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VORWÄRTS/1208: Last Exit - Nationalismus


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 15. Juli 2016

Last Exit: Nationalismus

Von Thomas Schwendener


Am 23. Juni entschieden sich die StimmbürgerInnen Grossbritanniens nach 43.-jähriger Mitgliedschaft für den Austritt aus der Europäischen Union. Die jubelnden SiegerInnen und die Argumente für den Austritt belegen, dass die Kritik an der EU heute von rechts dominiert wird.


Mit 51,9 Prozent hat eine hauchdünne Mehrheit der britischen StimmbürgerInnen für den sogenannten Brexit gestimmt und damit den künftigen Alleingang Grossbritanniens besiegelt - auch wenn sich das britische Parlament theoretisch gegen das Referendum stellen könnte. Aus Sicht der EU bleibt das Vereinigte Königreich zwar ein wichtiger Handelspartner; um eine Kettenreaktion zu verhindern, dürfen die Bedingungen für den Austritt aber nicht zu attraktiv sein. Denn die EU-kritischen Kräfte sind vielerorts auf dem Vormarsch: In Italien fordert die erfolgreiche populistische Fünf-Sterne-Bewegung ein Referendum über den Austritt aus der EU. In Frankreich macht vor allem der Front National Stimmung für ein solches Referendum und weiss 53 Prozent der Bevölkerung hinter diesem Ansinnen. Für Grossbritannien seinerseits ist der Zugang zum europäischen Markt von vitalem Interesse: Alleine Deutschland, Frankreich und die Niederlande liefern über 28 Prozent der britischen Importe und nehmen knapp 24 Prozent der exportierten Waren ab. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte wird von Seiten der EU ein entscheidender Punkt bei der Verhandlung über den künftigen Marktzugang des Vereinigten Königreichs sein; der Brexit war aber gerade ein Entscheid gegen die freie Wahl auf Wohn- und Aufenthaltsort. Angesichts dieser Ausgangslage rechnet man mit langwierigen Austrittsverhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien.

Aufgrund der unsicheren Situation tauchten die internationalen Aktienkurse. Das Pfund fiel auf den tiefsten Stand seit 30 Jahren. Die ganze politische und wirtschaftliche Tragweite des Austritts ist noch nicht abzusehen. Eines ist aber sicher: Sowohl für die EU als auch für Grossbritannien stehen schwierige Zeiten an, was nicht zuletzt die Lohnabhängigen zu spüren bekommen dürften.


Immigration und Souveränität

Bei aller notwendigen Kritik am Projekt EU ist es doch nur ein kleiner Teil der Linken, der den Brexit-Entscheid positiv interpretiert. Zu augenscheinlich ist die Tatsache, dass es ein Erfolg nationalistischer Kräfte ist: Die WortführerInnen der Kampagne sind auf dem rechten Flügel zu finden und der Entscheid dürfte NationalistInnen in Europa weiter Auftrieb verschaffen. Gemäss einer Umfrage von "Lord Ashcroft Polis", einer privaten Initiative des ehemaligen Tory und Meinungsforschers Lord Michael Ashcroft, stammen die zwei wichtigsten Motive für den Entscheid aus dem Repertoire der Rechten. Rund 49 Prozent der Befragten führten die Wiederherstellung der nationalen Souveränität als Grund für ihre Zustimmung an, 33 Prozent nannten die Rückgewinnung der Kontrolle über Migration und die nationalen Grenzen als Hauptmotiv. Die Entscheidung ist nur im Kontext der allgemeinen Rechtsentwicklung Europas zu verstehen, die sich auch in einer nationalistischen Kritik an der Europäischen Union artikuliert.

In der Aufschlüsselung des Wahlverhaltens wird gerne auf die geografischen Unterschiede und den Gegensatz von Jung und Alt hingewiesen. Wichtig ist es aus emanzipatorischer Sicht aber, die Klassendimension des Wahlentscheids zu verstehen. Verschiedene KommentatorInnen haben darauf aufmerksam gemacht, dass in den schlecht ausgebildeten Schichten der ArbeiterInnenklasse der Austritt stark bevorzugt wurde. Zudem war in den deindustrialisierten Zonen Nord- und Mittelenglands grosser Zuspruch für den Brexit zu verzeichnen. Es liegt auf der Hand, dass die Verschlechterungen der Lebensbedingungen vieler ProletarierInnen und ihr Entscheid für den nationalen Alleingang zusammenhängen.


Die Klassenfrage und die EU

Der Brexit ist eine nationalistische Antwort auf die soziale Frage und zugleich ein konformistisches Aufbegehren gegen die etablierte politische Führung. Dies ist aber keineswegs die Wiederkehr der Klassenfrage. Die politischen Präferenzen stellten sich nicht über die Klasse her, sondern über die nationalistische Sortierung der potenziellen ArbeiterInnen. Der Entscheid gegen die Freizügigkeit wird nicht nur eine Vertiefung der Spaltung der multinational zusammengesetzten Klasse bedeuten, sondern für viele Proletarisierte auch Verschlechterungen der Lebensbedingungen mit sich bringen. Der Protest gegen die Regierung wiederum ist nicht mit einer emanzipatorischen Perspektive verbunden, sondern mit dem Wunsch nach "nationaler Souveränität" und einer "fähigeren" Führung: klassische Motive der Rechten.

Neben dem Grundproblem, dass die abstrakten Zwänge und ihre Folgen im Kapitalismus durch politische Entscheide flankiert werden, hat das Abstimmungsverhalten auch mit der Konstruktion der EU zu tun. Die Regularien für die Wirtschaft werden zum grössten Teil in Brüssel bestimmt, während deren gesellschaftliche Durchsetzung den Nationalstaaten überlassen werden - deutlich zeigte sich dies beim Syriza-Debakel. Dem/der braven StimmbürgerIn stellt sich dies als eine Entmachtung des Nationalstaates durch die EU-Bürokratie dar. Er/sie will nicht verstehen, dass die EU ein Mittel der stärkeren Nationalstaaten darstellt, ihr Interesse auf dem Weltmarkt durchzusetzen. Der Austritt aus der EU zur Wiedergewinnung der Souveränität ist entsprechend eine naheliegende Entscheidung. Sie ist aber illusorisch, weil das Schicksal des nationalen Standorts weiterhin vom Weltmarkt und der ökonomischen Grosswetterlage abhängig bleibt. Davon lässt sich das nationalistische Bewusstsein aber kaum beeindrucken.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen auf dem Kontinent, muss man wohl anerkennen, dass die Alternative zum EU-Ungetüm momentan nicht die links-etatistischen "Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa" sind, sondern das stramm rechte "Europa der Vaterländer".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 72. Jahrgang - 15. Juli 2016, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2016

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