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VORWÄRTS/815: Nordirland - Zurück in die Zukunft?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.15/16 vom 6. April 2012

Zurück in die Zukunft?

Von Jan Meier



Irland 2012: Tägliche Drohungen und Schikanen, konstante und intensive Repression, Knastkämpfe der politischen Gefangenen - sind wir zurück in die Vergangenheit gereist? Ein kurzer Blick auf die heutige Repression in Nordirland.


Konstante Belästigungen auf der Strasse, Hausdurchsuchungen, jahrelange Untersuchungshaft, bei der die Anklage später fallengelassen wird, bis hin zu Inhaftierung ohne Anklage überhaupt - und das soll der viel gerühmte Frieden in Nordirland sein? Seitdem die irisch-republikanische Widerstandsbewegung gegen die britische Besatzung wieder allmählich zu wachsen beginnt, ruft die darauf reagierende Repression tatsächlich Erinnerungen an die "alten Tage" hervor. Fast 15 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, das sich für immer mehr Leute als Scheinlösung entpuppt, werden Aktivisten, die sich gegen das Abkommen stellen, gezielt von der Polizei und Armee ins Visier genommen. Auch wenn die sich neu organisierende republikanische Bewegung trotz Wachstum keineswegs so stark ist wie in den 1970er oder 80er, machen die Eskapaden der britischen Polizei und Geheimdienst den repressiven Praktiken jener Zeit durchaus Konkurrenz.


Der Fall Marian Price

Drakonische Anti-Terror Paragraphen werden benützt, um politische Aktivisten sowie auch deren Familie und Kinder wortwörtlich täglich und jedes Mal beim Verlassen ihres Zuhauses zu kontrollieren und zu durchsuchen. Seit 2007 hat sich die Anwendung dieser Methoden vervierfacht. Nebst der Schikane solcher Praktiken, benutzen die "Spooks" des britischen Geheimdienstes diese Gelegenheiten als Versuch, Informanten zu rekrutieren. Dies entweder durch das Versprechen von Geld ("Wir haben gehört, du hast ziemliche Schulden?"), doch immer mehr durch Drohungen, Aktivisten oder deren Familie sonst "für lange Zeit hinter Gitter zu bringen". Drohungen, die leider keineswegs nur leere Worte zu sein scheinen. Nebst dem Unterjubeln belastenden Materials oder der Manipulation von DNA-Spuren, Phänomene die immer wieder ans Licht kommen, erlaubt der Paragraph "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" britische oder südirische Aktivisten vor Sondergerichte zu zerren und sie können auf der Basis von Polizeiaussagen verurteilt werden. Im Sondergericht fällt ein einziger Richter das Urteil und nicht ein Geschworenengericht, was sonst dem Normalfall entspricht.

Der neuste Trend der britischen Repression ist es jedoch, ehemalige Gefangene, welche sich zu laut gegen das Abkommen aussprechen, ohne jegliche Anklage wieder zu inhaftieren. Die formelle Begründung? Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Einen bekannten Fall stellt die Inhaftierung von Marian Price dar. Sie ist die einzige weibliche politische Gefangene. Die 57-Jährige wurde 2011‍ ‍durch Anordnung des britischen Nordirlandministers Owen Paterson inhaftiert, der ihre Bewährung aus dem Jahr 1980 widerrief. Seither sitzt sie in Isolationshaft. Marians Anwälte argumentierten, sie sei gar nie auf Bewährung freigelassen worden, da sie eine Begnadigung erhielt (man dachte damals nämlich, sie sei wegen einem langen Hungerstreik nahe beim Tod). Folglich könne die Bewährung gar nicht widerrufen werden. Paterson entgegnete, dass man jene Unterlagen verloren und sehr wahrscheinlich vernichtet habe! Diese Umstände rufen bei vielen Iren Erinnerungen an die britische Internierungspolitik der 70er hervor - als wäre man zurück in die Vergangenheit gereist.


Wieder im Fokus

Zurzeit sind etwa 100 republikanische Aktivisten in südirischen oder britischen Gefängnissen. Seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens werden sie jedoch nicht mehr als politische Gefangene anerkannt, sondern kriminalisiert. Keine besonders innovative Methode um politischen Aktivisten die Legitimität abzusprechen. Seither gibt es aber auch immer wieder Proteste in den Gefängnissen, um bestimmte Forderungen durchzusetzen und langfristig den politischen Status wieder zu erkämpfen. Momentan beteiligen sich die Gefangenen an einem sogenannten "No Wash" oder "Dirty Protest", um gegen die alltäglichen Leibesvisitationen, die mit Demütigung und Gewalt verbunden sind, zu protestieren. Die unheimlichen Gemeinsamkeiten mit den Knastkämpfen der 70er und 80er, welche schliesslich in einen Hungerstreik mündeten, bei dem zehn politische Gefangene starben, malen kein hoffnungsvolles Bild. Die konstitutionellen Pro-Abkommen PolitikerInnen, einige von ihnen ehemalige GenossInnen der Gefangenen, sehen sich zwar langsam gezwungen, ein Ende der Inhaftierungsfälle und Gefängnisbrutalität zu fordern. Dies um ihre immer mehr schwindende Legitimität zu wahren. Doch wie begründen sie ihre "Forderung" nach würdigerer Behandlung in den Knästen? Solche Repression würde der Widerstandsbewegung Aufschwung verleihen!

Aber tatsächlich scheint die Solidaritätsbewegung mit den Gefangenen immer weiter zu wachsen. Gleichzeitig rückt in den Arbeitsquartieren die politische Frage über die Souveränität sowie eine sozialistische Perspektive für die Zukunft Irlands wieder vermehrt in den Fokus.


Die Grundsatzfragen stellen

Sind wir also zurück in die Vergangenheit gereist? Dafür hätten wir wohl die Vergangenheit überhaupt erst hinter uns lassen müssen. Einer Zukunftsillusion Glauben zu schenken, mag den apolitischen Optimisten zwar trösten, sie ist aber keine echte Zukunft, kein konkreter Schritt vorwärts. Das Karfreitagsabkommen ist eine solche Illusion: Es versprach der damaligen opportunistische Führung der Bewegung bequeme Sessel im britischen Parlament. Doch die Wurzel des Konfliktes, sprich die Besatzung Irlands, wurde nicht angetastet.

Es ist daher kaum verwunderlich, dass im Kontext der Kontinuität der britischen Besatzung eine wachsende Bewegung für ein unabhängiges und sozialistisches Irland am entstehen ist. Genauso wenig überraschend ist, dass sich die Repression des britischen, aber auch des südirischen Staates, mit voller Härte gegen diese Bewegung richtet. Eine Zukunft mit echtem Fortschritt und authentischem Frieden ist zwar zweifellos möglich. Doch es braucht kein Genie um zu erkennen, dass dafür die Grundsatzfragen gestellt werden müssen - in diesem Fall sind es die Fragen über die Souveränität und politische Zukunft Irlands.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16/2012 - 68. Jahrgang - 6. April 2012, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2012