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VORWÄRTS/879: Revolution gegen Scharia


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46 vom 7. Dezember 2012

Revolution gegen Scharia

von Michi Stegmaier



Der Machtkampf in Ägypten spitzt sich zu. Nach tagelangen Massenmobilisierungen gegen den politischen Islam, haben die Muslimbrüder die Flucht nach Vorne ergriffen und rufen am 15. Dezember zum Referendum über die neue Verfassung auf. Die Opposition hat angekündigt, das Referendum zu boykottieren, die Richter weigern sich, die Wahl zu überwachen und der Ruf der Strasse nach einer zweiten Revolution wird lauter.


"Zutritt für Muslimbrüder verboten" steht auf einem Transparent, welches eingangs der Mohamed-Mahmoud-Strasse über die enge Gasse gespannt ist. Es ist Kairos Graffiti-Strasse, auch bekannt als Strasse der Märtyrer, die direkt beim Tahrir beginnt. Bunte Wandbilder erinnern an die Getöteten der Revolutionstage und die vielen Aufstände, die seither Ägypten erschütterten. Andere Graffitis verspotten die Generäle und die Muslimbrüder und erzählen vom Alltag, der gerade für viele Jugendliche von Langeweile und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Seit dem 19. November liefern sich hier wieder tagtäglich hunderte der "jungen Wilden" mit den Sicherheitskräften wüste Strassenschlachten. Hier begannen vor drei Wochen die Gedenkmärsche zur Erinnerung an den Novemberaufstand gegen die Militärjunta letzten Jahres. Damals starben bei der blutigen Räumung des Tahrirs und tagelangen Strassenschlachten zwischen der Militärpolizei und der revolutionären Bewegung 48 oppositionelle, während die Muslimbrüder schwiegen. Bis heute wurde dieser Verrat nicht vergessen. Und spätestens seit den schweren Zusammenstössen in Kairo am 12. Oktober 2012 zwischen den beiden Lagern wurden die Risse immer tiefer und die Stimmen, welche die offene Konfrontation mit den Gotteskriegern fordern, deutlich lauter.


Der Tod von Jika führt zur Explosion

In den folgenden Tagen spitzte sich die Rhetorik zwischen den beiden revolutionären Spektren zu. Nachdem zwei Vertreter der Muslimbrüder auf Al Jazeera die Empörten in der Mohamed-Mahmoud-Strasse als Schlägertrupps verunglimpften, die vom alten Regimes bezahlt würden, um Chaos zu stiften, stürmten Hunderte aufgebracht das Al Jazeera-Studio direkt am Kairoer Tahrir und steckten dieses in Brand. Am Abend kam es zu weiteren Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften und in der Nacht auf den 22. November wurde der 17-jährige Salah Gaber durch fünf Polizeikugeln tödlich getroffen. Jika, wie ihn viele nannten, war aktives Mitglied der "Jugendbewegung des 6. April" und bei jeder Demo an vorderster Front zu finden. Viele seiner Freunde machen nun Mohammed Mursi, als gewählten ägyptischen Präsidenten, für den Tod von Jika verantwortlich, da er es seit seinem Machtantritt versäumt hat, die Innere Sicherheit von den alten Kräften zu säubern. Am 22. November kündigte schliesslich der dialogbereite Flügel der "Bewegung 6. April" an, Präsident Mursi die Unterstützung zu entziehen. Damit war die letzte Brücke zwischen Präsident und der Bewegung zerbrochen. Schon vor Monaten hatte sich die "Bewegung 6. April" unter anderem in der Frage des Umgangs mit den IslamistInnen gespalten. Und einen Tag bevor Mursi überhaupt sein umstrittenes Dekret verlas, rief die revolutionäre Strasse für den 23. November den "Tag des Zorns" aus. Von den westlichen Medien ignoriert, liegt hier die Hauptursache für Mursi's überstürzte Flucht nach vorne. Noch sind sie trunken von den vielen Schulterklopfern auf der politischen Weltbühne nach der erfolgreichen Gaza-Mission.


