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VORWÄRTS/1188: "Dieses Europa gibt es nicht"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2016

"Dieses Europa gibt es nicht"

Ein Gespräch mit Beat Wyss und Paolo Tomasini von Patricia D'Incau


Der kleine Ort Idomeni ist zum Symbol eines gescheiterten Europas geworden. Für tausende Menschen hat die Flucht vor Krieg und Armut an der griechisch-mazedonischen Grenze ein unfreiwilliges Ende gefunden. Verzweiflung und Kriminalisierung gehören zum Alltag im Camp. Beat Wyss und Paolo Tomasini waren als freiwillige Helfer vor Ort. Ein Gespräch.



vorwärts: Seit Mazedonien Anfang März seine Grenze geschlossen hat, spitzt sich die Lage in Idomeni immer weiter zu. Für rund 11.000 Menschen gibt es an der griechisch-mazedonischen Grenze kein Weiterkommen mehr. Welche Situation habt ihr angetroffen?

Wyss/Tomasini: Auf dem Feld hinter dem Grenzzaun aus Stacheldraht und dem Niemandsland, haben sich die Menschen eine improvisierte Zeltstadt aufgebaut. Sie liegt neben den Bahngeleisen, die von den Refugees besetzt wurden, als Mazedonien seine Grenze geschlossen hat. Einige Menschen sind in den Bahnwaggons untergekommen, während die meisten Refugees in Zelten wohnen. Frauen und Männer, Schwangere, Kinder, ältere Menschen, im Rollstuhl und an Krücken - tausende Geflohene verschiedenen Alters, Geschlechts und Herkunft leben auf engstem Raum. Die Versorgung wird von Freiwilligen sichergestellt. Neben dem UNHCR, einer Delegation des Roten Kreuzes, den Médecins du Monde und Médecins Sans Frontières sind viele unabhängige Organisationen im Einsatz, vor allem in den kleineren Nebenlagern. Im "Hotel Hara", in dem rund 400 Menschen leben, und im "Gas-Station-Camp" das neben der Autobahn liegt, die, als wir dort waren, einige Tage lang besetzt wurde. Diese beiden Camps sind familiärer, werden aber kaum mit Gütern beliefert - noch weniger als Idomeni. Wären dort nicht Unabhängige aktiv, gäbe es, abgesehen von ein paar UN-Zelten, vielleicht gar keine Infrastruktur. Und die ist im Allgemeinen sehr rudimentär. Es gibt zwar Plastiktoiletten, die täglich gereinigt werden und fliessendes Wasser, das trinkbar ist. Doch Beschwerden wie Magendarm-Erkrankungen sind an der Tagesordnung. Immer. Die freiwilligen Ärzteteams stellen, so gut wie möglich, die medizinische Versorgung sicher. Aber chronische Krankheiten wie Diabetes können auch sie nicht unter Kontrolle halten. Dazu fehlt es an geeigneter Infrastruktur, um die Medikamente zu lagern. Lange Schlangen an der Essensausgabe, kranke Menschen zwischen den Zelten und Eltern, die ihre Kinder im Schlamm versuchen, zu waschen - das sind Alltagsszenen.


vorwärts: Am Sonntag, dem 10. April, wurde versucht, die Grenze zu durchbrechen. Die mazedonische Polizei drängte die Menschen mit Tränengas und Gummigeschossen zurück. Erneut gibt es Gerüchte, der Aufruf zum Aufbruch sei von AktivistInnen verbreitet worden. Was ist genau geschehen?

