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VORWÄRTS/889: Marx' Baustellen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 25. Januar 2013

Marx' Baustellen

von Peter Streckeisen



Die rasche Abfolge wirtschaftlicher und politischer Krisen bringt ein neues Interesse an Marx hervor. Das freut uns. Aber wie sollen wir Marx lesen? Im ersten Beitrag einer kleinen Reihe geht es um die Haltung, die wir zu seinen Texten einnehmen.


In der Ausgabe vom 9. November 2012 hat Thomas Schwendener an dieser Stelle unter der Überschrift "Marx ohne Zähne" einen kritischen Kommentar zu Michael Heinrichs kleinem Buch über die "Kritik der politischen Ökonomie" (Schmetterling Verlag; Reihe Theorie.org) verfasst. Er warnt die LeserInnen davor zu übersehen, dass Heinrich nur eine bestimmte Interpretation von Marx präsentiert, und lädt dazu ein, den Verfasser des "Kapital" lieber im Original zu lesen.

Ich bin der Letzte, der jemanden hindern will, Marx zu lesen. Aber es ist unmöglich, ohne Interpretation zu lesen. Das gilt für jeden Text. Erst recht aber für das "Kapital" von Marx, ein unvollständiges Werk. Was heisst denn: "im Original lesen"? Wenn wir den zweiten und dritten Band des "Kapital" lesen, haben wir ja nur eine Zusammenstellung vor uns, die Friedrich Engels auf schlecht nachvollziehbare Weise produziert hat. Selbst den ersten Band des "Kapital" wollte Marx in den letzten Lebensjahren neu schreiben, weil er nicht mehr zufrieden war damit.


Die neue MEGA

Wie unvollendet das Hauptwerk von Marx geblieben ist, können wir dank der neuen MEGA genauer wissen als jemals zuvor. Die in den 1960er Jahren begonnene neue Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels wird von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) in Amsterdam herausgegeben. Sie ist noch nicht abgeschlossen. Michael Heinrich arbeitet an der MEGA mit und kennt das Werk von Marx besser als die meisten MarxistInnen, die seine Interpretation kritisieren. Die neue MEGA räumt mit einem marxistischen Mythos auf: "Das Kapital" ist nicht nur auf Grund fehlender Zeit und wiederholter Krankheiten des Verfassers unvollendet geblieben. Es handelt sich um eine ungeheure Masse teilweise bruchstückhafter Texte, die durchaus innere Widersprüche, ungelöste Fragen und verschiedene Formulierungen desselben Problems enthält. Engels hat dieses Werk mit der Herausgabe zweier Bände entgegen seiner Behauptung nicht einfach "vollendet", sondern seiner eigenen Interpretation zufolge verändert. Er wollte "Das Kapital" zur "Bibel der Arbeiterklasse" machen.

Kritische Geister brauchen allerdings keine Bibel. Der marxistische Mythos hat zu lange eine offene, freie und kreative Lektüre des "Kapital" erschwert. Wenn es den "wahren Marx" nicht gibt, wird Marx erst recht spannend: Wir müssen interpretieren und weiter denken, und wir sollten auch nicht vor Kritik an Marx zurückschrecken. Zugleich können wir besser sehen, welche marxistischen Lehren nicht von Marx, sondern von seinen InterpretInnen, die sich fälschlicherweise immer nur als seine "Vollender" präsentiert haben, stammen. Das gilt etwa für Engels' Dialektik der Natur, die auf komisch idealistische Weise ein Naturgesetz aufstellt. Oder für Lenins krude Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus, die um Lichtjahre hinter die "Thesen über Feuerbach" zurückfällt.


