Migrationsamt Zürich hat es in den vergangenen Jahren schlichtweg versäumt den vorhandenen Spielraum nur annähernd auszuschöpfen", meint sie kopfschüttelnd. "Gerade die hohe Zahl derjenigen, die seit Jahren Nothilfe beziehen müssen, zeigen klar, dass Repression alleine keine Lösung ist", betont Dirren.


Kein Anstieg der Kriminalität

Die Studie hat gelegentlich einen gewissen Unterhaltungswert, vor allem wenn man zwischen den Zeilen liest. Da werden einige Giftpfeile zwischen den verschiedenen Ämtern und kantonalen Behördenvertretern geschossen. Zum Beispiel wenn in einer Fussnote die Kantonspolizei Waadt der Stadtpolizei Lausanne unkooperatives Verhalten - bei der Menschenjagd - aus politischen Gründen vorwirft. Offenbar geht es auch anders. Letztendlich bestätigt der Bericht all jene, die vor den negativen Folgen und der inhumanen Sinnlosigkeit gewarnt haben.

Gebracht hat die ganze Repressionsmaschinerie nichts. Im Gegenteil, viele Ämter, die für die Umsetzung der Nothilfe zuständig sind, beschweren sich über die entstandenen Parallelstrukturen und den Mehraufwand, mit dem sie konfrontiert sind. Zudem ist das Nothilferegime für die meisten Kantone ein Verlustgeschäft, bei dem sie Millionen drauflegen müssen. Zwar gibt es ein Kopfgeld vom Bund - als Anreiz für die Kantone gedacht, möglichst unmenschlich und repressiv zu arbeiten - jedoch lohnt sich das nur, wenn es gelingt, den Nothilfeempfangenden möglichst schnell loszuwerden. Einige befürchtete Folgen des Nothilferegimes blieben bis jetzt aus. So wurde interessanterweise kein Anstieg der Kriminalität - was eigentlich zu erwarten gewesen wäre - aufgrund des Nothilferegimes festgestellt. Selbst drakonische Strafen und das jahrelange Wegsperren von Menschen zeigen wenig Wirkung.


Über jeden "Illegalen" happy

Eins zeigt die Studie aber klar: Letztendlich sind die Behörden über jeden Abgang froh, selbst wenn der Betroffene einfach abtaucht und weiterhin illegal in der Schweiz verweilt. Hauptsache einer weniger, der irgendwo in einer Statistik auftaucht. Alles andere gilt als behördliches Versagen, denn die SVP wartet schon mit dem grossem Knüppel hinter der nächsten Ecke. Statt konkrete Lösungen zu präsentieren, wird um den heissen Brei geredet. Zwar wird in der Studie angedeutet, dass die Frage einer Regularisierung kontrovers diskutiert wird, trotzdem bleibt unter dem Strich das übliche Geschrei nach mehr Repression und Polizei. Die Situation im Asylbereich lässt sich nur durch ein generelles Bleiberecht entschärften. Jedes andere europäische Land sah sich in den vergangenen Jahren gezwungen, Verschärfungen immer irgendwann mit Regularisierungen aufzufangen. Sonderling hin oder her, auch die Schweiz wird mittelfristig nicht um diesen Schritt herum kommen, alles andere ist naiv. Die sozialen Folgekosten dieser verfehlten Asyl- und Migrationspolitik lassen sich nicht abschätzen, ganz zu schweigen vom individuellen Elend der Ausgegrenzten, die seit Jahren als Ausgestossene mitten unter uns leben. Die Schwächsten, die Kranken und Gestrandeten, die über keine Perspektiven verfügen. Sie werden bleiben, ob es uns gefällt oder nicht. Das wissen die Behörden, das wissen die Parteien. Wer das einfach so ignoriert, dem kann durchaus eine gewisse Menschenverachtung und kriminelle Energie unterstellt werden.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 22/23/2010 - 66. Jahrgang - 11. Juni 2010, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2010