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VORWÄRTS/1070: Dort, wo alle Hevals sind


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46 vom 30. Dezember 2014

Dort, wo alle Hevals sind

Von Michi Stegmaier



Seit der Unabhängigkeitserklärung von Rojava kommt das revolutionäre Experiment von verschiedenen Seiten unter Druck, dient aber ebenso Hunderttausenden von Menschen als sicherer Hafen in einem immer unübersichtlicher werdenden Kriegsgebiet. Der vorwärts hat mit Dogan gesprochen, der selbst vor Ort war und Mitglied der anarchistisch-autonomen Gruppe Karakök ist.


vorwärts: Wie kam es dazu, dass du in die Grenzregion von Kobane gereist bist?

Dogan: Als die Daesh (IS) in kürzester Zeit zunehmend grosse Gebiete eroberten, Menschen verschleppten und Frauen als Sklavinnen verkauften, sahen wir uns verpflichtet, in die Region zu reisen. Dies einerseits, um mit anzupacken, wo solidarische Unterstützung gebraucht wird. Andererseits sahen wir das Projekt Rojava als emanzipatorische Idee bedroht und fanden es wichtig, das Projekt reell zu unterstützen. Zudem war es auch unser Ziel, von den dortigen Strukturen zu lernen, die ja anarchistischen Ideen in mehreren Dingen nahe stehen und ein Experiment einer selbstverwalteten Gesellschaft sind.

Wir haben dann zunächst in Zürich zu einer Soli-Kampagne aufgerufen und diverse Veranstaltungen und Aktionen organisiert. Schliesslich bin ich im September an die syrisch-türkische Grenze gereist. Im Oktober bin ich nach Istanbul gereist, wo wir zu einem Treffen verschiedener anarchistischer Kollektive aufgerufen haben, um eine Delegation zu bilden, die an die Grenze reist. Wir sind dann mit Leuten der "Anarchistischen Initiative Istanbul" sowie der Gruppe "Freedom to Earth" erneut ins Grenzgebiet gereist.


vorwärts: Wie ist der Umgang des türkischen Staates mit den Vertriebenen aus Syrien zu bewerten? Wie ist die aktuelle Situation für die Flüchtlinge aus den Kriegsregionen?

Dogan: Die türkische Regierung begegnet den Flüchtlingen mit mehr Hürden als Unterstützung. Bereits an der Grenze werden Verletzte aus Kobane nicht etwa ins Spital gefahren, sondern festgenommen. Alleine in der türkischen Grenzstadt Suruc (Pirsus) leben 160.000 Flüchtlinge. Dafür stehen 5.800 Zelte zur Verfügung, die durch die BDP (kurdische Partei für Frieden und Demokratie), HDP (demokratische Partei der Völker) und die lokale Gemeinde bereitgestellt wurden. Nur 100 Zelte wurden durch die türkische Regierung zur Verfügung gestellt. Der übrige Teil der Flüchtlinge lebt in den Häusern der lokalen Bevölkerung, die ihre Türen für die Flüchtlinge geöffnet hat. In den Schaufenstern der lokalen Geschäfte wie Bäckereien, Kleiderläden, Restaurants hängen Schilder, auf denen steht: "Gratis für Flüchtlinge aus Kobane". Tagtäglich müssen alle diese Menschen mit Essen versorgt werden. Hierzu gibt es mehrere grosse, öffentliche Volksküchen, die drei mal pro Tag Mahlzeiten für alle Menschen in der Region liefern. Auch dies wird durch die lokalen Strukturen zur Verfügung gestellt. Die türkische Regierung brüstet sich jedoch damit, für all diese Flüchtlinge aufzukommen und verlangt von anderen Regierungen finanzielle Unterstützung für die Flüchtlinge, die dann aber nicht an jenen Ort gelangen.


vorwärts: Wie ist das Verhältnis Erdogans zum IS. Oft wird davon gesprochen, dass die Türkei die Daesh unterstützen würde. Welche Anhaltspunkte gibt es dafür?

