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VORWÄRTS/1016: Die Primarschule als Spiegelbild der Gesellschaft


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.15/16 vom 25. April 2014

Die Primarschule als Spiegelbild der Gesellschaft

Von Siro Torresan



Das TISA-Abkommen zielt unter anderem darauf ab, den Bildungssektor vollständig zu liberalisieren und zu privatisieren. Bereits heute ist der Druck auf die Lehrerschaft und die Kinder in der Grundschule gross. Immer stärker drängt auch die Privatwirtschaft in die Schulen ein. Der vorwärts sprach mit Bettina F. (43). Sie ist Primarlehrerin und erzählt über die krassen Ungleichheiten sowie die Entwicklung in der Grundschule.


vorwärts: Bettina, für viele ist der Beruf als Lehrerin ein Schoggi-Job. Viele Ferien, viel Freizeit ...

Bettina: Das klingt super. Nur schade, dass ich in den gut 15 Schulen, die ich kenne, noch keine solche Schule angetroffen habe. Die Realität ist, dass viele meiner ehemaligen MitstudentInnen nicht mehr in diesem Beruf arbeiten, weil sie es schlicht nicht mehr ausgehalten haben. Zuerst wurden sie lange krankgeschrieben, dann waren sie weg.


vorwärts: Welche sind die Schwierigkeiten?

Bettina: Dies hängt sehr stark von der Schule ab. Schau mal in den Stelleninseraten, in welchen Regionen aktuell die meisten offenen Lehrerstellen ausgeschrieben sind: Bei den ganz Reichen und bei den ganz Armen. In den Schulen der Agglomerationsgemeinden, die als soziale Brennpunkte gelten, hast du anstrengende Kinder, an der Goldküste anstrengende Eltern.


vorwärts: Das hört sich lustig an, ist es aber bestimmt nicht.

Bettina: Es ist alles andere als lustig, glaub mir. An der Goldküste treten die Eltern dem Lehrpersonal oft sehr arrogant entgegen. Sie haben die Vorstellung, dass die LehrerInnen eine private Dienstleistung für ihre Kinder zu erbringen haben, die massgeschneidert bestellt werden kann. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Schule auch einen kollektiven Erziehungs- und Bildungsauftrag hat. Einige können zum Beispiel absolut nicht einsehen, wenn du mit ihren Kindern nach der Schule ein Problem besprechen willst. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Kinder in der Pause miteinander verglichen, wer von seinen Grosseltern den grössten Landbesitz in Südamerika erben würde.

Eine völlig andere Realität erlebst du an den Schulen von Gemeinden der Agglomeration, von den so genannten sozialen Brennpunkten. Hier kommen Kinder am Morgen zur Schule, die nichts gegessen und zu wenig geschlafen haben. Sie haben Hunger und können sich schlecht konzentrieren. Manche Mädchen haben kaum Freizeit, weil sie nach der Schule die jüngeren Geschwister hüten und die kranke Grossmutter pflegen müssen, während die Eltern mehrere Jobs haben. Einige Jungs haben kleinkriminelle, ältere Brüder und sind mit deren Banden bis spät in die Nacht unterwegs. Väter im Gefängnis sind auch keine Seltenheit. Ich habe bei diesen Kindern ein grosses Bedürfnis nach Zuneigung und Wärme und viel Dankbarkeit gespürt.

Hinzu kommt Folgendes: Wenn du an der Goldküste arbeitest, hast du als Schule viel mehr Geld zur Verfügung. Dies, weil die Gemeinden reicher sind und die Eltern einen freiwilligen Betrag bis zu 1000 Franken pro Schuljahr bezahlen. Ein Beispiel: Die Klasse einer Kollegin an der Goldküste hatte als Ausfluggeld 20.000 Franken im Jahr zur Verfügung. Sie wusste gar nicht, wie sie das ganze Geld ausgeben sollte. In Agglomerationsgemeinden waren für Ausflüge gerade mal 800 bis 1.000 Franken pro Klasse zur Verfügung. Da fühlst du dich echt verarscht. Viele Kinder in den sozialen Brennpunkten kennen die Situation genau und haben ein klares Bewusstsein ihrer Lage. Ich habe von den Kindern oft Sätze wie "Unsere Schule hat eben kein Geld" gehört. Sie beschimpften sich gegenseitig mit Sprüchen wie "Du bisch so Asyl, du Opfer". Auf meine Nachfrage erklärten sie, "Asyl" bedeute "arm sein, kein Geld haben". In so einem Bewusstsein aufzuwachsen, hinterlässt sicher Spuren. An den Schulen siehst du die krasse Ungleichheit, sie ist ein Spiegelbild der Gesellschaft.


vorwärts: Angesichts dieser Tatsachen, wie würdest du persönlich den Bildungsauftrag für die Grundschule definieren?