Mursi eint die Opposition

Doch statt mit seinem Dekret die Strasse zu beruhigen, löste er einen ungeahnten Flächenbrand aus, welcher in den grössten Protesten seit dem Sturz des Mubarak-Regimes gipfelte. Zwar erfüllt Mursi mit der Ankündigung, sämtliche Verfahren gegen Polizisten und ranghohe Sicherheitsbeamte neu aufzurollen, eine der Hauptforderungen der Strasse, gleichzeitig baute Mursi aber seine Macht aus und setzte die Gewaltentrennung ausser Kraft. Die Ankündigung, dass dieser Schritt nur temporärer Natur sei und nur "dem Schutz der ägyptischen Revolution" dienen würde, verschärfte die Situation nur noch weiter. Mursi begründete sein Dekret mit dem Verweis auf ausländische Kräfte, welche die Sicherheit in Ägypten bedrohen würden. Während die Muslimbrüder und SalafistInnen eine zionistische Verschwörung ausmachten und hinter den aktuellen Protesten Israels Rache für das Gaza-Fiasko sehen, beschuldigt die Opposition ihrerseits die USA, Mursi als Belohnung für seine guten Dienste grünes Licht für den Machtausbau gegeben zu haben. Tatsächlich wurden gemäss mehrerer ägyptischer Zeitungen verschiedene westliche Regierungen wenige Stunden vor der Ankündigung des Mursi-Dekrets in einer Depesche über diesen Schritt informiert. Als die USA nach tagelangem Schweigen - das Truthahnfest sei Schuld gewesen - zum Dialog und friedfertiger Beilegung der Streitigkeiten aufrief, löste das in Ägypten grosse Empörung aus und die Krawalle verlagerten sich in unmittelbare Nähe der US-Botschaft.


Isolierte IslamistInnen

Vieles deutet darauf hin, dass sich am Nil die Kräfteverhältnisse seit Mursis Machtantritt vor fünf Monaten markant zu Gunsten der liberalen und linken Kräfte verschoben haben, aber auch moderate islamische Parteien und Organisationen beteiligen sich in grosser Zahl an den Mobilisierung gegen Mursi und sein Rumgemurkse. Alleine innerhalb des islamischen Spektrums hat Mursi mit Abdul Fotouh ein Schwergewicht als politischen Gegenspieler. Der gemässigte Islamist Fotouh war bis vor einem Jahr noch eines der populärsten Aushängeschilder der Bruderschaft, bis er eigenmächtig seine Präsidentschaftskandidatur ankündigte und dafür aus der Partei geworfen wurde. Unterdessen ist er ein scharfer Kritiker der Muslimbrüder und wirft ihnen Unfähigkeit zur Demokratie vor. "Der Widerstand gegen die Mursi-Dekrete wurde seitens der islamistischen Gruppen zu einer Frage über Gott oder Teufel hochstilisiert. Das ist ein sehr gefährlicher Akt und sie spielen mit dem Feuer", äusserte sich Fotouh gegenüber der Zeitung Ahram. Auch viele Imame kritisieren Mursi und beschuldigen die Muslimbrüder, mit ihrem Griff nach der totalen Macht dem Islam schweren Schaden zugefügt zu haben. Die ägyptische Gesellschaft hat sich in den letzten Wochen stark polarisiert. Das alte Regime gilt unterdessen als zu schwach, um den revolutionären Prozess noch ernsthaft zu gefährden, die unheilige Allianz zwischen den konservativ-religiösen und säkularen Kräften ist nicht mehr nötig und daher zerbrochen. Nun wird der Machtkampf mit aller Vehemenz auf der Strasse, in TV-Talkshows, in den Gerichten, Moscheen und an der Urne ausgetragen. Die IslamistInnen und nichtreligiösen Kräfte stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ob erstere diesen Kampf gewinnen können, ist zu bezweifeln.


