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VORWÄRTS/733: Sans-Papiers - Schluss mit der Heuchelei!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22/2011 vom 10. Juni 2011

Schluss mit der Heuchelei!


mic. Um an 10 Jahre Kampf für die kollektive Regularisierung von Sans-Papiers zu erinnern, hat "Solidarité sans frontieres" mit verschiedenen Basisgruppen, migrationsspezifischen Organisationen und linken Parteien die Kampagne "Schluss mit der Heuchelei" lanciert. Im Rahmen der Kampagne wird für den 18. Juni zu einer Demo in Basel und zu einem Festival am 25. Juni in Bern eingeladen.


Was in Frankreich 1996 seinen Anfang nahm, erreichte im April 2001 in Lausanne mit der ersten Kirchenbesetzung durch Sans-Papiers die Schweiz. Im Juni folgte die medial viel beachtete Besetzung der St. Paul-Kirche in Fribourg, weitere Besetzungen in La-Chaux-de-Fonds und Neuenburg folgten und erreichten im Juni, mit Kirchenbesetzungen in Bern und Basel, schliesslich die Deutschschweiz. Mutig entschlossen sich die Betroffenen damals, aus dem Schatten zu treten, für die Öffentlichkeit sichtbar zu werden und Gesicht zu zeigen. Sie liessen sich nicht länger totschweigen und breite Schichten der Schweizer Bevölkerung mussten zur Kenntnis nehmen, dass "Illegale" existieren und einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Einiges wurde seither erreicht, vieles aber auch nicht. Heute gehen unabhängige Einschätzungen davon aus, dass rund 100.000 Sans-Papiers ständig in der Schweiz leben. Nach den Besetzungen wurde es wieder etwas ruhiger um die Papierlosen, bis am 19. Dezember 2007 das Grossmünster in Zürich von 150 Betroffenen besetzt und die Bleiberechts-Kampagne lanciert wurde.


Offensiv die Doppelmoral durchbrechen

"Bei der Kampagne '10 Jahre Sans-Papiers-Bewegung' geht es uns darum, aufzuzeigen, dass die heutige Asyl- und Migrationspolitik nicht funktioniert und heuchlerisch ist", erläutert Elango Kanakasundaram von "Solidarité sans frontières" eines der Anliegen. Nebst der Demo "Schluss mit der Heuchelei - kollektive Regularisierung jetzt" am 18. Juni in Basel, gibt es eine Petition und diverse weitere Anlässe: So etwa ein Festival am 25. Juni und eine Grossdemo im Herbst, beides in Bern. Offiziell will die Schweiz zwar keine Sans-Papiers, benötigt werden sie trotzdem. Gerade in den prekarisierten Arbeitsbereichen wurde durch Studien mehrfach belegt, dass Sans-Papiers einen wichtigen Faktor darstellen. Diese Doppelmoral wird von der Kampagne aufgegriffen. "Die meisten Sans-Papiers arbeiten. Trotzdem haben sie keine Chance auf eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Deshalb fordert die Kampagne, dass es auch für Nicht-EU-Bürger möglich sein muss, in der Schweiz legal zu arbeiten", erklärt Elango Kanakasundaram einleuchtend. Ebenso sieht es Maria (Name von der Redaktion geändert), die selbst sieben Jahre als illegalisierte Hausangestellte in der Schweiz arbeitete. "Viele, die mit mir zusammen arbeiteten, waren illegal hier. Die ständige Gefahr, in eine Personenkontrolle zu kommen und die Stigmatisierung, etwas Verbotenes zu tun, ist eine schwere psychische Belastung", erzählt Maria. "Du putzt, hütest Kinder und fühlst dich dabei als Kriminelle. Dieser Zustand ist unerträglich und ungerecht. Die Schweiz wäre ein wunderbares Land. Sie zeigt sich aber gegenüber uns von ihrer schlechtesten Seite", meint die Peruanerin bitter enttäuscht.