Bettina: Es ist grundsätzlich ein Bildungs- und Erziehungsauftrag. Im erzieherischen Bereich geht es um die Förderung der Selbst- und Sozialkompetenzen, das heisst den Umgang mit sich selber und anderen zu lernen. Zuhören, teilen, mit Frust umgehen können, Ideen einbringen, Respekt, lernen Verantwortung zu übernehmen und so weiter und so fort.

Im Bildungsteil sind natürlich die Grundfähigkeiten wie lesen, schreiben und rechnen zu nennen. Aber es geht auch darum, die Kinder zu ermutigen, Fragen zu stellen, ihre Neugier und den Mut zu wecken, scheinbar "gegebene" Dinge zu hinterfragen. Ganz allgemein gesagt, zu lernen, sich in der heutigen Welt orientieren zu können, sich als Mensch mit seinen Wertehaltungen zu entwickeln, seine Anlagen zu entfalten. Es geht um Offenheit und Toleranz, sich als Teil der Gesellschaft zu verstehen und entsprechend zu handeln. Dies alles kann nur die Volksschule garantieren und geht unmöglich mit dem Home-Schooling, das immer mehr zur Mode wird.


vorwärts: Ist so ein Bildungsauftrag Wunschdenken von dir?

Bettina: Nein, das steht im aktuellen Lehrplan der Volksschule. Da sind Worte zu lesen wie "Solidarität", "Dialogfähigkeit" und "Offenheit". Da waren tolle ReformpädagogInnen am Werk, damals herrschte ein anderer Wind an den Volksschulen. Ich orientiere mich an diesem Lehrplan, in dem unter anderem steht: "Die Volksschule ist Stätte der Menschenbildung der heranwachsenden Generation. Als Bildungsstätte des Volkes wird sie vom Gemeinwesen getragen." Dieser Lehrplan wurde ab 1985 entwickelt, seine Lernziele sind teilweise sehr offen formuliert und lassen der Lehrperson viel Freiraum bezüglich Inhalt, Methodik und Didaktik. Dieser Freiraum ist nötig, weil die Kinder je nach Ort sehr verschiedene Voraussetzungen haben. Wir werden jedoch zunehmend eingeschränkt durch die obligatorischen Lehrmittel, welche beispielsweise in der Mathematik sehr dicht und eng durchgeplant sind. Dies erhöht den Leistungsdruck auf die Kinder.


vorwärts: Wer bestimmt, was in den obligatorischen Lehrbüchern steht?

Bettina: So viel ich weiss, gibt es eine Kommission dafür. Aber dass ich es nicht genau weiss, ist bezeichnend. Früher, bis vor etwas über zehn Jahre, konnten die LehrerInnen demokratisch mitbestimmen, welche Lehrmittel obligatorisch waren. Die Entscheidungsmacht lag bei der so genannten "Kapitelversammlung", an der alle LehrerInnen teilnehmen mussten und die Kinder schulfrei hatten. Da wurde richtig diskutiert, man setzte sich mit dem Schulstoff und mit den Grundaufgaben der Schule auseinander. Es fand ein fundierter, fachlicher Austausch unter den Lehrkräften statt, sprich jene Personen, die dann auch mit dem Lehrmaterial arbeiten mussten. Doch dann wurde der "Kapitelversammlung" die Entscheidungskompetenz entzogen. Sie wurde nur noch konsultativ befragt und dann völlig abgeschafft! So sind heute die obligatorischen Lehrmittel oft untauglich. Nun besteht die Möglichkeit, eigenes Schulmaterial zu besorgen. Doch: Das Material mit Werbung drin ist viel billiger und zwar in allen Bereichen. So wird aus Kostengründen oft dieses genommen.


vorwärts: Wie das, Schulmaterial mit Werbung drin?

