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VORWÄRTS/777: Massenentlassungen, Massenwiderstand?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.43/44 vom 2. Dezember 2011

Massenentlassungen, Massenwiderstand?

Von Thomas Schwendener


In der Schweiz kündigten in den vergangenen Wochen verschiedene Unternehmen Massenentlassungen an. Die Ursachen dafür sind von den auf den Plan gerufenen "ExpertInnen" schnell benannt. Wenn man allerdings etwas tiefer gräbt, stösst man auf ungeheuerliche Banalitäten. Wie setzt man sich gegen diese zur Wehr?


Die Wirtschaftskrise, welche nach dem Finanzcrash von 2008 schon mehrere Metamorphosen durchlaufen und verschiedene gesellschaftliche Bereiche erfasst hat, scheint nun den Schweizer Arbeitsmarkt zu erreichen. In den letzten Wochen kündigten nicht nur Grossfirmen im Banken- und Pharmabereich Massenentlassungen an, auch regionale Unternehmen erklärten gleich reihenweise, dass sie sich in der aktuellen Konjunkturlage von Teilen ihres so hoch geschätzten Personals trennen müssten. Der ehemalige hohe Gewerkschaftsfunktionär und heutige Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft, Serge Gaillard, sagt es im Interview klar und deutlich: "Die Wende am Arbeitsmarkt scheint tatsächlich bevorzustehen. Wir gehen auf schwierigere Zeiten zu."

Gründe für das aktuelle Schlamassel sind von den aufgebotenen ExpertInnen schnell gefunden: Der immer noch zu hohe Schweizer Franken bringe den auf Export ausgerichteten Teil der Schweizer Wirtschaft in Nöte - und immerhin sind rund 40 Prozent des Schweizer Bruttoninlandproduktes Exportgüter. Verschärfend komme hinzu, dass die Schuldenkrise in den EU-Ländern und der USA für eine flaue Kosumstimmung sorge und die potentiellen KäuferInnen zur Vorsicht treibe. Das führe nebst den sinkenden Exportnachfragen und dem Ausbleiben von europäischen TouristInnen auch zu einem Abfärben auf das Konsumverhalten in der Schweiz. Falls die europäischen Staaten die Staatsschuldenkrise nicht in den Griff kriegten - und momentan scheint das ein schwieriges bis aussichtsloses Unterfangen - und sie sich zu einer Bankenkrise ausweite, stehe auch der Schweizer Wirtschaft ein mageres Jahr ins Haus. Und so darf in keinem Statement zu den Massenentlassungen der Hinweis auf die Wirtschaftskrise fehlen. Es beschleicht einen fast das Gefühl, als wären die bemitleidenswerten Unternehmen die ersten und wesentlichen Opfer der aktuellen Krise.


Ursache und Oberfläche

Die ExpertInnen scheinen sich in der Beschreibung der Lage erstaunlich einig zu sein, auch wenn ihre Analysen und Lösungsvorschläge je nach politischer Couleur natürlich voneinander abweichen. Sie wissen meist ganz genau, ob es nun mehr oder weniger Regulierung braucht und an welchem "Grundproblem" die Wirtschaft krankt. Was aber keiner der von den Massenmedien hofierten Experten zu denken oder gar zu sagen wagt, ist, dass das Grundproblem in der Art und Weise besteht, wie im Kapitalismus der gesellschaftliche Reichtum produziert wird.

Es ist doch augenscheinlich verrückt, dass Menschen, völlig unbesehen von ihrer sozialen Lage und ihrer physischen Verfassung, nur dann zur produktiven Betätigung angestellt werden, wenn das Unternehmen aus ihnen einen Profit herausholen kann. Es ist noch verrückter, dass die Unternehmen bei Strafe des Untergangs gezwungen sind technische Innovation zu betreiben, diese aber nicht dazu dient, die Menschen von schwerer Arbeit zu befreien, sondern meist nur mehr Arbeitslose und zunehmenden Stress zur Folge hat. Und es ist ganz und gar wahnsinnig, dass diese Gesellschaft ihre Reproduktion nur über wiederkehrende Krisen zustande kriegt, welche für einen Grossteil der Erdbevölkerung eine noch über das ohnehin herrschende Mass hinausgehende Verelendung bedeutet und häufig eine Tendenz zum Krieg beinhaltet. Das sind schlicht Banalitäten. Doch sie kommen nie einem/einer der omnipräsenten ExpertInnen über die Lippen, zu tief stecken sie drin im Sumpf der kapitalistischen Gesellschaft.

