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VORWÄRTS/736: Der Aufstand der Empörten


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 2011 vom 10. Juni 2011
Extrabeilage der Empörten

Der Aufstand der Empörten

Von der Redaktion


"Echte Demokratie jetzt!", unter diesem Motto versammeln sich seit Mitte Mai in mehr als 60 Städten Spaniens die Menschen auf der Strasse. Sie besetzen Plätze und eignen sich den öffentlichen Raum mit verschiedenen sozio-ökonomischen und politischen Forderungen an. Bemerkenswert ist, dass weder Parteien noch andere etablierte Organisationen wie Gewerkschaften bei der politischen Aktivierung der Menschen eine Rolle spielen.


Am 15. Mai gingen in 50 spanischen Städten etwa 150.000 Menschen auf die Strasse. Die Slogans der Demonstrierenden richteten sich gegen die unsozialen Reformen und gegen Regierungen, die sich "in den Händen von Bankern" befinden. Gefordert wird das Grundrecht auf bezahlbare Wohnungen, die freie persönliche Entwicklung oder den "Zugang zu den Basisgütern, die für ein gesundes und glückliches Leben notwendig sind". Trotz der üblichen polizeilichen Repression - so wurden in Madrid an diesem Tag 24 Personen bei Sitzblockaden verhaftet - liessen sich die DemonstrantInnen nicht einschüchtern und errichteten das Protestcamp auf der Puerta del Sol, das zwischenzeitlich gewaltsam geräumt, dann aber wieder aufgebaut wurde. Am Rande des Platzes stehen Mülltonnen und Infostände, es gibt eine Essens- und Getränkeausgabe, eine Küche und Toiletten. Organisiert wird alles von Komitees, die für diesen Protest gegründet wurden. Die Frankfurter Rundschau schreibt: "Auf der Puerta del Sol ist ein Lager aus Zelten und Ständen herangewachsen: ein Dorf, über dessen Wege sich Aktivisten und Neugierige schieben wie über einen Flohmarkt, überwölbt von blauen Plastikplanen, unter denen die Luft ein wenig stickig ist". Auf diesem Markt gibt es nichts zu kaufen, die Stände bieten Informationen und Meinungen. Es gibt ein Dokumentationszelt, wo Texte, Bilder und Filme der Bewegung archiviert werden, einen Platz für die Kinderbetreuung, eine Sessel- und Sofalandschaft zum Zeitunglesen, ein Solarmodul zum Aufladen von Mobiltelefonen, einen Stand, an dem man Ideen und Vorschläge für politische Reformen hinterlassen kann. An anderen Ständen gibt es Essen und Getränke. Eine Nachbarin brachte 400 Churros vorbei, eine Art spanischer Krapfen. Eine Firma lieferte einen ganzen Lastwagen voll Wasserflaschen, eine andere sechs chemische Toiletten. Es sind Spenden für die gemeinsame Sache. Ähnliche Entwicklungen ereignen sich in anderen spanischen Städten. So wächst die Besetzung des Plaza Catalunya in Barcelona, der vorübergehend am 27. Mai durch einen brutalen Polizeieinsatz geräumt und dann wieder besetzt wurde. Anfangs waren es einige hundert Personen, die innerhalb weniger Tage auf weit über 10.000 wurden.


Breites Bündnis

Laut "Green Left Weekly" gibt es in der Bewegung 15-Mai keine "automatische Ablehnung des Politischen". Die DemonstrantInnen haben die institutionelle Politik nicht aufgegeben. Während der Slogan in Argentinien 2001 "que se vayan todos" ("sie sollen alle abhauen") war, gibt die "Bewegung 15. Mai" den Parteien ausserhalb des Mainstreams eine Chance, und während sie Unabhängigkeit und Autonomie beansprucht, scheint sie gleichzeitig interessiert zu sein, Brücken zu manchen Parteien zu bauen. Der Protest richtet sich gegen vielfältige Missstände wie zum Beispiel die von der EU aufgedrängte und von der spanischen Regierung Zapatero bereitwillig verhängte Austeritätspolitik, die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere bei Jugendlichen, und die Korruption. Für den 15. Mai wurde zu einer gross angelegten Demonstration aufgerufen, die sich durch ihre Offenheit für alle von der Krise Betroffenen auszeichnete. Anlässlich der Demo vom 15. Mai kam es zur Bildung eines breiten Bündnisses: Mehr als 400 Gruppen schlossen sich dann zur Plattform "Echte Demokratie - Jetzt!" zusammen, unter anderem "Attac"; die grosse Umweltorganisation "Ecologistas en Acción" und der landesweite Zusammenschluss der Arbeitslosen. Über Facebook und Twitter wurden schnell Treffen in zahlreichen spanischen Städten organisiert. Es wurde ein Manifest verfasst, in dem zu einer "ethischen Revolution" aufgerufen wird. Vom Kapitalismus wird darin eher geschwiegen, dafür wird die "Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern" kritisiert.


"Geschichte gemacht"

Die von den meisten Medien vorgenommene Einschätzung der "Bewegung 15. Mai" als Protestbewegung gegen die wirtschaftliche Lage greift viel zu kurz, auch wenn dies einen Faktor unter anderen darstellen mag. Vielmehr handelt es sich bei den teilnehmenden Menschen um eine Schnittmenge der Unzufriedenen - und das sind in Spanien (und Katalonien) nicht Wenige. Für Einige spielt die Abwälzung der Krise auf die Menschen und die damit verbundene chronische Verschlechterung der Lebensumstände eine Rolle. Für Andere der Mangel an Möglichkeiten zur politischen Partizipation, Perspektivlosigkeit oder auch einfach nur der "anticapitalismo". In der Dynamik der letzten Wochen kommt zudem bei vielen sonst eher "unpolitischen" Menschen das Gefühl auf, dabei sein zu müssen, wenn "Geschichte gemacht" wird. Für die radikale Linke Spaniens haben sich die Camps als Ort der "Selbstorganisierung und des Zusammentreffens sozialer Bewegungen entwickelt." Es gibt sowohl Forderungen an den Staat, die bis in die Veränderung der Wahlgesetze gehen, als auch Aufrufe an die übrige Bevölkerung wie die Bildung von Versammlungen, Schaffung von Freiräumen, Unterstützung und Bildung von (Arbeits-) Kooperativen. Die kontroverse Frage innerhalb der Bewegung, ob Forderungen an den Staat zu stellen seien oder ob die Institutionen als Teil des Problems wahrgenommen werden, bleibt offen. Die Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse auf den besetzten Plätzen funktionieren basisdemokratisch, die Vollversammlung "asamblea general" ist der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden. In einigen Städten bilden sich auch bereits "asambleas de barrios", (Quartierversammlungen), um dem Protest Kontinuität zu geben und ihn gesellschaftlich zu verallgemeinern.

Auf die Weiterentwicklung darf man äusserst gespannt sein und hoffen, dass die Protestwelle viele Länder in Europa erfasst!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung. Nr. 21/22 2011 - 67. Jahrgang - 10. Juni 2011
Extrabeilage der Empörten, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2011