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VORWÄRTS/660: Übergang migrantischer Jugendlicher von der Schulzeit ins Erwachsenenalter


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 24/25/2010 vom 25. Juni 2010

"Drinnen" und "draussen"


mic. Im Rahmen einer Nationalfondsstudie untersuchten die beiden Soziologinnen Eva Mey und Miriam Rorata den Übergang migrantischer Jugendlicher von der Schulzeit ins Erwachsenenalter. Dazu befragten sie rund fünfzig Jugendliche aus der Luzerner Agglomerationsgemeinde Emmen ausführlich.


Von 2005 bis 2006 wurden rund 50 Jugendliche in Form biographisch-narrativer Interviews über ihre bisherigen Lebensgeschichte und Zukunftsperspektiven befragt. Ziel der Studie war, vertiefte Kenntnisse über den Prozess des Übergangs von der Schule ins Erwachsenenalter bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erhalten. Der Grossteil der interviewten Jugendlichen befand sich damals im neunten Schuljahr und auf der Lehrstellensuche. Zwei Jahre später wurden 34 von ihnen in einem zweiten Interview zu ihrer aktuellen Berufs- und Lebenslage befragt. Dabei ging es den beiden Soziologinnen darum, spezifische Muster und Mechanismen im Übergang in die Berufs- und Erwachsenenwelt bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund herauszuarbeiten. Nun liegen die Ergebnisse der E.M.M.E.N.-Studie vor.


Prozess der Ernüchterung

Für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund stellt die Suche nach einer Lehrstelle ein Nadelöhr dar, welches unbedingt passiert werden muss, sofern dem sozialen Abstieg entgangen werden soll. Sie investieren viel und ihre Anpassungsleistung ist gross, oft mit dem Rückzug aus dem Kollegenkreis und Vereinsleben verknüpft. Die Suche nach einem geeigneten Beruf setzt für Jugendliche mit Migrationshintergrund vor allem eine sehr hohe Flexibilität voraus. Zwar sind sich viele Second@s bewusst, dass sie nur bei einer sehr eingeschränkten Berufswahl eine reelle Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Während der Lehrstellensuche müssen die ohnehin schon geringen Berufswünsche in vielen Fällen nochmals nach unten korrigiert werden.

Nach den zwei Jahren, welche zwischen der ersten und zweiten Befragung lag, ist bei vielen eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf ihre Zukunftsperspektiven feststellbar. Berufs- und Lebensziele wurden teilweise in der Zwischenzeit stark relativiert und den Realitäten eines geschlechtsspezifisch und ethnisch segregierten Arbeitsmarkt angepasst. Der Verlust des Status als VolksschülerIn führt zu einer Verfestigung sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheit. Auch wenn bereits im heutige Schulsystem schichtbezogene Benachteiligungen deutlich erkennbar sind, so darf die Bedeutung der Volksschule als Ort der sozialen Integration und symbolischer Gleichheit nicht unterschätzt werden. Die migrantischen Jugendlichen sind sich bewusst, dass sie als Angehörige einer sozial benachteiligten Gruppe vergleichsweise schlecht positioniert sind.

Diese Chancenungleichheit wird von vielen der Interviewten schon sehr früh als eine Teilung der Gesellschaft in "drinnen" und "draussen", in "oben" und "unten", "Schweizer" und "Ausländer" wahrgenommen. Dabei stellt die Studie grob drei Anpassungsmuster fest, wie die betroffenen Jugendlichen darauf reagieren. Als erstes wäre hier die Übernahme der gesellschaftlich angedachten Aussenseiterrolle zu nennen. Die Identifikation als "Aussenseiter" kann leise und unspektakulär oder auch mit konfrontativem Verhaltensmuster einhergehen. Der zweite Weg ist der Versuch mittels besonderer Anstrengung sich einen Platz im "drinnen" zu erkämpfen. Bildung erscheint hier nicht nur als ein Projekt des sozialen Aufstiegs, sondern insbesondere auch als Projekt der sozialen Anerkennung. Oft ist dieser Weg aber mit der Distanzierung und Entfremdung von der eigenen Herkunftsgruppe verknüpft. Und drittens die Transzendenz der gesellschaftlichen Teilung insofern, als dass man sich auch hier um eine möglichst gute berufliche Position bemüht ist, jedoch die Kategorien gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Anerkennung stark relativiert und stattdessen vor allem die individuelle Verwirklichung abseits von Beruf und gesellschaftlicher Anerkennung sucht. Die gewählten Strategien sind jedoch nicht als starr zu begreifen. Oft wird zwischen den verschiedenen Anpassungsmustern hin- und her gewechselt.


Rückzug in die Community

Viele Jugendliche betonten in den Interviews, dass mit dem Ende der obligatorischen Schulzeit auch die wenigen Kontakte zu Schweizer Jugendlichen verloren gingen, was sie "mega schade" finden. Die Studie hält fest, dass während und nach der Schulzeit eine gewisse Resignation passiert und die migrantischen Jugendlichen lernen, dass sie über die berufliche Verwirklichung keine soziale Anerkennung erhalten, da die Berufsfelder, in denen sie arbeiten, meist als unattraktiv gelten. Auch Ardita, einer jungen Kosovo-Albanerin, ging es so. Trotz hoher Bildungsmotivation, Beteiligung am Vereinsleben und aktiver Teilnahme am Jugendparlament konnte sie sich nur bedingt beruflich verwirklichen. Heute spielt sie mit dem Gedanken, eine eigene Familie zu gründen um sich so etwas "Eigenes" zu schaffen. Ihr Beispiel zeigt, dass der Wunsch nach einer frühen Familiengründung nicht vorschnell auf "albanische Traditionen" zurückgeführt werden kann, sondern dass die Realität meist viel komplexer ist.

Die beiden Soziologinnen Mey und Rorata kommen zum Schluss, dass sowohl in der Schule als auch bei der Lehrstellensuche das Prinzip "Leistung statt Herkunft" wichtig wäre. Aber auch Partizipationsmöglichkeiten auf Gemeindeebene seien wichtig.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 24/25/2010 - 66. Jahrgang - 25. Juni 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2010