Dogan: Erdogan ergreift mal direkt, mal indirekt Partei für die Daesh. Nur ein kleines Beispiel: Vor ein paar Wochen hat das türkische Militär aus "Sicherheitsgründen" drei türkische Dörfer, welche direkt an der Grenze zu Kobane liegen, evakuiert. Die lokale Bevölkerung wurde gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Nun wurde bekannt, dass die Daesh inzwischen in diesen Dörfern positioniert ist und vom türkischen Hoheitsgebiet Angriffe auf Stellungen der YPG in Kobane führen. Offiziell behauptet Erdogan aber, dass der IS nicht aus der Türkei heraus gegen den kurdischen Widerstand operieren würde. Mehrere Male wurden türkische Panzer gesichtet, welche dem IS über die Grenze Waffen bringen. Dies wurde sogar in den türkischen Medien öffentlich. Auch unter getöteten Kämpfern der Daesh fanden sich türkische Waffen und teils sogar türkische Ausweise. Auch wurden immer wieder Aufnahmen von türkischen Militärfahrzeugen publik, welche verletzte IS-Kämpfer über die Grenze in türkische Spitäler bringen.


vorwärts: Was hat sich in den drei Kantonen von Rojava verändert? Welchen Eindruck hast du vor Ort bekommen und wie gestaltet sich das Zusammenleben in der autonomen Region?

Dogan: Schon in sehr kurzer Zeit hat sich viel verändert in Rojava, welches durch Selbstverwaltung und dezentrale Strukturen geprägt ist. Schulen und die Gesundheitsversorgung sind gratis und vor allem die Situation für die Frauen hat sich stark verbessert. Gewalt gegen Frauen kommt heute weitaus weniger vor als vor der Gründung von Rojava. Es gibt Frauenzentren, in denen sich die Frauen autonom organisieren und die auch beispielsweise bei häuslicher Gewalt intervenieren. Wir haben viel mit den Flüchtlingen gesprochen und die Menschen stehen hinter den politischen Strukturen Rojavas. Das Privateigentum wurde zwar nicht abgeschafft, wird aber langfristig durch Stärkung von ökonomischen Kooperativen zu überwinden versucht. Böden, die einst dem Assad-Regime unterstanden, wurden durch die Kommunen möglichst gleichmässig an BewohnerInnen verteilt, die den Boden in Form von Kooperativen bewirtschaften. Es wird versucht, ein Bewusstsein der Solidarität zu schaffen. Als ich mit einem wohlhabenden Bauern ins Gespräch kam, berichtete er mir, dass die Ernte in diesem Jahr sehr gut ausfiel. Er erzählte mir, dass er 20 Prozent des Ernteertrages für sich behalten werde und den Rest an die lokale Kommune abgebe. Hierbei betonte er aber, dass er dies freiwillig mache, da er nicht mehr brauche, während andere zu wenig haben.

Auch das Arbeits- und Mietverhältnis wurde noch nicht überwunden, sowohl die Löhne, als auch die Mieten werden aber in den Kommunen im Kollektiv - und nicht etwa durch den Arbeitgeber oder Hauseigentümer - festgelegt. Alle Entscheidungen des Alltags werden in den Kommunen gefällt, wobei keine Mehrheitsdemokratie herrscht. Über verschiedene Mechanismen wird versucht, eine stimmige Lösung für alle zu finden. Die Gerichte des syrischen Staates haben keine Funktion mehr. An ihre Stelle werden Entscheide, aber auch Streitigkeiten in den Kommunen diskutiert.

Was mich auch sehr beeindruckt hat, ist der Mut der Menschen und die solidarischen, herzlichen Beziehungen untereinander. Alle Leute begegnen sich gleich, es gibt keine Hierarchien, die direkte Demokratie wird gelebt und alle sprechen sich mit "Heval" (Genosse) an, ob du jetzt ein Imam, 10jähriger Knirps oder 80jährige Grossmutter bist. Diese neue Form des Zusammenlebens hat mich sehr beeindruckt und mir gezeigt, wie sehr sich auch die Mentalität der Menschen in der Zwischenzeit verändert hat.


vorwärts: Nun leben in Rojava nicht nur Kurdinnen und Kurden, sondern zahlreiche andere ethnische und religiöse Minderheiten, unter anderem auch viele arabische Sunniten. Wie ist das Verhältnis zu den Kurdinnen und Kurden in der Region und besteht nicht die Gefahr, dass die Kurden selbst zu Unterdrückern werden? Wie kann dem entgegengewirkt werden?

