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VORWÄRTS/825: Europäischer Marsch der Sans-Papiers


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22/2012 vom 25. Mai 2012

Europäischer Marsch der Sans-Papiers



Redaktion. Vom 2. Juni bis zum 2. Juli werden Sans-Papiers und MigrantInnen aus verschiedensten Staaten in einem gemeinsamen Marsch Europa durchqueren und auch in der Schweiz hält machen. Im Vorfeld hat der vorwärts mit zwei Aktivisten aus Frankreich und der Schweiz gesprochen.


Aliou Sow ist Sekretär der "Coordination 75 des Sans-Papiers" (CSP75) aus Paris. Die CSP75 wurde unter anderem durch eine sechsmonatige Besetzung des Gewerkschaftshauses der grössten französischen Gewerkschaft CGT bekannt. Aliou wurde aufgrund langjähriger Mobilisierungen der CSP75 regularisiert.

Jean-Didier Mamuidila ist ein Aktivist der Bleiberechtsbewegung Schweiz. Er lebt als abgewiesener Asylsuchender in einem Nothilfezentrum.

Frage: Die Idee des Europäischen Marsches der Sans-Papiers und der MigrantInnen stammt von der CSP75. Wie kam es bei euch zu dieser Idee?

Aliou: Die CSP hat bereits zwei Märsche durchgeführt. Ein erster Marsch unseres Kollektivs fand im Mai 2010 statt. Damals liefen wir von Paris nach Nizza, wo ein Treffen der Frankophonie stattfand. Wir demonstrierten gegen die Kollaboration der afrikanischen Staatsmänner, die der europäischen Ausschaffungspolitik nichts entgegensetzen. Eine zweite Erfahrung machten wir im Februar 2011 in Afrika. Eine Delegation unseres Kollektivs marschierte von Bamako nach Dakar, wo das Weltsozialforum stattfand. Wir wollten damit in Afrika auf die Lage der Sans-Papiers in Europa aufmerksam machen. Dieses Jahr wollen wir gemeinsam mit Sans-Papiers anderer europäischer Staaten marschieren.

Frage: Was fordert der Marsch?

Jean-Didier: Es geht uns mit dem Marsch darum, die kollektive Regularisierung der Sans-Papiers zu fordern. Weiter brauchen Sans-Papiers das Recht auf gute Arbeit, Bildung und Ausbildung und den Zugang zum Gesundheitssystem.

Aliou: Hinter der kollektiven Regularisierung steckt auch die Forderung des freien Personenverkehrs für alle. Mit dem Marsch wollen wir Grenzen überqueren und zeigen, dass es sich beim freien Personenverkehr nicht um eine Utopie handelt. Unsere Forderungen wollen wir bis zum Hauptsitz des europäischen Parlaments in Strassburg tragen. Die gewählten VolksvertreterInnen sollen uns hören. Nicht zuletzt geht es uns mit dem Marsch aber auch darum, eine allgemeine Diskussion über die Probleme der MigrantInnen in Europa anzustossen.

Frage: Wie wurde die Idee des Marschs in der Schweiz aufgefasst?

Jean-Didier: In der Schweiz an Papiere zu gelangen, ist für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Seit Langem kämpfen wir deshalb für eine kollektive Regularisierung der Sans-Papiers. In diesem Zusammenhang stellt der Marsch für uns eine grosse Chance dar. Die Idee wurde deshalb sehr gut aufgenommen.

Frage: Worin bestehen die grossen Herausforderungen des Marsches?

Jean-Didier: In der Schweiz wird herablassend mit Sans-Papiers umgegangen. Viele SchweizerInnen glauben, Sans-Papiers seien Diebe oder Dealer. Die grösste Herausforderung wird es sein, als Menschen betrachtet und behandelt zu werden. Weiter geht es darum, Verhaftungen von Sans-Papiers zu verhindern. Der Marsch ist gewaltlos. Wir werden nichts zerstören und nichts stehlen. Wir gehen auf die Strasse, um unsere Rechte einzufordern. Wir haben dies den Behörden in der Schweiz und auf europäischer Ebene auch kommuniziert. Damit hoffen wir, repressive Massnahmen zu vermeiden.

Aliou: Die grösste Herausforderung des Marsches besteht in meinen Augen darin, die wichtigen Länder Europas zu durchqueren und sich dabei Gehör zu verschaffen. Ein Problem stellt die breite Mobilisierung der Sans-Papiers dar. Nach wie vor haben viele Sans-Papiers Angst, sich zu zeigen. Während des Marsches soll in den einzelnen Ländern niemand zuhause bleiben.

Frage: Wie geht ihr mit Risiken um?

Aliou: Alleine und isoliert sind wir schwach. Um die Risiken zu mindern, appellieren wir an Vereine, NGOs, Gewerkschaften und Parteien. Die Sans-Papiers, die sich entschlossen haben, am Marsch teilzunehmen, brauchen deren Unterstützung.

Frage: Wie motiviert ihr Sans-Papiers, die Angst haben, am Marsch teilzunehmen?

Jean-Didier: Ich war bereits in Afrika politisch aktiv und kämpfte in einem diktatorischen Staat. In der Schweiz spricht man von einem Rechtsstaat, trotzdem haben Sans-Papiers keinerlei Rechte. Besonders Personen, die in Nothilfezentren leben, sind davon stark eingeschüchtert. Trotzdem versuche ich, sie zu motivieren. Ich erkläre ihnen, dass es sich um einen demokratischen, gewaltlosen Kampf handelt und dass wir gemeinsam stärker sind. Der Marsch kann uns helfen, uns zu befreien.

Aliou: Wenn der Marsch ihr Land erreichen wird, sollen Sans-Papiers, die Angst haben, die Grenzen selbst zu überqueren, die ständigen Läuferinnen und Läufer an ihrer Landesgrenze empfangen. Mit ihren Transparenten sollen sie den Marsch lautstark bis an die nächste Grenze begleiten, wo im nächsten Land auf der anderen Seite der Grenze neue Sans-Papiers diese Aufgabe übernehmen werden.

Frage: Jean-Didier, wie erlebst du dieses internationale Projekt als lokal engagierter Aktivist?

Jean-Didier: Wie viele andere Sans-Papiers bin auch ich vor allem lokal aktiv. Ich begrüsse die Idee eines internationalen Marsches. Lokale AktivistInnen werden Europa durchqueren und andere lokale AktivistInnen kennenlernen. Der Marsch wird unsere lokalen Realitäten etwas näher zusammenbringen.

Frage: Wo seht ihr im Marsch längerfristige Perspektiven?

Aliou: Dieser Marsch wird Sans-Papiers-Kollektive und NGOs, Gewerkschaften oder Parteien, die sie unterstützen, auf internationaler Ebene zusammenführen. Nach dem Marsch wird es darum gehen, in jedem Land einen weiteren Marsch durchzuführen.

Jean-Didier: Wir dürfen uns nicht mit einem Marsch begnügen. Ich hoffe, dass es möglich sein wird, ein internationales Komitee zu schaffen, das längerfristig bestehen wird. Die Probleme der Migration sind international. Wir müssen unseren Widerstand auch entsprechend organisieren.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22/2012 - 68. Jahrgang - 25. Mai 2012 , S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2012