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VORWÄRTS/939: Die Pariser Banlieues - Experimentierfeld in der Krise


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.23/24 vom 21. Juni 2013

Die Pariser Banlieues: Experimentierfeld in der Krise

Von David Hunziger



Der italienische Linksaktivist Atanasio Bugliari Goggia hat eineinhalb Jahre lang in den Pariser Banlieues geforscht. Entgegen der Vorstellung, die Jugendlichen würden dort nicht arbeiten, hat er gesehen, wie ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird. Doch er hat auch gesehen, dass ihr Widerstand in stärkerem Mass politisch organisiert ist, als gemeinhin angenommen wird.


Die politisch motivierte Ermordung des 19-jährigen Linksaktivisten Clément Méric durch AktivistInnen der rechtsextremen Gruppierung "Jeune Nationaliste Révolutionnaire" (JNR) hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder einmal auf die Pariser Strassen gelenkt. Das riesige Medienecho in Frankreich habe auch mit Mérics weisser Hautfarbe und seinem vorzüglichen sozialen Hintergrund zu tun - er studierte an der Pariser Elite-Uni Sciences Po, wo sich drei der vier letzten Präsidenten Frankreichs ihr Diplom holten - zu tun, betont der italienische Linksaktivist Atanasio Bugliari Goggia. Politisch motivierte Morde würden ständig vorkommen, nur interessiere sich normalerweise niemand dafür. Bugliari Goggia hat eineinhalb Jahre in den Pariser Banlieues geforscht und seine Erkenntnisse an der Universität Lausanne in einer Dissertation zusammengetragen. Letzte Woche hat ihn das Kollektiv "Debatte Forum" nach Bern eingeladen, wo er von seiner Feldforschung berichtet hat.

Ein Grossteil der Forschung, die sich als neutrale wissenschaftliche Perspektive auf die Pariser Banlieues versteht - oft aber auch explizit linksgerichtete Forschung -, hat für Bugliari Goggia einen gravierenden Mangel: Zum einen wissen die entsprechenden Forscher nur selten wirklich genau, was sich dort tatsächlich abspielt. Zum andern nehmen sie meist eine unüberbrückbare Distanz zu ihrem Gegenstand ein, die sie dazu führt, gesellschaftliche Normen zu reproduzieren, nach deren Massstab die BewohnerInnen der Banlieues minderwertig sind. Besonders Sarkozy - übrigens derjenige der vier letzten Präsidenten, der die Sciences Po nicht bestanden hat - propagierte als Innenminister während der ersten Banlieue-Krawalle im Jahr 2005 das Bild der faulen schwarzen Jugendlichen, die nur herumhängen, und hat sie daher als "racaille" (Abschaum) bezeichnet. Er hat sich damals einen Namen gemacht als Kopf eines übermässig harten Einsatzes der Staatsgewalt.


Wissenschaftler und Aktivist zugleich

Die Vorstellung der faulen, arbeitslosen und ungebildeten Unterschicht kommt für Bugliari Goggia dem Marx'schen Begriff des Lumpenproletariats nahe, das dieser als den "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen" bezeichnet hatte. Das Lumpenproletariat ist für Marx reaktionär eingestellt und daher eher eine politische Gefahr als eine Unterstützung im Klassenkampf. Auch um sich dieser Vorstellung entgegenzustellen, hat Bugliari Goggia seine Untersuchungen am Begriff der Arbeit orientiert. Er hat sich die Frage gestellt, wie die Menschen in den Banlieues arbeiten. Weiter hat er untersucht, wie sie sich politisch engagieren.

Im gleichen Zug, in dem Bugliari Goggia bezogen auf die Banlieues die wissenschaftliche Neutralität verworfen hat, hat er sich politisch auf die Seite ihrer Bewohner gestellt. Die ethnologische Methode der teilnehmenden Beobachtung hat ihm erlaubt, Wissenschaft und politisches Engagement in eins zu setzen und den AktivistInnen in den Banlieues so als politischen Subjekten auf Augenhöhe zu begegnen, auch wenn er ihre Tätigkeit auch wissenschaftlich beschrieben hat. Nur so konnte er von den Menschen akzeptiert werden. Einige politische AktivistInnen waren auch Bugliari Goggias erste Kontakte innerhalb der Banlieues, in deren besetztem Haus er mehrere Monate leben konnte. Von da aus versuchte er in der Folge, Kontakte zu anderen QuartierbewohnerInnen und den Jugendlichen, von denen immer wieder Krawalle ausgegangen sind, aufzubauen.


Mitten im Geschehen

Während die AktivistInnen seine Position als Forscher in den Banlieues oft politisch herausforderten, bestand die Schwierigkeit bei den Jugendlichen zuerst einmal darin, überhaupt mit ihnen in Kontakt zu treten. Bugliari Goggia näherte sich also ihrem Alltag an, arbeitete mit ihnen, kiffte mit ihnen und nahm an ihren Auseinandersetzungen mit der Polizei teil. Die meisten dieser Jugendlichen waren etwa 15 Jahre alt, also gerade am Ende ihrer Schulzeit angelangt. Die enorme Wut, die sie gegen gesellschaftliche Institutionen entwickeln, die sie als Ort der Reproduktion ihrer elenden Arbeitsverhältnissen sehen, hätte gerade damit zu tun, dass sie ihre Perspektivlosigkeit in dieser Phase besonders stark wahrnähmen, betont Bugliari Goggia. Der Gewalt dieser Jugendlichen den politischen Charakter abzusprechen, ist auch darum falsch, weil diese oft organisiert und zielgerichtet ausgeführt wird.

Die krasse Ausbeutung der Jugendlichen als Arbeitskräfte ist für Bugliari Goggia eine politisch gewollte Strategie, die Banlieues ein Experimentierfeld für Krisenbewältigungsstrategien in Europa. Da er seine Forschung im Jahr 2008 begann, konnte er die ökonomischen Umstrukturierungen als Reaktion auf die Krise eins zu eins beobachten. In der Autoindustrie - ein Drittel der ArbeiterInnen in den Banlieues arbeitet dort -, der Reinigung oder der Hotellerie ist Arbeit meist nur in prekären Anstellungsverhältnissen möglich. Obwohl es den Jugendlichen meist nicht an Schulbildung mangelt, verhindert ihr sozialer Hintergrund, ausserhalb dieser krass ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse angestellt zu werden.

Bugliari Goggia ist überzeugt, dass sich seine Untersuchungen gegen postmarxistische Ansätze richten, die vom "Ende der Arbeit" sprechen. Er nennt etwa Gorz oder den späten Negri. Zu solchen Schlüssen könne man bezogen auf die Banlieues nur dann kommen, wenn man offiziellen Statistiken glaube, wonach dort 40 Prozent Arbeitslosigkeit herrsche. Diese Zahlen verschleiern aber nur die Strategie effizienter Ausbeutung, die in den Banlieues angewendet und in Krisenzeiten weiter ausgedehnt wird. Die zahlreichen Arbeitslosen, die es daneben dennoch gibt, befanden sich in der Vergangenheit meist in ähnlichen Arbeitsverhältnissen. Dass sie kein Klassenbewusstsein entwickeln könnten, sei daher ein Fehlschluss.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 69. Jahrgang - 21. Juni 2013, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2013