Wyss/Tomasini: Bereits am Tag zuvor herrschte eine sehr euphorische Stimmung unter den Flüchtlingen. "Morgen sind wir weg von hier", sagten sie. Als wir am Samstagabend das Essen ausgegeben haben, haben sie uns begrüsst, als wäre es das letzte Mal, dass wir uns sehen. Es ist das Gerücht herumgegangen, dass etwas passieren wird. Doch Flyer dazu haben wir keine gesehen. Die einzigen Flyer, die wir in dieser Zeit zu Gesicht bekommen haben, waren solche der Zeugen Jehovas und einer, der in den Farben der deutschen Fahne gehalten war. Schwarz, rot, gelb, mit dem Adler darauf. Ein Stück Papier, das die Menschen entmutigen sollte, nach Deutschland zu kommen. In schlechtem Arabisch - wahrscheinlich mit Google Translate übersetzt - stand geschrieben, die Deutschen hätten mit 24 Prozent die AfD gewählt, Flüchtlinge seien nicht willkommen. Es heisst, dass rechte Gruppierungen nach Idomeni kommen, um Nachrichten zu verbreiten. Ob das stimmt können wir nicht sagen. Es gibt viele Gerüchte im Lager und es ist schwierig, Informationen zu sichern. Am Sonntag, hat es dann angefangen. Als wir im Camp angekommen sind, waren bereits einige Flüchtlinge vor der Grenze. Zu Beginn hat die mazedonische Polizei die Gummigeschosse und das Tränengas nur ins Niemandsland geschossen, doch dann wurde der Radius erweitert. Es wurde frontal auf die Zelte geschossen. Alle wurden getroffen - die Flüchtlinge, die HelferInnen, das Zelt der Médecins Sans Frontières, sogar die griechische Polizei. Viele der HelferInnen gingen auf das Feld, um den Menschen die Augen auszuwaschen. Einige waren ohnmächtig geworden; Kinder, die auf dem Boden lagen, mussten geborgen werden.


vorwärts: Was ist danach passiert?

Wyss/Tomasini: Das Klima ist zunehmend repressiver geworden. Die griechischen Medien begannen, äusserst aggressiv über die Freiwilligen zu berichten. Es handle sich um "falsche Freiwillige" und "ausländische Agitatoren", die die Flüchtlinge zu Aufständen anstacheln würden, hiess es. Kurz darauf fing die Polizei an, zu handeln, wie es die Medien forderten. Die Präsenz wurde verstärkt, Volunteers wurden angehalten und kontrolliert. Dinge, die bisher kein Problem waren - zum Beispiel, mit 15 Leuten in einem Kleinbus zu sitzen - waren plötzlich nicht mehr möglich. Personalien wurden notiert und Helfer durchsucht. Vierzehn Personen wurden festgenommen. Von einem Tag auf den anderen hat sich die Situation verändert. Nun stehen die Freiwilligen unter Generalverdacht und werden kriminalisiert. Mancherorts wird gesagt, es gebe eine Zusammenarbeit zwischen den griechischen Medien und der Polizei. Das sei hier Gang und Gäbe; dass die Medien eine Art avantgardistische Rolle übernehmen würden. Das heisst: Die Medien berichten, die Polizei handelt. Genau wissen tun wir das nicht. Durch die Entwicklungen in den vergangenen Tagen könne wir aber mit Sicherheit sagen: Es gibt ein Zusammenspiel zwischen der medialen Berichterstattung und dem Verhalten der Polizei.


vorwärts: Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte, Freiwillige hätten die Bemühungen der Regierung sabotiert, die Flüchtlinge in organisierte Camps zu bringen und stattdessen einen Aufstand angefacht. Wird nach einem Anlass gesucht, um die Helfer zurückzudrängen?

Wyss/Tomasini: Ja, das ist das politische Motiv dahinter. Es ist das Ziel, die Refugees aus den wilden Camps von Idomeni wegzubringen, in eines der Militärcamps oder einen offiziellen Hotspot, von wo aus sie in die Türkei abgeschoben werden können. Die Freiwilligen sind dabei ein Dorn im Auge. Alles, was in Idomeni zur Verfügung gestellt wird - Essen, Kleider, Internet und Elektrizität, juristischer Beistand, Englischunterricht, Kinderhort - wird von Volunteers organisiert. Wären diese HelferInnen weg, wären die Menschen gezwungen, den Ort zu verlassen.


vorwärts: Nicht nur die griechischen Medien berichteten, dass hinter den Aufständen Helfer oder "Radikale" stehen würden. Die Schlagezeilen gingen durch ganz Europa. Die Boulevardzeitung Blick titelte etwa: "Sie trieben Flüchtlinge in die Schlacht am Grenzzaun"...

