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VORWÄRTS/850: Anfang vom Ende der Sonderbehandlungen baskischer Gefangener?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 31. August 2012

Anfang vom Ende der Sonderbehandlungen?

von Ralf Streck



Insgesamt 558 Gefangene haben sich in 71 Gefängnissen in Spanien und Frankreich an einem Hungerstreik beteiligt, um die Freilassung des krebskranken Iosu Uribetxeberria zu erreichen. Gleichzeitig wird das Ende der gesetzwidrigen Sonderbehandlungen der baskischen Gefangenen gefordert. Dem Protest haben sich viele Menschen im Baskenland mit Kundgebungen und Demonstrationen angeschlossen.


15 Tage hatte der unheilbar an Krebs erkrankte Iosu Uribetxeberria jede Nahrung verweigert, um seine Freilassung zu erreichen. Dies hat eine riesige Solidaritätswelle innerhalb und ausserhalb der Knastmauern ausgelöst. Um sein Leben nicht zu gefährden, hat er am Mittwoch 22. August den Streik abgebrochen. Dazu hatte ihn auch seine Familie aus der Kleinstadt Arrasate (spanisch Mondragón) gedrängt, weil der abgemagerte Kranke weitere zehn Kilo Gewicht verloren hatte. Seinem Ziel ist Uribetxeberria näher gekommen, auch wenn spanische Institutionen seine Freilassung verzögern. Das Innenministerium hat ihm schon den "tercer grado" genehmigt, womit er unter Auflagen freigelassen werden kann. Nun muss ein Richter darüber entscheiden. In der regierenden Volkspartei (PP) ist ein massiver Streit über den Umgang ausgebrochen. Ein Teil der PP greift die eigene Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy an, sie sei vor der "Erpressung der ETA" eingeknickt. Prominente Vertreter der Hardliner sind die Präsidentin der Region Madrid Esperanza Aguirre und der ehemalige Innenminister und aktueller Fraktionssprecher im Europaparlament Jaime Mayor Oreja. Doch selbst der Innenminister Jorge Fernández sprach von einer "Rechtsbeugung, falls man dem Basken die Freilassung unter Auflagen verweigere.


Zusätzliche Hürden gegen die Freilassung

Hatten die Ärzte im baskischen Krankenhaus von Donostia-San Sebastian, in das der Baske verlegt worden war, über seinen fatalen Zustand keinen Zweifel gelassen, kamen die Ärzte am Sondergericht zu einem anderen Ergebnis. Zwar sind auch sie der Meinung, dass er keine zwölf Monate mehr leben wird, doch sie halten eine Behandlung im Knast für möglich. Behandelnde Ärzte widersprechen jedoch dieser Diagnose klar. Sie schreiben in ihrem Gutachten: "Um eine schnelle Verschlimmerung des Nierenkrebses zu vermeiden, muss Iosu Uribetxeberria adäquat in einem Krankenhaus behandelt werden". Schon vor sieben Jahren war ein Nierenkrebs diagnostiziert worden, der längst Metastasen gestreut hatte. Vermutet wird, dass dies bei einer entsprechenden Behandlung hätte vermieden werden können. Sogar der Leiter der staatlichen Gefängnisverwaltung Angel Yuste geht davon aus, dass Uribetxeberria im "Krankenhaus behandelt werden" müsse. Für Yuste sei in Gefängnissen nur eine Basisversorgung möglich. Er bezieht sich auch auf Ärzte im spanischen Leon, die den Basken auch schon behandelt haben.

Viele im Baskenland zweifeln daran, dass Uribetxeberria freigelassen wird. So wurden auch zusätzliche Hürden errichtet, um seine Freilassung zu verhindern oder zu verzögern: Die Staatsanwaltschaft verweigerte aus "formalen Gründen" eine nötige Stellungnahme. Da medizinische Unterlagen derweil vervollständigt wurden, konnten nun Ärzte des Nationalen Gerichtshof ihr Gutachten erstellen.


Respekt vor der Würde gefordert

Die Proteste halten jedoch an, auch weil es um die Freilassung von insgesamt 14 schwerkranken Gefangene geht. Dazu wird allgemein gegen die Sonderbehandlung der fast 800 Gefangenen gekämpft, die auf Grund des politischen Konflikts einsitzen. Am Wochenende kam es erneut in vielen baskischen Städten und Dörfern zu Solidaritätshungerstreiks, Demonstrationen und Kundgebungen. Sieben Parlamentarier baskischer Linksformationen sperrten sich aus Protest im Regionalparlament Navarras in Iruña (spanisch Pamplona) ein. Das Verbot einer Demonstration im Rahmen der Festwoche in Bilbao konnte nicht verhindern, dass auch dort protestiert wurde. Zwar wurde der grosse Marsch von der Hilfsorganisation "Herrira" (Nach Hause) nach dem Verbot durch den Nationalen Gerichtshof abgesagt, doch nach Kundgebungen demonstrierten immer wieder viele Menschen auf den Strassen.

Das Festhalten an der gesetzwidrigen Sonderbehandlung baskischer Gefangener stösst im Baskenland immer stärker auf Unverständnis. Dazu beigetragen hat die ETA, die im vergangenen Oktober nach gut 50 Jahren ihren bewaffneten Kampf für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Land eingestellt hat. Gefördert wurde dieser Prozess auch von der internationalen Kontaktgruppe, die zu vermitteln versucht und die Waffenruhe der ETA überwacht. Die internationale Kontaktgruppe fordert von Madrid "Gesten in der Gefangenenfrage", die zur Entspannung der Situation beitragen. Die Kontaktgruppe, die vom südafrikanischen Anwalt Brian Currin geführt wird, fordert auch die Freilassung Uribetxeberrias. In einer Erklärung schreibt sie, dass "der Respekt vor der würde aller Menschen" in den Vordergrund treten müsse. Weiter habe die spanische Regierung in der neuen Situation eine "grosse Chance", ihre Bereitschaft zur Konfliktlösung zu zeigen.


Madrid übergeht Urteil aus Strassburg

Das Kollektiv der baskischen politischen Gefangenen (EPPK) ist überzeugt, dass der Kampf Uribetxeberrias Risse im Machtblock provoziert habe. Der "Anfang vom Ende der Sonderbehandlung" sei markiert, resümiert das Kollektiv seinen Hungerstreik. Bisher wird trotz aller Friedensbemühungen am unnachgiebigen Kurs festgehalten. Obwohl Gesetze eine heimatnahe Verbüssung der Strafe vorsehen, sind die Basken über Gefängnisse in ganz Spanien und Frankreich verteilt. Auch die Sozialisten in Paris haben aus Solidarität zu Madrid an ihrer Politik bisher nichts geändert. Angehörige müssen für kurze Besuche oft 2000 Kilometer zurücklegen und es kommt dabei auch immer wieder zu tödlichen Autounfällen.

Nichts aber macht die spezielle Behandlung der Basken deutlicher als der Fall Inés del Río. Im Juli hat der Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg ihre sofortige Freilassung angeordnet und sprach ihr eine Entschädigung zu. Doch sitzt die ETA-Gefangene weiterhin illegal im Knast. 2008 wurde sie nach Verbüssung ihrer Strafe nicht freigelassen. Wie bei 16 weiteren Gefangenen wurde auch ihr Strafe rückwirkend (!) neu berechnet. Trotz des Urteils des europäischen Menschengerichtshofs hat vergangene Woche das spanische Verfassungsgericht die Freilassung verweigert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2012 - 68. Jahrgang - 31. August 2012, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2012