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VORWÄRTS/1135: Wer Menschenrechte verletzt, wird geköpft


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 9. Oktober 2015

Wer Menschenrechte verletzt, wird geköpft

Von Michi Stegmaier


Die Negativschlagzeilen rund um Saudi-Arabien reissen nicht ab. Unfähige Sicherheitskräfte und eine Massenpanik während der Hadsch-Wallfahrt. Ein Enkel des Staatsgründers Abd al Aziz Ibn Saud, der offen zur Palastrevolte aufruft. Der Krieg im Jemen, der Immer blutiger wird, und ein Regime, welches jeglichen Dissens mit brutalster Gewalt im Keim erstickt.


Der junge Aktivist Ali al-Nimr soll enthauptet werden, dann soll sein kopfloser Körper gekreuzigt und öffentlich zur Abschreckung ausgestellt werden. Die neuste barbarische Selbstinszenierung des IS? Nein: Beschluss des Obersten Gerichtshofs des Landes, welches gleichzeitig in eine Schlüsselposition im UN-Menschenrechtsrat berufen wird. Willkommen in der Welt der diplomatischen Perversion.

Stockschläge für Blogger, keine Rechte für Frauen und Minderheiten, ständig weitere barbarische Hinrichtungen, Saudi-Arabien ist ein Land, das Menschenrechte mit Füssen tritt. Trotzdem führt nun der saudi-arabische UN-Botschafter Faisal Bin Hassan Trad eine fünfköpfige Diplomatengruppe des UN-Menschenrechtsrates an, die hausintern auch als "Kronjuwel" des Rates bezeichnet wird. Als absolut skandalös bezeichnet Hillel Neuer, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation "UN Watch", die die Aktivitäten der UNO kritisch beleuchtet, den Beschluss der Vereinten Nationen, den Vorsitz eines der wichtigsten Gremien einem Land anzuvertrauen, "welches in diesem Jahr mehr Menschen geköpft hat als der Islamische Staat". Tatsächlich vollstreckt Saudi-Arabien nach China und dem Iran derzeit die meisten Todesstrafen, Tendenz stark steigend. So wurden seit anfangs Jahr schon 134 Hinrichtungen vollzogen, im Jahr 2014 waren es noch 86. Und nicht nur bei Mord oder anderen schweren Verbrechen droht in Saudi-Arabien die Todesstrafe, auch bei Ehebruch, Drogenkonsum, Homosexualität, Hexerei, Abtrünnigkeit gegenüber dem Königshaus oder Blasphemie, die im Golfstaat sehr weit interpretiert wird, droht die Exekution.


Unter Folter erzwungenes Geständnis

Ali al-Nimr war gerade 16 Jahre alt, als er, wie viele andere, im Frühling 2011 auf die Strasse ging. Er beteiligte sich an Protestmärschen und mobilisierte für Demos, sang Protestlieder, gab Tipps zur ersten Hilfe und verteilte Flugblätter.

Gemäss dem Scharia-Gericht soll er einer Terrorzelle angehört haben, an gewalttätigen Strassenprotesten beteiligt gewesen sein und einen Molotowcocktail gegen Sicherheitskräfte geworfen haben. Gemäss saudischer Rechtssprechung alles schwere Verbrechen, die mit dem Tod bestraft werden müssen. Schliesslich wird Ali al-Nimr am 14. Februar 2012 festgenommen und ein paar Wochen später in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt. Sein Geständnis sei unter Folter erzwungen worden, sagte Ali al-Nimr während seines Berufungsprozesses gemäss Amnesty International und Reprieve, einer kleinen NGO, die sich für den saudischen Aktivisten einsetzt.

Ausser seinem "Geständnis" wurden keine weiteren Beweise vorgelegt, das Oberste Gericht bestätigte trotzdem das Todesurteil. Auch das jugendliche Alter von Ali al-Nimr half wenig, da in Saudi-Arabien bei ersten Anzeichen der Pubertät jemand als erwachsen gilt. Und Ali al-Nimr ist der Neffe des populären schiitischen Predigers Nimr al-Nimr, der im Oktober 2014 ebenfalls zum Tode verurteilt wurde.

Rund drei Millionen Saudis gehören dem schiitischen Glauben an und stellen rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Grossteil von ihnen lebt im Osten des Landes, am Persischen Golf, wo sich auch die grössten Erdölvorkommen befinden. Eine weitere Gruppe lebt im Südwesten, an der Grenze zum Jemen.

Das Verhältnis zwischen der schiitischen Minderheit und sunnitischen Mehrheit ist seit Jahrzehnten stark belastet und religiös aufgeladen, entsprechend gross ist die Repression. Nicht wenige glauben deshalb, dass die Strafe gegen Ali al-Nimr vor allem dessen Onkel gelten soll. Ein hochgeachteter Geistlicher, scharfer Kritiker des Königshauses und einer der führenden Köpfe der Protestbewegung von 2011 sowie Vorkämpfer für die Rechte der schiitischen Minderheit.


Öl wichtiger als Menschenrechte

Das Todesurteil gegen den jungen Oppositionellen fällt in eine politisch schwierige Zeit. Die militärische Intervention im Jemen wird immer mehr zu einem Himmelfahrtskommando. Rund 5000 Menschen sollen seit dem Beginn der Militäroffensive im Jemen ums Leben gekommen sein, Hunderttausende fliehen derzeit über die Meerenge Bab al-Mandab nach Dschibuti und Somalia, und seit anfangs September, als nach einem Raketenangriff der Huthi-Rebellen auf einen Armeestützpunkt in der Nähe von Saana 52 Soldaten aus den Arabischen Emiraten, zehn saudische und fünf bahrainische Soldaten getötet wurden, steht ausser Zweifel, dass im Jemen die Golfstaaten Bodentruppen einsetzen. Die Bilder von dort erinnern immer mehr an Syrien. Rund zwei Millionen Menschen sollen inzwischen auf der Flucht sein. "Nach fünf Monaten Krieg sieht der Jemen bereits aus wie Syrien nach fünf Jahren Krieg", sagte kürzlich Peter Maurer, Chef des Internationalen Roten Kreuzes, nach einem Besuch vor Ort.

Spätestens seit der Massenpanik in Mina mit 769 Toten - unabhängige Quellen sprechen inzwischen von weitaus mehr Opfern - werden auch in Saudi-Arabien die kritischen Stimmen lauter. Und der Westen? Der lobt die Golfmonarchie als "Anker der Stabilität", macht den Bock zum Gärtner und wird auch künftig für Milliarden von Petrodollars modernste Waffen an das saudische Unrechtsregime liefern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 71. Jahrgang - 9. Oktober 2015, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2015

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