Die Strasse erhebt sich gegen den politischen Islam

Tatsächlich wurde am 23. November dem politischen Islam eine herbe Niederlage beschert. Es war die Nacht, als die islamistische Bewegung entmystifiziert wurde. Wütende Jugendliche griffen Dutzende von Parteibüros des politischen Arms der Muslimbruderschaft an und sangen bis tief in die Morgenstunden: "Heut Nacht haben wir den Islam getötet". In vielen Städten wie Alexandria, Port Said, Suez oder Malhala kam es während mehrerer Tage zu schweren Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften und den Bärtigen. Selbst in islamistischen Hochburgen wie der berüchtigten mittelägyptischen Stadt Assiut, Geburtsort der Muslimbruderschaft in den 70er-Jahren und sozusagen das Mekka des politischen Islams, kommt es zum Aufstand und geraten die Muslimbrüder unter immensen Druck der Strasse. Zwar hat die Bruderschaft am 1. Dezember im dritten Anlauf doch noch eine eindrückliche Massenmobilisierung hinbekommen und hunderttausende Glaubensbrüder und Schwestern aus ganz Ägypten vor die Kairoer Universität in Gizeh gekarrt. Doch die Macht des politischen Islams scheint gebrochen. Und wie schon vor zwei Jahren sind es wieder die gleichen sozialen Kräfte und Akteure, die damals den Sturz des Mubarak-Regimes einläuteten und nun Mursi das Messer an den Hals gesetzt haben.


Die revolutionäre Strasse

Es sind Gruppen wie die "Jugendbewegung des 6. April", die Revolutionären SozialistInnen, die Ultras der beider Kairoer Stadtvereine - die "White Knights" und "Red Devils" - die den revolutionären Beat bestimmen und den Takt vorgeben. Ihre Macht ist ungebrochen, zwar immer noch blutjung, aber doch um zwei Jahre reifer, hochpolitisiert, wild und entschlossen. Und mit der ägyptischen Jugend im Rücken. Alleine in Kairo existieren inzwischen hunderte von anarchistischen Kollektiven, feministischen Strukturen und der subkulturelle Untergrund erlebt eine Blütezeit. Relativ autonom und unorganisiert kommen die jungen Wilden hinzu. Sie sind selbst für die Bewegung schwierig in Griff zu bekommen, lassen sich nur bedingt in einen politischen Prozess einbinden oder in ein ideologisches Schema pressen. Sie kommen aus den ärmsten Schichten, schlagen sich im Alter von 12 Jahren als fliegende Strassenhändler durchs Leben und sind die eigentliche Speerspitze der ägyptischen Revolution. Zutiefst frustriert treibt es sie in die Mohamed-Mahmoud-Strasse und zur Konfrontation mit dem verhassten Regime. Viele von ihnen haben in den letzten zwei Jahren FreundInnen verloren und sehen ihre Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Bestrafung der TäterInnen ignoriert. Sie haben während der Revolution ihr Leben riskiert und sich eine Verbesserung der eigenen Lebensumstände erhofft. "Ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben wurden nach der Revolution zerschmettert. Mit ihrem Hass auf das System, die Politik und die Parteien, sind sie der politische Flügel der Revolution", erklärt Akram Ismail, Mitglied der "Sozialistischen Volksallianz" gegenüber der Zeitung Al Masry Al Youm das Phänomen der jungen Wilden.

In Ägypten findet momentan nicht nur der Kampf um die zukünftige Rolle des Islams statt, sondern hinter der aktuellen Entwicklung steht ebenso ein Generationenkonflikt und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, die bis heute unbeantwortet bleibt. Die zentralen gesellschaftlichen Kräfte wurden bis heute nicht am Transformationsprozess beteiligt und haben ihren eigenen Weg ausserhalb der Parlamente und Parteien eingeschlagen. Hier liegt eine der Hauptursachen, warum Ägypten auch in Zukunft nicht zur Ruhe kommen wird - und das ist durchaus gut so. Nicht Stabilität, Recht und Ordnung wird ein neues Ägypten schaffen, es ist das Chaos und der zivile Ungehorsam, der immer weitere Teile der ägyptischen Gesellschaft erfassen und das Land voranbringen wird.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2012 - 68. Jahrgang - 7. Dezember 2012, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2012