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VORWÄRTS/1153: "Politisch sind wir KetzerInnen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 4. Dezember 2015

"Politisch sind wir KetzerInnen"

Von Thomas Schwendener


Kürzlich ist die vierte Ausgabe der antiautoritär-kommunistischen Zeitschrift Kosmoprolet erschienen. Herausgegeben wird die Publikation von den "Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft" aus Berlin, der Gruppe "La Banda Vaga" aus Freiburg und dem Schweizer Zusammenschluss "Eiszeit". Der vorwärts sprach mit einem Mitglied von "Eiszeit" anlässlich der Neuerscheinung.


vorwärts: Kosmoprolet gibt es seit bald 10 Jahren. Wie ist es zum gemeinsamen Projekt gekommen und zu welchem Zweck habt ihr euch zusammengeschlossen?

"Eiszeit": Die heutige Redaktion und einige Leute mehr aus dem antiautoritär-kommunistischen Milieu trafen sich irgendwann im Jahr 2006 in einem kleinen Dörfchen in der Nähe von Frankfurt. Bei gemeinsamen Diskussionen stellten wir fest, dass es eigentlich nur Einigendes gab und darum eine engere Zusammenarbeit Sinn machen würde. Wir wollten den verschütt gegangenen Tendenzen der kommunistischen Bewegung wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen und fanden, dass dazu ein Zeitschriftenprojekt nützlich sein würde. 2007 erschien dann auch die erste Ausgabe, damals allerdings noch von den "Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft" in Eigenregie herausgegeben. Seither versuchen wir gemeinsam, die Perspektive dissidenter Strömungen des Kommunismus wieder etwas ins aktuelle linke Bewusstsein zu heben. Aber natürlich sind wir keine NostalgikerInnen und versuchen, die jeweiligen Beschränkungen der verschiedenen Strömungen zu thematisieren und vor allem auch gegenwärtige Entwicklungen zu analysieren. Die meisten Texte im Kosmoprolet beschäftigen sich darum auch mit aktuellen Prozessen und Bewegungen rund um den Globus.


vorwärts: Welcher politischen Strömung kann man denn Kosmoprolet zurechnen? Welche historischen Bezugspunkte sind für euch wichtig?

"Eiszeit": Gerade weil wir keine NostalgikerInnen sind, lässt sich das nicht so einfach sagen. Es gibt bei Kosmoprolet verschiedene Einflüsse. Ich kann kurz und unvollständig aufzählen, woher wir Inspiration beziehen: aus dem Rätekommunismus, dem Linkskommunismus in verschiedenen Spielarten, dem Operaismus, der Situationistischen Internationale, aber zum Beispiel auch aus Teilen der Kritischen Theorie oder aus gewissen Marx-Diskussionen in den 70er Jahren. Man kann uns aber keiner der genannten Strömungen zuschlagen. Zum einen versuchen wir, die vorwärtsweisenden Momente von den Beschränkungen der verschiedenen Ansätze zu scheiden und die ersteren für unsere Analyse fruchtbar zu machen. Zum anderen ist es auch einfach eine Zumutung für jeden redlich denkenden Menschen, wenn man politische Schlussfolgerungen einfach übernehmen soll, die KommunistInnen unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen gezogen haben. Ich halte es für eine wesentliche Schwäche grosser Teile der "radikalen Linken", dass sie ihre Positionen von Autoritäten beziehen, deren gesellschaftliche Realität eine ganz andere war. Karl Marx hat zwar den Kapitalismus in seinem "idealen Durchschnitt" analysiert und darum Gesetze aufgespürt, deren Wirkungsmacht solange gültig ist, wie der Kapitalismus existiert. Zugleich war er aber politisch natürlich ein Kind seiner Zeit und heute gälte es oftmals, andere Schlussfolgerungen zu ziehen; darum sind wir wohl politisch gesehen KetzerInnen. Gegenüber den ganzen begriffslosen postmarxistischen Modeerscheinungen halten wir aber ziemlich orthodox an den wesentlichen Bestimmungen der kommunistischen Kritik fest, wie sie von einigen vernünftigen Menschen bereits im 19. Jahrhundert in Grundzügen formuliert wurde.


vorwärts: In der aktuellen Ausgabe des Kosmoprolet stehen verschiedenste Themen nebeneinander: Sozialstaat, Gender, Ultras, Israel, Surplus-Proletariat und die Auswertung eines Arbeiterfragebogens. Gibt es ein generelles Konzept für die neue Ausgabe? Oder anders gefragt: Wie hängen die Artikel miteinander zusammen?

