Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/966: Über Humankapital und Arbeiterparadies


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 25. Oktober 2013

Über Humankapital und Arbeiterparadies

Von Maurizio Coppola



Mit dem "Human Capital Report" von 549 Seiten publizierte das Weltwirtschaftsforum (WEF) vor einigen Wochen zum ersten Mal einen Bericht über den Zustand der weltweiten Arbeitskraft. Laut Bericht arbeiten SchweizerInnen unter den weltweit besten Bedingungen.


Auf der Basis von öffentlich zugänglichen Statistiken von internationalen und nationalen Organisationen und gesamthaft 51 Indikatoren hat das WEF einen sogenannten "Human Capital Index" erarbeitet. Dieser misst vier Bereiche: Die Gesundheit und das Wohlbefinden der ArbeiterInnen, den Ausbildungsstandard, die Anstellungsverhältnisse sowie weitere Bedingungen wie den öffentlichen Verkehr oder die Kommunikations-Infrastruktur. Angesichts knapper werdender Ressourcen und der Alterung der Gesellschaft sei die Investition ins "Humankapital" von besonderer Bedeutung. Die Studie kommt zum Schluss: Die Schweiz ist ein "Arbeiterparadies.


Versteckter Neo-Kolonialismus

Ein Blick in die dreiminütige Zusammenfassung des Berichts auf YouTube lässt schnell erahnen, was der Sinn einer solchen Studie ist: Saadia Zahidi vom WEF erklärt in knappen, prägnanten Worten, dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche neue Investitionsstrategien im Produktionsfaktor "Arbeitskraft" von ihrer Geburt bis zum Tode notwendig machen. Der Mangel an gebildeten Arbeitskräften und der mangelnde gesundheitliche Zustand einer grossen Mehrheit der Menschen führe dazu, dass die "gesellschaftlichen Herausforderungen" nur ungenügend angegangen werden könnten. Als Beispiel wird Pakistan aufgeführt: Durchschnittlich haben nur 8 Prozent der Jugendlichen Zugang zu einer Hochschulbildung, bei Frauen liegt die Zahl noch tiefer.

Die Investition in dieses "Humankapital" bedeutet, dass die besten Bedingungen für die Nutzung des Produktionsfaktors "Arbeitskraft" hergestellt werden müssen, um die gesellschaftlichen Probleme anzugehen. Wir übersetzen: Es müssen die besten Bedingungen für die Ausbeutung der Arbeitskraft und somit für die Kapitalakkumulation gefunden werden. Gerade die knapper werdenden Ressourcen und die Alterung der Gesellschaft stellen die Zentrumsnationen im globalen Norden vor Probleme der Kapitalakkumulation. Um diese Umbrüche angehen zu können, wird in Zukunft also der Rückgriff auf neue Arbeitskräfte zentral sein. Dass dies in einem Kontext globaler Ungleichgewichte stattfindet, erwähnt die Studie nicht - womit sie neo-koloniale Ausbeutungsstrukturen legitimiert und zementiert.


Über den Zustand der Welt

Die Schweiz belegt Platz eins des internationalen Rankings und schneidet in allen Kategorien (Ausbildung, Gesundheit, Anstellungsverhältnisse, Infrastruktur) überdurchschnittlich gut ab. Nur die grossen Bildungsunterschiede zwischen Frauen und Männern wirken sich laut Bericht negativ auf die Schweiz aus. Schaut man genauer auf die Kriterien zur Beurteilung der Kategorien, stellt man fest, dass der Bericht eine "ökonomische Ethik" vermittelt, die sich ausschliesslich auf das Wirtschaftswachstum bezieht. Darum erstaunt es auch nicht, dass die konkrete Situation der Menschen nicht zur Sprache kommt. Wie würden sich sonst die MacherInnen der Studie erklären, dass in der Schweiz trotz (oder gerade wegen?) Platz eins Menschen fristlos entlassen werden, weil sie für bessere Arbeitsbedingungen streiken? Oder dass weiterhin 400.000 Menschen - in erster Linie Frauen und MigrantInnen - weniger als 4000 Franken verdienen und somit materielle Schwierigkeiten erleben?

Schliesslich entpuppt der Bericht aber vielleicht doch - zumindest indirekt - die nackte Wahrheit über den Zustand der Welt. Denn wenn die Schweiz im internationalen Vergleich Platz eins belegt, wie sieht die soziale Realität dann in den peripheren Ländern des globalen Südens aus? Der "Human Capital Report" hat kaum - weder in der Darstellung des aktuellen Zustandes, noch in den politischen Lösungsvorschlägen - etwas Humanes. Wenn wir ihn ernst nehmen müssen, dann als Ausdruck der gesellschaftlichen Barbarei, die wir zur Zeit erleben.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 69. Jahrgang - 25. Oktober 2013, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2013