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VORWÄRTS/1026: "Nao vai ter copa" - "Es wird keine WM geben"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 6. Juni 2014

"Nao vai ter copa"

von Michi Stegmaier



Am 12. Juni beginnt in Brasilien die Fussball-WM. Doch angesichts sozialer Ungleichheit, staatlichem Morden und einer immer grösser werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, ist vielen BrasilianerInnen die Lust auf Fussball und staatlich verordnete Fröhlichkeit tüchtig vergangen.


Seit den Massenprotesten im Juni 2013 kommt Brasilien nicht mehr zur Ruhe. "Nao vai ter copa" (es wird keine WM geben) hallt es durch die Strassen. Tagtäglich kommt es zu Demos, Streiks und Protestaktionen. Und es formiert sich eine Zivilgesellschaft, die so vor dem Confed-Cup schlichtweg nicht denkbar war. Auf die brachialen Räumungen und militärischen Säuberungen von Favelas, die aus "Sicherheitsgründen" dem Protz und Prunk weichen müssen, werden Stadtteilkomitees gegründet und es entstehen neue Allianzen zwischen sozialen AkteurInnen. Diese sind zwar äusserst heterogen, aber doch vereint in ihrer klassenlosen Wut und Empörung über die FIFA, die unfähigen und korrupten PolitikerInnen und die brasilianischen Eliten, die es nicht schaffen, die Fussball-WM mit Würde durchzuführen.


Eine Schande für Brasilien

"Es ist eine Schande, was in diesem Land passiert", ist immer wieder zu hören. Während es im Bildungs- und Gesundheitsbereich an allen Ecken fehlt, versprochene Investitionen in die marode Infrastruktur im Nirgendwo versanden und die öffentliche Hand die Gewinne derer finanziert, die sowieso schon genug haben, wächst die Wut. Die Kosten für das FIFA-Spektakel werden insgesamt auf rund 40 Milliarden Dollar geschätzt, soviel wie die letzten drei WM's zusammen. Alleine die zwölf prunkvollen Stadien - alle fast ausschliesslich durch die öffentliche Hand finanziert - haben dreimal so viel Geld gekostet wie 2007 angekündigt. Und im Rahmen der WM und der Olympiade 2016 kommt es zu massiven sozialen Säuberungen der Stadtzentren. Schätzungen gehen davon aus, dass alleine in der Millionenmetropole São Paulo bis jetzt über 250.000 Menschen aus ihren Vierteln und Häusern vertrieben wurden. Zwar mögen viele Häuser irgendwann mal illegal errichtet worden sein, doch oft leben die Menschen schon seit Generationen in den über Jahrzehnten gewachsenen Slumvierteln.

Das propagierte Bild einer Nation Immerfröhlicher und Glückseliger, die in einem wahrhaftigen Paradies leben und sich deshalb bisher nie wirklich für Politik interessierten, hat längst tiefe Risse bekommen. Spätestens nachdem einmal mehr dieser merkwürdig faszinierende Satz, den wir seit 2011 immer wieder hören: "Die grössten Demonstrationen in der Geschichte von ..." gefallen ist, gehört dieses Bild in unseren Köpfen für immer in die Geschichtsbücher verdammt. Dieses Brasilien hat mit der Revolte, die sogenannte Essig-Revolution, die am 3. Juni 2013 mit ein paar Dutzend AktivistInnen nach einer Fahrpreiserhöhung von 12 Rappen für die Benutzung öffentlicher Transportmittel ihren Anfang nahm, aufgehört zu existieren. Glaubt man einer Aktivistin des "Anarchist Black Cross Rio de Janeiro", die anlässlich einer Veranstaltung in Zürich weilte, waren die Proteste auf ihrem Höhepunkt mit über zwei Millionen TeilnehmerInnen gar die grössten in der Geschichte Südamerikas.


Die Antiterrorismus-Keule

Tatsächlich läuft zwei Wochen vor Beginn der Fussball-WM eine massive Repressionswelle an. Stimmen, die ein kompromissloses und hartes Vorgehen der Polizei und des Militärs gegen "Unruhestifter" fordern, werden lauter. Fernando Grella, Sicherheitsdirektor des Distrikts São Paulo, kündigte am 28. Mai anlässlich einer Pressekonferenz an, dass die RädelsführerInnen der Proteste mittels Präventionshaft und einer Ausweitung des "Terrorismusbegriffs" noch vor Beginn der Fussball-WM aus dem Verkehr gezogen würden. Man sei im Begriff belastendes Material zu sammeln und abgehörte Telefongespräche auszuwerten. Bei diesen "intensiven Sicherheitsaktionen" wolle man zwar das Recht auf Demonstrationen und Meinungsfreiheit garantieren, gleichzeitig aber die Ereignisse in die gewünschten Bahnen kanalisieren, sodass ein reibungsloser und ungestörter Ablauf der Spiele möglich seien. Die Universitätsprofessorin Esther Solano, die die Proteste seit vergangenen Jahren studiert, zweifelt am Erfolg solcher Massnahmen, gerade weil die Bewegung grundsätzlich ohne AnführerInnen auskomme und sehr lose organisiert sei. Bleibt den Mächtigen zu wünschen, dass sie wissen, mit welchem Gespenst sie es zu tun haben. Spätestens in dem Moment, in dem scharf geschossen wird und spätestens dann, wenn innerhalb eines Tages Dutzende Toter zu beklagen sind, dann wird Brasilien keine Revolte erleben, sondern eine Revolution von einer Grössenordnung, wie es Lateinamerika so noch nie gesehen hat. Dann wird es tatsächlich heissen: "Nao vai ter copa - Es wird keine WM geben".

FÜR AKTUELLE INFOS ZU DEN PROTESTEN SIEHE:
WWW.WM2014.NOBLOGS.ORG

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22/2014 - 70. Jahrgang - 6. Juni 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2014