Dass die aktuelle Krise ihren Ursprung nicht in der Gier der BankerInnen oder im übermässigen auf Pump finanzierten Konsum der amerikanischen ProletarierInnen hat, das wurde im vorwärts zu Recht schon mehrmals geschrieben. Das Problem liegt tiefer: Im maroden System selbst, das seit den 1970er Jahren in einer strukturellen Akkumulationskrise steckt, die über allerlei Finanzierungsinstrumente hinausgeschoben werden konnte, die aber 2008 offen ausgebrochen ist und uns nun in immer neuer Form zu beglücken weiss. Aktuell eben - vermittelt über einige Faktoren, welche die ExpertInnen immer zu verrätseln wissen - in der horrenden Anzahl von Entlassungen und dem prognostizierten Anstieg der Arbeitslosigkeit.


Und der Widerstand?

Es scheint so, als seien die Gewerkschaften momentan vor allem damit beschäftigt, bei der Ankündigung von Massenentlassungen in der Konsultationsfrist "tragbare" Vorschläge zu unterbreiten und in den meisten Fällen bloss noch einen halbwegs annehmbaren Sozialplan auszuarbeiten - man erinnere sich bloss an Deisswil, Biberist oder Dornach. Es gibt also vieles an den Gewerkschaften zu kritisieren, die zum integralen Bestandteil des bürgerlichen Ordnungsgefüges geworden sind. Sie erfüllen innerhalb des Kapitalismus eine nicht unwichtige ambivalente Rolle bei der Integration (potentiell) kämpferischer Elemente wie aber auch beim Aufrechterhalten eines gewissen Masses an Kollektivität innerhalb spezifischer Sektoren der Arbeiterklasse. Gerade in Zeiten des Anwachsens des Heeres der Arbeitslosen, der "industriellen Reservearmee" und des damit verbundenen Drucks auf die Löhne, müssen sie annehmbare Gesamtarbeitsverträge erstreiten. Das aktuelle Tauziehen um den Landesmantelvertrag auf dem Bau muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Doch eines kann auch der beste GAV nicht verhindern: Die ArbeiterInnen bleiben an eine funktionsfähige Wirtschaft gekettet - und um diese steht es bekanntlich schlecht. Wenn ein Unternehmen Bankrott geht, dann werden die ArbeiterInnen arbeitslos. Wenn eine Nation Konkurs geht, dann sieht es düster aus für Renten und Sozialabgaben. Wir leben in Zeiten, in denen für Reformen der Spielraum ungemütlich klein geworden ist und Verbesserungen für die ArbeiterInnen häufig existenziell auf die Wirtschaftsbedingungen der nationalen Kapitale drückenX, So ist heute die Frage nach Verbesserung oder wenigstens Beibehaltung der Lebensbedingungen aufs engste mit der Frage ums Ganze - der Infragestellung des Kapitalismus - verwoben. Oder ums plakativer zu sagen: Gegen die unter den aktuellen Bedingungen drohende Arbeitslosigkeit und Verschlechterung der Lebensbedingungen hilft kein handzahmer Protest und auch kein noch so schöner Sozialplan. Der Widerstand muss sich, wenn er eine längerfristige Perspektive in einer sich zuspitzenden Weltlage haben will, radikalisieren und die Frage nach einer Produktion jenseits von Staat und Kapital stellen. Auch das ist eigentlich eine Banalität.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2011 - 67. Jahrgang - 02. Dezember 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2011