Das automatische Subjekt

Thomas Schwendener wirft Michael Heinrich vor, wichtige Erkenntnisse der Krisentheorie und der Theorie des Klassenkampfs zu begraben, indem er das Kapital als "automatisches Subjekt" betrachtet. Ich werde in folgenden Beiträgen dieser Reihe auf solche Fragen eingehen. Hier möchte ich nur zweierlei festhalten: Erstens hat Marx selbst das Kapital als "automatisches Subjekt" beschrieben. Das ist keine Erfindung von Heinrich - aber eine Formulierung, die verschiedene Interpretationen zulässt. Zweitens handelt es sich um Theorien und "Erkenntnisse", die im Heiligenschrein des Marxismus aufbewahrt sind: Sie lassen sich nicht ernsthaft diskutieren, ohne den Marxismus als solchen in Frage zu stellen. Ich würde sagen: Oft hat der Marxismus eben gerade "Marx" zum "automatischen Subjekt" gemacht, das heisst zu einer übermenschlichen Kraft, die allein die magische Fähigkeit besitzt, die Wahrheit über den Kapitalismus zu sagen und dem Kapitalismus den Garaus zu machen. Natürlich unter der Bedingung, dass es den MarxistInnen gelingt, dafür zu sorgen, dass Marx die "Massen" ergreift und diese zum "revolutionären Subjekt" macht.

Diese übermenschliche Kraft hat und ist Marx nicht. Doch das ist kein Grund, sich nicht mit ihm zu befassen. Es lohnt sich heute sehr, Marx nicht mehr durch "alte marxistische Brillen" zu lesen, wie Jean-Marie Vincent so treffend sagt ("Un autre Marx"; Editions Page(2)). Auch die Mahnung von Thomas Schwendener, nicht in Widerspruch zu einer "politisch-revolutionären Leseweise von Marx" zu geraten, dürfen wir relativieren. Wer kann denn nach dem "kurzen 20. Jahrhundert" (Hobsbawm) mit der tragischen Erfahrung der so genannten sozialistischen Revolutionen mit Sicherheit sagen, was es bedeutet, "revolutionär" zu sein? In den verschiedenen marxistischen Traditionen gab es faktisch immer ein Verbot, Marx so zu lesen, dass er in Widerspruch zur Parteipolitik gerät. Vielleicht bedeutet heute "revolutionär" zu sein gerade auch, Marx als eine der wichtigsten Quellen der Marxismuskritik neu zu entdecken. Jedenfalls gilt es, die Freiheit des Denkens und der politischen Praxis immer wieder zu erkämpfen, auch gegen marxistische "Wahrheiten" und Mahnungen.


Mit und gegen Marx

Wir sind weder Fussballfans noch Soldaten im Krieg, sondern kritisch denkende und politisch handelnde Menschen. Nichts zwingt uns, entweder "für Marx" oder "gegen Marx" zu sein. Der Marxismus drängt uns zwar dazu, ebenso wie der Antimarxismus - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Aber wir brauchen diesem Drängen nicht nachzugeben. Wir greifen auf, was uns interessant scheint, und stellen in Frage, was uns nicht überzeugt. Pierre Bourdieu hat Louis Althusser, der in den 1960er Jahren ein Buch mit dem Titel "Für Marx" veröffentlicht hat, unter anderem für diese sterile Haltung kritisiert. Er hat darauf hingewiesen, dass wir gleichzeitig mit und gegen Marx denken können und letztlich über Marx hinaus denken müssen.

Marx selbst hat zu seiner Zeit ja genau dies getan. Er war nicht entweder für oder gegen Hegel (oder Feuerbach, Ricardo, Proudhon etc.), sondern für und gegen Hegel: die hegelsche Dialektik hat er aufgegriffen und neu formuliert, den hegelschen Idealismus hat er verworfen, aber dennoch Einiges davon verarbeitet - etwa bei der Analogie zwischen dem "Weltgeist" und dem Kapital als "automatischem Subjekt". Aus einer solchen Haltung heraus werde ich in den folgenden Beiträgen versuchen, die eine oder andere mit Marx verbundene Frage aufzugreifen und mit Blick auf heutige gesellschaftliche und politische Dynamiken zu diskutieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder auf das "letzte Wort".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2013 - 69. Jahrgang - 25. Januar 2013, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2013