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VORWÄRTS/1214: Streik? Selber machen!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 29/30 vom 26. August 2016

Streik? Selber machen!

Von Jonas Komposch


Diskussionen über neue Taktiken des Streikens haben Konjunktur. Im Büchleln "Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht" liefert Peter Nowak nun aufschlussreiche Einblicke in noch ungewohnte Territorien und Formen des Arbeitskampfes.


Jüngst während einer Zusammenkunft im Gewerkschaftslokal der Berliner Freien Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU): Im Syndikatsbüro gibt ein Gewerkschafter ein Radio-Interview. Der lokale Rundfunk will wissen, was "kämpferische Basisgewerkschaft" eigentlich bedeute und ob die FAU tatsächlich Sabotageakte durchführe und nur stramme AnarchistInnen aufnehme. Derweil bespricht eine Arbeitsgruppe in einem Hinterzimmer den Fall eines Mitglieds, das von seinem Chef nicht nur um den Lohn geprellt, sondern auch vor Gericht gezerrt wurde. In einem anderen Raum wird über die Vernetzung von Arbeiter- und MieterInnenkämpfen beraten. Aus der Küche duftet ein Ratatouille und an der Bar in der Empfangshalle treten GewerkschafterInnen mit Ratsuchenden und Neugierigen in Kontakt.

Einer dieser Besucher ist der Kameruner Balzac (Name geändert). Er lebt seit zehn Monaten in Deutschland, steckt mitten im Asylverfahren und hat also keine Arbeitserlaubnis. Eines Tages seien in seiner Unterkunft plötzlich Leute rekrutiert worden. Er habe sich gemeldet und fortan für ein grosses Reinigungsinstitut gearbeitet. Balzac reicht Fotos herum, auf denen zu sehen ist, wie er mit anderen Flüchtlingen ein Berliner Luxushotel putzt. Vom versprochenen Mindestlohn habe er nie einen Cent gesehen. Wenn er sich beschwert habe, sei er stets auf später vertröstet wotden. Die meisten seiner KollegInnen hätten bald resigniert und seien nicht mehr zur Arbeit erschienen. Balzac aber forderte weiterhin seinen Lohn und erhielt deshalb vom "Human Resource Manager" eine SMS: "Wenn du noch einmal kommst, rufen wir Polizei, du zurück nach Afrika!"


Endstation Gewerkschaftsbürokratie

Was dann geschah, ist symptomatisch für die gegenwärtige Lage der Gewerkschaften. Balzac wandte sich zuerst an eine Grossgewerkschaft. Dort wurde ihm tatsächlich gesagt, dass in diesem Fall leider nichts zu machen sei. Balzac liess aber nicht locker und erhielt eine Woche später eine Beratung, wenn auch eine enttäuschende: "Bevor ich das Mitgliedsformular nicht unterschrieben hatte, wurde ich nicht einmal richtig begrüsst." Dann machte die Gewerkschaft dem Asylbewerber den Vorschlag, bei Nichtbezahlung des Lohnes einen Gerichtsprozess anzustrengen. Völlig zu Recht empfand das Balzac als zu hohes Risiko. "Die Schwarzarbeit, die mit einem Prozess aktenkundig würde, hätte negative Konsequenzen für meinen Asylprozess. Die Gerichtskosten müsste ich als Neumitglied zudem selber tragen." Nun hofft Balzac auf die Unterstützung der FAU, die mit wenigen aber aktiven Mitgliedern eine beachtenswerte Mobilisierungsfähigkeit hat. In den letzten Jahren trommelte die Basisgewerkschaft für Einzelne immer wieder ihre Mitglieder zusammen und konnte mit direkten Aktionen die Bezahlung ausstehender Gehälter erzwingen. Das unterscheidet sie von den hierarchischen Gewerkschaften, die nicht die Strukturen besitzen, um Einzelfällen eine derartige Beachtung zu schenken. Ausserdem "rechnet sich" für gewinnorientierte Organisationen die Aufmerksamkeit für die oft aufwändigen Einzelfälle der prekären ArbeiterInnen schlicht nicht. Denn von diesen ist weder ein hoher oder wenigstens konstanter Mitgliederbeitrag, noch ein unmittelbarer Zugang zu einer grösseren Belegschaft zu erwarten.