"Eiszeit": Man könnte sagen, dass die Texte im Idealfall aus einer gemeinsamen Debatte der weltweiten Entwicklungen entstanden sind. Wir haben zum Beispiel mehrere Monate über den Zusammenhang von Gender und Kapital oder auch über die Frage des Surplus-Proletariats debattiert. Diese Debatten sind natürlich in die Texte eingeflossen. Ein genaueres Gesamtkonzept für das Heft hatten wir aber nicht vorgängig festgelegt. So sind die meisten Texte entstanden, weil die jeweilige Gruppe beziehungsweise die Schreibenden das Thema relevant fanden. Wir von "Eiszeit" haben zum Beispiel einen Text zum Sozialstaat geschrieben, weil diese Frage angesichts von Krise und Angriffe auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen sowie der linken Verteidigung des Sozialstaates ein Dauerbrenner ist. Dabei hatten wir kein Gesamtkonzept im Blick. Es ist wahrscheinlich eher die Herangehensweise an die Themen, die das Heft etwas zusammenhält, nämlich die Dinge aus einer antiautoritär-kommunistischen Perspektive zu beleuchten.


vorwärts: Es finden sich zwei Artikel zum Surplus-Proletariat im Magazin, könnte man dieses Thema als Schwerpunkt der Ausgabe auffassen? Wird das Thema bei euch diskutiert? Wenn ja, welche Schlussfolgerungen habt ihr aus der Diskussion gezogen?

"Eiszeit": Einen Schwerpunkt im engeren Sinne gibt es nicht. Aber natürlich ist uns diese Frage wichtig. Im Heft finden sich neben einer Übersetzung eines Artikels der Zeitschrift "Endnotes" auch Überlegungen unserer Berliner GenossInnen, die wir kollektiv recht ausführlich diskutiert haben. Dieses Thema scheint uns für eine kommunistische Perspektive ein ziemlich dringliches zu sein. Und an diesem Problem kann man gerade sehen, wie die traditionelle Theoriebildung über das Auswendiglernen von Autoritäten wesentliche Entwicklungen der Realität nur ungenügend reflektieren kann. Natürlich finden sich auch schon bei Marx, etwa im "Allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation", Überlegungen zu industrieller Reservearmee und absolut überflüssiger Arbeitskraft, aber die Umstände haben sich seit dem 19. Jahrhundert recht drastisch verändert. Offensichtlich sind wir mit einer globalen Situation konfrontiert, in der ein grosser Teil der Proletarisierten nicht mehr formell vom Kapital absorbiert wird; ob das unumkehrbar oder eine reversible Erscheinung ist, müsste man diskutieren. Die Texte im Heft sind analytischer Natur. Sie versuchen das Phänomen und seine Folgen zu fassen. Daran müsste man in revolutionstheoretischer Absicht ansetzen. Was heisst es für eine revolutionäre Strategie, wenn ein grosser Teil der potenziellen ArbeiterInnen von den Produktionsmitteln nicht mehr nur juristisch, sondern ganz praktisch getrennt sind? Wie äussert sich das Aufbegehren dieser Menschen, die sich nicht mehr über Streiks artikulieren können? Ich denke, an dieser Baustelle müssen KommunistInnen heute weiterdenken, ohne das Phänomen zu einem Generalschlüssel für die Entwicklung der Welt zu verklären.

Kosmoprolet 4, Selbstverlag, Berlin 2015, 208 Seiten, 6 Franken.
In der Schweiz zu beziehen über:
eiszeit.nfshost.com oder eis-zeit@gmx.net

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 71. Jahrgang - 4. Dezember 2015, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2015

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