Bettina: PUSCH ist ein gutes Beispiel dafür. PUSCH steht für "Praktischer Umweltschutz Schweiz". Sie haben coole Unterrichtssachen zum Thema Wasser, Strom und Abfall, doch zum Beispiel die tolle Wasserwerkstatt mit Experimenten ist voller Werbung von Coca-Cola. In LehrerInnenzeitungen wird ein "Energietag auf der Strominsel Beznau" - also beim ältesten Atomkraftwerk der Welt - angeboten. Natürlich alles kostenlos, denn die Axpo steht dahinter. Sogar die obligatorischen Sporttage an den Schulen werden gesponsert. So spielt man nicht mehr um den Schulpokal, sondern um den "UBS-Kids-Cup", und die Kinder kriegen eine UBS-Baseballmütze als Geschenk noch dazu. Es ist krass, wie die Privaten immer mehr eindringen. Auch der Zürcher Lehrmittelverlag soll jetzt eine AG werden! Und die Turnhallen werden an einigen Orten schon als Werbeflächen genutzt.


vorwärts: Welche Entwicklung beobachtest du in den letzten Jahren?

Bettina: Die "Volksschule" ist vielleicht bald Vergangenheit. Es geht offensichtlich in Richtung Privatisierung. Die "freie Schulwahl" wurde im Kanton Zürich zwar abgelehnt, aber es gibt in der Bevölkerung kaum ein kritisches Bewusstsein, wie tief das Wettbewerbsdenken und auch das Sponsoring an den Schulen bereits verankert sind. Mit den aktuellen Sparmassnahmen wird das weiter zunehmen: Wir sollen schon von Kindesbeinen auf "unsere Bank" oder "unseren Konzern" geprägt werden.

Eine weitere Entwicklung ist der steigende Druck auf die Kinder durch Leistungsvergleiche: Es ist traurig zu sehen, wie bereits 8-jährige Kinder Prüfungsangst entwickelt haben. Auch die Lehrpersonen und Schulen sollen in Konkurrenz zueinander stehen. Die Mitarbeiterbeurteilungen (MAB) und externen Evaluationen der Schulen belohnen jene, welche mit gut versorgten, sozial kompetenten und leistungsstarken Kindern arbeiten und gute Prüfungsresultate bringen. Wenn du in einer sozial benachteiligten Region arbeitest, kannst du dich noch so sehr anstrengen, du erreichst niemals solche Resultate. Dazu kommen Schulreformen, zum Beispiel die Integration der Kinder als Kleinklassen. Da diese ohne die notwendigen finanziellen Mittel durchgesetzt werden sollen, verkommen sie zu reinen Sparmassnahmen und bringen die Lehrpersonen oder Schulen an ihre Belastungsgrenzen. Es regt sich jedoch da und dort Widerstand: Die Schule Allenmoos in Zürich hat im Jahr 2010 deswegen gestreikt, sehr viele Schulhäuser haben sich mit dem Streik solidarisiert. Auf Widerstand von unten erfolgt eine Repression, die teilweise absurde Formen annimmt: Redeverbote über bestimmte Themen, disziplinarische Massnahmen gegen Lehrpersonen, welche die Sparmassnahmen in Versammlungen offen ansprechen.


vorwärts: Bettina, du zeichnest ein ziemlich düsteres Bild der Grundschule. Gibt es noch Hoffnung?

Bettina: Es ist ein düsteres Bild, schau dir nur die Fluktuation an. Aber wir haben noch einiges zu retten, einen guten Lehrplan, teilweise auch noch sehr gute Lehrmittel und viele tolle Schulen. Engagierte Menschen, die im Schulbereich einsteigen möchten, sollten es bitte möglichst rasch tun. Allein ist man ziemlich aufgeschmissen, aber wenn Lehrpersonen zusammen halten, können sie einiges erreichen. Auch kritische Eltern gilt es einzubeziehen, das gibt Rückendeckung. Die grösste Hoffnung aber sind die Kinder, die so klug und lebenshungrig sind. Wenn wir sie nicht mit Druck und Vergleichen klein machen, sondern in ihrer natürlichen Solidarität untereinander und in ihrem Lernwillen unterstützen, bekommen wir tausendmal zurück, was wir ihnen geben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 70. Jahrgang - 25. April 2014,
S. 12 / Sonderbeilage zum 1. Mai
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2014