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VORWÄRTS/791: Stipendien statt Sozialhilfe?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04/2012 vom 27. Januar 2012

Stipendien statt Sozialhilfe?

von Michi Stegmaier


Geht es nach den Vorstellungen der "Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe" (SKOS), sollen Jugendliche, die eine Ausbildung machen, in Zukunft ihren Lebensunterhalt mittels zusätzlicher Stipendien sichern können. Von diesem Vorstoss erhofft sich die SKOS, künftig Jugendlichen den Einstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern.


Rund zwei Drittel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Gemäss der SKOS beziehen derzeit 3,9 Prozent der 18 bis 25-jährigen Sozialhilfe. Zwar liegt die Schweiz mit dieser Quote weit unter dem europäischen Schnitt, anderseits ist der Anteil von fast 4 Prozent junger Erwachsener deutlich über dem Schnitt der anderen Altersgruppen, die Sozialhilfe beziehen. Seit 2005 steigt der Anteil von Sozialhilfebeziehenden zudem kontinuierlich an. Angesichts dieser alarmierenden Entwicklung sieht die SKOS Handlungsbedarf. Sie empfiehlt den Kantonen das Stipendienwesen und die Sozialhilfe zu harmonisieren. Mit dem aktuellen sozialpolitischen Vorstoss will die SKOS eine bessere Integration von Jugendlichen ins Erwerbsleben erreichen. Wer eine Ausbildung beginnt, der soll in Zukunft nicht mehr Sozialhilfe beziehen müssen, sondern von einem Stipendium leben können. "Die bessere Unterstützung von Jugendlichen aus armen Familien würde auf alle Kantone aufgerechnet zu Mehrkosten von rund 140 Millionen Franken jährlich führen", wie SKOS-Präsident Walter Schmid anlässlich der Medienkonferenz in Bern erklärte. Der Zeitpunkt für diesen politischen Vorstoss sei derzeit besonders geeignet, da "verschiedene Kantone im Rahmen des Stipendienkonkordats über die Bücher gehen, um die sehr heterogenen kantonalen Gesetze zu harmonisieren".


Pilotprojekt im Waadtland

2006 wurde das Projekt "FORJAD" im Kanton Waadt lanciert. Auf Grund der positiven Erfahrungen und erfolgreichen Integration vieler Jugendlichen aus so genannten "bildungsschwachen Schichten" wurde das Projekt im Jahr 2009 Integrationsprogramm definitiv eingeführt. Die SKOS schlägt deshalb vor, das Konzept "Stipendien statt Sozialhilfe" nun in der ganzen Schweiz umzusetzen. Wobei auch andere Kantone wie etwa Zürich diese Praxis schon kennen, wie Andreas Hediger von der IG Sozialhilfe gegenüber dem vorwärts bestätigt. Einer der Zürcher Jugendlichen, der Stipendien erhält, ist der 19-jährige Dardan. Er hat vor zwei Jahren mit einer Lehre als Maurer begonnen. Die Eltern hatten ein eigenes Geschäft, bis es Konkurs ging. Seither ist die ganze Familie auf Sozialhilfe angewiesen. Angesprochen darauf, ob es für ihn einen Unterschied macht, ob er die zusätzliche finanzielle nun als Sozialgeld oder Stipendium erhält, betont der junge Schweizer, dass es für ihn schon etwas ausmacht. "Ich weiss nicht, ob ich Sozialgeld wirklich angenommen hätte. Mir ist wichtig, für mein eigenes Leben auch selbst sorgen zu können und Stipendien hört sich halt einfach besser an", erzählt der junge aufgeweckte Maurerlehrling. Und er weist noch auf einen anderen, sehr zentralen Punkt hin: "Würde ich während meiner Lehre zusätzlich auf Sozialgeld angewiesen sein, müsste ich dies, sobald ich richtig arbeite, irgendwann wieder alles zurückzahlen. Bei den Stipendien hingegen ist das nicht der Fall. So wurde es mir schmackhaft gemacht und sonst wäre ich wohl gar nicht darauf eingegangen".


Die halbe Wahrheit

Auch wenn dieser Vorstoss der SKOS sicher in die richtige Richtung geht, so blendet er gleichzeitig andere Faktoren aus. Die Klassenfrage, fehlende Chancengleichheit oder der segregative Charakter des Schweizer Schulsystems bleiben ausgeblendet, vom Sozialabbau und Sparwahn der letzten Jahre ganz zu schweigen. Gerade aufgrund der letzten Verschärfungen bei der Arbeitslosenkasse wurden viele Jugendliche in die Sozialhilfe gedrückt. Der aktuelle Anstieg ist eben auch systembedingt. Zwar hört sich der aktuelle Vorstoss der SKOS gut an, letztendlich wird die Praxis zeigen, ob mit "Harmonisierung des Stipendienwesens" nicht einfach "Nivellierung nach unten" und mit "Beratung" nicht "Kontrolle" gemeint ist. Auch bei der IG Sozialhilfe hat man noch das eine oder andere Fragezeichen: "Zentral für uns ist, ob die Betroffenen letztendlich mehr bekommen oder nicht und ob nicht einfach die Leute jetzt von der einen Kasse in die nächste abgeschoben werden", betont Andreas Hediger seine Bedenken. Tatsächlich sind die aktuellen Statistiken durchaus mit Vorsicht zu geniessen, wie heisst es doch so schön: Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast...


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04/2012 - 68. Jahrgang - 27. Januar 2012, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2012