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VORWÄRTS/692: Wir Migranten müssen uns mehr einmischen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44/2010 vom 19. November 2010

Wir müssen uns mehr einmischen

mic. Seit Jahren spalten nationalistische Kräfte mit ihrem rassistischen Diskurs die Schweiz. Die Linke muss dem Treiben der SVP mehr oder weniger hilf- und konzeptlos zusehen. Was denken aber Betroffene selbst und wie erleben sie die Schweiz heute?


FRAGE: Wie empfindet ihr die derzeitige Stimmung gegen MigrantInnen und Flüchtlinge? Merkt ihr etwas in eurem Lebensalltag von der vergifteten Debatte rund um die Ausschaffungsinitiative und welche Auswirkung hat das auf euren Alltag? Tritt der Rassismus in der Schweiz nun offener auf?

ELMOTAZ ELTAYEB: Ja klar macht sich eine fremdenfeindliche Grundstimmung bemerkbar und sie hat in den letzten Jahren ebenso an Qualität gewonnen. Du spürst das auf der Strasse und bei Begegnungen. Das Zusammenleben ist schwieriger geworden. Die Leute haben Angst vor den "Fremden", vor der Zukunft und die Wirtschaftskrise hat viele weiter verunsichert. Entsprechend aggressiver ist die Stimmung gegen Ausländer, aber auch sozial Schwache, geworden. Das merkst du auch, wenn du mit den Leuten diskutierst. Das politische Klima hat sich in den vergangenen Jahren verhärtet und das spiegelt sich im Alltag wieder.

CARLOS ORTIZ: Ich bin sehr besorgt, weil in den vergangenen zehn Jahren die Medienkampagne der Politiker und ihren Parteien die Wählerschaft zu Uneinigkeit getrieben und die Gesellschaft gespaltet hat. Welche Auswirkung hat es auf mich persönlich: Ich versuche nicht zuzulassen, dass die Entscheide von Anderen sich auf mein Leben auswirken. Wir alle haben so viel zu tun in diesem Land, sorgen und arbeiten für unsere Familie, Nachbarschaft und letztendlich sind wir alle ein Teil der Schweiz wie sie sich heute darstellt. Das vergiftete politische Klima provoziert Streit zwischen den verschiedenen Bewohnern der Schweiz und es gibt mehr verbale Auseinandersetzungen. Andererseits hängt es von jedem einzelnen von uns ab, ob wir Brücken oder Mauern zwischen uns bauen wollen.

FRAGE: Ihr lebt schon sehr lange in der Schweiz und seid ja unterdessen beide Schweizer. Wie beurteilt ihr die heutige Migration- und Integrationspolitik? Wo seht ihr Handlungsbedarf?

CARLOS ORTIZ: Zurzeit haben wir eine Migrationspolitik, welche nicht hilft und die Realität ignoriert. Weder zugunsten von uns Immigranten noch der Schweiz hat sie sinnvolle Resultate geliefert. Diese Gesetze erfüllen nicht die Bedürfnisse der Arbeitskräfte und sobald wir nicht mehr gebraucht werden, wird nach Möglichkeiten gesucht, um uns möglichst schnell wieder loszuwerden. Und das, obwohl wir mit unserem Modus vivendi zum Wohlstand und zur wirtschaftlichen Grösse der Schweiz massgeblich beigetragen haben. Die Gesetze erfüllen weder das allgemeine Interesse noch begünstigen sie die Entwicklung des Landes. Im Gegenteil: Sie schwächen die Infrastruktur durch Trennung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zeigen vor allem den fehlenden Respekt vor der menschlichen Würde. Die Ausschaffungspropaganda fügt dem Feuer nur weiteres Öl hinzu, so dass es in Zukunft noch viel schwieriger werden wird, das Feuer zu löschen.

ELMOTAZ ELTAYEB: Die heutige Integrationspolitik hat versagt und funktioniert nicht. Gründe dafür gibt es viele. Und es gibt durchaus westeuropäische Länder, wo die ganze Migration wesentlich besser funktioniert, wo Immigranten viel schneller einen geregelten Aufenthaltsstatus bekommen und zum Beispiel auch im erlernten Berufsfeld arbeiten dürfen. In der Schweiz wird Integration oft gezielt verhindert. Die unmittelbaren Folgen sind Pessimismus und Perspektivlosigkeit, welche sehr oft auf die nächste Generation übertragen wird. Zwar denken und fühlen migrantische Jugendliche gleich wie Schweizer Kids. Gleichzeitig erfahren sie aber tagtäglich, dass sie benachteiligt sind und ihr Spielraum weitaus geringer ist. Das Resultat ist Ohnmacht, Wut und Aggression. Gerade über diese soziale Ungerechtigkeit müsste diskutiert werden, stattdessen debattiert man lieber über Ausländerkriminalität, benennt aber die sozialen Ursachen dafür in der öffentlichen Debatte nicht.

