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VORWÄRTS/881: Festung Europa - Würzburg rockt Berlin


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 47/48 vom 21. Dezember 2012

Festung Europa
Würzburg rockt Berlin

von Michi Stegmaier



In Deutschland kommt es seit Monaten zu Protesten von Flüchtlingen. Selten zuvor erlebte unser nördlicher Nachbar eine so lange und entschlossene Kampagne der Flüchtlingsbewegung wie im auslaufenden Jahr.


Anfangs waren es nur zwei Dutzend Flüchtlinge, die am 8. September den 600 Kilometer langen Fussmarsch von Würzburg nach Berlin starteten. Während des 28-tägigen Marsches wurden viele Asylheime besucht und als der "Marsch der Würde" schliesslich am 6. Oktober Berlin erreichte, waren es rund 200 Betroffene, die trotz Verstosses gegen das deutsche Sondergesetz "Residenzpflicht, sich zum zivilen Ungehorsam entschieden hatten und mitmarschierten. In Berlin wurde der Marsch mit einer grossen Demo und guter Stimmung in Empfang genommen. Während ein Teil der Flüchtlinge beim Berliner Oranienplatz eine Zeltstadt aufbaute, begannen andere direkt vor dem Brandenburger Tor mit einem unbefristeten Hungerstreik. Die Berliner Polizei reagierte in den ersten Tagen sehr aggressiv und selbst Schlafsäcke und Decken, mit denen sich die Hungerstreikenden in den kalten Nächten etwas wärmten, wurden von den Behörden beschlagnahmt. Auf Grund der bundesweit grossen und positiven Medienresonanz sahen sich die politischen Eliten gezwungen, die Polizei zurückzupfeifen und anzuerkennen, dass auch Flüchtlinge in Deutschland das Recht auf freie Meinungsäusserung haben (sollten).


Ein tragischer Auftakt

Begonnen hatte alles mit dem tragischen Tod des iranischen Asylsuchenden Mohammed Rahsepar in Würzburg, der sich am 29. Januar 2012 das Leben nahm. Viele seiner MitbewohnerInnen und FreundInnen mochten sich nicht mit dem Suizid von Rahsepar abfinden und zum normalen Alltag übergehen. Denn für seine FreundInnen war klar, dass es das unmenschliche Lagersystem war, welches den psychisch angeschlagenen Rahspar in den Tod getrieben hatte. Im März gelang eine kleine Gruppe mit prägnanten Worten an die Öffentlichkeit. "Wir leiden unter dem langwierigen und Jahre anhaltenden Prüfungsprozess unserer Asylanträge. Wir hoffen jeden Tag darauf, dass sich diese Folter der Ungewissheit schnellstmöglich zum Besseren wendet. Diese Ungewissheit und dass uns keinerlei Selbständigkeit im Alltag gewährt wird, wir ausserdem wie Gefangene gehalten werden, zermürbt uns und treibt uns Schritt für Schritt in den Tod." In den folgenden Wochen kam es zu verschiedenen Mahnwachen und Protestaktionen und in kurzer Zeit schlossen sich Asylsuchende in weiteren Städten dem Protest an. Es kam zu Hungerstreiks und einzelne Flüchtlinge versuchten in der Innenstadt von Würzburg mit einem Sit-in und zugenähten Mündern, auf ihre Lage aufmerksam zu machen.


Politische Praxis vereint die Bewegungen

Der "Marsch der Würde" richtet sich vor allem gegen die sogenannte Residenzpflicht, welche AsylbewerberInnen vorschreibt, ein gewisses Gebiet nicht verlassen zu dürfen. Oft ist schon das Reisen innerhalb eines Bundeslandes oder Landkreises nur mit kostenpflichtiger Sondererlaubnis möglich. Aber auch die Abgabe von Lebensmittelpaketen statt Bargeld oder das Arbeitsverbot für AsylbewerberInnen werden kritisiert. Die Residenzpflicht selbst ist in der Bundesrepublik Deutschland schon seit Jahren heftig umstritten. In der Folge entstanden ab 1996 Flüchtlingsorganisationen wie etwa "The Voice", "die Brandenburger Flüchtlingsinitiative" oder "die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen", welche mittels Kampagnen und Aktionen versuchten, die Residenzpflicht ins Wanken zu bringen. Zwar unterstützten und solidarisierten sich die verschiedenen Strukturen durchaus miteinander, ganz spannungsfrei blieb das Verhältnis zwischen einer autonomen Linken und den wenigen selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen über die Jahre hinweg nicht. Nun scheint es aber, dass mit der aktuellen Protestwelle und der "Tent Action" ein gemeinsamer Nenner gefunden und die verschiedenen sozialen Akteure bewegungspolitisch das erste Mal wirklich am gleichen Strang ziehen. Und das durchaus mit Erfolg, wie die Reaktion der Medien und Politik zeigt.


Mit erhobenem Haupt

Nach Wochen des Dauerprotestes entschlossen sich die Flüchtlinge, zwei grössere leerstehende Liegenschaften zu besetzen. Am 9. Dezember wurde die ehemalige Berhart-Hauptmann-Oberschule sowie ein Nebengebäude in Berlin-Kreuzberg besetzt. Anlässlich einer Pressekonferenz kündigten die Flüchtlinge an, die Proteste am Brandenburger Tor vorerst auszusetzen, gleichzeitig aber weiterhin widerständisch zu bleiben. "Über sechs Wochen haben wir den Witterungsbedingungen und Repression durch die eingesetzten Polizeikräfte, den politisch Verantwortlichen sowie dem Bezirksamt getrotzt. Wir sind zwei Mal in den Hungerstreik getreten, um einerseits erstmals direkte Gespräche mit VertreterInnen der Bundesregierung zu erzwingen und andererseits die Heuchelei der politisch Herrschenden zu entlarven. Dabei haben wir nicht nur die Öffentlichkeit erreicht, sondern haben ungebrochen und erhobenen Hauptes die Proteste fortgesetzt und die Einhaltung von elementaren Menschenrechten eingefordert - nicht nur für uns, sondern für alle, die aus rassistischen oder sozialen Gründen diskriminiert, ausgegrenzt und Repression ausgesetzt werden. Dies wird auch so bleiben." Und entgegen der gängigen Praxis in Berlin, besetzte Häuser sofort zu räumen, hat der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz (Grüne), derweil zugesichert, dass die Besetzung bis März 2013 toleriert würde. Wie es in Berlin weitergehen wird, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. "Wir werden so lange in Berlin bleiben, bis wir mit vereinten Kräften die jahrzehntelangen Kämpfe um ein menschenwürdiges Asylrecht zu ihrem langersehnten Ziel führen werden", so der iranische Mitinitiator Ashkan Khorasani. Tatsächlich haben die Flüchtlingsproteste, welche in der ersten Phase von einem Dutzend Flüchtlinge aus dem Iran getragen wurden, schon jetzt viel erreicht. Die berüchtigte Residenzpflicht wurde in einzelnen Bunderländern derweil gelockert und es ist nicht auszuschliessen, dass sie ganz abgeschafft wird. Geht doch!



Für mehr Infos siehe auch: www.refugeetentaction.net

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 47/48/2012 - 68. Jahrgang - 21. Dezember 2012, S. 15
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2013