Verbotene Liebe

Maria hat vor zwei Jahren durch Heirat mit ihrem langjährigen Freund Papiere bekommen. Etwas, das heute nicht mehr möglich ist, denn seit Anfang Jahr besteht in der Schweiz ein generelles Heiratsverbot für Sans-Papiers. Eine weitere Verschärfung, die bei vielen ExpertInnen nur noch Kopfschütteln auslöst. "Deshalb ist es für die Sans-Papiers-Bewegung wichtig, wieder in die Offensive zu kommen, Gegendruck aufzubauen und das politische Feld nicht einfach dem Gegner zu überlassen. Zum Beispiel gab es in St. Gallen im Vorfeld des SUFO ein Bleiberechts-Camp, welches lokal grosse Beachtung fand", erzählt Kanakasundaram. Auch für Mirjam Ringenbach von der "Basler Anlaufstelle für Sans-Papiers" ist klar, dass es so nicht weitergehen darf. "Mit der Demo in Basel wollen wir lokal ein deutliches Zeichen setzen, aber auch klar sagen: Es ist genug und Seine kollektive Regularisierung längst überfällig. Die Härtefallregelung, wie wir sie heute kennen, ist ein Witz und löst keine Probleme", kritisiert Ringenbach die gängige Praxis.


Blind für Not und Elend

Während schon vor Jahren faktisch sämtliche europäischen Länder die Situation im Ausländerbereich mittels Regularisierungen entschärften, verweigerte sich die Schweiz damals wie heute der Realität. Viele migrationspolitische Brennpunkte sind hausgemacht und was mal ein europäischer Sonderfall war, ist längst zum störrisch-egoistischen Sonderling geworden. Die Rechnung für eine unmenschliche und realitätsfremde Politik bezahlen die Sans-Papiers. Statt menschliche und rechtliche Anerkennung für ihren Beitrag für unsere Gesellschaft zu erhalten, werden sie stigmatisiert und in die Illegalität gedrückt. Sie werden bewusst von einer Politik, die für die Not und das Elend der Menschen blind ist, geopfert und den SchreibtischtäterInnen zum Frass vorgeworfen. Wo Pragmatismus und Menschlichkeit angesagt ist, wird kleingeistig nach dem Haar in der Suppe gesucht. Auf der Strecke bleiben die Schwächsten der Schwachen. Sie sind die Verarschten, welche für Blauäugigkeit, Sündenbockpolitik und Feigheit anderer bezahlen müssen. Willkommen in der "umanitären" Schweiz, Hosni Blatter for president!


FESTIVAL "GEKOMMEN UM ZU BLEIBEN" SAMSTAG, 25. JUNI, AB 15:00 UHR, LORRAINEPÄRKLI, 3013 BERN

MEHR INFOS ZUR KAMPAGNE UNTER:
WWW.SANSPAPIERS-BEWEGUNG.CH


Papiere jetzt!

Die Schweizerische Politik gegenüber uns Sans-Papiers ist von Heuchelei bestimmt. Wir sind als billige Arbeitskräfte in unbeliebten Berufen willkommen, als Menschen mit Rechten aber nicht. Wir bauen eure Strassen und Häuser, betreuen eure Kinder, pflegen eure kranken und betagten Angehörigen, arbeiten auf euren Feldern, in Hotels und Restaurants. Damit tragen wir zum Wohlstand der Schweiz bei. Wir machen die Arbeiten, die niemand anders machen will und die schlecht bezahlt sind. Dennoch leben wir in der dauernden Angst, denunziert, entdeckt, festgenommen und ausgeschafft zu werden. Wir sind mehr als 100.000 Sans-Papiers in der Schweiz. Seit 10 Jahren kämpfen wir für eine Regularisierung. Unsere Geduld ist am Ende, jetzt haben wir genug! Wir wurden jahrelang mit Scheinlösungen vertröstet. Immer finden die Behörden einen Grund, ein Härtefallgesuch abzulehnen. Seit 2001 wurden schweizweit nur 1429 Sans-Papiers als Härtefall regularisiert. Das ist ein Witz! Wir lassen uns nicht mehr vertrösten, wir wollen eine Lösung und zwar jetzt!

Wir fordern:

- Den sofortigen Ausschaffungsstopp

- Eine kollektive Regularisierung der Sans-Papiers

- Personenfreizügigkeit und gleiche Rechte für alle!

UNION DER ARBEITERINNEN OHNE GEREGELTEN AUFENTHALT UND BLEIBERECHT FÜR ALLE!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22/2011 - 67. Jahrgang - 10. Juni 2011, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2011