Nicht nur in Grossfabriken

Die Notwendigkeit, sich gegen Ausbeutung zu wehren, ist aber existenziell und verschwindet mit der gewerkschaftlichen Unfähigkeit, auf neue Entwicklungen einzugehen, nicht. Peter Nowak beleuchtet in seinem neuen Buch exemplarisch einige dieser "Arbeitskämpfe nach dem Ende der grossen Fabriken". Das Ziel des Herausgebers ist es, Menschen zu ermutigen und zu zeigen, dass Arbeitskämpfe nicht nur in einer Grossfabrik oder mit gewerkschaftlichen Apparaten machbar sind. Das Buch richtet sich aber auch an die Linke, in der weite Teile noch immer ein fatales Desinteresse am Kampffeld der Arbeit zeigen und glauben, Kategorien wie "Klasse" oder Mittel wie Streiks gehörten der Vergangenheit an. Nowak hält dem entgegen, dass mit dem Ende der fordistischen Fabrikgesellschaft Arbeitskämpfe nicht obsolet geworden seien, sondern bloss andere Erscheinungsformen angenommen hätten. Weil die Organisierung in modernen und kleineren Betriebsstrukturen schwieriger geworden sei, werde gesellschaftliche Solidarität von aussen immer wichtiger. So handelt ein Kapitel davon, wie beim jüngsten Amazon-Streik solidarische KundInnen dazu aufriefen, den Betrieb des Versandhändlers zu sabotieren. Massenhaft Bestellungen wurden zwar aufgegeben, nach dem Versand aber gratis wieder storniert und so dem bestreikten Grosskonzern Mehrkosten beschert.


DIV statt nur dabei

Als ein tatsächliches "Lehrstück der Selbstorganisierung" liest sich der Beitrag von Rosa Cannone und Johanna Schellhagen. Die beiden Filmemacherinnen begleiteten die LogistikarbeiterInnen und ihre Gewerkschaft SI Cobas in Norditalien mit der Kamera. In ihrem viel diskutierten Film "Die Angst wegschmeissen", zeigen sie, wie sich die mehrheitlich migrantischen ArbeiterInnen mit zumeist italienischen Linksradikalen in einer neuen Basisgewerkschaft symbiotisch zusammenschliessen und so nicht nur für die Mitglieder Erfolge erkämpfen, sondern darüber hinaus für die gesamte Klasse eine Perspektive verkörpern. Die Filmemacherinnen erklären in ihrem Beitrag die Hintergründe dieser Bewegung und gehen auf die Rolle der linken Gruppen und der Sozialen Zentren ein. Weitere Texte erzählen, wie Gefangene ihre eigene Gewerkschaft gründeten, wie SexarbeiterInnen auf Selbstorganisation bauen, statt auf Hilfe zu warten oder wie Flüchtlinge noch im Jahr 2014 zuerst die Berliner Zentrale des Gewerkschaftsbundes besetzen und sich von der Polizei räumen und verhaften lassen mussten, bevor der Apparat allmählich auch Papierlose als Mitglieder akzeptierte. Wegen diesen VorkämpferInnen hat heute der um seinen Lohn geprellte und von seiner Abschiebung bedrohte Balzac die Möglichkeit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft. Was dabei herausspringt, liegt aber weitgehend ausserhalb seines Einflusses, sondern hängt von einem Sekretär oder einer Richterin ab. "Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht" zeigt demgegenüber, dass es unter diesen Umständen für viele ArbeiterInnen effektiver ist, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und mit einer solidarischen Gemeinschaft oder einer Basisgewerkschaft den Kampf zu führen.


Peter Nowak (hg.): Ein Streik steht, wenn
mensch ihn selber macht. Edition Assemblage, 2015,
112 Seiten, ca. 10 Franken.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 72. Jahrgang - 26. August 2016, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2016

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