FRAGE: Was könnte man der SVP entgegensetzen und wo seht ihr Handlungsbedarf? Welche Rezepte hättet ihr gegen den ungebremsten Vormarsch der Rechten? Was müsste passieren, dass die Linke migrationspolitisch wieder mehr in die Offensive kommt?

ELMOTAZ ELTAYEB: Solche Abstimmungen wie die aktuelle Ausschaffungsinitiative sind ja irgendwo auch eine Chance. Zumindest ist das Thema wieder mal auf dem Tisch. Es findet eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung statt und es muss nach Lösungen gesucht werden. Für mich ist klar, dass es mittelfristig eine Kehrtwendung in der Migrations- und Integrationspolitik braucht. Die Schweiz profitiert ja auch extrem von der Einwanderung. Sie wird dadurch vielfältiger und würde ohne migrantische Arbeitskräfte stillstehen. Integration ist ein sehr langer und hochsensibler Prozess. Es geht um Gerechtigkeit und Gleichheit. Ist diese in der Schule, bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz und im allgemeinen Zusammenleben nicht garantiert, so wird es auch schwierig mit der Integration.

CARLOS ORTIZ: Ja, es ist wahr, dass wir Einwanderer zunehmend mehr und mehr werden, aber ich frage mich, sind wir nicht alle Einwanderer? Schon seit Beginn unserer Zeit sind wir Menschen auf der Suche, unsere Grundbedürfnisse zu decken und alle, ohne Ausnahme, kommen und gehen irgendwohin. Hier fehlt mir eine gewisse Ehrlichkeit in der Politik. Und es scheint, dass das Thema Migration so wichtig ist wie nie zuvor. Das ist aber auch eine Chance, an der wir gemeinsam arbeiten müssen. Immigrant zu sein ist für viele von uns ebenso eine Tragödie. So viele sterben beim Versuch, nach Europa zu kommen oder werden für Jahrzehnte von ihren Familien getrennt.

ELMOTAZ ELTAYEB: Ein wichtiger Punkt ist aber auch, dass sich die MigrantInnen zu wenig engagieren und einmischen. Wir müssen präsenter werden. Und es geht nicht ohne migrantische Lehrkräfte, SozialarbeiterInnen und PolizistInnen. Sie wären wichtige Brückenbauer, weil sie die Befindlichkeit und Lebensrealitäten von beiden Seiten kennen. Der veränderten gesellschaftlichen Zusammensetzung wird in der Praxis jedoch Rechnung getragen. Die Schweizer haben ein extrem hohes Defizit, was die Empathie gegenüber MigrantInnen angeht. Es interessiert nicht wirklich, wie es uns hier geht, wie wir fühlen und was wir denken. Gerade aber diese fehlende Wahrnehmung und Anerkennung führt zu Passivität und Perspektivlosigkeit. Und genau hier beginnt der Teufelskreis.

CARLOS ORTIZ: Auf der internationalen Ebene hat die Schweiz immer weniger die moralische Autorität, von anderen Ländern die Einhaltung von Menschenrechten einzufordern, wenn innerhalb der eigenen Grenzen grundlegende Menschenrechte mit den Füssen getreten werden. Diese nächsten Wahlen zeigen uns die rechte, die linke und die mittlere Türe nach draussen, aber sie zeigen mir keine positive Lösung. Wir werden zu keiner wirklichen Lösung gelangen, solange wir im Parlament keine echten Repräsentanten der Migration haben.

ELMOTAZ ELTAYEB: Dem stimme ich zu, glaube aber auch, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, dass wir dann nicht nur als Feigenblätter dienen.


Carlos Ortiz kommt aus Mexiko und lebt seit 19 Jahren in der Schweiz. Er hat Soziologie studiert und arbeitet als Kommunikator. Elmotaz Eltayeb stammt aus dem Sudan, ist gelernter Chemieingenieur, arbeitet derzeit als Chemielaborant und lebt seit 15 Jahren hier. Beide engagieren sich seit Jahren Migrationspolitisch


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2010 - 66. Jahrgang - 19. November 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010