Wyss/Tomasini: Es ist rassistisch und degradierend, wenn man meint, dass die Flüchtlinge Leute aus dem Westen brauchen, die sie anführen und ihnen sagen, was sie tun sollen und was nicht; dass davon ausgegangen wird, dass diese Menschen in den Camps nicht selber denken und handeln können. Dabei ist genau das der Fall: Sie organisieren sich, und zwar selbständig. Die Freiwilligen hingegen entmutigen die Menschen eher, etwas zu tun. Wenn uns zu Ohren kam, dass geplant wurde, an die Grenze zu gehen, haben wir eigentlich immer gesagt: Tut es nicht. Es ist sinnlos. Die, die leiden werden, seid schlussendlich wieder ihr selbst. Doch ich denke, es wird auch versucht, sich Gehör zu verschaffen. Zu sagen: Wir sind hier gefangen. Bitte tut etwas, es ist nicht mehr tragbar. Denn, so makaber es ist: Der Alltag im Camp, obwohl er sehr prekär ist, macht mittlerweile keine Öffentlichkeit mehr.


vorwärts: Wenige Tage nach den Zusammenstössen hat Griechenland an der Grenze eine militärische Übung durchgeführt. Eine Machtdemonstration?

Wyss/Tomasini: Bei den Zusammenstössen am Sonntag haben die mazedonischen Polizisten das Camp mit Tränengas bombardiert, auch wenn sie sagen, sie hätten nur auf das Niemandsland gezielt. Das stimmt nicht. Es gibt genug Bilder, die das beweisen. Dabei wurde auch die Polizei getroffen, die im hinteren Teil des Lagers mit Kastenwagen präsent und gut sichtbar ist. So gesehen kann man sagen: Mazedonien hat das Tränengas auf Griechenland geschossen. Also hat Griechenland nun die Muskeln spielen lassen, mit einer unangemeldeten Militärübung. An dem Punkt sind wir nun angekommen: dass Griechenland und Mazedonien sich gegenseitig militärisch demonstrieren. Das geht eigentlich bereits über die Flüchtlingskrise hinaus.


vorwärts: Welche Perspektive haben die Menschen in Idomeni noch?

Wyss/Tomasini: Der Alltag besteht hauptsächlich aus Warten. Warten auf das Essen, auf Kleidung, um auf die Toilette zu gehen. Doch die Atmosphäre verändert sich permanent. Man kann am Morgen nie sagen, was sein wird. An einem Tag herrscht relative Normalität, am anderen Tag werden die Menschen mit Tränengas beschossen. An einem Tag wirst du von den Polizisten gegrüsst und angelächelt, am nächsten Tag kontrolliert und durchsucht. An einem Tag sind die Flüchtlinge sehr einheitlich untereinander, tanzen zusammen und haben kein Problem damit, dass die einen KurdInnen und die anderen AraberInnen sind, und anderntags gehen sie mit Eisenstangen aufeinander los. Bei tausenden Menschen auf engstem Raum braucht es nicht viel, dass die Stimmung kippt.

Idomeni ist ein Ort der Extreme, die Situation ist unberechenbar. Das gilt auch für das Klima: Wenn du nicht im Schlamm stehst, stehst du in der Wüste; wenn du nicht im Regen stehst, dann unter der brennenden Sonne. Es herrschen extreme Bedingungen und das nagt an den Menschen. Man muss sich bewusst sein, dass das stinknormale Leute sind. Arbeiter, Studenten, Frauen und Männer, alte Leute, Behinderte und viele Kinder. Es sind Menschen, die dir erzählen, dass sie angefangen haben, Medizin zu studieren oder Recht zu studieren - und du weisst: Es wird wohl kaum eine Möglichkeit für sie geben, das weiterzuführen. Ihre Zukunft ist vorbei. Manche zerbrechen und begehen Suizid, vor allem Frauen. Andere haben noch Hoffnung. Hoffnung auf ein normales Leben; ein stinknormales Leben, ohne Krieg. Das ist alles, was sich diese Menschen wünschen. Doch langsam sind sie am Ende ihrer Kräfte. Sie haben nichts mehr zu verlieren.

Idomeni ist das Symptom eines Krieges, der in Europa angekommen ist. Ein Krieg, den Europa mitverursacht hat. Die Solidarität zwischen und mit den Menschen vor Ort ist ein Lichtblick. Doch die Illusion eines "geeinten Europas", der EU, ist längst in sich selber zusammengefallen. In Idomeni sieht man: Dieses Europa gibt es nicht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 72. Jahrgang - 26. April 2016, S. 13
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2016

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