Dogan: Wäre eine kurdische Partei an der Macht und würde die Region verwalten, so wäre dies wohl durchaus eine reelle Gefahr. Die Macht untersteht aber niemandem alleine. In den Kommunen sind alle Ethnien und alle Minderheiten vertreten, sogar konservative und islamistische Individuen. Dadurch kommt es nicht zu einem Überwiegen einer einzelnen Ethnie, Sprach- oder Religionsgruppe. An den Schulen wurde früher nur Arabisch gelehrt - mittlerweile wird auch Kurdisch gelehrt, jedoch auch andere Sprachen, welche lokal präsent sind.


vorwärts: An der Grenze zu Kobane findet auch eine permanente Mahnwache statt, die auch von anarchistischen Kollektiven mitgetragen wird. Was ist das Ziel dieser Mahnwache und was kann mit diesem Mittel vor Ort konkret erreicht werden?

Dogan: Die Mahnwachen fungieren einerseits als eine Motivation für die lokale Bevölkerung und die Guerilla. Man zeigt politische Präsenz und Solidarität, der Zusammenhalt wird gestärkt. Andererseits sind die Wachen auch ein Kontrollmechanismus, der das aktuelle Geschehen verfolgt. Durch Beobachtung erhält man die besseren und aktuelleren Infos als über Medien oder Regierungsvertreter. Man sieht, wer wo positioniert ist, wer wen angreift und wer mit wem kooperiert.


vorwärts: Seit über drei Monaten wird um Kobane gekämpft. Zwar ist es inzwischen in den Medien wieder ruhiger um die umkämpfte Stadt geworden, doch die Kämpfe gehen immer noch weiter. Wie ist der aktuelle Stand in Kobane?

Dogan: Die Kämpfe haben sich in den vergangenen Tagen intensiviert. Der Osten von Kobane war in den Händen der Daesh, die YPG/YPJ konnte jedoch jüngst die Hälfte einnehmen. Auch der Weg nach Raqqa wurde durch die kurdische Guerilla abgebunden. Dies ist sehr wichtig, da die Daesh Waffen, personelle Kräfte und weitere Unterstützung aus Raqqa bezieht. Auf der anderen Seite befinden sich aber der Weg nach Aleppo, Damaskus sowie die Grenzdörfer an der türkischen Grenze in den Händen der Daesh. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass die Daesh zunehmend eingeengt ist und zurzeit nach Wegen sucht, um sich aus der Region möglichst geschickt zurückzuziehen.


vorwärts: Momentan wird vor allem über die prekäre Situation in Kobane gesprochen, doch wie sieht es in den beiden anderen Kantonen Efrin und Cizre aus? Wird dort auch gekämpft? Und wie ist dort die humanitäre Situation?

Dogan: Die Daesh hat bisher Efrin nicht angegriffen - dies, weil Efrin sehr gut verteidigt ist. Es ist kein Flachland wie Kobane, sondern ein Gebirge, in welchem die Guerilla zu kämpfen geübt ist. Die Daesh weiss das sehr gut. Anstelle der Daesh verübt aber die Al-Nusra-Brigaden Angriffe. Ein Teil der "Freien Syrischen Armee" kämpft nun dort ebenfalls gegen die Al-Nusra-Brigaden.

Cizre ist umzingelt von Gebieten, die durch die Daesh kontrolliert sind. Jedoch kann sie auch hier nicht ins Zentrum vordringen, da das Gebiet sehr gut verteidigt ist. In den Randregionen hingegen finden tagtäglich schwere Gefechte statt, die bereits viele Tote gefordert haben.


vorwärts: Was können wir von hier aus machen? Welche Möglichkeiten gibt es, die notleidende Bevölkerung in der Region zu unterstützen?

Dogan: Einerseits ist natürlich finanzielle Unterstützung notwendig. Es wird Geld benötigt für Lebensmittel, Zelte, Medikamente und vieles mehr. Andererseits wird dringend medizinisches Personal und die notwendige Infrastruktur (z.B. Geräte, Medikamente, Impfungen) benötigt.

Aus einer politischen Sicht ist auch die Solidarität vor Ort wichtig - dort hinzugehen, mit anzupacken, sich zu vernetzen, Delegationen zu schicken, um beispielsweise Wache zu halten. Daneben ist auch Infoarbeit essentiell, um aktuelle Infos zu verbreiten und mitzuhelfen, dass das Projekt Rojava am Leben erhalten werden kann.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46 - 70. Jahrgang - 30. Dezember 2014, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2015


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